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Während Raphael Wolf den Personenschutz für Anja Richter, der Tochter des Hessischen Ministerpräsidenten übernimmt, wird in einem Studentenwohnheim eine junge Frau ermordet aufgefunden. Doch es bleibt nicht bei einem Mord. Kurz darauf wird im Reinhardswald eine weitere Tote gefunden.
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Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Rosenblut
Andreas Groß
e-book 061
Erscheinungstermin: 01.11.2019
© Saphir im Stahl
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Titelbild: Shutterstock Bilderdienst
Vertrieb: neobooks
Rosenblut
Andreas Groß
1
Romeo fühlte eine tiefe, innere Ruhe, als er den schmalen Flur entlang lief. Jeder andere an seiner Stelle wäre vor seinem ersten großen Auftritt aufgeregt gewesen. Er dagegen war die Ruhe selbst. Bedauerlicherweise würde kein Publikum bei seinem grandiosen Spiel zusehen. Doch der Tag würde kommen, an dem er seine wunderbare Rolle endlich vor begeisterten Zuschauern präsentieren konnte. Niemand würde sie ihm dann noch streitig machen. Schließlich gab es keinen besseren Schauspieler dafür. Sie würde ihm am Ende zu ewigem Ruhm verhelfen.
Im Grunde war ihm dies nicht so wichtig. Entscheidend war viel mehr, dass er nach dem Fall des letzten Vorhangs wieder mit seiner wahren Liebe vereint sein würde. Er war sicher, sie würde ihn erwarten. Sie hätte ihn niemals enttäuscht.
Seine Finger berührten den seidenen Stoff des Schals, den er in seiner Jackentasche versteckte. Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Tür öffnete. Julia erwartete ihn. Eigentlich hieß sie anders, aber dies war für ihn nicht wichtig. Für ihn war sie schlicht und einfach Julia. Ihr eigentlicher Name besaß im Grunde keine größere Bedeutung für ihn.
Jedenfalls ahnte sie nichts von seiner wahren Absicht, die er geschickt vor ihr verbarg. Immerhin sollte es ihm als Schauspieler leicht fallen. Ein freudiger Schauer lief ihm bei dem Gedanken über den Rücken. Er war gekommen, um zu töten.
Sie strahlte ihn an, als er das Zimmer betrat und leise die Tür hinter sich schloss.
„Du bist schon da“, sagte sie freudig. „Ich bin gleich soweit. Muss mir nur noch schnell die Wimpern nachziehen und das passende Outfit überwerfen. Dann können wir los.“
Romeo zuckte mit den Schultern. „Du übertreibst schon wieder. Bei deiner natürlichen Schönheit brauchst du eigentlich kein Make-up.“
Julia zog die Brauen hoch. „Flirtest du etwa mit mir? Du weißt hoffentlich, dass ich nicht auf dich stehe. Wir sind nur Freunde ...“
Romeo hob abwehrend die rechte Hand. „Keine Angst, ich wollte dich nicht anmachen. Außerdem weiß ich doch, wen du ganz besonders liebst. Und selbst wenn, du bist einfach nicht mein Typ.“ Verlegen senkte er den Kopf.
Julia verzog die Lippen zu einem Schmollmund. „So genau wollte ich das jetzt auch nicht wissen.“
Romeo seufzte. „Ich wollte dich nicht beleidigen“, erklärte er hastig. „Ich bin halt ehrlich.“ Langsam schritt er durch das Zimmer und ließ sich auf einen Drehstuhl nieder, der vor einem schlicht aussehenden Schreibtisch stand. Sorgfältig achtete er darauf, die Armlehnen nicht zu berühren, während er auf dem Stuhl herumschwang, um sie weiterhin beobachten zu können.
Julia huschte ins Bad. Romeo warf ihr einen bewundernden Blick hinterher. Sie besaß die gleichmäßigsten und längsten Beine aller Studentinnen an der Uni. Ihre makellose Haut glänzte in einem sanften Bronzeton. Sie musste sich nicht ins Solarium begeben, um die perfekte Bräune zu erreichen. Julia war einfach eine Naturschönheit.
Romeo lauschte dem Rauschen des Wasserhahns. Am liebsten wäre er ihr gefolgt. Aber das Badezimmer war nicht der richtige Ort, um sein Vorhaben zu verwirklichen. Aus diesem Grund unterdrückte er mühelos seinen Drang. Er konnte noch warten.
Sie lief auf Zehenspitzen aus dem Bad zu ihrem Schlafzimmer. „Ich muss nur noch mein Outfit überstreifen“, verkündete sie im Vorbeilaufen. „Dieser Abend wird bestimmt wahnsinnig toll. Ich kann es nicht erwarten, den neuen Club aufzusuchen“, erklang ihre Stimme durch die offen stehende Tür ihres Schlafzimmers.
Romeo genoss jede Minute. Er musste einfach jeden dieser letzten Momente auskosten, bis seine Stunde endlich schlug. Zärtlich spielten seine Finger mit dem Schal. Der große Augenblick näherte sich unaufhaltsam. Er hörte, wie sie den Kleiderschrank öffnete, und vernahm das kratzende Geräusch, als die Bügel auf der metallenen Stange hin und her geschoben wurden.
Er spürte, wie seine Erregung wuchs. „Der Club soll wirklich eine Sensation sein“, erwiderte er. „Ich habe gehört, dass dort viele Prominente verkehren sollen.“
Julia schob ihren Kopf hinter dem Türrahmen hervor. „Vielleicht treibt sich ein Modelscout dort herum und entdeckt einen von uns. Oder am Ende laufen wir einem Modedesigner über den Weg und ...“ Sie schnippte mit den Fingern „... ehe wir uns versehen, finden wir uns auf einem Cover wider.“
Romeo lachte. „Du träumst. Ich werde bestimmt kein Model, dafür sehe ich nicht gut genug aus. Doch du dagegen hast die perfekte Figur. Und mit deinen blonden Haaren verzauberst du jeden Mann.“
„Mach dich nicht kleiner als du bist. Du bist nicht weniger attraktiv.“ Julia schenkte ihm ein Lächeln, ehe sie sich wieder ins Schlafzimmer verzog.
Sie ist wunderschön, schoss es ihm durch den Kopf. Er begehrte sie auf seine ihm eigene Art, die sie mit Sicherheit nicht verstehen würde. Schließlich war es kein körperliches Begehren. Jetzt nicht mehr. Selbst wenn er Sex mit ihr gehabt hätte, würde er dabei nichts empfinden. Am Ende war sie auch nur ein weiteres verlogenes Miststück. Seine Liebe gehörte für immer der wahren und einzigen Julia.
Dieses Mädchen dagegen war eine Beziehung mit jemandem eingegangen, dem sein ganzer Hass gehörte. Sie war die Person, die er zerstören wollte, ihr die Seele und den Verstand nehmen. So, wie die falsche Julia es mit ihm getan hatte.
Sie alle waren verblendet. Alle waren der Person hörig, der seine Verachtung galt.
Er fühlte kein Bedauern darüber, dass sie sterben musste. Es war einfach eine Notwendigkeit. Warum mussten sie sich auch mit dieser verlogenen Hexe anfreunden? Genau das war jetzt ihr Todesurteil, denn seine Liebe war unerfüllt geblieben. Niemand hatte ihm Trost geschenkt, als er getrauert hatte.
Lange hatte er gewartet, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Endlich sollte das hinterhältige Biest den Schmerz des Verlusts spüren, immer und immer wieder, genauso wie er ihn in seinem Herzen jeden neuen Morgen fühlte. Für sein weiteres Handeln war allein diese Tatsache entscheidend.
Er kannte die neue Julia erst seit zwei Wochen. Trotzdem erschien es ihm wie eine Ewigkeit, in deren Zeit er von alles umfassender Freude bis zu endlos scheinender Traurigkeit alle Arten von Gefühlen durchlebt hatte. Für einen Augenblick hatte er gehofft, er könnte eine neue, wahre Liebe gefunden haben. Doch dann hatte er die grausamen Worte aus ihrem Mund vernommen. Sie hätte ihm dies nicht antun dürfen. Außerdem wollte sie auch noch in diesem Stück mitspielen, in der Rolle, die sie niemals hätte übernehmen dürfen. Nicht nach ihrem Verrat.
Julia trat erneut aus dem Schlafzimmer. Sie trug eine kurzärmelige Bluse über einem kurzen Rock, der ihre Beine noch länger erscheinen ließ. Ihre Füße steckten in schwarzen High Heels. Romeo fragte sich immer wieder, wie man auf derart hohen Absätzen laufen konnte. Julia gehörte jedoch zu denjenigen Frauen, denen es mühelos gelang. Mit Leichtigkeit und eleganter Balance lief sie auf diesen Schuhen umher. Über die Bluse hatte sie sich eine dünne Lederjacke aus feinem Rindsleder geworfen, die so geschnitten war, dass sie um die Taille eng zusammenlief.
„Und?“, Julia warf ihm einen fragenden Blick zu, wobei sie sich einmal um die eigene Achse drehte.
„Perfekt“, erklärte Romeo. „Nein, nicht ganz. Fast perfekt. Es fehlt nur ein winziges Detail in meinen Augen.“
Über Julias Nase bildete sich eine kleine Falte, als sie die Brauen zusammenzog. „Worauf willst du hinaus?“ Sie blickte an sich hinab.
Romeo erhob sich mit einer eleganten Bewegung aus dem Stuhl und trat dicht an sie heran. Er griff nach ihrem rechten Handgelenk und zog sie in das Schlafzimmer. „Ich zeig es dir.“
Willig folgte sie ihm. Deutlich stand die Neugier auf ihrem Gesicht, als er sie vor dem großen Spiegel des Schlafzimmerschrankes stellte. Hinter ihr befand sich ein Doppelbett mit einer beigefarbenen Tagesdecke darauf.
Romeo griff in seine ausgebeulte Jackentasche und zog den sorgfältig zusammengelegten Schal hervor. Mit einer schnellen Handbewegung fächerte er ihn auseinander, verdrehte ihn mehrmals, ehe er ihn Julia locker um den Hals und über die Schultern legte. Dabei drapierte er ihn so, dass die losen Enden auf ihre Brust fielen.
Er stellte sich hinter sie und warf einen Blick über ihre Schulter. „Was meinst du?“
Julia neigte den Kopf und betrachte sich im Spiegel. „Ich bin mir nicht sicher. Ist es in dem Club nicht zu warm dafür?“
Romeo winkte ab. „Du kannst ihn jederzeit ablegen. Andererseits betont der Stoff dein Gesicht und lässt es noch ausdrucksvoller erscheinen.“
Julia zupfte leicht an dem Schal. „Ich weiß nicht so recht. Sei mir bitte nicht böse, aber irgendwie finde ich ihn unpraktisch. Wenn wir zu einem Open-Air-Konzert gehen würden, wäre er bestimmt sinnvoll.“
„Es war nur ein Vorschlag“, erwiderte Romeo sanft.
Julia deutete ein Lächeln an. „Du verstehst bestimmt viel von Mode, aber heute verzichte ich doch lieber auf dieses Accessoire.“
„Kein Problem. Komm, ich nehme ihn dir wieder ab“, beeilte er sich zu sagen und griff nach den Enden. Rasch wickelte er den Stoff über seine Handflächen. Er schenkte ihrem Spiegelbild einen letzten Blick, ehe er mit einem Ruck den Schal um ihren Hals zusammenzog. Ihre Augen weiteten sich entsetzt.
Romeo kniff die Lippen zusammen, als er mit aller Kraft an dem Schal zerrte. Julias Mund öffnete sich. Verzweifelt versuchte sie nach Luft zu schnappen, aber Romeo war unerbittlich.
„Ich habe dich geliebt“, flüsterte er in ihr Ohr.
Julia riss die Arme hoch. Todesangst zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, welches ihn aus dem Spiegel anstarrte. Mit letzter Kraft versuchte sie mit den Fingern unter den Stoff zu gelangen, um Luft zu bekommen.
Romeo wusste, dass sie in wenigen Augenblicken bewusstlos werden würde, da der Schal ihre Halsschlagader zusammenpresste und die Blutzufuhr zu ihrem Gehirn abschnürte.
Ihre Bewegungen wurden schwächer. Ohne loszulassen, warf sich Romeo herum und zusammen fielen sie auf das Bett. Er richtete sich auf und drückte das Knie in ihr Kreuz, um den Druck zu erhöhen. Seine Arme begannen zu schmerzen. Er fühlte, wie das Leben in ihr flackerte und erstickte. Ein letztes Zucken lief durch ihren Körper, als sie starb.
Er wartete noch einige Minuten, nur um sicher zu sein, dass sie auch wirklich tot war, ehe er sich erschöpft erhob. Endlich lösten sich seine Finger von dem Schal. Er drehte sie auf den Rücken. Ihre leeren Augen starrten ihn anklagend an. Das durfte nicht sein.
Entschlossen ging er in die Küche. Schnell hatte er gefunden, was er suchte, und machte sich ans Werk. Nachdem er es vollbracht hatte, legte er die beiden Gegenstände behutsam in eine Schachtel, die er in seine Jackentasche schob. Danach säuberte er sich. Es gab noch viel zu tun, ehe er die Wohnung verlassen konnte. Schließlich musste er seine Julia noch nach seiner Vorstellung herrichten. Erst nach zwei Stunden schritt er mit einem Gefühl der Zufriedenheit und der Erleichterung ins Freie. Tief sog er durch die Nase die frische Luft ein, um dann mit ruhigen Schritten die Straße hinunterzugehen.
2
Raphael Wolf starrte auf seine Krawatte. Er hasste es, wenn er dieses Kleidungsteil anlegen musste, weil es ihn seiner Meinung nach einengte, ihm einen Teil seiner persönlichen Freiheit nahm. Im Grunde hielt er es auch für einen Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem verlogenen Bürgertum, einer Gesellschaftsschicht, die sich gegenseitig an Spießigkeit zu übertreffen versuchte. Doch letztlich unterwarf auch er sich diesen Zwängen, wenn er die Notwendigkeit darin sah. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Im Grunde verhielt er sich damit nicht anders, als die meisten Bürger dieser Stadt. Und wenn er ehrlich war, genoss er es auch, sich auf diese Art zu kleiden, da er nur dann einen Blick hinter der Maske aus Verlogenheit und Selbstgefälligkeit erhielt.
Mit einem leisen Seufzer der Ergebenheit schlug er den Hemdkragen hoch und band sich die Krawatte um. Zu seiner Überraschung gelang ihm der Knoten auf Anhieb und auch die Länge des breiteren Endes reichte präzise bis zu seinem Gürtel. Es verdeckte, wie vorgeschrieben, das schmale Ende, das er in eine kleine Schlaufe zog. Zufrieden betrachtete er das Ergebnis im Spiegel. Bis auf den Bund seiner Hose, der ein wenig zu eng um seine Hüften lag, da er in den vergangenen Monaten ungefähr zwei Kilos zugenommen hatte, saß der Rest des Anzuges perfekt und verlieh ihm eine seriöse Erscheinung. Vielleicht sollte er ihn doch häufiger tragen.
Raphael wandte sich vom Spiegel ab, betrachtete für einen Moment seine Dienstwaffe, ehe er sie vom Tisch nahm und in das dafür vorgesehene Holster schob. Eigentlich würde er sie nicht benötigen, da er auf einen Empfang des Ministerpräsidenten eingeladen war. Aber ohne die SIG Sauer fühlte er sich nackt. Das Sicherheitspersonal würde nicht begeistert sein, wenn er bewaffnet erschien, aber ein Mal in seinem Leben war er ohne Waffe zu einem harmlosen Treffen gegangen und in große Schwierigkeiten geraten. Einen derartigen Fehler würde er nicht wiederholen. Er fragte sich schon, seit er die Einladung erhalten hatte, warum ausgerechnet er zu diesem Empfang im Rathaus erscheinen sollte. Er verstand, dass Frank Sandmann in seiner Funktion als Polizeipräsident, Kriminaldirektor Ralf Schuster und Kriminalrat Albert Gehrmann geladen worden waren, aber Wolf war nur der Leiter des Kommissariats Elf und nach seiner Meinung weder gesellschaftlich noch politisch wichtig genug, um auf dieser Veranstaltung erscheinen zu müssen. Als Wolf zu Gehrmann geeilt war, um ihm mitzuteilen, dass er die Einladung dankend ablehnen würde, hatte Gehrmann ihn nur angeschaut und erklärt, dass Wolfs Erscheinen von ganz oben angeordnet worden sei.
Raphael fragte sich, warum Sandmann ihn unbedingt im Rathaus sehen wollte. Gehrmann hatte ihm keine Erklärung geben können, da auch er den Grund nicht kannte. Wolf biss sich auf die Unterlippe, schnappte sich den Autoschlüssel und eilte zu seinem Wagen. Es gab nur eine Möglichkeit seine Neugier zu stillen. Er musste auf den Empfang gehen.
Raphael stellte seinen Wagen in dem Parkhaus ab, das an das Rathaus angrenzte und schritt über den Hof zum Hintereingang des Gebäudes. Mühelos erreichte er den Sitzungssaal der Stadtverordneten, aus dem bereits ein beachtlicher Stimmenwirrwarr in den Gang hallte. Bevor er eintreten konnte, hielt ihn allerdings jemand am Arm fest.
„Gut, dass ich Sie hier schon antreffe“, erklang eine Stimme neben seinem Ohr. Überrascht sah sich Raphael dem Leiter der Kriminaldirektion von Nordhessen gegenüber, der ihn vertraulich ein Stück beiseitezog. Er war über diese Geste so verwundert, dass er Folge leistete.
„Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie so überfallartig abfange, aber ehe der Ministerpräsident und der Oberbürgermeister ihre Ansprachen halten, würde ich gerne für einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen“, fuhr Ralf Schuster fort. Er hatte die Nachfolge von Siegfried Weinrich angetreten, der vor drei Jahren in Pension gegangen war.
Raphael hob die Augenbrauen und musterte den Polizeipräsidenten. Im Gegensatz zu Weinrich besaß Schuster eine drahtige Gestalt, bei der sein Anzug beinahe eine Nummer zu groß wirkte. Die dunklen Haare waren kurz geschnitten und unter der Nase prangte ein breiter Schnurrbart, der nach Wolfs Ansicht seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen war. Schuster war vor der Amtsübernahme Polizeipräsident von Magdeburg gewesen. Gerüchte, die nicht verstummen wollten, behaupteten, dass er den Posten in Kassel aufgrund seiner guten Beziehung zum hessischen Ministerpräsidenten und nicht wegen seiner Kompetenzen erhalten hatte. Sie sollten schon seit den Kindertagen enge Freunde sein. Letztendlich war es Wolf gleichgültig, ob die Gerüchte zutrafen. Er selbst strebte nicht nach diesem Amt und die berufliche Zusammenarbeit mit Schuster war bisher problemlos verlaufen. Persönlich trafen sie nur selten aufeinander, da Kriminalrat Albert Gehrmann Wolfs direkter Vorgesetzter war.
Mit einer Mischung aus Interesse und Verwunderung folgte er dem Kriminaldirektor den Gang hinab, der zum Ostflügel führte. Sie bogen um eine Ecke, ehe Schuster vor einer Tür stehen blieb. Er drückte die Klinke nach unten, drehte sich zu Wolf um und streckte den rechten Arm aus. „Bitte, treten Sie ein.“
Raphael schob sich an Schuster vorbei in den Raum. Irritiert blieb er vor einem wuchtigen Schreibtisch stehen. Am Fenster stand mit dem Rücken zu ihm ein hochgewachsener Mann, der auf die Wilhelmsstraße hinabsah. Er trug einen dunkelblauen, maßgeschneiderten Anzug. An seinem linken Handgelenk schimmerte eine goldene Armbanduhr. Seine silbernen Haare verstärkten im Licht der Sonne die elegante Erscheinung des Mannes.
Neben dem Schreibtisch stand ein weiterer, deutlich jüngerer Mann, dessen Anzug zwar nicht von einem Schneider stammte, aber eindeutig von hochwertiger Qualität war, die man in jedem gut sortierten Kaufhaus vorfinden konnte. Seine schwarzen Haare hatte er auf der rechten Seite mit einem Scheitel versehen, der ihn älter wirken ließ. In den Händen hielt er einen schlichten Ordner und ein Tablet.
Als Schuster die Tür schloss, drehte sich der Mann am Fenster um. Wolf zog die Augenbrauen hoch, obwohl er den Ministerpräsidenten von Hessen bereits an seiner außergewöhnlichen Haarpracht erkannt hatte. Matthias Richter übte seit vier Jahren das politische Amt des Regierungschefs aus. Und er besaß gute Chancen, bei der nächsten Landtagswahl, bei dem seine Partei die Mehrheit der Sitze erreichen würde, wiedergewählt zu werden.
In seinen blauen Augen blitzte Belustigung auf, als er um den Schreibtisch herumschritt und Wolf die Hand entgegenstreckte, die dieser mit einem begrüßenden Nicken ergriff. Ein breites Lächeln umspielte für einen Augenblick die Lippen des Ministerpräsidenten.
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Hauptkommissar Wolf“, erklärte Richter. „Sie fragen sich bestimmt, warum Sie zu mir gebracht wurden?“
„In der Tat“, erwiderte Raphael und musterte Richters Gesicht. Einen Herzschlag lang glaubte er, einen Hauch von Schmerz in der Miene des Ministerpräsidenten zu sehen.
Richter deutete auf den jungen Mann. „Darf ich Ihnen zuerst Thomas Cordes vorstellen, Herr Wolf. Er ist ein enger Mitarbeiter und Vertrauter. Ich würde ihn sogar als einen Freund bezeichnen, soweit man in der Politik Freunde haben kann. Wir kennen uns seit vielen Jahren kenne und im Gegensatz zu zahlreichen anderen Mitarbeitern ist er absolut loyal.“
Wolf sah interessiert zu Cordes. Offenbar musste er seine Einschätzung über ihn revidieren, da er aufgrund dessen jugendlichen Aussehens angenommen hatte, dass es sich um einen einfachen Sekretär der Partei handelte. Scheinbar war er doch weit mehr als ein schlichter Adjutant. Schließlich musste Wolf sich eingestehen, dass er keineswegs alle Minister, Staatssekretäre und hohe Beamte des Landes kannte. Cordes hob kurz den Kopf, nickte ihm zu, um sich sofort wieder seinem Tablet zu widmen.
Richter wandte sich erneut Raphael zu. „Ich habe meinen Studienfreund gebeten, während meines kurzen Aufenthaltes hier in Nordhessen ein privates Treffen zu arrangieren. Zuerst wollte ich mich an Sandmann wenden, aber im Gegensatz zu meinem Innenminister bin ich nicht gerade von seinen Fähigkeiten überzeugt. Außerdem soll dieses Treffen kein Aufsehen erregen. Und aus diesem Grund bat ich Ralf, Sie während dieses Empfanges einzubestellen. Es halten sich im Rathaus so viele hochrangige Persönlichkeiten der Stadt auf, dass wohl kaum einer der Presseleute Ihrer Anwesenheit eine größere Bedeutung zuordnen wird.“
Nach einer kurzen Pause fuhr der Ministerpräsident fort: „Es gibt ein Problem, bei dem ich die Hilfe eines Beamten benötige, der die Fähigkeit besitzt, unauffällig und effizient zu ermitteln. Und auf der Suche nach einem geeigneten Mann, bin ich auf Ihren Namen gestoßen, Herr Wolf. Nicht nur Kriminaldirektor Schuster, sondern auch Kriminalrat Gehrmann sind voll des Lobes über Ihre Arbeit in Kassel. Besonders Gehrmann hat Ihre erfolgreiche Jagd auf den ‚Propheten‘ hervorgehoben. Aber nicht nur diese Aussagen haben mich überzeugt“, deutete Richter an, ohne näher darauf einzugehen, worauf er sich bezog. „Bevor ich sie jedoch mit diesen Dingen zu langweilen beginne, will ich mit meinem eigentlichen Anliegen herausrücken.“
Matthias Richter drehte sich kurz zu Cordes um, der ihm die Akte reichte. Er holte ein Foto hervor, das er Wolf weitergab.
Raphael musterte ausgiebig den Abzug in DIN A4-Größe, auf dem eine junge Frau abgebildet war. Er neigte den Kopf. Die Ähnlichkeit mit dem Ministerpräsidenten war unverkennbar. Sie verfügte über sanfte Gesichtszüge und in ihren dunklen Augen lag ein melancholischer Ausdruck.
„Sie sehen darauf meine älteste Tochter Anja“, sagte Richter. Er machte eine Pause und holte tief Luft. „Sie ist in Gefahr, denn sie wird bedroht. Jedenfalls ist das meine persönliche Einschätzung.“
„Was bringt Sie dazu?“, hakte Raphael nach. „Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit.“
Richter griff erneut in die Akte und holte ein gefaltetes DIN-A4-Blatt hervor und streckte es wortlos Wolf entgegen.
Raphael griff zu und faltete es auseinander. Aufmerksam las er den einzigen Satz, der darauf stand:
Meiner einzigen Liebe ist großer Hass entsprungen.
Als er wieder aufsah, hatte sich über seiner Nase eine kleine Falte gebildet. „Ich kann auf den ersten Blick darin keine konkrete Bedrohung für Ihre Tochter erkennen. Jedenfalls wird sie mit keinem Wort erwähnt und der Satz ist recht diffus formuliert. Wirkt beinahe poetisch, etwas altertümlich.“
Richter nickte bestätigend. „Das habe ich auch gedacht. Bis ein weiterer Brief eintraf.“ Er griff ein drittes Mal zwischen die Aktendeckel und zog ein weiteres Blatt hervor.
Raphaels Stirnrunzeln vertiefte sich, als er den Satz las:
Einmal muss jeder sterben.
„Das ist eindeutig“, gab er zu.
„Dies war auch mein Gedanke“, stimmte Richter zu. „Und seitdem bin ich in großer Sorge. Diese Schreiben wurden nicht per Post zugestellt, sondern irgendwann in den Briefkasten meines Privathauses eingeworfen. Der Unbekannte weiß also, wo meine Familie wohnt. Und diese Briefe waren an Anja adressiert, an niemanden anderen aus meiner Familie.“
„Warum Ihre Tochter? Warum bedroht der Unbekannte nicht Sie?“, hakte Wolf nach.
Richter zuckte mit den Schultern. „Ich kann es mir nicht erklären. Es gibt nichts, was meine Tochter getan hat, was sie zur Zielscheibe machen würde.“
„Es wäre also auch nicht auszuschließen, dass sich jemand auf diesem Weg an Ihnen rächen will“, äußerte Wolf.
Der Ministerpräsident zögerte, ehe er antwortete: „Nein. Keineswegs, aber ... trotzdem erscheint es mir unwahrscheinlich. Ich habe mir mit Sicherheit während meiner politischen Karriere genügend Feinde gemacht, aber die würden sich nicht auf diese Weise an mir rächen.“
Wolf starrte auf die beiden Blätter. „Ich bin kein Psychologe, aber aus diesen Sätzen schimmert etwas Persönliches heraus. Liebe und Hass deuten schon auf starke Gefühle hin. Möglicherweise hat Ihre Tochter jemanden abgewiesen oder verletzt, der jetzt Vergeltung an ihr üben will. Sie haben die Briefe bestimmt untersuchen lassen?“
„Das ist richtig“, sagte Richter, „aber leider erfolglos. Auf den Briefen und den Umschlägen waren nur die Abdrücke meiner Familie und von mir vorhanden.“
Raphael fuhr sich über die Lippen. Dieses Ergebnis war kein gutes Zeichen. Es deutete darauf hin, dass der Unbekannte sehr genau zu wissen schien, wie er vorgehen musste, um unerkannt zu bleiben.
„Ich nehme an, dass an Ihrem Haus Sicherheitskameras angebracht sind?“, drückte Wolf eine schwache Hoffnung aus, die Richter sofort zerstörte.
„Es gibt zwar Kameras, aber die haben nichts aufgezeichnet, da die Übertragung gestört wurde.“ Richter breitete die Hände aus. „Ich habe natürlich sofort die Anlage überprüfen lassen, aber man konnte keine Manipulation feststellen. Jemand muss die Funkübertragung von außen gestört haben.“
„Dann haben wir es mit einen technisch versierten Mann zu tun“, mutmaßte Raphael, „wobei ich nicht ausschließen kann, dass auch eine Frau hinter diesen Briefen stecken könnte.“
Richter schüttelte langsam den Kopf. „Das glaube ich nicht. Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. Es muss ein Mann sein.“
Raphael ahnte, dass er den Ministerpräsidenten von seiner Meinung nicht abringen konnte. „Es klingt, als hätten Sie jemanden in Verdacht?“
„Ich möchte niemanden beschuldigen, aber es kommt schon eine Person in Frage, aber es ist nur ein Gefühl. Verlangen Sie daher keine Erklärung von mir.“
„Wer ist es?“
Richter zögert kurz, ehe er sagte: „Ihr Freund. Christoph Kehl.“
Wolf verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sollte ausgerechnet ihr Freund sie bedrohen. Hat sie ihn verlassen?“
„Nein, das nicht“, erwiderte Richter. „Im Grunde sehen sie sich sogar sehr selten. Ich habe den Verdacht, er hätte gerne eine festere Beziehung, was sie wohl bisher immer abgelehnt hat. Und wer soll bei der jungen Generation hinsichtlich ihrer Einstellung zu Heirat und Ehe schon durchblicken. Bisher zeigt sich keines meiner Kinder dazu bereit. Aber ich schweife ab. Dieser Christoph hat in meinen Augen etwas an sich, das ich nicht einschätzen kann. Und glauben Sie mir, ich besitze eine gute Menschenkenntnis. Doch Christoph Kehl ist für mich zu undurchsichtig.“
Raphael unterdrückte ein Grinsen. Für ihn war das kein Grund, Kehl als Hauptverdächtigen zu betrachten. „Sie haben ihn bestimmt überprüfen lassen.“
„Das stimmt“, gab Matthias Richter unumwunden zu. „Es gibt aber keine Auffälligkeiten. Er trinkt nicht, er raucht nicht, er geht selten aus. Er ist ... einfach ein unauffälliger Typ. Und genau das macht ihn für mich verdächtig.“
Raphael schürzte die Lippen. „Schön, lassen wir das mal beiseite. Gibt es noch irgendetwas, was Sie veranlasst, die Bedrohung für Ihre Tochter ernst zu nehmen?“
Richter tauschte einen kurzen Blick mit Cordes aus, der Wolf keineswegs entging. Der Ministerpräsident klopfte mit der Akte gegen sein linkes Bein.
„Wir können es nicht beweisen, aber ich bin davon überzeugt, jemand ist in mein Büro zu Hause eingedrungen und hat meinen Computer benutzt. Es fehlt nichts und das Ereignisprotokoll weist keine Unregelmäßigkeit hinsichtlich eines Anmeldeversuchs auf.“ Er hob die rechte Hand. „Bevor Sie dies erneut als Nebensächlichkeit abtun, muss ich Ihnen erklären, dass mein Rechner für meine Familie tabu ist. Niemand darf ihn benutzen und auch das Arbeitszimmer während meiner Abwesenheit nur aus einem wichtigen Grund betreten. Es ist mein Heiligtum, mein Refugium, in das ich mich zurückziehe, wenn ich völlig ungestört sein will.“
„Was hat dann Ihren Verdacht geweckt, dass jemand Ihr Büro unerlaubt betreten haben könnte?“, fragte Wolf.
„Ich bin ein Pedant. Ein Ordnungsliebhaber, wenn man es nett formulieren will. Bei mir liegt alles an seinem Platz. Und als ich nach längerer Abwesenheit mein Büro betrat, habe ich sofort gesehen, dass jemand darin war. Ein Stift befand sich nicht mehr an der Stelle, an der ich ihn hingelegt hatte. Selbst meine Putzfrau würde es nicht wagen, die Sachen zu verrücken.“
Raphael verzog keine Miene. Er hatte schon von den seltsamsten Macken vernommen, die Menschen besaßen. Daher gab es keinen Grund, warum er im Augenblick an den Worten des Ministerpräsidenten zweifeln sollte.
Er holte tief Luft. „Sie haben mir zwar deutlich erklärt, warum Sie mit mir sprechen wollten, aber bisher ist mir noch nicht ganz klar, was Sie von mir wollen. Erwarten Sie, dass ich die Ermittlungen aufnehme? Ich glaube, dafür gibt es fähigere Kriminalbeamte.“
Matthias Richter beugte den Oberkörper vor. In seinen Augen lag ein stechender Blick.
„Hauptkommissar Wolf“, begann er. „Ich erwarte nicht, dass Sie in dieser Angelegenheit nur ermitteln. Jedenfalls nicht in erster Linie. Nein, ich erwarte, dass Sie meine Tochter beschützen.“
3
Verblüfft schaute Raphael den Ministerpräsidenten an. „Ich bin eher als ... Ermittler geeignet und denke, dass Sie für diese Aufgabe bessere ...“
Matthias Richter unterbrach Wolf mit einer heftigen Handbewegung. „Papperlapapp. Ich habe mich über Sie informiert, Hauptkommissar Wolf. Ihre Akte ist, muss ich gestehen, sehr ... wie soll ich sagen? ... sehr aufschlussreich.“
Raphaels Augen verengten sich. Er war keineswegs erfreut, dass Richter sich Einblick in seine Akte genommen hatte. Es gab Ereignisse in seinem beruflichen Leben, die nicht ohne Grund als streng vertraulich eingestuft waren.
„Keine Angst“, erklärte Richter beruhigend. „Es geht mir nicht darum, jedes Detail Ihrer Vergangenheit zu erfahren. Jedenfalls finde ich es bemerkenswert, dass es in Ihrer offiziellen Akte einige Lücken gibt. Trotzdem konnte ich genügend Informationen einholen, die mich zu der Überzeugung gebracht haben, dass Sie der richtige Mann sind.“ Richter fuhr sich durch sein silbernes Haar und strich sich eine Strähne zurück, die ihm in die Stirn gefallen war. „Immerhin waren Sie einige Jahre beim Bundeskriminalamt. Ich denke, ich muss nicht extra erwähnen, dass ich weiß, bei welcher Abteilung Sie dort tätig waren ...“
Wolf schüttelte den Kopf. Er wusste genau, worauf Matthias Richter anspielte. Schließlich war es kein Problem für ihn, entsprechende Erkundigungen bei den oberen Beamten dieser Behörde einzuholen. Schweigend blickte er ihn daher unvermindert an, während sich der Ministerpräsident erneut durch das Haar strich.
„Zwar konnte ich nicht in Erfahrung bringen, warum Sie dort ausgeschieden und nach Kassel gegangen sind, aber Ihr damaliger Vorgesetzter, mit dem ich gesprochen habe, hat nichts Negatives über Sie und Ihre Arbeit geäußert. Er hat sogar gesagt, dass er sehr bedauert hat, dass Sie damals beim BKA ausgeschieden sind. Gleichzeitig hat er mir, was mich irritierte, jedoch zu verstehen gegeben, dass er Ihr Ausscheiden verstehen konnte. Er hätte an Ihrer Stelle nicht anders gehandelt.“
Richter winkte abfällig mit der Hand. „Im Grunde kann mir dies auch egal sein, dennoch bin ich ein sehr neugieriger Mensch. Aber außer Gerüchte und ungenauen Äußerungen konnte ich nicht viel in Erfahrung bringen. Offenbar scheint bei einem Einsatz einiges schiefgelaufen zu sein, an dem man Ihnen die Schuld gegeben hat. Angeblich sollen Sie, und ich betone dies ausdrücklich, da es keine Bestätigung für diese Annahme gibt, jeden der Attentäter und ihren Auftraggeber eliminiert haben.“
Raphael öffnete den Mund, aber ehe er eine Erwiderung hervorbringen konnte, hob Richter den linken Arm.
„Sie brauchen dieses Gerücht weder zu leugnen noch zu bestätigen. Ich bin in erster Linie an einem Mann interessiert, der bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Es handelt sich hier um meine Tochter und für sie würde ich alles tun.“
In Richters Augen spiegelte sich sein eiserner Wille wider.
Raphael war sich sicher, dass der Ministerpräsident eine Ablehnung niemals akzeptieren würde. Unwillig runzelte er die Stirn. Es ärgerte ihn schon ein wenig, dass er quasi als Babysitter benutzt werden sollte.
„Verraten Sie mir wenigstens, warum Sie nicht einen Ihrer Personenschützer für diese Aufgabe nehmen? Immerhin sind sie eher mit Ihrer Tochter vertraut und dürften daher auch ihr Vertrauen genießen. Ich hätte dann mehr Spielraum, um dem Täter auf die Spur zu kommen.“
Richter stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn es so einfach wäre, hätte ich dies bereits veranlasst. Aber genau darin liegt ein weiteres Problem. Anja lehnt jede Art von Personenschutz ab. Sie glauben gar nicht, was für eine Diskussion ich mit ihr geführt habe. Außerdem ist sie fest davon überzeugt, dass ihr keine echte Gefahr droht. Ferner besitzt sie eine tief verwurzelte Abneigung gegenüber Polizisten. Als Ministerpräsident kann ich das vielleicht noch nachvollziehen, aber in diesem Fall bin ich in erster Linie ein sehr besorgter Vater. Verstehen Sie das?“
Raphael nickte. „Sehr gut, auch wenn ich keine eigenen Kinder habe. Wenn sie jedoch jeden professionellen persönlichen Schutz ablehnt, wie soll ausgerechnet ich Ihnen helfen können? Schließlich bin ich ein Beamter der Kriminalpolizei.“
Auf Richters Gesicht zeigte sich ein bitteres Lächeln. „Das ist richtig, aber erstens kennt Anja Sie nicht und zweitens müssen Sie sich ihr gegenüber nicht als Polizist zu erkennen geben. Ich habe mir überlegt, dass Sie sich ihr als Reporter nähern und dadurch ihre Bekanntschaft schließen könnten.“
„Gewöhnlich sind Reporter und Journalisten bei den Angehörigen von Prominenten noch unbeliebter“, erwiderte Wolf sarkastisch. „Immerhin geht die Klatschpresse meistens nicht gerade zimperlich mit ihnen um.“
Richter hob die Schultern. „Es mag Sie verwundern, aber bisher konnte ich meine Familie weitestgehend aus der Öffentlichkeit heraushalten. Ich habe sie selten zu gesellschaftlichen Anlässen mitgenommen und immer dafür gesorgt, dass nur Geschichten veröffentlicht wurden, die von mir abgesegnet waren. Daher besteht in dieser Hinsicht keine größere Sorge, dass Sie als Reporter von ihr gleich vor die Tür gesetzt werden. Insbesondere habe ich mir eine Story ausgedacht, durch die Sie problemlos auf Interesse bei Anja stoßen werden.“
Raphael seufzte. „Für welches Blatt soll ich in Erscheinung treten?“
Ein breites Lächeln erschien auf Richters Gesicht. „Keine Angst, es ist keine Boulevardzeitung. Sie werden den Reporter eines kleinen Magazins, und zwar von ‚Art and Home‘, spielen, der eine Reihe von Stories über die Rolle und Einfluss von Kunst bei prominenten Familien bringen will. Und beginnen wollen Sie mit dem hessischen Ministerpräsidenten und insbesondere seiner an Kunst interessierten Tochter Anja. Ich sollte erklärend hinzufügen, dass meine Tochter versucht, ihren Weg als freie Künstlerin zu gehen. Sie hat ein Kunststudium in Kassel und an der Sorbonne in Paris absolviert. Im Grunde halte ich nichts von solchen Berufen, da man selten davon leben kann. Aber ich glaube an meine Tochter und werde sie immer unterstützen.“
„Ich habe nicht besonders viel Ahnung von Kunst“, bemerkte Raphael. „Sie wird meine Tarnung relativ schnell durchschauen.“
„Darüber sollten Sie sich nicht zu viele Gedanken machen. Es geht nicht darum, mit meiner Tochter über Kunst zu diskutieren. Sie sind eher eine Art Beobachter, der meine Tochter bei ihrer Arbeit begleitet und dann darüber berichtet. Lassen Sie sich von ihr leiten. Es reicht, wenn Sie ihre Werke und Projekte kommentieren, ohne in die Tiefe zu gehen. Ich glaube kaum, dass sie dies von Ihnen erwartet. Schließlich ist diese Zeitschrift kein reines Kunstmagazin und mit der nächsten Documenta wollen Sie sich auch nicht auseinandersetzen. Ich bin da sehr zuversichtlich, dass Sie dies bewältigen. Sie müssen eben auf andere Weise ihr Vertrauen gewinnen. Außerdem habe ich meine Zustimmung für diesen Artikel gegeben.“
Raphael verdrehte kurz die Augen. „Sie scheinen sehr optimistisch zu sein.“
„Das bin ich, Herr Wolf. Ohne diese Eigenschaft wäre ich niemals Chef der Staatskanzlei geworden.“
„Wo hält sich Ihre Tochter derzeit auf?“, fragte Raphael, ohne weiter auf die Bemerkung einzugehen.
Richter fuhr sich über die Lippen. „Sie müssen nicht weit fahren. Anja arbeitet derzeit im Reinhardswald an ihrem ersten großen Projekt.“ Er zog die Stirn kraus. „Sie nennt es: ‚Gestaltung moderner Kunst unter Berücksichtigung ihres natürlichen Umfeldes‘. Es geht dabei vorrangig um die Anfertigung von Zeichnungen in der freien Natur, aber auch in urbanen Räumen. Viel mehr kann ich Ihnen darüber auch nicht verraten. Genaueres müssen Sie sich von meiner Tochter erläutern lassen.“
Raphael nickte. Soweit schien das Interesse des Ministerpräsidenten an der Arbeit seiner Tochter nicht zu gehen, dass er sie bis ins Detail beschreiben konnte. Außerdem schien er vom Erfolg ihres Projektes nicht restlos überzeugt zu sein. In Gedanken machte Wolf sich eine kleine Notiz.
„Wie nehme ich Kontakt zu ihr auf?“, stellte er seine nächste Frage.
Richter griff erneut in den Aktenordner und holte eine Visitenkarte und eine eingeschweißte Plastikkarte in Scheckkartenformat heraus. „Ich habe Ihr Erscheinen angekündigt. Ihre derzeitige Adresse habe ich Ihnen auf der Visitenkarte notiert. Und damit Sie sich ihr gegenüber als Reporter ausweisen können, habe ich einen Presseausweis für Sie besorgt.“
Verdutzt blickte Raphael auf den Ausweis, auf dem sein Foto prangte. Er las den Namen.
„Fuchs, Henry Fuchs. Wie originell“, spottete er. Auf der Rückseite der Visitenkarte war handschriftlich die Anschrift des Verlags vermerkt.
„Einen Henry Fuchs gibt es dort wirklich. Nur arbeitet er in der Versandabteilung und steht kurz vor der Rente“, warf Richter hastig ein. „Es dürfte also kein Problem geben, wenn Sie unter seinem Namen bei meiner Tochter auftauchen.“
„Sie waren sich wohl ziemlich sicher, dass ich diesen ... Job übernehmen würde“, sagte Raphael, während er Visitenkarte und Ausweis einsteckte.
Richter zuckte mit den Schultern. „Wissen Sie, als Politiker muss man auf alles vorbereitet sein. Aber ich versichere Ihnen, dass ich eine Ablehnung nicht akzeptiert hätte. Cordes war übrigens derjenige, der auf die Idee mit dem Artikel gekommen ist. Er hat alle notwendigen Schritte in die Wege geleitet und die Unterlagen besorgt.“
„Und wer macht meine Arbeit im Kommissariat? Immerhin bin ich der Leiter dieser Dienststelle.“ Raphael schaute erst fragend zu Richter, ehe er sich an Schuster wandte.
„Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen“, erklärte Richter leutselig. „Kriminaldirektor Schuster hat meinem Anliegen bereits zugestimmt. Sie werden für die Dauer des Einsatzes freigestellt und Ihr Stellvertreter übernimmt solange die Leitung. Offiziell gehen Sie sozusagen in Ihren wohlverdienten Urlaub. Kassel ist nicht gerade eine Stadt, in der das Gewaltverbrechen boomt. Schließlich müssen Sie sich auch einmal so richtig erholen. Kriminalrat Gehrmann wurde über diese Situation auch schon informiert. Und bevor Sie es ansprechen, selbstverständlich wird auch der Polizeipräsident eingeweiht. Aber diese Aufgabe übernehme ich persönlich.“
„Es sieht so aus, als hätten Sie wirklich an alles gedacht“, erwiderte Wolf mit einem ironischen Unterton. „Offenbar habe ich in dieser Sache kein Mitspracherecht.“
Um Richters Mundwinkel legte sich ein kaltes Lächeln. „Nehmen Sie es sportlich, Herr Wolf. Man kann nicht immer gewinnen. Ich hoffe jedoch, dass Sie die Aufgabe ernst nehmen und diesen Bastard schnappen, der meine Tochter und damit meine Familie bedroht.“
Raphael überging Richters Anspielung. „Müsste ich noch mehr wissen? Haben Sie mir alles erzählt? Bisher ist die Bedrohung sehr diffus. Es gibt nichts Greifbares, nichts, was mir echte Ermittlungsansätze bietet.“
Richter tauschte einen weiteren Blick mit Cordes aus, ehe er entgegnete: „Leider kann ich Ihnen nicht mehr Material anbieten. Halten Sie sich einfach in der Nähe meiner Tochter auf. Sollten Sie zu irgendwelchen Erkenntnissen gelangen, können Sie sich jederzeit an Thomas Cordes wenden. Er wird mich über Ihre Fortschritte unterrichten. Er hält den Kontakt mit Ihnen aufrecht, da ich einfach zu viele Termine bewältigen muss. Cordes steht Ihnen auch jederzeit zur Verfügung, sollten Sie irgendwelche Informationen benötigen. Es war übrigens seine Visitenkarte, die ich Ihnen ausgehändigt habe. Darauf stehen seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse. Ich bin mir auch bewusst, dass es den totalen Schutz für meine Tochter nicht geben kann. Aber ich bin davon überzeugt, den besten Mann für diese Aufgabe vor mir zu haben. Ich werde jede Entscheidung, die Sie treffen, um meine Tochter vor diesem Bastard zu schützen, und jede Maßnahme, die Sie als notwendig erachten, unterstützen.“
Wolf hörte in den letzten Worten die eindeutige Drohung heraus. Ein Versagen würde Richter ihm niemals verzeihen. Für einen Moment überlegte Raphael, ob er nicht einfach aus dem Raum hinaus spazieren sollte, aber zwei verletzlich blickende Augen hatten sich tief in sein Gedächtnis gebrannt. Eine quälende Erinnerung an seine Zeit bei der Sicherungsgruppe des BKA stieg in ihm auf, die er rasch verdrängte. Damals war ihm ein fataler Irrtum unterlaufen, der ihm nicht ein zweites Mal widerfahren würde. Außerdem war er überzeugt, dass es etwas gab, das man ihm bisher verschwiegen hatte. Und dies machte ihn neugierig.
„Dann will ich mich mal an die Arbeit machen.“ Raphael steckte das Bild und die Briefe in die Innentasche seines Jacketts.
Richter nickte zufrieden. „Dann wäre wohl alles geklärt.“ Er wandte sich an Cordes. „Ich denke, wir haben die Geduld des Oberbürgermeisters lange genug strapaziert und sollten zu diesem Empfang gehen. Immerhin muss ich noch eine Rede halten.“
Wolf spürte eine Hand auf seiner Schulter, als Richter und Cordes aus dem Büro eilten. Er drehte sich zu Schuster rum. Deutlich sah Raphael die Erleichterung an.
„Ich bin Ihnen dankbar, Herr Wolf, dass Sie den Auftrag des Ministerpräsidenten angenommen haben.“
Raphael lächelte grimmig. „Ich bin mir nicht so sicher, ob Sie dies nicht noch bereuen werden. In dieser Sache könnte mehr stecken als eine schlichte Bedrohung.“
Schusters Augen weiteten sich überrascht. „Was wollen Sie damit andeuten?“
„Es ist selten etwas so, wie es vordergründig aussieht“, entgegnete Raphael. „Im Augenblick brauchen Sie sich aber keine ernsthaften Gedanken zu machen. Ich habe die Ermittlungen gerade erst aufgenommen.“
Wolf konnte sich ein grimmiges Lachen nicht verkneifen, als er vor dem Kriminaldirektor in den Gang schritt.
4
Markus Jäger starrte Raphael verblüfft an. „Ich soll was ...?“ Er lehnte sich in dem Besucherstuhl zurück, der vor Wolfs Schreibtisch stand. „Du treibst einen Scherz mit mir?“
Raphael schüttelte den Kopf. „Du übernimmst vorübergehend die Leitung des Kommissariats, solange ich mich mit einer Sonderaufgabe befasse. Und ich weiß, dass du dich gut in dieser Aufgabe zurechtfinden wirst. Außerdem hast du noch Cornelia und Jens als tatkräftige Unterstützung.“
Markus hob abwehrend die Arme. „Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, wäre ich nicht so schnell in dein Büro, sondern zum Arzt gerannt, um mich für die kommenden Wochen krankschreiben zu lassen.“
Raphael unterdrückte ein Lächeln. Er wusste, dass Markus so etwas niemals tun würde. Auch wenn Jäger mit dem Gedanken spielte, sich so bald wie möglich pensionieren zu lassen, war sein Pflichtbewusstsein zu ausgeprägt, als dass er sich tatsächlich vor dieser Bürde drücken würde. Während seiner bisherigen Dienstzeit hatte Markus Jäger nur zweimal wegen Krankheit gefehlt. Mittlerweile hatte er jedoch seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert und äußerte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die letzten Dienstjahre ruhiger angehen zu wollen.
„Keine Angst, so schlimm wird es schon nicht werden“, beruhigte ihn Raphael. „Mehr als zwei Wochen dürfte ich nicht weg sein.“
Markus schnaubte. „Das glaubst du doch selbst nicht. Wie ich dich kenne, untertreibst du wieder maßlos. Und an deinem hämischen Grinsen erkenne ich doch die Schadenfreude, mich auf meine letzten Tage im Polizeidienst als Vorgesetzter leiden zu lassen.“
Wolf verzog keine Miene. „Du wolltest doch immer schon wissen, wie angenehm es ist, die Führung inne zu haben. Immerhin warst du mal als Leiter vorgesehen.“
„Du irrst dich gewaltig“, erwiderte Jäger. „Dies war nie mein Wille. Dazu liebe ich zu sehr den Müßiggang des Lebens. Ich bin ein alter Mann, der seine Ruhe haben möchte. Eventuell im Garten sitzen oder mit dem Wohnmobil gemütlich durch Europa kutschieren. Das ist mein Traum.“
„Du würdest dich bereits nach einem halben Jahr langweilen“, bemerkte Raphael. „Also, reiß dich jetzt zusammen und sieh zu, dass du den Laden sauber hältst. Und mit viel Glück werden schon keine schweren Fälle über das Kommissariat hereinbrechen. Dieses Jahr war es bisher verhältnismäßig ruhig.“
„Mal den Teufel nicht an die Wand.“ Markus Jäger richtete den Arm zum Fenster. „Selbst in Kassel kann sich die Situation jederzeit ändern. Da braucht doch nur ein Verrückter, der sich für weiß was hält, an eine Waffe geraten. Innerhalb weniger Augenblicke haben wir dann das schlimmste Blutbad.“
Wolf stieß ein Seufzen aus. „Klar, Markus. Kassel liegt auch in den Vereinigten Staaten, wo das Schwerverbrechen an der Tagesordnung ist. Mensch“, entfuhr es ihm. „Ich würde dich gerne von dieser Aufgabe entbinden, aber der Chef traut Veit die Leitung noch nicht zu und Conny sollte schon seit mehreren Monaten zur nächsten Fortbildung. Sie hat im Moment einfach zu viel zu tun.“
„Ist ja schon gut“, sagte Markus abwehrend. „Ich mache es. Aber kannst du mir wenigstens verraten, für welche Sonderaufgabe man dich abkommandiert hat? Hängt es mit dem gestrigen Empfang beim Oberbürgermeister zusammen?“
„Tut mir leid, aber ich darf darüber nichts verlautbaren lassen.“
Markus verdrehte die Augen. „Noch nicht mal eine Andeutung. Wir sind doch Freunde, da wird dies doch noch drin sein.“
Raphael presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Im weitläufigen Sinn handelt es sich um eine Art Babysitting. Und mehr werde ich dazu nicht sagen.“
Jäger runzelte die Stirn. „Und für so was braucht man den Leiter vom K11? Wir werden doch meistens erst dann gerufen, wenn das Opfer nicht mehr am Leben ist.“
„Du weißt doch. Vorbeugen ist alles“, bemerkte Raphael süffisant. „Zumindest, wenn man die Chance dazu erhält. Und jetzt sage ich wirklich nichts mehr dazu. Wenn es etwas Dringendes gibt oder du einen Rat benötigst, erreichst du mich über mein Handy. In allen anderen Angelegenheiten wende dich ruhig an unseren Kriminalrat.“
Markus sprang von seinem Stuhl auf. „Jetzt habe ich das Ganze erst durchschaut. Das ist alles nur ein perfider Plan, um dir einen schönen Zusatzurlaub zu verschaffen.“
Wolf kniff für einen Augenblick die Augen zusammen, aber als ein breites Grinsen auf Jägers Gesicht erschien, wurde ihm klar, dass sein Kollege die Bemerkung scherzhaft gemeint hatte. Verdammt, er befand sich schon zu sehr mit seinen Gedanken bei dieser Überwachung.
„Du hast es erfasst, mein Freund. Ich wusste schon immer, dass du ein hervorragender Ermittler bist“, erwiderte Wolf lächelnd und erhob sich von seinem Bürostuhl. Er schnappte sich seine Dienstwaffe und schob sie in das Schulterholster. Danach schlüpfte er in sein Sakko.
„Ich wünsche dir viel Glück“, warf er Jäger zu, ehe er das Büro verließ.
„Das kann ich gut gebrauchen“, vernahm er gerade noch das unwillige Knurren von Markus, ehe er die Tür hinter sich schloss.
Als er in seinem Auto saß, kramte er die Adresse heraus, an der sich sein Zielobjekt aufhielt. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Es war ausgerechnet eine restaurierte Burgruine, in der sich seit Ende der fünfziger Jahre ein Hotel befand. Die Sababurg war ein ehemaliges Jagdschloss. Lange Jahre war die Schlossanlage in Vergessenheit geraten und dem Zerfall preisgegeben worden. Dadurch wurde das Gemäuer von Efeu, Rosenbüschen und anderen Gewächsen umrankt, ehe man es aus seinem Schlaf erweckte. Ferner lag die Burg tief im Herzen des mächtigen Reinhardswalds. Sein romantisch- verwunschen wirkendes Aussehen sprach sich herum und aufgrund einer langen Dornenhecke, die das Schloss im Mittelalter einst umgeben hatte, wurde es allgemein als ‚Dornröschenschloss‘ bezeichnet. Hier sollte einst die berühmte Prinzessin, deren Geschichte durch die Märchensammlung der Gebrüder Grimm bekannt geworden war, gelebt haben.
Wie passend, dachte Wolf. Sie hält sich bestimmt auch für eine Prinzessin.
Er rief sich das Bild von Anja Richters ins Gedächtnis. Ein hübsches Mädchen, nein, das war ein Irrtum, sie war bereits eine junge Frau, der man ihr wahres Alter von Fünfundzwanzig nicht ansah. Auf dem Foto trug sie ihr schwarzes, schulterlanges Haar offen. In ihren Augen hatte er ihre Entschlossenheit erkannt, die im Widerspruch zu ihren sanften Gesichtszügen stand. Sie wirkte keineswegs, als könnte ihr so schnell etwas Angst einjagen. Denselben Ausdruck hatte er auch in den Augen ihres Vaters wahrgenommen. Es war eine Mischung aus Stolz und Willensstärke. Sie musste über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen.
Wer war hinter ihr her? Wer bedrohte dieses Mädchen? Aber über allen stand eine Frage: Warum?
Raphael erreichte die kleine Ortschaft, die unterhalb des Burgberges lag. Er hatte sich ein Zimmer in der Pension „Alte Mühle“ reserviert. Die Wirtin hatte ihm erst abgesagt, sich aber kurz darauf gemeldet und ihm mitgeteilt, dass er ein Zimmer für mehrere Tage haben könnte. Er hätte wirklich Glück gehabt, da die Pension derzeit gut belegt sei.
Raphael bog in eine schmale Straße ab, die zu einer Ansiedlung mit mehreren größeren und kleineren Gebäuden führte und vor dem Waldrand endete. Die Wassermühle, die an dem hinter den Häusern vorbeiführenden Bach lag, war schon lange nicht mehr in Betrieb. Umrahmt von Bäumen, Auen, Wiesen und Teichen bot diese Siedlung einen friedlichen Anblick. Es schien genau der richtige Ort zu sein, um einmal so richtig auszuspannen und sich vom Alltagsstress zu erholen.
Doch daran war Raphael nicht gelegen. Er stellte seinen Wagen auf dem Platz vor dem größten der Gebäude ab und stieg aus. Der würzige Duft des nahe gelegenen Waldes schlug ihm entgegen. Als er sich umschaute, konnte er in der Ferne die Silhouette des Jagdschlosses ausmachen. Die Pension bot sich als günstig gelegener Ausgangspunkt für seine Nachforschungen und vor allem zum Observieren der Zielperson an. Er hatte diese Unterkunft nicht umsonst ausgewählt, denn Anja Richter übernachtete ebenfalls in der „Alten Mühle“, auch wenn sie sich häufig auf dem Schloss aufhielt. Immerhin waren die Zimmer deutlich günstiger als im Hotel, das in der Sababurg untergebracht war.
„Sie müssen Herr Wolf sein“, begrüßte ihn eine kräftig gebaute Frau mit einem freundlichen Lächeln. Das dunkle Haar fiel ihr bis auf die Schultern, wobei sie einige Strähnen mit einer Klammer befestigt hatte. Die herben, aber offenen Gesichtszüge strahlten ihn mit einer entwaffnenden Herzlichkeit an, die in deutlichem Gegensatz zu den meisten Einwohnern dieser Region standen, die eher von Zurückhaltung und Verschlossenheit geprägt waren.
„Ich bin Maria Suchier und freue mich sehr, dass Sie unsere wunderschöne Gegend besuchen. Wollen Sie hier Urlaub machen?“
„Suchier?“ Wolf zog fragend eine Augenbraue hoch. „Das klingt sehr französisch.“
Das Lächeln der Pensionswirtin vertiefte sich. „Meine Vorfahren waren Hugenotten und sind aufgrund der Verfolgung durch König Ludwig, dem Vierzehnten, in die Landgrafenschaft Hessen-Kassel geflohen.“
„Un roi, une loi, une foi“, erwiderte Raphael und löste damit bei Maria Suchier einen Ausruf des Erstaunens aus.
„Sie kennen sich in der Geschichte der Hugenotten aus?“
„Ein wenig“, gab Wolf zu. „Der Ausspruch des Sonnenkönigs, ein König, ein Gesetz, ein Glaube, ist mir durchaus geläufig. Durch sein Edikt erhob er den Katholizismus zur Staatsreligion und unterband de facto die Religionsfreiheit, die erst sein Großvater eingeführt hatte, um die Hugenottenkriege zu beenden.“
„Sie wissen weit mehr, als die meisten Menschen, die ich getroffen habe“, erklärte Frau Suchier. „Wenn Sie noch mehr über diese Menschen erfahren wollen, sollten Sie unbedingt das Hugenotten-Museum in Bad Karlshafen aufsuchen.“
Wolf zuckte mit den Achseln. „Leider wird mir nicht die Zeit bleiben, mich mit diesem traurigen Kapitel der französischen Geschichte und seinen Folgen für die Protestanten auseinanderzusetzen. Ich bin aus beruflichen Gründen hier, da ich an einer Reportage für ein Kunstmagazin arbeite.“
Suchier schlug die Hände zusammen. „Das trifft sich wirklich gut. Zurzeit hält sich eine kleine Künstlergruppe hier auf. Einige von den jungen Leuten wohnen sogar in meinem Haus.“
Auf Wolfs Lippen zeigte sich ein dünnes Lächeln. „Genau wegen ihrer Arbeiten bin ich hier. Mein Magazin will eine mehrteilige Reportage über aufstrebende Künstler und ihre Schwierigkeiten, mit ihren Werken in unserer Gesellschaft Anerkennung zu finden.“ Er hielt es für besser, Richters Vorschlag zu ignorieren und die Politik herauszuhalten.
„Das ist wundervoll“, rief die Wirtin begeistert aus. „Diese jungen Menschen brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können. Ich zeige Ihnen aber erst mal Ihr Zimmer, damit Sie sich danach in aller Ruhe an Ihre Arbeit machen können. Sie müssen wissen, die jungen Leute halten sich meistens auf der Sababurg oder in ihrer Umgebung auf. Sie sind ständig auf Motivsuche. Manchmal präsentieren sie mir am Abend ihre Zeichnungen.“
Raphael unterdrückte ein Seufzen und folgte Maria Suchier in das Gasthaus. Er konnte nur hoffen, dass ihre Neugier vorerst gestillt war und nicht so weit ging, absolut alles über seine Anwesenheit erfahren zu wollen. Es würde seine Aufgabe nicht gerade einfacher machen, wenn die Gastwirtin in den kommenden Tagen ständig um ihn herum schwirrte.
5
Nachdem Maria Suchier ihm sein Zimmer gezeigt hatte, wartete er, bis sie zur Tür hinaus war, und öffnete erst dann seinen Koffer. Er nahm einen Block und einen Stift heraus, um beides in seine Jackentasche zu stecken. Für einen Moment überlegte er, ob er für die erste Begegnung mit Anja Richter auf seine Waffe verzichten sollte, entschied sich aber dagegen.
Er schloss den kleinen Koffer, ohne ihn weiter auszupacken, und stellte ihn neben das Bett. Sollte er auf die Schnelle abreisen müssen, wollte er nicht auch noch alle Sachen zusammensuchen müssen.
Er verschloss das Zimmer und steckte den Schlüssel ein. Zu seinem Glück hielt sich die Wirtin nicht an der Rezeption auf, sodass er es zu seinem Wagen schaffte, ohne ein weiteres Mal von ihr aufgehalten zu werden.
Die Straße schlängelte sich den Berg hinauf. Unterhalb des Jagdschlosses befand sich ein großer Parkplatz, der nur von wenigen Fahrzeugen belegt war. Wolf schaute sich um, als er den Weg zum Jagdschloss einschlug. Ehe er die Burgmauer erreichte, erblickte er neben einer Baumgruppe drei Personen, die im Gras saßen und Zeichenblöcke in den Händen hielten. Anja Richter befand sich nicht unter ihnen.
Die beiden Männer hoben kurz die Köpfe, ehe sie sich wieder in ihre Arbeit vertieften, während die junge Frau völlig versunken ihren Stift mit schnellen Bewegungen über den Block führte.
Wolf räusperte sich. „Verzeihung wenn ich Sie störe, aber ich bin auf der Suche nach Frau Richter.“
Einer der beiden Männer schaute ihn an. „Sie ist nicht hier“, erklärte er kurz angebunden.
Wolf verdrehte die Augen. „Das ist mir durchaus nicht entgangen. Können Sie mir verraten, wo ich sie finden kann? Ich bin mit ihr verabredet.“
Erneut hob der Mann den Kopf. Der gleichgültige Ausdruck auf seinem Gesicht war offener Neugier gewichen. „Sie müssen dieser Reporter sein, den sie erwähnt hat.“
Raphael nickte. „Genau der bin ich.“
„Ich fürchte, Sie werden nicht viel Freude mit ihr haben“, erklärte der junge Mann grinsend.
Wolf neigte den Kopf zur Seite. „Wie darf ich das verstehen, Herr ...?“
„Kramer, aber Sie dürfen mich ruhig Ben nennen. Und das sind Lisa und Harry“, stellte er seine beiden Freunde vor. „Und um auf Ihre Frage einzugehen, Anja klang keineswegs begeistert, dass jemand von der Presse in ihrem Leben herumschnüffeln will.“
„Ich will nicht in ihrem Leben herumschnüffeln“, erwiderte Raphael. „Mich interessieren mehr ihre Arbeiten und wie sie zu ihrer Berufung steht, obwohl ihr Vater ihre Entscheidung wohl nicht gutheißt.“
Auf Bens Stirn erschienen mehrere Falten. „Das ist jetzt sehr nett ausgedrückt. Seien Sie mir bitte nicht böse, aber irgendwie habe ich meine Zweifel daran, dass Sie in Anja wirklich nur die Künstlerin sehen.“
Wolf musterte ihn schweigend. Offenbar sah sich Ben als eine Art Beschützer der jungen Frau. Er hielt es nicht für sinnvoll, sich zu rechtfertigen. Sollte Kramer ruhig den Klatschjournalisten in Wolf sehen.
Ben fuhr sich über die Lippen. „Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie sollten ehrlich zu ihr sein. Wenn Sie ein falsches Spiel mit ihr treiben, werden Sie nichts von ihr erfahren und schneller davongejagt werden, als Sie hierher gelangt sind.“
„Danke für die Warnung, Ben. Ich werde mich bemühen, sie zu beachten. Dennoch wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir endlich verraten würden, wo ich Anja finden kann. Bitte.“
„Oh Mann, Sie klingen, als ginge es um Leben und Tod. Sie sollten lockerer werden.“ Kramer deutete mit dem Stift den Hang hinab. „Sie müssen an dem Betriebshof vorbeigehen, bis Sie den kleinen See vor sich sehen. Dort müsste sie im Augenblick sein. Wenn nicht, dann ist sie um die Burg herum zu einem der anderen Teiche gegangen“, verriet er und hob verschwörerisch eine Augenbraue. „Anja will derzeit ihre Ruhe haben, selbst vor uns. Sie hat uns erklärt, dass sie für ihre Inspirationen ungestört sein möchte.“ Er verdrehte die Augen. „Viel Glück jedenfalls.“
Wolf bedankte sich. Lisa und Harry hatten ihm während seines Gesprächs mit Ben lediglich einen kurzen Blick geschenkt. Irgendwie kam ihm diese Gruppe recht eigenartig vor. Offenbar glaubten sie, sich als Künstler ein wenig verschroben und exzentrisch verhalten zu müssen. Er konnte nur hoffen, dass Anja Richter trotz Bens Schilderungen zugänglicher war.
Er schritt über einen schmalen Weg, der an den Gebäuden des Betriebshofes des nahe gelegenen Tierparks vorbeiführte, hangabwärts. Zu beiden Seiten erblickte er vereinzelt oder in kleineren Gruppen zusammenstehende Bäume. Er überquerte eine weitläufige Lichtung. Schon von Weitem konnte er das dunkle Blau des Gewässers wahrnehmen. Ein Bach plätscherte leise vor sich hin. Von dem Tierpark drangen die unterschiedlichsten Laute herüber. Er konnte die einzelnen Stimmen den verschiedenen Arten, die dort beherbergt wurden, nicht eindeutig zuordnen.