Der blutige Pfad Gottes - Andreas Groß - E-Book

Der blutige Pfad Gottes E-Book

Andreas Groß

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Beschreibung

Der Tod lauerte verborgen hinter einem Gebüsch und wartete geduldig auf Xaver Wolfram, der die Stille des Bergparks genoss. Jeden Sonntag ging er in den frühen Abendstunden, bevor die strahlen der untergehenden Sonne hin- ter den Baumwipfeln verschwanden, über die verlassenen Wege. Es war die Zeit, wo er Abstand von seiner Arbeit gewann und neue Kraft in der Ruhe des Parks fand. Die Touristen waren bereits wieder auf dem Heimweg, und lediglich die Einheimischen hielten sich noch in dem Bergpark auf. Seine Weitläufigkeit erlaubte es, dass man, sobald man die breiten Wege verließ, auf den schmaleren Pfaden weitestgehend alleine war. In wenigen Wochen würden sich die Blätter der Bäume rot und gelb verfärben und einen prächtigen Farbzauber hervorrufen. Xaver freute sich auf diese Zeit, in der die Natur noch einmal ihre große Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellte und das nahe Ende des Jahres ankündigte. Nachdem er an der großen Schlossanlage vorbeigegangen war, um sich tiefer in die Parkanlage zu begeben, begegnete ihm ein älteres Paar, das Hand in Hand auf das Schloss zuging. Er bewunderte die Vertrautheit und Innigkeit, die die beiden alten Menschen ausstrahlten. Kurz nach dieser Begegnung schritt er an einer jungen Frau vorüber, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt, der ihr nur widerwillig folgte. Sie warf Xaver einen misstrauischen Blick zu, als würde er unlautere Absichten verfolgen, und blieb auf Distanz zu ihm. Offenbar war sie alleinstehend und befürchtete, dass er einen Annäherungsversuch machen würde. Doch in diesen Stunden der Ruhe stand ihm nicht der Sinn nach Gesellschaft. Ein müdes Lächeln zeigte sich kurz auf seinem Gesicht.

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Andreas Groß

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Der blutige PfadGottes

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Anmerkungen des Autors

1

Der Tod lauerte verborgen hinter einem Gebüsch und wartete geduldig auf Xaver Wolfram, der die Stille des Bergparks genoss.

Jeden Sonntag ging er in den frühen Abendstunden, bevor die Strahlen der untergehenden Sonne hin- ter den Baumwipfeln verschwanden, über die verlassenen Wege. Es war die Zeit, wo er Abstand von seiner Arbeit gewann und neue Kraft in der Ruhe des Parks fand. Die Touristen waren bereits wieder auf dem Heimweg, und lediglich die Einheimischen hielten sich noch in dem Bergpark auf. Seine Weitläufigkeit erlaubte es, dass man, sobald man die breiten Wege verließ, auf den schmaleren Pfaden weitestgehend alleine war. In wenigen Wochen würden sich die Blätter der Bäume rot und gelb verfärben und einen prächtigen Farbzauber hervorrufen. Xaver freute sich auf diese Zeit, in der die Natur noch einmal ihre große Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellte und das nahe Ende des Jahres ankündigte.

Nachdem er an der großen Schlossanlage vorbeigegangen war, um sich tiefer in die Parkanlage zu begeben, begegnete ihm ein älteres Paar, das Hand in Hand auf das Schloss zuging. Er bewunderte die Vertrautheit und Innigkeit, die die beiden alten Menschen ausstrahlten. Kurz nach dieser Begegnung schritt er an einer jungen Frau vorüber, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt, der ihr nur widerwillig folgte. Sie warf Xaver einen misstrauischen Blick zu, als würde er unlautere Absichten verfolgen, und blieb auf Distanz zu ihm. Offenbar war sie alleinstehend und befürchtete, dass er einen Annäherungsversuch machen würde. Doch in diesen Stunden der Ruhe stand ihm nicht der Sinn nach Gesellschaft. Ein müdes Lächeln zeigte sich kurz auf seinem Gesicht.

Es war derzeit sein jüngstes Projekt, dem er seine volle Aufmerksamkeit widmete und das seine ganze Kraft beanspruchte. Er hatte schon immer davon geträumt, eine Serie von Skulpturen zu erschaffen, die seine Bewunderer überraschen würde. Einige von ihnen verschreckte er damit bestimmt, aber als Künstler wollte er sich nicht in eine Schublade pressen lassen. Man lebte von Veränderungen und nicht in der Schaffung von Variationen eines Objektes.

Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Nervös schaute er sich um. Er bemerkte nicht das Augenpaar, das ihn, seit er den Bergpark betreten hatte, verfolgte.

Gebannt versuchte Xaver mit seinen Blicken die Büsche zu durchdringen. Er konnte aber nichts erkennen. Bestimmt war bloß ein Vogel durch das Unterholz gehuscht. Beruhigt wandte er sich ab, um seine Wanderung wieder aufzunehmen. Es ging steil bergauf, und da er es nicht eilig hatte, schritt er langsam voran. Seine Gedanken kehrten zu seiner neuen Skulptur zurück, die er aus weißem Marmor gestalten wollte. Dafür hatte er sich die wertvollen Steinblöcke aus den bekannten Steinbrüchen bei Carrara besorgt. Dieser Marmor war durch den italienischen Bildhauer Michelangelo dank seiner bekannten Schöpfungen zur Berühmtheit geworden. Xaver war davon überzeugt, dass seine Statuen eines Tages nach ihrer Vollendung mit der Leistung des bekannten Künstlers aus der Renaissance vergleichbar waren.

Eine wohlige Vorfreude machte sich in ihm breit, als er daran dachte, wie die Figur unter seinen Händen Gestalt annehmen würde. Er genoss die Arbeit mit Hammer und Meißel. Und wenn er dann die rauen Stellen bearbeitete, war es für ihn ein Gefühl von Ekstase, das durch seinen Körper jagte, sobald seine Hände über den weißen Marmor glitten.

An einer Wegbiegung blieb er unentschlossen stehen. Sollte er heute links abbiegen oder weiter geradeaus gehen? Während er darüber nachdachte, drang wieder ein lautes Rascheln an sein Ohr. Im ersten Moment reagierte er nicht auf das Geräusch. Das laute Knacken eines Astes ließ ihn zusammenzucken. Erschreckt drehte er sich um. In diesem Augenblick fiel ein großer Schatten auf ihn. Bevor er reagieren konnte, spürte er einen heftigen Schlag an der Schläfe und bewusstlos sackte er zusammen.

Mit einem hämmernden Pochen in seinem Kopf wachte er auf. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er sich befand. Eine leichte Übelkeit stieg in ihm auf und die Umgebung schien sich um ihn herum zu drehen. Er versuchte den Kopf zu bewegen, aber ein stechender Schmerz ließ ihn innehalten. Langsam klärte sich sein Blick. Er lag mit dem Rücken auf dem Boden. Über sich konnte er blaue Flecken zwischen den Baumspitzen wahrnehmen. Seine Arme waren ausgebreitet und um die Handgelenke jeweils ein Seil geschlungen worden, das um den Stamm eines Baumes gebunden war. Verzweifelt zog er mit den Armen, aber die Seile waren fest gespannt und ließen ihm keinen Bewegungsspielraum. Seine Füße waren gefesselt worden und ein weiteres Seil führte von seinen Knöcheln zu einem vor ihm stehenden Baum. Erst jetzt nahm er wahr, dass er völlig nackt war. Seine Kleidung war verschwunden. Jemand musste ihn ausgezogen haben, als er bewusstlos gewesen war. Er spürte, dass er auf einem harten Untergrund lag. Spitze Gegenstände bohrten sich in seinen Rücken. Steine, abgefallene Baumrinde oder kleinere Aststücke.

Er war nicht lange weggetreten gewesen, da die Sonne, die bereits hinter dem Horizont verschwunden war, noch genug Helligkeit spendete, um die Umrisse der dicht stehenden Bäume erkennen zu lassen. Er hörte ein Plätschern. In der Nähe musste ein kleiner Bach den Hang hinabfließen. Der Geruch von Feuchtigkeit und Wald drang ihm in die Nase. Käfer raschelten im Laub. Mücken umschwirrten ihn. Noch hatte ihn keine gestochen. Er wollte um Hilfe rufen, als eine schwarze Gestalt in sein Sichtfeld trat. In der rechten Hand hielt der Unbekannte einen silbern schimmernden Gegenstand. Bekleidet war er mit einem schwarzen Anzug, der aus einem latexähnlichen Material bestand. Über den Kopf hatte er eine Latexhaube gezogen, die gerade mal sein Gesicht frei ließ. An den Füßen trug er schwarze Überzieher aus Plastik. Mit einem breiten Lächeln beugte er sich über Xaver.

„Ich hoffe, Sie fühlen sich gut.“ Seine Stimme klang völlig emotionslos.

„Was soll der Blödsinn? Was haben Sie mit mir vor?“

„Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Sie werden schon bald vor Ihrem Schöpfer stehen.“

„Wer sind Sie?“

„Ich bin Ihr Schicksal. Sie wurden auserwählt, um den Menschen ein Zeichen zu setzen. Wissen Sie, im Grunde bewundere ich Ihre Arbeiten. Ihre Werke sind beeindruckend, aber Sie hätten sie niemals herstellen dürfen.“

Xaver Wolfram schluckte. „Ich verstehe das Ganze nicht. Was wollen Sie dann von mir? Ich habe nichts Schlimmes getan.“ Seine Stimme nahm einen immer verzweifelteren Ton an.

Der Unbekannte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich werde Sie zu meinem Kunstwerk machen.“

„Schneiden Sie mich los“, forderte Xaver den Fremden auf. „Das geht jetzt wirklich zu weit und ist keineswegs ein Spaß, den ich länger mitmachen will.“

Xaver nahm an, dass seine Freunde ihm einen bösartigen Streich spielen wollten. Schon immer hatten sie gesagt, dass man ihn selbst als ein Kunstobjekt ausstellen sollte. Und das genau so, wie er sich selber häufig als Vorbild für seine Figuren genommen hatte.

Der Unbekannte stieß einen Seufzer der Resignation aus. „Das kann ich nicht tun. Sie werden mich doch verstehen, dass ich nicht inmitten meiner künstlerischen Schaffensphase aufhören kann. Sehen Sie, Ihr Körper wird vergehen, verwesen, von Bakterien und Insekten zerfressen werden. Doch Ihr Tod wird unsterblich werden und für immer bestehen bleiben. Ihr Name wird dann bis in alle Ewigkeit in diesem Zusammenhang genannt werden.“

„Sie sind verrückt. Das können Sie nicht machen.“ Voller Angst starrte er den Fremden an.

„Sehen Sie, Ihr Bewusstsein wird sich durch diese Erfahrung erweitern. Sie werden es bloß niemandem mehr vermitteln können. Aber darum geht es gar nicht. Spüren Sie schon die Erregung, die Vorfreude auf dieses wundervolle Ereignis?“

„Das ist doch Wahnsinn. Wenn Sie wollen, dass ich mich fürchte, dann haben Sie das erreicht. Bitte lassen Sie mich gehen“, stieß Wolfram winselnd aus.

„Das kann ich nicht.“ Mittlerweile wirkte der Vermummte genervt. „Sie müssen bestraft werden.“

Xaver Wolfram wurde endgültig bewusst, dass der Fremde es wirklich ernst meinte. „Warum?“, brachte er keuchend hervor.

„Sie haben Ihn beleidigt.“

„Wen?“, fragte Xaver stirnrunzelnd.

„Sie haben Ihn verunglimpft, indem Sie Ihn falsch dargestellt haben. Dies hätten Sie nicht tun dürfen.“

„Wen? Verraten Sie mir wenigstens seinen Namen.“

„Schluss mit dem Geschwätz. Wir wollen unsere Zeit doch nicht mit unnötigem Gerede verschwenden“, sagte der Fremde und zog mit der linken Hand ein Tuch aus einer kleinen Tasche, die an seinem Gürtel befestigt war, hervor.

Xaver Wolfram öffnete den Mund zu einem Schrei, der aber von dem Knebel erstickt wurde, den der Fremde ihm zwischen die Zähne steckte. Xavers Augen traten hervor. Tief sog er die Luft durch seine Nase in die Lungen ein. Immer hektischer wurden seine Atemzüge, je stärker sich die Panik in seinem Herzen breit machte.

Der Unbekannte trat näher an Xaver heran. Er legte den Kopf schief, so als würde er ein Insekt näher betrachten.

„Sie werden nicht sofort tot sein. Das Blut wird sich über Ihre Luftröhre in Ihre Lungen verteilen und Sie werden daran jämmerlich zugrunde gehen. Bevor der Tod endgültig eintreten wird, wird Ihr Bewusstsein vorher erlöschen. Ist dies nicht furchtbar? Noch nicht einmal das Erleben des letzten Augenblicks in Ihrem Leben wird Ihnen vergönnt sein. Ich bedauere, dass ich Ihnen dies nicht ersparen kann. Sie sollten jetzt mit einem Gebet beginnen, damit Gott Sie in Gnade empfangen kann. Er wird Ihnen verzeihen, denn Er ist der Allmächtige.“

Der Fremde hob den blitzenden Gegenstand und erst jetzt erkannte Xaver Wolfram, dass es sich um ein Messer handelte. Er wunderte sich noch darüber, wie kalt der Stahl war, als die Klinge über seine Kehle glitt. Er fühlte, wie das Blut in seine Lungen drang.

Ruhig trat der Mörder zurück und schaute Xaver beim Sterben zu. Dabei faltete er die Hände und murmelte leise ein paar Worte, die sich mit dem Röcheln des Sterbenden vermischten.

Das Letzte, was Wolfram wahrnahm, waren die Augen des Killers, in denen ein leidenschaftliches Feuer brannte und die dennoch von einer gnadenlosen Kälte erfüllt waren.

2

Der Radiowecker spielte bereits eine halbe Stunde, als Raphael sich endlich bemühte, ihn abzustellen. Er hasste es, früh aufzustehen, besonders an diesem Morgen, der sein erster Arbeitstag nach einem zweiwöchigen Urlaub war. Manchmal fragte er sich, warum er sich jeden Morgen aus dem Bett quälte, und bedauerte, dass er sich keinen Beruf ausgesucht hatte, der die Möglichkeit bot, später aufzustehen.

Er war froh, dass ihn in den letzten Wochen der immer wiederkehrende Alptraum nicht mehr gequält hatte. Seit dem Unglück vor zwei Jahren kehrte die Erinnerung an die Schießerei, die Sonja Lorenz das Leben gekostet hatte, nachts zurück. Er hatte zusammen mit seiner Kollegin einen Gewalttäter überprüfen wollen. Doch der Kerl hatte seine Waffe gezogen und wie verrückt begonnen, um sich zu schießen. Sonja Lorenz war sofort tot gewesen. Der Notarzt hatte ihr nicht mehr helfen können.

Kurz nachdem Raphael aus dem Krankenhaus entlassen worden war, waren die Träume aufgetreten. Zu Beginn hatten sie ihn jede Nacht heimgesucht.

Aber seit einem Jahr wurden sie immer seltener. Ein halbes Jahr lang hatte er mit der Polizeipsychologin viele Gespräche über die Minuten geführt, die sein Leben verändert hatten, bis er zu dem Entschluss gekommen war, dass er nur aus eigener Kraft sein Trauma überwinden konnte. Danach hatte er sich noch intensiver in die Arbeit gestürzt. Sie war die einzige Therapie, die ihm wirklich half.

Er wälzte sich auf die andere Bettseite, die seit der Scheidung von seiner Frau verwaist war. Sie war nicht damit klar gekommen, dass er beinahe getötet worden war. Dabei hatte er ihr zu Beginn ihrer Beziehung deutlich gemacht, dass sein Beruf gewisse Gefahren mit sich brachte. Dennoch war sie mit ihm auf das Standesamt gegangen und hatte die Möglichkeit eines Unglückes durch seinen Beruf ausgeblendet. Ihr war auch bewusst gewesen, dass er keine geregelte Arbeitszeit besaß und nicht wie ein normaler Angestellter immer pünktlich nach Hause kommen würde. Sie hatte sich vernachlässigt gefühlt und nach sechs Jahren Ehe mit einem Mann eingelassen, der keiner Beschäftigung nachging. Vielleicht hätte er zu diesem Zeitpunkt seine Ehe noch retten können. Doch dann war es zu diesem verhängnis-vollen Schusswechsel gekommen und seine Frau hatte sich nach diesem Vorfall endgültig entschieden, lieber ein Leben an der Seite eines Mannes zu verbringen, bei dem nicht das Berufsrisiko bestand, dass er eines Tages nicht mehr lebend nach Hause zurückkehrte.

Es war müßig, nur seinen Beruf als Grund für das Scheitern seiner Ehe zu sehen. Mit Sicherheit war es auch ein Fehler von ihm gewesen, ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet zu haben, die sie sicher verdient hatte. Doch irgendwie war ihm sein Beruf schon immer sehr wichtig gewesen. Und ohne, dass er Einfluss darauf hatte nehmen können, war die Faszination, die sie bei ihrer ersten Begegnung auf ihn ausgeübt hatte, verloren gegangen. Vielleicht hatte sie auch geahnt, dass er für seine Kollegin mehr als nur freundschaftliche Gefühle empfand.

Irgendwie hatte er sie verstanden, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilte, sich von ihm zu trennen. Dennoch war der Schmerz über die Scheidung lange in seinem Innern verblieben. Bisher hatte er keine Frau getroffen, mit der er eine dauerhafte Bindung eingehen wollte. Wirklich ernsthaft bemüht, eine neue Liebe zu finden, hatte er sich aber auch nicht, gestand er sich ehrlicherweise ein.

Er sprang unter die Dusche. Mit einem wohligen Gefühl genoss er den warmen Schauer auf der Haut. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, ging er ins Schlafzimmer zurück und zog sich frische Kleidung an, die er aus seinen Kleiderschrank holte. Er wählte ein marinefarbenes Hemd, eine dunkle Leinenhose und ein schwarzes Sakko. Dazu schlüpfte er in schwarze Schuhe, die er kurz mit einem weichen Tuch polierte. Seine Dienstwaffe steckte er in das Halfter, welches er am Hosengürtel befestigte. Er warf sich noch die Jacke über, ehe er seine Wohnung verließ. An der Straßenecke betrat er eine Bäckerei und kaufte sich zwei Gebäckstücke. Eigentlich hatte er beschlossen, sich gesünder zu ernähren, aber sein Hunger nach Süßem war stärker als sein Vorsatz. Daher übersah er die Baguettes, die mit Schinken, Käse und Salat belegt waren. Die Verkäuferin, eine schlanke Frau Ende dreißig, schenkte ihm ein warmes Lächeln und während er noch überlegte, ob er sich auf einen Flirt mit ihr einlassen sollte, klingelte sein Mobiltelefon.

„Raphael Wolf“, meldete er sich.

„Hi, Chef, wieder unter den Werktätigen zurück?“, erklang Markus Jägers Stimme in seinem Ohr.

„Wenn du mich noch vor meinem Besuch beim Kriminalrat anrufst, willst du mir bestimmt eine schlechte Neuigkeit so früh am Morgen verkünden.“

„Früh am Morgen? Schau mal auf deine Uhr. Es ist bereits acht und fast Mittag. Ich bin seit Fünf auf“, frotzelte Markus. Er war sein engster Mitarbeiter in der Abteilung K11 des Polizeipräsidiums Nordhessen. Dieses Kommissariat war für Gewalt-, Brand- und Waffendelikte zuständig.

„Womit haben wir es zu tun?“, hakte Raphael nach. „Wer hat dich aus dem Bett geholt?“

„Mord, Chef. Wir haben eine Leiche im Bergpark.“ Markus beschrieb ihm den Fundort, während Raphael zu seinem Wagen ging. Er setzte sich hinein, steckte sein Mobiltelefon in die Jackentasche und startete den Motor. Er brauchte mit seinem BMW fünfzehn Minuten bis zu einer höheren Berufsfachschule, die dem diakonischen Werk der evangelischen Kirche gehörte und am Rand des Parks lag. Von dort führte ein breiter, befahrbarer Wanderweg in den Bergpark, und die Schutzbeamten, die am Zugang Posten bezogen hatten, wollten bereits ihren Wagen zu Seite fahren und den Pfosten entfernen, der in der Mitte des Weges stand, um ihn durchzulassen, als er ihnen mit einen Wink zu verstehen gab, dass er den Weg zu Fuß bewältigen würde. Er stellte sein Auto oberhalb des Seminargebäudes ab, nickte den Beamten noch einmal kurz zu und schritt an den hintereinander geparkten Polizeifahrzeugen vorbei. Den Abschluss dieser Reihe bildete der Dienstwagen des Gerichtsmediziners.

Raphael musste über einen schmalen Pfad, der von dem Weg abzweigte, in den kleinen Wald hineingehen, um den Fundort der Leiche zu erreichen. Am Absperrband standen zwei junge Polizeiobermeister Wache, um eventuelle Schaulustige am Betreten des Geländes zu hindern. Einer von den beiden uniformierten Beamten der Schutzpolizei war ihm bekannt.

„Hallo, Herr Stein“, begrüßte er diesen. „Wer hat die Leiche gefunden?“

„Morgen, Herr Hauptkommissar. Dies ist mein neuer Kollege, Polizeimeister Jochen Vogel“, erklärte er Raphael und deutete auf den zweiten Beamten. „Ein Rentner ist heute Morgen bei seinem Spaziergang auf den Toten gestoßen. Er hat uns sofort angerufen, nachdem er die nächste Telefonzelle gefunden hatte. Offenbar gehört er zu den wenigen Menschen, die kein Handy besitzen. Er befindet sich bereits im Polizeipräsidium, um seine Aussage aufnehmen zu lassen. Wir waren mit unserem Wagen gerade auf Streife, als wir hierher beordert wurden. Es ist kein schöner Anblick, sage ich Ihnen. Der Mörder muss den Mann wie ein Schwein abgestochen haben.“

Raphael zog die Augenbrauen hoch. Er verfügte über warm wirkende, braune Augen, die über einer stark ausgeprägten Nase saßen, und wenn er auf die Zähne biss, traten die Wangenknochen markant hervor. Insgeheim war er davon überzeugt, dass er ein freundliches Lächeln besaß. Einige seiner Freunde waren aber eher der Meinung, es wirke irgendwie furchteinflößend. Die Frauen fanden es wohl eher vertrauenerweckend, da er es bisher nicht erlebt hatte, dass auch nur eine allein wegen seines Lächelns vor ihm davongelaufen wäre.

Die Erschütterung über den Mord war Lutz Stein deutlich anzusehen. Obwohl er nach mehreren Jahren im Streifendienst bei Verkehrsunfällen schon öfters grausam verstümmelte Menschen erblickt hatte, rief das Auffinden eines Mordopfers stärkere Betroffenheit in ihm hervor.

Raphaels Blick fiel auf den zweiten Polizisten, der an einen Baum gelehnt vor dem rotweißen Band stand und tief durch den leicht geöffneten Mund atmete. Wolf blieb dicht vor ihm stehen. Er öffnete den Mund, um beruhigende Worte auszusprechen, als der junge Beamte den Kopf hob und sagte: „Entschuldigung. Es ist nicht der erste Todesfall, den ich sehe, aber auf den Schulungsfilmen sieht es nie so realistisch aus. So viel Blut überall. Ich werde es noch lernen, mich an so einen Anblick zu gewöhnen.“

Raphael legte ihm eine Hand kurz auf die Schulter. „Man gewöhnt sich nie daran. Und wenn, würden wir keine Gefühle mehr besitzen.“ Er nickte den beiden Beamten noch einmal aufmunternd zu, ehe er unter dem Absperrband hindurchschlüpfte und sich dem Fundort näherte.

Durch die Bäume konnte er die vielen Spurenermittler und Kriminaltechniker erkennen, die in ihren weißen Tatortsicherungsanzügen herumliefen. Über ihren Händen trugen die Beamten weiße Latexhandschuhe und an den Füßen blaue Überzieher. Sie sahen wie Außerirdische aus, die auf einem Planeten zu Besuch waren, der unter Quarantäne stand.

Markus Jäger, der auch einen Tatort-Overall trug, reichte ihm die Schutzkleidung. Er war ein leicht untersetzter Mann Mitte Fünfzig. Nach dem Tod von Johannes Kessler, dem bisherigen Leiter der Abteilung K11, der bei der Jagd nach einem Serienkiller bei einem Schusswechsel mit einem Verdächtigten ums Leben gekommen war, hatte jeder angenommen, dass er der neue Chef des Kommissariats werden würde. Doch zu seiner Enttäuschung war Raphael zum Ersten Hauptkommissar befördert und zum neuen Leiter ernannt worden. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis Markus Jäger über die Nichtbeachtung hinweggekommen und bereit war, mit Raphael ohne Vorbehalte zusammenzuarbeiten. Raphael hatte sein Verhalten gut verstanden und versucht, ihm nie seine Freundschaft aufzudrängen, da er wusste, wie nahe sich Markus Jäger und Johannes Kessler gestanden hatten. Sie waren mehr als bloß Freunde gewesen. Markus war mit Johannes Schwester verheiratet, die er vor dreißig Jahren auf einem Polizeiball kennengelernt hatte.

Raphael zog sich die Schutzkleidung über und schaute Markus fragend an. Der Hauptkommissar wies mit dem Kopf zur Seite. Raphael fiel der Ernst in Markus Gesicht auf. Neugierig ging er auf die Baumreihe zu. Er war es nicht gewöhnt, dass sein Mitarbeiter so still war. Eher herrschte bei ihm ein flapsiger Ton vor, der mit einer Portion Galgenhumor gewürzt war. Schweigsam folgte er Raphael, der zu dem Leichnam ging.

Die Augen des Toten starrten ins Leere und über den Hals zog sich ein dunkelroter Strich, an dessen Ränder sich dicke Blutkrusten gebildet hatten. Unter dem Kopf und der Brust hatte sich auf dem Boden eine dunkle Lache gebildet. Ein Großteil der Flüssigkeit war bereits im Boden versickert. Fliegen sirrten überall umher und ließen sich auf die Leiche und dem Blut nieder. Der Tote lag mit ausgestreckten Armen auf der Erde. Die Handgelenke und Knöchel des Leichnams waren mit einem Seil an die umstehenden Bäume gebunden. Raphael hatte Mühe, sich von dem Toten abzuwenden. Was hatte den Mörder veranlasst, den Mann auf diese Art und Weise an die Bäume zu fesseln? Raphael fühlte sich bei der Szene an irgendetwas erinnert. Er konnte sich aber nicht entsinnen, wo er ein ähnliches Bild bereits zu Gesicht bekommen hatte. Der Polizeifotograf drängte sich an ihm vorbei und erhellte die gespenstische Szenerie mit dem Blitzlicht seiner Digitalkamera. Dr. Robert Keitel, der Gerichtsmediziner, packte gerade seine Utensilien in den Koffer und zog sich die Schutzmaske vom Gesicht. Mit ruhigen Bewegungen streifte er die blutigen Latexhandschuhe ab.

„Wann ist er gestorben?“, fragte Raphael.

„Nach den Leichenflecken zu urteilen und wenn ich bei der Temperaturmessung die nächtliche Kälte berücksichtige, dürfte der Tod zwischen sieben und neun Uhr abends eingetreten sein.“

„Und was war die Tatwaffe?“

„Es handelte sich um einen sehr scharfen Gegenstand. Ich würde auf ein Rasiermesser oder ein Skalpell tippen. Mehr werde ich Ihnen erst sagen können, wenn ich ihn obduziert habe. Der Schnitt in den Hals erfolgte, als der Mann noch am Leben war. Das kann man aus der starken Blutung schließen. Jedenfalls dürfte diese Verletzung die eigentliche Todesursache sein.“

Raphael neigte in Gedanken versunken den Kopf zur Seite, um einen anderen Blickwinkel auf den Toten zu erhalten. Ihm war bewusst, dass er nicht alle Antworten auf seine Fragen sofort erhalten würde. „Wurde er sexuell missbraucht?“

„Es deutet nichts auf eine Vergewaltigung hin.“

„Überprüfen Sie ihn bitte trotzdem auf Spermaspuren.“

„Dies hätten wir sowieso gemacht“, erwiderte Keitel beleidigt.

„Tut mir leid“, erwiderte Raphael, „aber ich fürchte, wir werden nur wenig DNA-Spuren hier vorfinden.“ Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Tatort nicht viele Hinweise auf den Täter hervorbringen würde. „Schicken Sie mir Ihren Bericht sobald wie möglich“, bat er den Gerichtsmediziner. Keitel nickte unmerklich, schloss seine Tasche und schritt an den akribisch nach Spuren suchenden Kriminaltechnikern vorbei.

„Wo ist seine Kleidung abgeblieben?“, wandte sich Raphael an Markus.

„Das ist das Verrückteste an diesem Mord“, erklärte Jäger und führte Raphael von der Leiche weg. Zehn Meter entfernt lag ein Bündel sorgfältig zusammengelegt auf der Erde. Raphael kniete nieder und betrachtete die Kleidung genauer.

„Es sieht so aus, als hätte der Besitzer sie dort abgelegt, um sie gleich wieder anzuziehen“, bemerkte Markus Jäger, „so, als würde man für einen kurzen Moment in einem See schwimmen gehen. Nur dass hier oben kein See ist.“

„Ich glaube nicht, dass der Tote seine Kleidung freiwillig ausgezogen hat. Ich vermute eher, dass der Mörder nicht wollte, dass die Sachen verschmutzt werden. Hat man sie bereits nach Spuren überprüft?“

„Wir haben Haare und Hautschuppen gefunden, die wahrscheinlich alle vom Träger der Kleidung stammen“, erklärte eine Stimme aus dem Hintergrund. Raphael drehte sich um und schaute die schlanke Gestalt an, die mit ihrem Schutzanzug an sie herangetreten war. Sie reichte ihm bis an die Schultern und am Rand der Kopfhaube konnte man den Ansatz tiefschwarzer Haare erkennen.

Kriminaloberkommissarin Cornelia Becker war seit zwei Jahren in seiner Abteilung. Sie hatte sich von dem Kommissariat für Sexualdelikte versetzen lassen, nachdem sie an einem bundesweiten Fall für Pädophilie mitgearbeitet und dabei einen hochangesehenen Professor überführt hatte, auf dessen Rechner man unzählige Bilder von kleinen Jungs und Mädchen gefunden hatte. Sie hatte sich davon so angewidert gefühlt, dass sie beim Kriminalrat um ihre Versetzung gebeten hatte. Raphael war dankbar, ihre Erfahrung in seiner Abteilung nutzen zu können.

„Wir haben einen Ausweis bei den Sachen gefunden.“

Überrascht blickte Raphael sie an. „Der Mörder hat sich nicht die Mühe gemacht, die Identifizierung seines Opfers zu erschweren?“

„Nein, dies wäre auch überflüssig gewesen. Es handelt sich schließlich bei unserem Toten um Xaver Wolfram, den bekannten Bildhauer und Maler.“

„Von dem habe ich schon mal in der Zeitung gelesen“, sagte Raphael. „Seine Werke habe ich aber nie zu Gesicht bekommen.“

„Es ist schon bemerkenswert, dass der Mörder ihn ausgerechnet hier umgebracht hat“, sagte Cornelia.

Während Markus Jäger sie irritiert anschaute, ahnte Raphael, wovon sie sprach. Xaver Wolfram war ein Künstler gewesen und im Grunde war der Bergpark ein riesiges Kunstwerk, zumindest ein künstlich angelegter Garten mit vielen Bauwerken, die die Zeit des Barocks und der Romantik wiedergeben sollten.

3

„Es tut mir leid, Herr Wolf, aber die Spurensuche dürfte noch Tage in Anspruch nehmen.“ Tobias Unger, der örtliche Einsatzleiter der zentralen Kriminaltechnik, hob bedauernd die Schultern. „Es gibt leider reichlich DNA-Spuren, die wir von vornherein aussortieren können. Man sollte nicht glauben, was die Besucher in dieser Gegend alles im Wald entsorgen. Wir haben Kaugummis, Zigarettenstummel und sogar drei leere Flaschen gefunden, an denen auch Fingerabdrücke vorhanden sind. Aber ich fürchte, dass sie nicht zu unserem Täter gehören. Es sind um das Opfer keine verwertbaren Fußspuren vorhanden. Wir vermuten, dass der Täter Schuhe ohne Profil getragen hat. Auf den Wegen werden wir auch nichts finden, da sie aus zahllosen Kieselsteinen bestehen, die so fest getreten sind, dass dort einfach kein Abdruck zurückbleibt. Mehr kann ich Ihnen derzeit nicht sagen.“

Raphael seufzte. Die Kriminaltechniker würden in den nächsten Stunden mit verschiedenen forensischen Lichtquellen den Tatort absuchen, um noch so winzige verwertbare Spuren zu finden. Daher würden sie hier mit ihrer Ermittlung nicht weiterkommen. Er bedankte sich und wandte sich seinen beiden Mitarbeitern zu.

„Was wissen wir bisher? Welches Motiv könnte hinter dem Mord stehen?“

„Die meisten Morde sind Beziehungstaten. Wir sollten erst einmal sein Umfeld untersuchen“, meinte Markus Jäger.

„Nach einer Beziehungstat sieht mir dieser Mord nicht aus. Dazu wirkt er zu außergewöhnlich“, entgegnete Raphael.

„Laut seines Ausweises war Xaver Wolfram in der Wilhelmshöher Allee wohnhaft. So weit ich mich erinnere, soll er dort auch eine kleine Galerie betreiben.“ Cornelia Becker blickte Raphael erwartungsvoll an.

Wolf warf einen kurzen Blick auf den Tatort, ehe er sagte: „Conny, du fährst ins Präsidium und versuchst alles über Wolframs Umfeld herauszufinden. Verwandte, Freunde, Feinde. Geschieden, verheiratet, verwitwet. Seine ganze Lebensgeschichte. Ich werde mit Markus die Galerie aufsuchen. Vielleicht erfahren wir dort mehr. Wollen wir doch einmal sehen, wie gut sich seine Werke verkauft haben.“

Er war froh, die lästige Schutzkleidung ablegen zu können und als er in seinem Wagen saß, atmete er tief durch. Das Gefühl, den Geschmack von Blut in seinem Mund zu spüren, legte sich langsam.

Markus Jäger, der sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, öffnete die Scheibe eine Handbreit. „Du glaubst nicht, dass wir es mit einer Tat aus Eifersucht oder Rache zu tun haben?“

Raphael behielt die Straße im Auge, als er antwortete: „Mich stört die Anordnung der Leiche. Warum wurde Xaver Wolfram an die Bäume gefesselt? Warum hat man ihm die Kleidung abgenommen?“

„Deutet dies nicht gerade auf ein enges Täter-Opfer-Verhältnis hin?“, fragte Jäger. „Wenn der Täter eine Frau war, würde sie es möglicherweise vermeiden wollen, seine Kleidung unnötig zu beschmutzen. Auch wenn ich dieses Verhalten für irrational halte.“

„Darüber sollen sich die Psychologen den Kopf zerbrechen. Vielleicht haben wir es wirklich mit einem perfiden Racheakt zu tun. Und der Täter will uns bewusst auf eine falsche Fährte locken“, stimmte er Jägers Vermutungen zu. Die meisten Morde wurden einfach von Menschen verübt, die in einem engen Verhältnis zu dem Opfer standen. Nur bei diesem Mord störte ihn eine Kleinigkeit und es ärgerte ihn, dass er nicht bemerkte, um was es sich dabei handelte.

Er stellte den BMW unweit der Galerie ab. Eine Türglocke ertönte, als er mit Markus Jäger den Laden betrat. Der Boden bestand aus hellgrauen Fliesen, während die Wände mit weißer Raufasertapete verkleidet waren. An den weißen Flächen waren Bilder in den unterschiedlichsten Größen angebracht, die alle ausschließlich Landschaften als Motive beinhalteten. Im Raum standen mehrere Skulpturen, die in stilisierter Form Menschen darstellten. Bei einigen war sich Raphael sicher, dass es sich um Ausführungen aus der christlichen Glaubensrichtung handelte. Die bemerkenswerteste Skulptur stand jedoch mitten im Raum und zeigte eine Frau und ein Mann in eindeutiger Stellung, die allgemein als Neunundsechzig bekannt war. Dabei ruhten die Köpfe der beiden Menschen jeweils zwischen den Schenkeln des Partners.

„Dies ist Xaver Wolframs neuestes Werk, meine Herren“, erklang hinter ihnen eine klare Stimme. Raphael wandte sich um und musterte die Frau, die aus einem Hinterraum den Laden betreten hatte. Sie sah sehr gut aus, wobei sich kleinere Fältchen in den Augenwinkeln und auf der Stirn abzeichneten. Raphael schätzte sie auf Mitte Dreißig. Sie trug ein helles Kostüm und unter der Jacke eine weiße Bluse, deren oberste Knöpfe geöffnet waren, sodass man den Ansatz ihrer Brüste erkennen konnte. Ihre schlanken Beine steckten in hohen Stöckelschuhen, die mit schmalen Riemchen an ihren Knöcheln befestigt waren. Ihre gesamte Kleidung war geschmackvoll farblich aufeinander abgestimmt und verriet ihm, dass sie einen sehr modisch orientierten Stil bevorzugte, der sie jünger erscheinen ließ. Raphael blickte in ihre Augen, die in einem strahlenden Blau leuchteten. In ihnen lag ein Ausdruck, der davon zeugte, dass sie bereits einige bittere Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt haben musste. Kühl erwiderte sie seinen Blick.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Der Ton ihrer Stimme rief in Raphael das Bild eisiger Kälte hervor.

„Kriminalpolizei Kassel“, sagte Raphael und hielt ihr seinen Dienstausweis entgegen. „Ich bin Hauptkommissar Wolf und dies ist mein Kollege Hauptkommissar Jäger.“

„Schade, ich gehe wohl recht in der Annahme, dass die Herren Kommissare sich nicht vorrangig für die Kunst interessieren, die hier ausgestellt ist?“

„Bedauere, leider sind wir aus einem traurigen Anlass hier. Darf ich fragen, wer Sie sind und in welcher Beziehung Sie zu Xaver Wolfram stehen?“

„Ich bin Zita Christ, seine Muse. Sie würden es wohl eher als Lebensgefährtin bezeichnen. Ich bin aber auch seine Geschäftsführerin, kümmere mich um den Verkauf seiner Werke und organisiere die Ausstellungen. Darf ich den Grund Ihrer Frage erfahren?“

Raphael hatte schon öfters Todesmeldungen überbringen müssen und es fiel ihm immer nicht leicht. Die Reaktionen der Angehörigen waren dabei sehr unterschiedlich. „Es tut mir leid. Wir haben Xaver Wolfram tot aufgefunden. Er wurde ermordet.“

Zita Christ trat einen Schritt zurück, als hätte sie ein unsichtbarer Schlag getroffen und senkte den Kopf. Dabei fielen die dunklen Haare nach vorne. Sie fuhr sich mit den Händen über ihr Gesicht und warf schwungvoll die Haare zurück. Raphael bemerkte, dass ihre Augen feucht waren. Hinter ihrem Eispanzer steckten als doch Gefühle.

„Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen”, begann Raphael und als Zita Christ stumm mit dem Kopf nickte, fuhr er fort: „Hatte er Feinde? Wurde er bedroht?”

„Feinde?” Zita lachte kurz. „Er hatte viele Feinde. Fragen Sie mal die Macher der Documenta, warum sie ihn immer übergangen haben, wenn es um die Auswahl der Künstler ging, die daran teilnehmen dürfen. Oder fragen Sie den Stiftungsrat der Stadt Kassel, warum er bisher nicht bei der Errichtung eines Grabmals in der Nekropole ausgewählt wurde.“

„Nekropole? Ich dachte, dort dürfte sich jeder Künstler begraben lassen, der diesen Wunsch äußert.“

Die Nekropole der Künstler lag am Blauen See, der diesen Namen gar nicht verdiente, da er selbst bei schönsten Sonnenschein mehr grünlich schimmerte und mit seinem brackigen Wasser und den umgestürzten Bäumen, die im Wasser lagen, eher einen schaurigen Eindruck vermittelte. Diese Begräbnisstätte war von dem Künstler und Professor an der Kunsthochschule Harry Kramer geschaffen worden. Er hatte die Idee, dass sich Künstler ein eigenes Grabmal zu Lebzeiten gestalten sollten. Bisher war nur der Professor in dieser Nekropole beerdigt worden. Er hatte jedoch auf ein Grabmal verzichtet und seine Urne war dort anonym beigesetzt worden.

„Wenn es so einfach wäre, würden bestimmt schon mehr Grabmale dort stehen“, bemerkte Zita Christ ironisch.

Raphael verkniff sich ein Grinsen. Selbst Künstlern wurden von den Behörden nicht jeder Wunsch erfüllt. „Gab es noch mehr Menschen, die ihm eventuell nach dem Leben getrachtet haben?“

„Wenden Sie sich mal an die Künstler, die ihn als Schmierfink bezeichnet haben. Ich kann Ihnen da unzählige Namen geben. Feinde hatte er zuhauf. Aber sie alle konnten seinen Erfolg nicht verhindern.“

„Dann gab es auch Freunde, die ihn unterstützten?“

„Nein, Freunde hatte er nicht. Er wurde verehrt. Sein Publikum liebte ihn. Er hat mehr Werke verkauft, als diese sogenannten Gelehrten von der Kunsthochschule.“ Bitterkeit lag in Zitas Stimme.

„Wenn man so eine Figur erschafft, dürfte man sich über mangelnde Nachfrage sicher nicht beklagen“, sagte Raphael und deutete auf die erotische Skulptur.

Zita Christ trat zu der Figur und fuhr mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand die Konturen nach. „Das ist seine letzte Schöpfung. Er betrachtete sich in der dritten Phase seines Schaffens. Nach Landschaftsbildern und Heiligenstatuen wollte er sich auf dem Feld der Liebe betätigen. Er meinte, dass es Zeit wäre, seine Verehrer und Kritiker nicht länger zu langweilen. Er wollte provozieren und eine Reihe von erotischen Stellungen in einer Serie von Skulpturen herausbringen. Er nannte sie essentielle Seinsfindung extrovertierter Liebe‘. Wissen Sie, er liebte die Erotik in all ihrer Ausdrucksform und hasste konservative Moralvorstellungen.“

„Wollen Sie damit andeuten, dass er die freie Liebe bevorzugte?“, fragte Markus Jäger.

„Nein, Herr Kommissar”, erwiderte Zita und hielt ihren Blick unverwandt auf Raphael gerichtet. „Er zog die Monogamie vor, war aber amourösen Abenteuern nicht abgeneigt. Hin und wieder ging er auch zu den Damen des käuflichen Gewerbes.“

„Hat er Ihnen das erzählt?“, hakte Raphael nach.

„Ja, er liebte die Abwechslung.“ Bitterkeit lag in ihrer Stimme. „Er wollte hin und wieder was Neues erleben. Ich war ihm nicht genug.“

„Warum haben Sie sich nicht von ihm getrennt?“

Zita Christ verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir brauchten einander. Und er hätte mich niemals wegen einer dieser Frauen verlassen.“

„Könnte er im Rotlichtmilieu in Konflikt mit jemanden geraten sein?“, fragte Raphael.

„Das weiß ich nicht, Herr Wolf. Ich bin ihm nicht dorthin gefolgt.“

Raphael betrachtete die Bilder an den Wänden, ehe er sich wieder Zita Christ zuwandte. „Er liebte die nordhessische Landschaft?“

„Oh ja. Früher hielt er sich oft mit seiner Staffelei in den Wäldern und auf den Feldern, die Kassel umgeben, auf und hielt die Eindrücke auf Leinwand fest. Er konnte von den satten Farben der Natur nicht genug bekommen. Wenn die Sonne blutrot unterging, sog er die Naturgewalten in sich auf und brachte den Lichtzauber den Menschen nahe. Selbst nachdem er diese Schaffensphase hinter sich gelassen hatte, ging er jeden Sonntag in den Bergpark, um mit der Natur eins zu werden. Er hielt sich den Tag frei und arbeitete dann auch nicht an seinen Werken.“

„Ich denke, es wäre uns sehr hilfreich, wenn Sie uns eine Liste der Personen machen könnten, die nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Wir werden uns mit ihnen unterhalten müssen.“

„Kein Problem, Herr Wolf. Ich werde Ihnen heute Nachmittag die Liste überbringen. Was geschieht mit seinem Leichnam?“

„Er wird in der Rechtsmedizin obduziert werden. Erst danach können wir ihn zur Beerdigung freigeben. Gibt es irgendwelche Erben? Hat er ein Testament gemacht.“

„Er hatte keine weiteren Verwandten. Es soll angeblich irgendwo einen Sohn geben, aber Genaueres ist mir darüber nicht bekannt. Sein Vermögen und seine Werke sollen in eine Stiftung übergehen, deren Vorsitz ich übernehmen soll.“

„Dann sind Sie die einzige Person, die von seinem Tod profitiert“, bemerkte Markus Jäger.

Raphael registrierte, wie sich die Pupillen der Frau verengten. „Wenn Sie damit ausdrücken wollen, dass ich ihn deswegen umgebracht habe, muss ich Sie leider enttäuschen. Nach dem Tod meiner Eltern verfüge ich über ein größeres Vermögen, das mir alle Freiheiten gewährt. Ich habe es nicht nötig, Profit aus seinem Tod zu schlagen.“

„Entschuldigen Sie, Frau Christ, aber wir müssen jedem Hinweis nachgehen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, gebe ich Ihnen hier meine Telefonnummer“, sagte Raphael und reichte ihr seine Visitenkarte.

„Erwarten Sie nicht zu viel von mir. Ich war seine Freundin, aber er hat mich nicht immer an seinem Leben teilhaben lassen.“

„Manchmal fallen einem die unwichtigsten Dinge ein, die für uns von großer Bedeutung sein können, Frau Christ.“

Als sie wieder in ihrem Wagen saßen, konnte Markus sich nicht mehr zurückhalten. „Sag mal, gefällt dir neuerdings dieser Typ von Frau? Hattest du in deinem Urlaub nicht genug Zeit gehabt, ausgiebig zu flirten. Ich dachte, du hättest in der Zwischenzeit endlich eine neue Frau gefunden. Dir sind bei ihrem Anblick ja beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen.“

„Du übertreibst maßlos, Markus. Ich habe sie nur ein wenig länger angeschaut. Daran ist nichts Verwerfliches. Sie ist schließlich eine attraktive Frau.“

Jäger verdrehte die Augen. „Klar, Chef. Wie lange bist du jetzt geschieden?“

„Zwei Jahre.“

„Dann wird es wirklich Zeit, dass du endlich eine neue Beziehung eingehst. Oder hast du ein Problem mit …“ Markus Jäger zog den Sicherheitsgurt aus der Verankerung und ließ ihn ins Schloss einschnappen.

„In dieser Hinsicht bin ich kerngesund, alter Mann.“

„Na, dann gehe ich lieber mal bei unseren Damen des käuflichen Gewerbes vorbei und erkundige mich dort, wen unser Künstler aufgesucht hat. Du würdest bei deinen erkennbar vorhandenen Entzugserscheinungen erst nach Tagen wieder auftauchen.“

Raphael grinste. „Und du bist verheiratet und mit Sicherheit damit nicht vor den Versuchungen automatisch geschützt. Daher wird Conny dich dabei begleiten.“

„Mensch, Chef, sei doch kein Spielverderber. Gönne einem alten Mann auch mal sein Vergnügen. Du weißt doch, ich werde nur schauen, nicht anfassen. Gegessen wird immer noch zu Hause.“

„Irgendwie glaube ich dir nicht so recht. Außerdem will ich es mir nicht mit deiner Frau verscherzen. Am Ende ist sie mir dann böse, weil ich dich in Versuchung gebracht habe.“ Raphael genoss die Frotzelei zwischen ihnen. Er kannte Markus’ Ehefrau und er konnte sich kein glücklicheres Ehepaar vorstellen. Sie hatten zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, die beide mittlerweile in Marburg und Göttingen studierten. Markus’ Frau liebte jedoch das Theater und ihr Mann musste sie ständig zu den Premieren begleiten. Er meckerte zwar immer, dass er sich furchtbar bei diesen Aufführungen langweile, aber im Grunde ging er jedes Mal wieder mit, wenn seine Frau Karten für die nächste Vorstellung besorgte.

„Was meinst du, könnte Zita Christ was mit der Ermordung zu tun haben?“, fragte Raphael.

„Sie ist nicht gerade in große Trauer ausgebrochen, als wir ihr von Wolframs Tod berichtet haben.“

„Das ist kein Zeichen für eine Beteiligung. Du weißt, wie unterschiedlich die Menschen reagieren, wenn sie vom Tod eines ihnen nahestehenden Menschen erfahren. Manche brechen zusammen, heulen sich die Augen aus dem Leib und andere reagieren völlig emotionslos, so als ginge sie das alles nichts an. Ich sage dir, dass diese Menschen später in ein stilles Kämmerlein gehen und ihre Trauer für sich alleine ausleben. Zita Christ mag dir nach außen gefühllos erscheinen, aber ich habe die Betroffenheit über Wolframs Tod in ihren Augen gesehen.“

„Das mag sein. Nach meiner Einschätzung wird sie trotzdem versuchen, aus seinem Tod Profit zu schlagen. Die meisten Künstler haben nach ihrem Ableben mehr verdient, als zu dem Zeitpunkt, wo sie noch am Leben waren.“

„Aber mit Sicherheit aus dem einen Grund, dass die Menschen erst in diesem Augenblick realisierten, dass es keine neuen Werke von ihnen geben würde, und sie sich daher schnell noch ein Erinnerungsstück sichern wollten. So besaßen sie etwas, das ihr Idol für immer in ihren Herzen lebendig hielt.“

„Du unterstellst den Fans damit zu hehre Motive.“

„Ich glaube trotz der Erlebnisse in meinem Beruf an das Gute im Menschen“, entgegnete Raphael. „Und Profitgier könnte ein Motiv sein, aber mein Instinkt sagt mir, sie war es nicht.“

„Weil sie für den Mord unter den derzeitigen Umständen nicht in Frage kommt, heißt das nicht, dass sie nicht doch etwas damit zu tun hatte.“

„Du denkst an einen Auftragskiller?“ Raphael kniff die Augen zusammen.

„Sie könnte jemandem genug Geld geboten haben, damit er ihn beseitigt. Schließlich hat Wolfram sie tief verletzt, indem er sie betrogen hat.“

„Dann überprüfe ihre Konten, ob eine größere Summe abgehoben oder überwiesen wurde“, ordnete Raphael an. „Check dabei auch ihr Umfeld auf Personen, die bereit wären, für Geld alles zu tun.“

4

Im Polizeipräsidium angekommen, ging Raphael als Erstes zu seinem Vorgesetzten. Kriminalrat Albert Gehrmann saß in seinem Büro hinter seinem Schreibtisch über eine Akte gebeugt. Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück, als Raphael den Raum betrat.

„Haben Sie schon erste Ergebnisse?“, begrüßte er den Ersten Hauptkommissar.

Raphael setzte sich auf einen der beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch standen und schlug die Beine übereinander.

„Nach Auswertung der bisherigen Spurenlagen, befürchte ich, dass wir vor langwierigen Ermittlungsarbeiten stehen.“

Gehrmann strich sich über das dunkle Haar, in dem sich deutlich graue Strähnen abzeichneten. Er war Mitte Fünfzig und von drahtiger Statur. Jeden Morgen joggte er eine halbe Stunde durch den Habichtswald, ehe er seinen Dienst antrat. Er intensivierte sein Lauftraining immer kurz vor dem jährlich stattfindenden Stadtmarathon auf über eine Stunde, um wenigstens die Halbmarathonstrecke mehr oder weniger erfolgreich zu bewältigen. Um die gesonderte Wertung um den Polizei-Cup für Dienststellenangehörige für sich entscheiden können, hätte er erheblich jünger sein müssen, da bei diesem Wettbewerb keine Altersklasseneinteilung erfolgte.

„Sie wissen, dass ich keinen schnellen Erfolg von Ihnen erwarte. Jedoch war Xaver Wolfram soweit bekannt, dass sein Tod bis zu unserem Oberbürgermeister durchgedrungen ist, und er hat bereits bei unserem Kriminaldirektor angerufen und sich nach dem Stand der Ermittlungen erkundigt.“

„Wie immer vollbringen wir Wunder sofort“, sagte Raphael sarkastisch.

„Unsere Politiker sind nun einmal nur an Ergebnissen interessiert“, erwiderte Gehrmann trocken.

„Klar, aber wenn es um Aufstockung unseres Personals geht, haben sie taube Ohren.“

Gehrmann winkte ab. „Da erzählen Sie mir nichts Neues. Für die Umstellung der Uniformen unserer Beamten und der Polizeiwagen auf das neue Aussehen war genug Geld vorhanden. Das Land Hessen leistete sich sogar den Luxus, für die Streifenbeamten eine eigene blaue Bekleidung herauszubringen. Ich will unseren Politikern aber keine Verschwendung unterstellen, schließlich ist die neue Kleidung wirklich zweckmäßiger und bequemer.“

„Besonders unsere Beamtinnen haben sich endlich über die neue Uniform gefreut. Blau kleidet sie auch besser.“

Albert Gehrmann unterdrückte ein Lächeln. „Wir sollten uns in dem Mordfall jedenfalls von vornherein klar werden, was wir an die Presse weitergeben. Außerdem sollten Sie im Hinterkopf behalten, dass die Stadt Kassel gemeinsam mit dem Land Hessen plant, sich für den Bergpark bei der Unesco um den Titel als Weltkulturerbe zu bewerben. Selbst wenn diese Angelegenheit noch nicht konkret ist und der Welterbeantrag bei der Unesco erst noch eingereicht werden muss, sollten wir darauf achten, dass sich aus dieser Geschichte keine negative Publictiy für den Bergpark entwickelt. Das würde nicht gerade förderlich für ein Bewerbungskonzept sein. Ich würde mich ungern dem Landrat oder dem Staatsekretär für unsere Handlungsweisen rechtfertigen müssen. Wir befinden uns derzeit im Jahr Zweitausendundneun und müssen die zukünftigen Entwicklungen und die Interessen der Politik im Auge behalten.“

Raphael nickte verstehend. „Ich werde daran denken, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass ein Mord keine Auswirkungen in irgendeiner Hinsicht auf eine Bewerbung haben wird. Und bis die Unesco den Bergpark in ihre Liste der Welterbestätten aufnimmt, wird wohl noch viel Wasser die Fulda hinabfließen.“ Er beugte sich vor. „Abgesehen davon, würde ich Sie jedenfalls bitten, vorerst nicht auf die näheren Umstände von Wolframs Tod einzugehen. Sagen Sie einfach auf der Pressekonferenz, dass aus ermittlungstechnischen Gründen lediglich bekannt gegeben werden kann, dass man Wolfram die Kehle durchgeschnitten hat.“

„Daraus entnehme ich, dass Sie den ungewöhnlichen Umständen seines Ablebens eine besondere Bedeutung beimessen“, schlussfolgerte Gehrmann.

„Solange uns ein Motiv für den Mord nicht ersichtlich ist, müssen wir in alle Richtungen nachforschen. Es könnte bisher jeder in Frage kommen. Sei es ein Verwandter, Freund, weitläufiger Bekannter oder gar ein Verrückter.“

„Ich kann mich an keinen Mord in den letzten Jahren in der Region erinnern, wo wir so eine schlechte Ausgangsposition besaßen“, sagte Gehrmann in Gedanken versunken.

„Aus diesem Grund sollten wir wesentliche Details verschweigen“, erklärte Raphael nachdrücklich. „Je weniger die Öffentlichkeit die genauen Umstände des Todes kennt, umso leichter ist unsere Arbeit.“

Gehrmann schürzte die Lippen, ehe er einen Seufzer ausstieß. „Ich habe bereits Anfragen der großen Fernsehanstalten erhalten, die ich noch problemlos vertrösten kann. In den Regionalzeitungen können wir aber die Bevölkerung um Mithilfe bitten, wenn Sie damit einverstanden sind.“

„Darum hätte ich Sie auf jeden Fall gebeten“, stimmte Raphael zu. „Vielleicht gibt es doch einen Zeugen, dem Ungewöhnliches aufgefallen ist. Am Sonntagabend waren mit Sicherheit noch genügend Menschen im Park unterwegs gewesen. Einer von den Besuchern könnte durchaus etwas gesehen haben.“

„Ich werde unseren Pressesprecher sofort darüber informieren, dass eine offizielle Meldung hinausgeht, in der unter anderem steht, dass wir für jeden klärenden Hinweis dankbar wären.“

„Und sagen Sie auch, dass wir mehrere Spuren verfolgen“, schlug Raphael vor. „Möglicherweise beunruhigt dies unseren Mörder, wenn er es liest.“

„Dann halten Sie mich aber über Ihre Ermittlungsergebnisse auf dem Laufenden“, forderte der Kriminalrat. „Ich werde Ihnen, solange es geht, den Rücken freihalten und mich um die Presse kümmern.“

Raphael dankte ihm und verließ das Büro. Im vierten Stock des Präsidiums suchte er das Dienstzimmer von Cornelia Becker auf.

„Hast du was für mich, Conny?“

„Nichts, Chef. Xaver Wolfram ist niemals in Konflikt mit dem Gesetz gekommen. Es gibt noch nicht einmal einen Eintrag eines Verkehrsverstoßes. Der Mann verfügte über eine blütenreine Weste.“

„Und finanziell?“

„Es ist alles so, wie ihr von Frau Christ erfahren habt. Der Mann besaß genug Geld, um sich alles leisten zu können, was nicht aus dem Rahmen fällt. Er hätte sich locker zwei Ferraris zulegen können, ohne Schulden zu machen.“

„Hast du ein aktuelles Foto von ihm?“

„Ja. Er hatte auf seiner Internetseite ein Porträt eingestellt.“

„Druck es dir aus und dann geh nachher mit Markus in die Etablissements in der Wolfhager Straße. Erkundigt euch dort nach ihm. Ich werde in die Kunsthochschule fahren und mich mal bei den Professoren umhören. Laut Frau Christ waren sie nicht besonders gut auf Wolfram zu sprechen.“

5

Als Raphael am späten Nachmittag die Kunsthochschule verließ, war er keinen entscheidenden Schritt weiter gekommen. Wie er feststellen musste, war Xaver Wolfram in Kollegenkreisen nicht beliebt, aber dafür umso erfolgreicher gewesen, was das Marketing seiner Werke betraf. Die Professoren bezeichneten ihn als Emporkömmling, Autodidakten ohne Kunstverständnis oder gar als Parasiten der Szene. Motive hatten sie reichlich, aber wirklich zutrauen würde er keinem der Professoren die Tat. Sie waren eher an dem Ende von Wolframs künstlerischer Laufbahn interessiert gewesen.

Conny hatte ihn kurz auf sein Handy angerufen und ihm noch mitgeteilt, dass Zita Christ wirklich finanziell unabhängig war. Sie verfügte über rund fünf Millionen Euro auf diversen Konten, in Wertpapieren und weiteren Kapitalanlagen. Auf Raphaels Liste der möglichen Tatverdächtigen rückte sie vorerst an letzter Stelle, wobei diese Liste sehr wenige Namen umfasste. Ein wahres Motiv für die Tat war nicht zu erkennen, und somit tappte er mit seinem Team im wahrsten Sinne im Dunkeln. Er glaubte auch nicht daran, dass die Befragung der Prostituierten einen Durchbruch bringen würde.

Raphael begab sich in sein Lieblingsrestaurant in der Friedrich-Ebert-Straße und bestellte Spaghetti Carbonara. Beim Essen beobachtete er die Anwesenden. Immer wieder sah er besonders häufig Paare in gemeinsamer Vertrautheit zusammensitzen. Wie viele von ihnen würden bis zu ihrem Lebensende für immer zusammenbleiben? Waren nicht die meisten Beziehungen zum Scheitern verurteilt, weil die Menschen immer das perfekte Glück suchten?

Markus hatte wirklich Recht. Er sollte sich ernsthaft nach einer Frau umsehen. Schließlich war er erst einundvierzig und hatte nicht die Absicht, sein Leben als Single zu fristen.

„Heute so trübsinnig?“ Ein kleiner, rundlicher Mann mit schwarzen Haaren, der eine Kochschürze um die Hüften trug, setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Es war Luigi, der Koch und Inhaber des kleinen Restaurants. Raphael kannte ihn schon seit Jahren und zwischen ihnen hatte sich im Laufe der Zeit eine echte Freundschaft entwickelt.

„Es ist nur der Job, Luigi. Ich musste heute viel zu früh aus den Federn.“

„Ey, Mann, erzähl mir nichts. Wie du eben ausgesehen hast, fehlt dir bloß eine Frau.“

„Jetzt fang du nicht auch noch davon an. Habe ich neuerdings einen Zettel mit einer Suchanzeige auf der Stirn kleben?“

„Jetzt hör mir mal zu, Raphael. Ich bekomme seit über zwanzig Jahren die unterschiedlichsten Gäste zu Gesicht, und ich weiß immer, wenn einer von denen längere Zeit alleine lebt oder keinen Sex hatte. Du solltest mal wieder richtig vögeln. Das macht den Kopf frei. Ein zu hoher Testosteronspiegel schädigt auf Dauer deinen Körper und macht dich aggressiv.“

„Das ist mir neu“, erwiderte Raphael ironisch. „Ich fühle nicht das Bedürfnis mich mit jemandem zu prügeln.“

Luigi breitete die Arme aus. „Mamma mia, du bist ein sturer Dickschädel. Lös dich mal von deinen redlichen Vorstellungen. Siehst du die Kleine da vorne?“

Raphael blickte an den Tischen vorbei in den hinteren Teil des Raumes. Eine Kellnerin servierte gerade zwei jungen Frauen eine große Pizza, die sie sich teilen wollten, so schlank wie sie aussahen.

„Welche meinst du?“

Luigi verdrehte die Augen. „Bist du jetzt Bulle oder bist du keiner? Natürlich meine neue Bedienung. Die beiden anderen kenn ich. Die sind lesbisch. Nein, die Neue ist ein echter Feger. Die brennt dir beim Vögeln das Hirn raus. Ich sage dir, die kennt Stellungen, das hältst du nicht für möglich. Und dabei ist die gerade mal zwanzig. Und einen Körper hat die. Der liebe Herrgott hat sie gesegnet“, schwärmte Luigi und rückte mit dem Stuhl näher an Raphael heran. „Die hat mir Muskelpartien gezeigt, von denen ich noch nicht geahnt habe, dass es sie gibt“, flüsterte er ihm zu und warf gleichzeitig der jungen Frau, die mit ihrem Tablett zur Theke zurückkehrte, ein strahlendes Lächeln zu. Raphael zog staunend die Augenbrauen hoch. Was fanden die jungen Mädchen an dem kleinen Italiener so anziehend? Luigi sah nicht gerade wie ein Adonis aus und besonders reich war er mit seinem Restaurant auch nicht geworden. Wahrscheinlich war es sein südländischer Charme, mit denen er sie umgarnte und der ihn unwiderstehlich machte.

„Sie sieht wirklich klasse aus“, erwiderte Raphael. „Aber ich denke, bei dir ist sie in den besten Händen.“

„Überleg es dir, Bruder. Mit dir teile ich gerne.“

„Dein Angebot ehrt mich, aber heute habe ich noch was anderes vor.“

„Da kann man nichts machen. Ich muss jetzt in meine Küche zurück. Wir sehen uns.“

Raphael zahlte und beschloss, zu der Pokerrunde seiner Freunde zu gehen, die einmal im Monat stattfand. Er fuhr zur Wohnung von Titus Sand. Dort traf er auf Sebastian Preuss und Richard Falkenberg. Sie begrüßten ihn freudig und Titus bot ihm einen Stuhl an. Richard schob ihm einen Stapel Chips zu, die er von einem kleinen Tisch nahm. Sie hatten abgemacht, dass jeder Spieler eine bestimmte Summe im Jahr in eine gemeinsame Kasse einzahlte, die Richard verwaltete. Diese Kasse stellte dann ihr Spielgeld dar. Somit wollten sie verhindern, dass einer von ihnen beim Spiel alles verlor. Die gewonnenen Chips wurden am Ende eines Abends von Richard notiert und in eine separate Liste eingetragen. Am Ende des Jahres wurde der Sieger ermittelt und jeder erhielt eine nach der Platzierung festgelegte Summe als Gewinn. Lediglich der Viertplatzierte ging leer aus. Der Sieger lud alle zu einem gemeinsamen Essen ein. Es ging bei ihrem Spiel aufgrund dieser Regeln nicht allein ums Gewinnen, sondern auch darum, festzustellen, wer über das Jahr der beste Pokerspieler war.

Während Richard als Geber dieser Runde die Karten austeilte, fragte Sebastian neugierig: „Wie weit seid ihr im Mordfall Wolfram? Schon einen Verdächtigen im Visier?”

Raphael schaute die ersten beiden Karten an, die vor ihm verdeckt auf dem Tisch lagen. Eine Dame und eine Zehn. Eine gute Ausgangsbasis, um im Spiel zu bleiben. Er ging den Einsatz mit, um den Titus den Pot erhöhte.

„Nein. Wir stehen mit unseren Nachforschungen noch ganz am Anfang.”

„Komm, du bist doch eine richtige Spürnase. Deinen letzten Fall hast du innerhalb weniger Stunden gelöst. So schnell konnte ich noch nicht einmal meinen Artikel schreiben.” Sebastian war Journalist bei Nordhessens größter Zeitung und Raphael hatte ihm hin und wieder eine Information zukommen lassen, wenn er bei einem Fall nicht weiter kam. Manchmal stießen die Journalisten bei ihren Recherchen auf Aussagen und Tipps, die auch der Polizei nützlich sein konnten. Eine Hand wäscht die andere, lautete ein bekanntes Sprichwort und Raphael hielt es für durchaus sinnvoll, sich gegenseitig zu helfen. Er vertrat den Standpunkt, dass es legitim war, wenn man die Presse für die eigenen Zwecke einspannte. Die Polizei konnte die Macht der Medien nicht völlig ignorieren.

„Ich kann dir diesmal auch nicht mehr erzählen, als was unser Pressesprecher bisher herausgegeben hat. Wir verfolgen etliche Spuren, aber darunter ist noch keine, die uns entscheidend weiterbringt.”

„Komm, Sebastian, lass unseren Bullen in Frieden spielen”, sagte Richard und legte die nächsten drei Karten offen in die Mitte des Tisches. Es waren eine Dame, eine Sieben und ein Bube.

Gewöhnlich spielten sie Five Card Draw, eine Pokervariante, die man aus den alten Westernfilmen kannte, wo die Männer in verrauchten Saloons um einen runden Tisch saßen und ihrer Leidenschaft nachgingen.

Zu Beginn des Jahres hatten sie jedoch beschlossen, das mittlerweile sehr beliebte Texas Hold’em zu spielen.

Raphael überlegte nicht lange. Bei dem Blatt, dass er jetzt vor sich liegen sah, musste er den Einsatz mitgehen, den Titus erneut brachte.

„Das würde ich gerne”, entgegnete Sebastian, „aber mein Redakteur will, dass ich in den kommenden Tagen weitere Berichte über das furchtbare Verbrechen verfasse, um sie als Aufmacher zu bringen. Die Leser verlangen danach. Und was ihr bisher über die Tat bekannt gegeben hat, ist nun einmal sehr dürftig. Handelt es sich wirklich um einen Mord?”

Raphael lächelte. „Du bekommst kein Wort aus mir heraus. Ich verspreche dir aber, dass du es als Erster erfährst, wenn der Fall aufgeklärt ist. Ich gebe dir dann exklusive Informationen.”

„Scheiße Mann, du scheinst wirklich nichts zu wissen.” Sebastian griff nach seinem Wodkaglas und leerte es in einem Zug. Er schaute in seine beiden Karten. Dabei fuhr er sich nervös über die Lippen. „Dann setze ich mal fünfzig Mäuse.”

„Hoffentlich überschätzt du nicht dein Blatt. Ich halte dagegen”, erklärte Titus, während Richard eine weitere Karte aufdeckte. Es handelte sich um eine Zehn.

Sebastian schaute erneut in seine Karten und warf sie von sich. Raphael hatte gleich vermutet, dass er kein gutes Blatt besessen und versucht hatte, einen Bluff durchzuziehen.

Richard blickte, nachdem er die Geberkarten neben sich gelegt hatte, kurz in seine eigenen Karten und passte. „Ich bin draußen. Ich habe schon den ganzen Abend kein gutes Blatt erhalten.”

„Hauptsache deine Patienten überleben deine Behandlung. Die brauchen, Verzeihung, haben vielleicht mehr Glück, wobei ich mir sicher bin, wer bei dir auf dem Operationstisch landet, benötigt bei deinen Fähigkeiten keine Überlebenschancen. Im Grunde sehen sie danach eher noch besser aus”, bemerkte Titus ironisch.

Richard Falkenberg hob eine Augenbraue. „Sei lieber vorsichtig mit deinen Äußerungen. Vielleicht musst du irgendwann einmal meine Künste in Anspruch nehmen, wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich bei deinem Gesicht wirklich noch etwas retten kann.“

Allgemeines Gelächter erschallte in der Runde, während Titus ein empörtes Schnauben ausstieß. „Ihr seid doch bloß alle neidisch auf mein gutes Aussehen.“

Richard war Schönheitschirurg im Städtischen Klinikum. Man sagte ihm nach, dass er ein lukratives Angebot einer großen Klinik in Berlin ausgeschlagen hatte, um bei seiner Frau und seinen drei Kindern zu bleiben. Er verdiene genug, erklärte er immer wieder, wenn man ihn nach den Gründen fragte.

Nachdem nur noch Raphael und Titus im Spiel waren, warf Richard als letzte Karte einen König auf den Tisch.

Titus drehte selbstsicher mehrere Chips in seinen Fingern hin und her, ehe er um zweihundert Euro erhöhte.

Raphael vermutete, dass er entweder noch einen König und einen Buben unter den beiden verdeckten Karten besaß. Möglicherweise hatte er auch zwei Könige. Dies würde sein Zwillingspaar von zwei Damen und den beiden Zehnen locker schlagen. Wenn wenigsten noch ein As oder eine Neun vor ihm liegen würde, hätte er immerhin eine Straße bilden können. Damit wäre ihm der Sieg auf jeden Fall sicher gewesen.

„Passe”, sagte er schließlich und warf seine verdeckten Karten zu Titus zurück. Er fühlte sich einfach zu müde, um den Pot noch weiter in die Höhe zu treiben und am Ende der Runde viele Chips unnötig zu verlieren.

„Oh, Mann, der Mord scheint dir echt nahe zu gehen. Du lässt dich sonst nicht so leicht aus dem Spiel bluffen”, grinste Titus ihn an, als er den Pot einsackte. Er drehte seine Karten um und offenbarte ihm zwei Sechsen. Raphael fluchte. Allein mit den beiden Zehnen hätte er gegen ihn gewonnen.

Titus war Schriftsteller und hatte in den letzten Jahren fünf Bücher veröffentlicht, die ihn zwar nicht reich gemacht hatten, aber es ihm finanziell ermöglichten, weitere Romane zu schreiben. Der große Bestseller war bisher nicht darunter gewesen. Dafür war er ein umso besserer Kartenspieler. Titus ging regelmäßig in die Spielbank und setzte sich stundenlang an die Black-Jack-Tische. Raphael war nicht bekannt, dass er dort größere Verluste erlitten hatte.

„Kein Mord lässt mich kalt, Titus. Wenn es dies tun würde, würde ich meinen Beruf an den Nagel hängen. Ich werde diesen Mörder jagen und ich werde ihn schnappen. Du weißt, bisher konnte ich die meisten Verbrechen aufklären.”

„Ich wünsche dir viel Erfolg dabei.” Titus hob sein Glas. „Ich trinke auf unseren Jagdhund.”

Richard und Sebastian hoben ihre Gläser und brachten auch einen Toast auf ihn aus. Verlegen schüttelte Raphael den Kopf. „Euren Glauben würde ich gerne besitzen. Lasst uns lieber spielen, ich muss meinen Verlust wieder reinholen.”

6

Der Killer betrat die Kirche und ging durch die hölzernen Bankreihen bis zum Altar vor. Seine Schritte hallten laut durch die Weite des Kirchenschiffes. Eine angenehme Kühle hüllte ihn ein. Die Buntglasfenster strahlten im Sonnenlicht und die Farben wurden mosaikartig auf den Boden der Kirche reflektiert.

Vor dem Altar kniete er nieder, schlug das Zeichen des Kreuzes vor der Brust und faltete die Hände zum Gebet. Leise sprach er das Vaterunser.

Er hatte getötet. Nicht zum ersten Mal. Aber diesmal geschah es in Seinem Namen. Er hatte den Auftrag erhalten. Er erinnerte sich noch gut an seinen ersten Mord. Es war so einfach gewesen. Viel leichter, als er es sich vorgestellt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nie getötet. Er hatte immer angenommen, dass es schwer war, einen Menschen umzubringen. Aber Hass und Wut hatten ihn angetrieben. Und er musste es tun, denn der Teufel trat in vielfältiger Gestalt auf und nahm den Menschen in Besitz. Niemals hatte er geglaubt, dass dies wirklich geschehen könnte. Aber er hatte es selbst erlebt. Sein zweiter Mord war dann die endgültige Befreiung gewesen. Von diesem Zeitpunkt an war sein Weg vorbestimmt. Er hatte seinen Glauben gefunden. Den wahren Glauben.

Wie hatte er gelitten, als sein Vater ihm den christlichen Glauben auf seine Art vermittelte. Jeden Abend musste er vor dem Bett niederknien und ein Gebet sprechen. Er hatte es auswendig lernen müssen und wenn sein Vater nicht zufrieden war, hatte er seinen Gürtel genommen und ihn aufgefordert sich zu entblößen. Immer hatte er vor diesem Augenblick gezittert. Tiefe Striemen hatte der Gürtel auf seinem Rücken und seinem Hintern hinterlassen. Sein Vater hatte solange geschlagen, bis ihm das Blut über den Körper geflossen war. Nur wenn das Blut floss, erklärte ihm sein Vater, würde die Sünde aus ihm gespült werden.

Jeden Sonntag ging es erst in die Kirche und am Mittag musste er nach dem gemeinsamen Essen eine Stelle aus der Bibel auswendig aufsagen. Danach hielt ihm sein Vater eine Predigt über die Sünden der Menschen und der Verderbtheit der Welt. Sein Vater trug dann immer seinen besten Anzug, und wenn er seine Aufgabe gut gemacht hatte, fuhr er mit ihm nach Frankfurt und sie gingen für eine Stunde in den Zoo. Dort erklärte ihm sein Vater, dass es Menschen gab, die sich wie Noah zur Aufgabe gemacht hatten, die Schöpfung Gottes zu erhalten. Viele dieser armen Kreaturen seien dennoch von der Welt verschwunden, weil die meisten Menschen vergessen hatten, dass alle Lebewesen auf der Erde Gottes Kinder sind.