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Dies ist die Geschichte von Saalabotana, der „Tochter und Hüterin der Wesen“, die aus Zuneigung der Blumen, Gräser und Bäume in der Welt erschienen war. Aus ihr sollte der spätere Mensch werden. Zusammen mit dem prächtigen Singvogel Molosaa verteilte sie den Samen der Pflanzen in der leeren Welt, bis sie zu einem Paradies geworden war. Doch eines Tages fand Molosaa auf ihren Flügen in der Welt keinen Platz mehr, wo man hätte Samen aussähen können...
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Lange genug hast du mir altem Mann gelauscht, wenn ich mit zahnlosem Munde dir meine Geschichten feilgeboten habe wie ein Händler seine verschmähte Ware, die er mit sich herum trägt und die ihm den Rücken beugt. Aber ich habe dein Herz als furchtlos erkannt, darum will ich dir auch meine letzte Geschichte erzählen, bevor ich verstumme. Noch ist Zeit, dich zu erheben, Geschäftigkeit vorzugeben und dich zu verabschieden. Wenn du also bleibst, sei gewiss, dass es nach dieser Geschichte keine Geschäfte mehr für dich geben wird, wenn dein Herz tatsächlich furchtlos ist. Ansonsten wirst du dich in Geschäftigkeit fliehen wie ein Dieb vor dem Baum, an dem man Diebe aufknüpft.
Diese Begebenheit hat sich vor dem Erscheinen des Todes und seiner Gehilfin in dieser Welt ereignet, als die Welt und ihre Wesen noch ewig waren. Erst als der Tod sich in diese Welt gerufen fühlte, wurden die Lebewesen vergänglich. Und es ist das Wissen um die eigene Vergänglichkeit, das die Menschen seitdem in Rastlosigkeit und Eile verfallen lässt. Sie versuchen, die ihnen verbleibende Zeit mit einem Sinn auszufüllen. Und dankbar hätscheln sie ihren aufgeklaubten Sinn, und sei er noch so kindisch. Noch im Sterben wollen sie Anweisungen über die Zeit geben, über die sie nicht mehr verfügen. Ihren Namen wollen sie genannt wissen nach ihrer Zeit und es gibt ihnen großen Trost, ihn in Stein gehauen zu wissen.
In jenen Tagen gab es nur wenige Wesen auf der Erde: die Gräser, die Blumen, die Bäume und den prächtigen Singvogel Molosaa. Abends, wenn die Sonne unterging, sang der Vogel, ehe es dunkelte, ein letztes Mal. Es war ein Gesang der Ruhe und man hörte weit über die Grasflächen bis in die tiefen Wälder seinen Ruf: "Mo-lo-saa!" Dreimal rief er, dann verstummte auch er. Dann schlossen die Blumen ihre Kelche für die Nacht, die Gräser wiegten sich nicht mehr und auch der Wind rauschte nicht mehr in den Kronen der Bäume.
So lebten die Wesen einträchtig Ewigkeiten zusammen, bis ihre Zuneigung zueinander ein weiteres Wesen in die Welt brachte, das all ihre Eigenschaften in sich vereinigte. Später, als der Tod in dieser Welt seine Herrschaft antrat, sollte dieses Lebewesen verrohen und aus ihm der Mensch werden, wie wir ihn seitdem kennen. Doch ehemals war dieses Wesen glänzend wie die Gräser, die von seinem Haupt bis weit über seine Schulter hinab fielen. Seine Augen waren grün wie die Blätter und seine Gestalt hoch und schlank wie ein Baum und farbenprächtig wie Blumen. Sein Gemüt war still und heiter. Und die Stimme des Wesen glich dem Gesang Molosaas.
Zu dieser Zeit verständigten sich die Wesen untereinander noch in der gemeinsamen "Stummen Sprache". Und auch das Wesen, das einmal Mensch werden sollte, konnte sich so den Gräsern, Blumen, den Bäumen und dem Vogel Molosaa mitteilen. So erfuhr es, dass es durch die Zuneigung der Wesen in der Welt erschienen war. Und die Wesen nannten es Saalabotana, was in der Sprache der Menschen etwa "Tochter und Hüterin der Wesen" bedeuten sollte. Die Gräser, Blumen und die Bäume baten Saalabotana, ihre Hüterin zu sein.
"Wir sind an einen Ort gebunden, doch du, Saalabotana, kannst mit Hilfe des Vogels Molossa nach dem rechten in der Welt schauen! Die hohen Bäume können weit in die Welt blicken. Sie sagen, dort liegt noch viel ödes und kahles Land. Wir möchten auch diese wüsten Flecken mit Gräsern, Blumen und Bäumen schmücken, damit auch dort der Vogel Molosaa freudig seinen Gesang anstimmen kann!
"
Und Saalabotana lächelte zustimmend.
"Wir werden dich mit unseren Früchten speisen!" meinten die Gräser und Bäume, "genau wie wir Molosaa für seinen Gesang danken!"
So machte sich Saalabotana mit dem Vogel Molosaa am nächsten Morgen auf den Weg. Saalabotana wanderte gemächlich in die Welt, denn der Tod war in dieser Welt noch nicht herbei gerufen worden und die Zeit verrann noch nicht. Oft verweilte Saalabotana auf ihrem Wege durch die Welt, wenn ein Bach ihren Weg kreuzte. Dann trank sie von dem klaren Wasser und sah sich nach den Früchten der Bäume um. Sie pflückte die reifen Früchte mit ihren drei Fingern von den Ästen. Eine Frucht gab sie Molosaa, zwei aß sie. Saalabotana besaß nur winzige Zähne. Erst später, als die Lebewesen im Kampf gegeneinander lebten, wurden auch die Zähne der Wesen stärker und schärfer. An den Fingern und Zehen verfügte Saalabotana auch noch nicht über Krallen oder Nägel, denn es gab nichts in dieser Welt, was man hätte greifen und töten wollen. Die Kerne und Samen der Früchte, die Molosaa und sie aßen, vergrub Saalabotana anschließend zwischen den Gräsern, damit auch an dieser Stelle Bäume wachsen konnten. Wenn es Abend wurde, suchte sich Saalabotana einen Platz unter den Bäumen. Dort saß sie still, bis der Ruf von Molosaa dreimal ertönte. Dann legte sie sich zwischen die Gräser nieder. Und die Gräser bedeckten sie für die Nacht. Doch sobald es morgens zu dämmern begann, erhob sie sich und erfrischte sich im Bach. Dann begann sie, mit ihrem Jubelgesang die Gräser, Blumen und Bäume zu wecken. Die Blumen öffneten ihre Kelche, die Gräser erhoben sich und wiegten sich freudig. Molosaa zog sein Köpfchen unter dem Federkleid hervor und stimmte in den Gesang ein, so dass die Bäume ihre mächtigen Kronen wiegten und ein frischer Wind auf kam.
So zog Saalabotana mit dem Vogel Molosaa für Ewigkeiten durch die Welt und gemeinsam sahen sie nach dem rechten. Die Bäume erklommen die Berge, die Gräser und Blumen sogar ihre Gipfel. Es gab keinen Flecken auf der Erde, wo die Gräser, die Blumen und Bäume nicht lebten. Und der Anblick der Erde war für alle eine Freude.