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Kester Schlenz

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Beschreibung

So einen exzentrisch exponierten Toten hat der Hamburger Kommissar Thies Knudsen, leitender Ermittler des LKA in Altona, noch nie gesehen: Die hölzerne Kunstfigur »Bojenmann«, die bei Övelgönne im Fluss auf einer Tonne steht, ist über Nacht abgesägt und ausgetauscht worden. Durch eine ähnlich aussehende, besonders makabre Leiche. Knudsen und sein Team, die toughe Dörte Eichhorn und die Forensikerin »Spusi« Diercks, sind ratlos. War hier ein Spinner am Werk? Oder steckt mehr dahinter? Schon bald ist klar: Ein Serientäter sucht Hamburg heim, denn weitere kunstvoll hergerichtete Opfer folgen.

Kommissar Knudsen tut schließlich das, was er immer tut, wenn er nicht weiter weiß: er fragt seinen alten Freund Oke La Lotse Andersen um Rat. Der ehemalige Lotse lebt direkt an der Elbe in Övelgönne, unweit vom Tatort, hat Elbwasser im Blut, kennt sich bestens aus im Hafen der Hansestadt, ist außerdem belesen und denkt scharf. Andersen bringt Knudsen und sein Team schließlich auf die richtige Spur. Sie führt zu einem Mann, der seit Jahren verschwunden ist - und einer internationalen Seemannsmission, dem Duckdalben. Hier laufen alle Fäden zusammen. Doch können sie den Mörder stoppen, bevor er erneut zuschlägt?

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Zum Buch

So einen exzentrisch exponierten Toten hat der Hamburger Kommissar Thies Knudsen, leitender Ermittler des LKA in Altona, noch nie gesehen: Die hölzerne Kunstfigur »Bojenmann,« die bei Övelgönne im Fluss auf einer Tonne steht, ist über Nacht abgesägt und ausgetauscht worden. Durch eine ähnlich aussehende, besonders makabre Leiche. Knudsen und sein Team, die toughe Dörte Eichhorn und die Forensikerin »Spusi« Diercks, sind ratlos. War hier ein Spinner am Werk? Oder steckt mehr dahinter? Schon bald ist klar: Ein Serientäter sucht Hamburg heim, denn weitere kunstvoll hergerichtete Opfer folgen.

Kommissar Knudsen tut schließlich das, was er immer tut, wenn er nicht weiter weiß: er fragt seinen alten Freund Oke La Lotse Andersen um Rat. Der ehemalige Lotse lebt direkt an der Elbe in Övelgönne, unweit vom Tatort, hat Elbwasser im Blut, kennt sich bestens aus im Hafen der Hansestadt, ist außerdem belesen und denkt scharf. Andersen bringt Knudsen und sein Team schließlich auf die richtige Spur. Sie führt zu einem Mann, der seit Jahren verschwunden ist - und einer internationalen Seemannsmission, dem Duckdalben. Hier laufen alle Fäden zusammen. Doch können Sie den Mörder stoppen, Können sie den Mörder stoppen, bevor er erneut zuschlägt?

Zu den Autoren

KESTERSCHLENZ, geboren 1958, ist ein echtes Nordlicht. Sternzeichen Fische. Geboren in Kiel, aufgewachsen in Schleswig. Mit 16 Jahren samt Family in Richtung Hamburg gezogen. Dort auch studiert und Journalist geworden. Stationen, unter anderem: Szene Hamburg, Cinema, Brigitte und Stern. In der Stern-Kantine ist auch die Idee zum »Bojenmann« geboren worden. Denn regelmäßig wird Schlenz von seinem Kumpel Jepsen mittags im Verlag besucht. Ansonsten spielte Schlenz in seiner Jugend Schlagzeug, und zwar in einer Band, die in Hamburg-Bergedorf weltbekannt war. Der Name der Gruppe tut hier nichts zur Sache. »Sadoboys« klingt ja nun wirklich gewöhnungsbedürftig.

JANJEPSEN, geboren 1962, wurde in der Nacht der großen Hamburger Sturmflut gezeugt. Er wuchs – größtenteils in Gummistiefeln – in der ehemaligen Lotsensiedlung Övelgönne auf, und zwar »Unten am Hafen, wo die großen Schiffe schlafen«. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben, Reisen und die Fotografie. Sein erster Roman (»Wie die Wilden«) handelt von einer Kindheit an der Elbe und wurde von der Kritik als Hamburger Antwort auf Tom Sawyer und Huckleberry Finn bezeichnet. Bei einer gemeinsamen Reportage in Norwegen lernte er Kester Schlenz kennen. Aus Kennenlernen wurde Freundschaft, aus Freundschaft nun Co-Autorenschaft. Das Motto der beiden: vier Gehirnhälften schreiben (und morden) besser als zwei.

Jan Jepsen & Kester Schlenz

DER BOJENMANN

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe April 2023

Copyright © der Originalausgabe 2023 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Trevillion Images/Silas Manhood; © shutterstock/Resul Muslu

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

RK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-26973-9V004

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

»Wie dauerhaft ist, was für Dich getan wird!Anubis, der Erste des Gotteszeltes, hat befohlen!«

Ägyptisches Totenbuch 

… _ _ _ …

Ein kalter Wind rüttelte an den Fensterläden des kleinen denkmalgeschützten Hauses unten in Övelgönne. Oke Andersen saß in seinem Lieblingssessel in der Dunkelheit und sah hinaus auf die Elbe. Ein großes Containerschiff schob sich gerade von rechts in sein Blickfeld. Die Colombo Express von der Reederei Hapag Lloyd auf ihrem Weg in den Hamburger Hafen. Größter und gierigster Leistungsträger der Globalisierung. Beladen mit knapp zehntausend Containern, angetrieben von rund neunzigtausend PS. Dreimal so viel wie die Titanic. Fuhr im Laufe ihres Lebens ca. fünfzehn Mal zum Mond und zurück. Verbrauchte ca. dreihundert Tonnen Schweröl – pro Tag. Einmal volltanken derzeit 5,4 Millionen Euro, wusste Andersen. Natürlich.

Schiffe und Philosophie waren seine Leidenschaft. Als Lotse a.D. kannte Oke Andersen die Elbe und all ihre Untiefen wie kein Zweiter. Jetzt, im Ruhestand, hatte der Junggeselle endlich Zeit für seine zweite Leidenschaft, das Lesen. Vor allem die Philosophie hatte es ihm angetan. Den Unsinn des Lebens mit Sinn füllen. Weil Oke Andersen gern Kant, Plato, Schopenhauer und andere Philosophen zitierte, hatten ihm seine Kollegen vor Jahren den Spitznamen La Lotse gegeben. Passte. Er mochte Laotse, den alten, chinesischen Weisen, der stets nach dem rechten Weg und einem tugendhaften Leben suchte. So wie Andersen ein Berufsleben lang Fahrwasser für die Ozeanriesen gesucht hatte. Erst als Kapitän bei der Reederei Horn, später, etwas sesshafter geworden, von Finkenwerder aus die letzten Seemeilen die Elbe hoch – als Hafenlotse. Als derjenige, der die Schlepper von der Brücke aus dirigierte, der dafür sorgte, dass auf den letzten Metern nichts schieflief und die dicken Pötte sicher an der Pier festmachten.

Andersen sah mit seinem Fernglas der Colombo Express hinterher. Er wusste: Oben auf der Brücke stand ein revierkundiger Nautiker, Kollege Schömel wahrscheinlich, einer wie er, Mitglied in der Lotsenbrüderschaft. Er schwenkte das Fernglas weiter Richtung Ufer. Sein Blick streifte den »Bojenmann«, eine hölzerne Menschenfigur aus Eiche. Ein frei schwimmendes Kunstwerk, erschaffen vom Bildhauer Stephan Balkenhol, montiert auf einer Boje mit einem steinernen Anker. Zwar außerhalb des Fahrwassers, trotzdem ein unnötiges Hindernis aus seemännischer Sicht. Außerdem fröstelte Andersen immer leicht, wenn er die Gestalt sah, die sieben Monate im Jahr reglos im Wasser auf die andere Seite der Elbe starrte, bevor sie Ende Oktober wieder in ihr Winterquartier kam. Er legte das Fernglas auf das Fensterbrett, knipste die Stehlampe neben seinem Sessel an und griff zu Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. Nicht wissend, dass das Böse ganz in seiner Nähe war.

Unten am Fluss. Keine einhundertfünfzig Meter von seinem Fenster entfernt.

* * *

Wie viele Tage mochte der Tod wohl schon so dagestanden haben? Mit leicht abgewinkelten Armen wie kurz vor einem Duell: schwarze Hose, weißes Hemd, etwa einen Meter siebzig groß, dunkle Haare, Seitenscheitel. Auf den ersten Blick sah er aus wie der echte Bojenmann. Bis man ihm ins Gesicht sah, dachte Kommissar Thies Knudsen.

Er hatte schon viele Tote gesehen. Mehr als genug. Weiß Gott. Junge, alte, hübsche, hässliche, bös entstellte, zerstückelte, aber so was? Eine Leiche, wie schockgefroren. Hart und trocken wie eine moderne Mumie. Das hatte er noch nie gesehen. Es war bizarr.

Da stand einer kerzengerade in der Elbe, fast dynamisch, mit guter Körperspannung, wie für die Ewigkeit gemacht. Fast wie das Original aus witterungsbeständigem Eichenholz. Und niemand hatte etwas bemerkt. Bis schließlich ein Paddler mit seinem Kajak ganz dicht am Bojenmann vorbeigefahren war, um ein schnelles Selfie zu machen, bevor ihn die Strömung vorbeitreiben ließ. Doch auch der hatte erst hinterher, Stunden später, zu Hause beim Betrachten gemerkt, dass da etwas nicht stimmte. Und zwar ganz entschieden nicht. Der Bojenmann hatte beim Reinzoomen auf einmal ganz anders ausgesehen. So echt irgendwie. Wie aus einem Horrorfilm. Grotesk. Der Mann hatte die Polizei angerufen. Eine Streife war ans Elbufer gefahren, und kurz darauf waren auch die Feuerwehr und ein Boot der Wasserschutzpolizei vor Ort.

Die Kollegen hatten den Bojenmann inspiziert und schnell erkannt, dass der wohl ein Fall für das Landeskriminalamt war. Und jetzt stand Thies Knudsen, leitender Ermittler des LKA 12, Region Altona, an der Elbe und wunderte sich. Wie vielleicht noch nie zuvor in seinem Leben.

Wer machte sich so viel Mühe, einen Toten auf diese Weise zu präparieren und aufzubahren? Und warum? Ausgerechnet am Elbuferwanderweg. Im Herbst. Keine fünfzig Meter vom Strand entfernt. In Övelgönne. Mitten im Fluss. Eine makabre Clownerie? Allein der Fundort! Straftat hin oder her. Da hatte sich einer echt Mühe gegeben. Das hier erinnerte eher an eine perverse Performance als an einen gewöhnlichen Mord. Wasserstraßenkunst vielleicht. Fehlte nur noch, dass der Täter einen Hut vor sein Opfer auf den Sockel der Boje gestellt hätte.

An einem sonnigen Tag kamen hier Hunderte, ja Tausende von Passanten vorbei. Nicht wenige davon kehrten in der Strandperle oder im Ahoi mit Blick auf den Bojenmann ein und bestellten Lachsbrötchen oder Pizza. Im Sommer schwammen neuerdings immer welche zu ihm herüber. Benutzten die Tonne als Badeplattform. Sonnten sich auf dem Sockel. Das führte zwangsläufig zu der Frage: Warum hatte niemand etwas gemerkt? Wahrscheinlich lag es daran, dass der Tote den Spaziergängern verächtlich den Rücken zugewandt hatte. Bis dann eben dieser Selfie-Sportler trotz herbstlicher Temperaturen die Elbe hochgepaddelt war.

Knudsens Kollegin, die Forensikerin Susi Diercks, Rufname »Spusi«, war zusammen mit ein paar Kollegen gerade dabei, sich den Toten schon mal vor Ort auf der schwankenden Boje anzusehen und Spuren zu sichern. Knudsen wusste, dass Spusi schnell seekrank wurde. Schon beim Anblick von Wasser wurde ihr schlecht, hatte sie mal gemeint. Aber die Elbe absperren lassen, das Tor zur Welt also einen Tag lang für die Leiterin der Kriminaltechnik dichtzumachen und den Hamburger Hafen lahmzulegen, nur damit der Bojenmann stillhielt? Wunschdenken. Das bekam nicht einmal die Kripo hin – die halbe Weltwirtschaft für einen Tag lahmzulegen. Und die Containerschiffe stattdessen in Bremerhaven löschen zu lassen. Vergiss es, dachte Knudsen.

»Ich glaub, ich kleb mir gleich eines von diesen Pflastern hinters Ohr…«, hatte Spusi gemurmelt und sich dann von der Wasserschutzpolizei zum toten Bojenmann bringen lassen.

Eine Frau, die Maden aus fauligstem Fleisch pulte, die uralte Mageninhalte ohne Gasmaske untersuchen konnte, die die unerträglichsten Gerüche und Anblicke ertrug, lief Gefahr, ein erstes Mal sozusagen dienstlich zu kotzen. Heimlich freute sich Knudsen schon auf ihren Bericht, der Abwechslung im Alltag eines Kommissars versprach.

Mit leicht blassem Teint kam sie gut eine Stunde später auf Knudsen zu, der immer noch beobachtend am Ufer stand, stellte den Koffer ab, zog die Handschuhe aus und sagte:

»Thies, frag nicht, so was hab ich noch nie gesehen, gelesen schon, ja, aber gesehen noch nie.«

»Geht’s auch klarer?«

»Na, unser Bojenmann – die Leiche«, sagte Spusi, »ich glaube, dass sie plastiniert wurde.«

»Plastiniert? Warte mal …«, fragte Knudsen entgeistert. »Du meinst, wie bei diesem schrägen Frankenstein-Typ. Mit Beuys-Hut. Wie hieß er noch gleich? Gunther von Hagens, oder?«

Spusi nickte.

»Ja, unser Toter, der Bojenmann, wurde plastiniert. Und zwar ziemlich gut … soweit ich das beurteilen kann. Unter der Kleidung wird es makaber. Der sieht aus wie ein Studienobjekt für die Medizinerausbildung. Die Haut fehlt größtenteils. Außer im Gesicht. Da sieht sie allerdings irgendwie seltsam aus. Wie gespannt. Und noch etwas ist komisch. Ein Auge des Toten steht offen und das andere ist geschlossen.«

»Was?«

»Als würde der zwinkern. Ziemlich makaber.«

Hm, dachte Knudsen, aber irgendwie auch originell, was immer das zu bedeuten hatte. Ein Auge zu, ein Auge offen. Wie ein toter Till Eulenspiegel. War das ein Versehen? Oder ein Mörder mit Humor? Motto: Mit dem Zweiten sieht man besser?

»Was ist mit dem echten Bojenmann?«, fragte er dann. »Dem Original aus Holz?«

»Abgesägt.«

»Und weg oder wie? Geklaut?«

Spusi zuckte mit den Schultern.

»Wir fangen nachher an zu suchen. Der Täter muss mit einem Boot oder Schiff zu der Boje gefahren sein. Entweder hat er die Figur dann mitgenommen oder ins Wasser geschmissen.«

Knudsen nickte. Die Taucher waren nicht zu beneiden. Bei null Sicht und ordentlich Strömung den Grund der Elbe abzutasten, ob da vielleicht der Bojenmann oder wenigstens die Säge oder sonst irgendwas zu finden war, was Aufschluss darüber gegeben hätte, wie die hölzerne Figur gegen eine aus Fleisch und Blut ausgetauscht worden war.

Was für ein seltsamer Fall! Wenn einer seine Opfer weder versteckte oder zerstückelte noch in Säure auflöste, sondern sie zur Schau stellte und auch noch zwinkern ließ, wollte man natürlich wissen, warum. Und bekam zusätzlich Druck von oben. Er konnte sich die Gespräche mit Staatsanwalt Arnold Rolfing und dem politischen Apparat schon jetzt gut vorstellen. So was wie diesen Bojenmann wollte keiner in seiner Stadt haben.

War es eine Botschaft? Ein Mahnmal? Eine Warnung? So wie man früher die gehängten Piraten zur Abschreckung baumeln ließ? Oder ein religiöses Motiv? Ein postmoderner Jesus mit Blick auf den Hafen, der niemals schlief? Machte das Sinn? Oder war es womöglich eine neue Mafia-Masche?

Erst einmal hieß es, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Nichts war schlimmer, als sich zu früh auf irgendeine These zu fixieren, die sich dann als Sackgasse herausstellte. Wenn Knudsen eines im Laufe seiner Ermittlungstätigkeit gelernt hatte, dann das. Erst mal bei den simplen Fragen anfangen:

Wer war der Tote? Warum genau war er tot? Und wer war in der Lage gewesen, ihn so kunstvoll und aufwändig zu plastinieren?

* * *

Stunden später gingen Knudsen und sein Team im Kommissariat durch, was sie bereits hatten. Der tote Bojenmann war ein einziges Rätsel. Es gab keinerlei Hinweise auf seine Identität, seine DNA fand sich in keiner Datei, und seine Fingerabdrücke waren durch die Plastination nicht mehr darstellbar. Die Fotos seines starren, irgendwie vergilbten Gesichts halfen bisher auch nicht weiter.

Gunther von Hagens war nicht erreichbar. Knudsen kam wohl nicht umhin, dem Papst der Plastination persönlich ein paar Fragen zu stellen. Wie der es fand, dass er plötzlich Konkurrenz bekommen hatte, zum Beispiel. Oder ob ihm eine seiner … Figuren fehlte.

Ein tiefes Seufzen unterbrach seine Gedanken. Es kam von Günther, einem Mops, der unter einem Schreibtisch in seinem Körbchen lag. Das Tier gehörte Knudsens Kollegin Dörte Eichhorn, die gerade kopfschüttelnd auf das Foto des Bojenmanns starrte. Sie war mit einem anderen Fall beschäftigt gewesen und erst jetzt zu den anderen gestoßen. Mancher hielt sie für unnahbar, doch hinter der rauen Schale verbarg sich eine loyale Kollegin und exzellente Polizistin, auf die man sich absolut verlassen konnte.

Man hatte ihr in zwanzig Berufsjahren als Frau in diesem Job nichts geschenkt. Anfangs hatte man sie als junge Kollegin belächelt, später widerwillig respektiert und schließlich, mit jetzt neununddreißig, gelernt, sich besser nicht mit ihr anzulegen. Thies Knudsen allerdings war immer fair zu ihr gewesen. Wenn es so etwas wie einen Freund in den Reihen ihrer Kollegen gab, dann war es Thies. Ihre freundschaftlichen Gefühle gegenüber Knudsen verbarg Dörte Eichhorn allerdings recht gut unter einem Panzer aus Angriffslust, Sarkasmus und kleinen Sticheleien. Sichtbare Zuneigung erhielt einzig Günther, ihr Hund, den sie gegen alle Vorschriften und zum Leidwesen ihrer Kolleginnen und Kollegen sehr oft mit ins Kommissariat brachte.

Mops Günther lag stets ausdünstend und schnaufend unter ihrem Schreibtisch, bis Dörte mit ihm Gassi ging oder ihn auf dem Flur mit Pansen verwöhnte. Diese Fütterung durfte nach Protesten des gesammelten Kommissariats irgendwann nur noch am Ende des Flurs stattfinden. Selbst Spusi Diercks, die einiges gewohnt war, hatte sich nach ein paar Mops-Mahlzeiten auf die Seite der Pansen-Verbanner gestellt.

Günther fiepte.

»Na, Dicker«, flötete Eichhorn, »warst du auch brav, während ich weg war?«

»Er hat bestimmt, wie immer, brav weitergestunken«, sagte Knudsen. »Du erinnerst dich? Wir hatten abgemacht, dass Günther nur noch ein, zwei Tage die Woche hier bei uns rumliegt.«

Eichhorn ignorierte die Bemerkung und streichelte ihren Mops.

Die Tür flog auf. Spusi Diercks wedelte mit einer Beweismitteltasche.

»Tadaaa!«, sagte sie. »Ich hab was!«

Sie ließ sich in einen Sessel fallen.

»Aber erst mal einen Kaffee!«

Eichhorn rollte mit den Augen.

»Herrje, Spusi, komm zur Sache«, bat Knudsen. Er hätte der Presse gern ein bisschen mehr angeboten als Frankensteins Monster ohne Namen. Konnte man sich ja vorstellen, dass die sonst wie die Hyänen über ihn herfallen würden. Eine plastinierte Leiche. Das war ein gefundenes Fressen für die. Die Morgenpost hatte bereits mit dem Toten getitelt. Das Foto zeigte den toten Bojenmann. Von hinten kaum vom Original zu unterscheiden.

Aber Knudsen hatte so ein Gefühl, dass sie auch noch ihr Bild von vorne bekommen würden. Paddler und Ruderer hatten auch Smartphones mit guten Kameras.

»Also«, referierte Spusi, während Knudsen ihr kommentarlos einen Kaffee reichte, »wir haben doch in der Hosentasche des Toten diese verwaschene Karte gefunden, auf der nichts mehr richtig zu entziffern war. Ich glaube, es war so eine Art Visitenkarte.«

»Sag bloß!«

Eichhorn wurde zusehends mürrischer. Ein Zettel, auf dem nichts stand … großartig. Sie hasste Spusis kleine Auftritte.

»Ich hab es geschafft, drauf doch noch was lesbar zu machen. Und zwar, indem …«

»Spusi«, meinte Knudsen mit sanfter Stimme. »Wir wissen, dass du gut bist in dem, was du tust. Sag einfach, was draufsteht. Danke.«

»DUCK…!«

»Was?«, fragten Eichhorn und Knudsen wie aus einem Mund.

»Auf der Karte stand DUCK. In Großbuchstaben. Man kann aber noch erkennen, dass ein weiterer Buchstabe folgt, aber nicht, welcher.«

»DUCK, was soll denn das heißen?«, fragte Eichhorn, »Donald Duck, oder was?«

»Unser Toter war also Comic-Fan«, ergänzte Knudsen.

»Großartig, dann ist der Fall ja fast schon gelöst«, unkte Eichhorn.

* * *

Auf der Fahrt nach Hause ging Knudsen alle Wörter mit DUCK durch, die ihm einfielen. Viele waren es nicht. Zu Hause angekommen, setzte er sich gleich an den Rechner und befragte das große Google-Orakel, was auch nicht viel ergiebiger war. Qualitativ. Quantitativ schon. Bei sechshunderttausend Ergebnissen (in nullkommasieben Sekunden), wie der Suchanfrage angeberisch in Klammern hinzugefügt war, bezogen sich fast alle Treffer allein auf Donald oder Dagobert Duck. Und Knudsen war sich sicher, dass diese Verbindung wohl eher an den Haaren herbeigezogen war.

Was dann? Duck Entertainment gab es noch. Pizzeria La Duck. Duck & Curry – ein thailändisches Restaurant in Nürnberg. Monaco Duck – exklusive handgefertigte Schuhe aus bayerischen Hoden. Knudsen blieb kurz hängen, war dann aber doch froh, dass es sich um Loden handelte. So schnell, wie er las, konnte das passieren. In der Modewelt wusste man ja nie. Durchaus denkbar, dass Gaultier oder McQueen … aber es handelte sich um Schuhe aus Loden, nicht Hoden. Herrgott! Vielleicht sollte er besser Schluss machen für heute.

Vielleicht hier, Rent a Duck, das gefiel Knudsen auf Anhieb am besten. Ein Autoverleiher, der ausschließlich Enten verlieh: »Erfahren Sie bei uns die Faszination Ente, und genießen Sie das einmalige Fahren mit einer charmanten Französin, die mehr Aufsehen erregen kann als ein Ferrari.«

Na ja, dachte Knudsen. Faszination Ente. Ich weiß ja nicht. Ein Autoverleiher am Arsch der Welt. Wohl kaum eine brauchbare Spur, auch wenn man natürlich nie wusste.

Auf DUCK reimt sich Fuck, dachte Knudsen. Er war frustriert. Mit Hilfe von Google kam er nicht weiter. Da konnte er genauso gut seinen Freund Oke Andersen anrufen. Der ehemalige Lotse hatte ihm schon oft den ein oder anderen Denkanstoß gegeben. Oder hatte mit überraschenden Weisheiten aufgewartet. Wenn Knudsen einmal bei Jauch auf dem Stuhl landen würde, würde er ihn unbedingt als Joker nennen. In Sachen China und christlicher Seefahrt wusste er jedenfalls alles. Und über Philosophie eine ganze Menge. Im Grunde ging es ja auch bei der Polizeiarbeit immer um die vier berühmten Kant’schen Fragen:

Was kann ich wissen?

Was soll ich tun?

Was darf ich hoffen?

Was ist der Mensch?

Na, vielleicht noch: Wer ist der Täter?

* * *

Andersen war früher selber zur See gefahren. Auf einem dieser schönen weißen Bananendampfer – dem Liniendienst in die Karibik für die Hamburger Horn-Linie. Als Schiffe noch Schiffe waren. Und nicht diese Kolosse von heute – wie Lego für Riesen. Eine seiner eher schlichten Weisheiten. Der Container sei für die Handelsschifffahrt, was heute das Smartphone für die Familie ist.

»Komm vorbei«, hatte La Lotse Andersen nur gemurmelt, als Knudsen ihn angerufen hatte. »Ich hab Essen auf dem Herd.« Zehn Minuten später saßen die beiden Freunde vor einem Teller Pasta mit Kräuterseitlingen in Andersens kleiner Küche. Das war eines von Knudsens Lieblingsgerichten. Sein Kumpel war ein guter Koch. Dazu gab es ein kaltes Pils.

Andersen hörte sich konzentriert an, was der Kommissar über den toten Bojenmann zu erzählen hatte.

»Zwei Fragen«, brummte Andersen. »Wo ist der wirkliche Bojenmann aus Holz abgeblieben, und wie hat der Mörder ihn da überhaupt abbekommen?«

»Gesägt hat er«, antwortete Knudsen und schob sich noch eine Gabel Nudeln in den Mund.

»Präzise an den Schuhen durchtrennt. Wir suchen morgen die Elbe weiter ab, ob der Holzmann da irgendwo auf dem Grund liegt.«

»Im Ernst. Denk mal nach!«

»Worüber?«

»Die Eigenschaften von Holz sind …!«

»Okay, okay, hast recht, es schwimmt.«

»Geht doch, Herr Kommissar!«

La Lotse führte kurz aus, dass – je nach auf- oder ablaufendem Wasser – die Figur Cuxhaven längst passiert haben müsse und irgendwo in der Nordsee schwimme. Und wahrscheinlich in Helgoland an Land gegangen sei und sich ein paar Taschenkrebse bestellt habe. Oder in der anderen Richtung, irgendwo elbaufwärts hinter Hamburg, angespült worden sei. Spätestens bei Geesthacht. Er tippte auf Ersteres und wollte wissen:

»Und wie hat der Mörder die Leiche eigentlich fixiert?«

»Mit Gurten an einer Stange. Die war aber unter der Kleidung verborgen.«

»Und die Stange?«

»In einer Vertiefung verankert. Hat er anscheinend vorab da reingebohrt.«

»Ohne, dass irgendwer was gesehen oder gehört hat? Hmm … watt für’n Aufwand«, brummte La Lotse. »Da hat ja einer mal ein großes Mitteilungsbedürfnis.«

»So isses.«

»Hmm. Sachen gibt’s. Und erzähl mir mal mehr über diesen sonderbaren Zustand der Leiche. Wie ist der Mann denn überhaupt gestorben?«

»Er wird in Kürze obduziert.«

La Lotse grinste.

»Wie denn? Mit Hammer und Meißel?«

»Schuss- oder Stichwunden hatte er nach der ersten Begutachtung jedenfalls nicht, sagt Spusi.«

»Vielleicht war es gar kein Mord?«

»Sondern?«

»Sterbehilfe de luxe … ein letzter großer Auftritt.«

»Pfff …«, machte Knudsen.

»Weißt du doch nicht … kommt alles vor.«

»Lass gut sein, das ist alles schon abstrus genug, ich brauch keine kryptischen Thesen.«

Knudsen seufzte und referierte, was er über das Plastinieren wusste. Nämlich, dass es sich um ein ziemlich aufwändiges Verfahren der Konservierung handelte, bei dem man sämtliche Körperflüssigkeiten toter Tiere oder Menschen durch Kunststoffe wie etwa Polyesterharze ersetzte. Oberfläche und Struktur der toten Körper blieben so weitgehend erhalten. Sie verlören aber sämtliche Farbe, die wiederhergestellt werden müsse, wenn man die Präparate ausstellen wolle, ohne die Menschen zu irritieren. In einer normalen Umgebung seien Plastinate geruchsfrei und ziemlich lange haltbar.

Knudsen verstummte.

»Normale Umgebung«, wiederholte Andersen. »Die normale Umgebung für einen Toten ist für mich ein Sarg oder eine Urne. Das muss ein hoch spezialisierter Täter sein. Die Szene dürfte nicht allzu groß sein.«

»Das ist auch unsere Hoffnung.«

»Sonst noch was?«, fragte Andersen.

Knudsen kramte in seiner Tasche.

»Und das haben wir in der Hosentasche des Toten gefunden«, sagte er und schob seinem Freund ein Foto der verwaschenen Karte rüber.

»Sagt dir das was?«

»DUCK«, las Andersen laut.

»Genau, DUCK. Und der Beginn eines weiteren Buchstabens. Das Wort ist also länger. Irgendeine Ahnung, was das heißen könnte?«

Andersen schwieg, schüttelte den Kopf und begann, den Tisch abzuräumen. Draußen wurde es langsam dunkel. Eine Möwe kreischte. Andersen stellte die Teller in die Spüle, stutzte und murmelte:

»Duck dich.«

»Was?«

»Nix.«

»Dukaten oder ein Eigenname vielleicht. Ducknikowsky …«

»Oder Dukannstmichmal !«, sagte Knudsen. Aber sein Freund schien den schönen Scherz gar nicht mitzubekommen.

»Ich sagte, Dukannstmichmal.«

La Lotse lachte immer noch nicht, kam aber plötzlich mit einem brauchbaren Wort um die Ecke:

»Was ist mit Duckdalben?!«

»Duckdalben«, wiederholte Knudsen, »fängt mit Duck an, stimmt. Von diesen Pfählen gibt’s viele.«

Er konnte sich nicht vorstellen, inwiefern ihn hölzerne Pfähle im Wasser in irgendeiner Form weiterbringen sollten.

»Einerseits, ja, es gibt viele. Aber es gibt auch einen Seemannsclub im Freihafen in Harburg, ganz in der Nähe der Köhlbrandbrücke, der so heißt.«

Knudsen runzelte die Stirn.

»Wovon redest du?«

»Der heißt so, Duckdalben!«

»Wirklich wahr? Nie gehört«, sagte Knudsen.

Im ersten Moment flammte kurz etwas Aufregung in ihm auf, wie in einem Huhn, das lange kein Futter bekommen hat und dem man ein Maiskorn hinwarf. Dann war das Gefühl verschwunden.

»Das Wort ist gut, aber …«

Er holte ein Foto des Toten aus der Tasche: »Der hier ist wohl schon länger nicht in einem Seemannsclub gewesen, oder?«

La Lotse riss die Augen auf und meinte:

»Moment … ich glaube, den kenne ich.«

Knudsen war müde, ihm war nicht nach Scherzen zumute. Er sah schon die Pressekonferenz vor sich, in der er würde sagen müssen: »Bitte haben Sie Verständnis. Aus ermittlungstechnischen Gründen können wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt leider keine …«

Wenn die Presse eins nicht hatte, dann war es Geduld und Verständnis. Mit Verständnis verkaufte man keine Zeitung. Schrieb keine Titelgeschichten. Verständnis war für Teile der Presse ein Persilschein, sich selbst die schönsten Geschichten und Zeugen auszudenken, was die Ermittlungen nicht leichter machte. Plötzlich musste man sich neben fehlenden Spuren noch um die falschen kümmern, sodass man sich manchmal wie bei der Hotline von Aktenzeichen XY ungelöst vorkam.

»Im Ernst«, sagte La Lotse und sah sich eindringlich das Foto des plastinierten Toten an. »Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie kommt mir der Typ wirklich bekannt vor, auch wenn er aussieht wie gegerbt.«

»Du sollst auch nicht dir helfen, sondern mir. Weißt du, wie oft ich den Satz schon gehört habe und wie wir solche Menschen in Ermittlerkreisen nennen?«

Andersen hörte nur halb zu und schüttelte auch nur halb den Kopf.

Knudsen war eigentlich zu müde, um es zu erklären, tat es dann aber trotzdem: »Knallzeugen nennen wir die. So bezeichnet man einen Zeugen, der sich erst nach einem Schuss umdreht, hinterher aber der Meinung ist, er habe den Tathergang ganz genau gesehen, nur weil er aufgrund einer akustischen Wahrnehmung auf bestimmte Tatsachen schließt. Mit dem Hergang des Überfalls hat das dann oft nicht viel zu tun.«

Andersen nickte.

»Verstehe. Und daher auch die Redewendung: ›Du hast wohl den Schuss nicht gehört.‹«

Knudsen schmunzelte.

»Genau, daher kommt das wahrscheinlich. La Lotse, wie er leibt und lebt.«

»Knallzeuge hin oder her, kann ja sein, dass es die gibt. Aber hab ich gesagt, wie und wo und von wem der ermordet wurde? Hab ich nicht. Ich sag lediglich, dass mir der Typ bekannt vorkommt.«

»Kenne ich, Alzheimer light«, meinte Knudsen.

»Kannst du mir das Bild trotzdem dalassen?«

Knudsen schüttelte den Kopf.

»Ich zeig’s auch nicht rum. Oder verkaufe es an die Presse.«

»Die kriegen das Bild schon noch früh genug, aber nur, wenn wir in drei Tagen nicht weiter sind.«

»Wenn du mir das Bild dalässt, hab ich morgen einen brauchbaren Hinweis für dich. Deal?«

»Ohne rumzeigen?«

»Ohne rumzeigen, nur nachdenken.«

Und wenn Oke – La Lotse – Andersen eines konnte, dann das: nachdenken.

* * *

Das Gesicht. Irgendetwas löste es in ihm aus. Auch wenn es sonderbar aussah, so starr und gelblich. Aber die Gesichtszüge waren noch ganz gut erkennbar. Er hätte schwören können, dass er dieses Gesicht mit der markanten Höckernase irgendwo schon mal gesehen hatte. Aber in über sechzig Jahren hatte man eine Menge Gesichter schon mal gesehen. So viele, dass man langsam überall gewisse Ähnlichkeiten erkannte. Als sei das Reservoir der menschlichen DNA doch nicht so unerschöpflich, wie immer getan wurde. Von wegen jeder sei einzigartig und unersetzlich.

So oder so, für einen Schulkameraden war der zu jung, dachte Andersen. Irgendjemand vom Tischtennis vielleicht? Von den gegnerischen Mannschaften? Schon eher. Das Problem: Beim Spielen konzentrierte man sich eher auf den Ball und nicht auf die Gesichter der anderen. Vor einem Match blieb man besser bei sich und seiner Nervosität. Sich bloß nicht in vermeintlich freundliche Gespräche verwickeln lassen und jemand nett finden, den man hinterher rücksichtslos rundmachte. An der Platte hörte jede Freundschaft auf. Zumindest bei Männern. Da war jedes Lächeln plötzlich von Adrenalin und Testosteron vergiftet.

Es war schon halb zwei in der Nacht. Andersen machte noch einen letzten Spaziergang durch Övelgönne. Immer wieder verwunderlich, bei wem noch Licht brannte. Am hellsten aber brannte es immer auf der gegenüberliegenden Elbseite. Am Athabaskakai. Nachts hob sich die Silhouette des Bojenmanns sonst sehr deutlich vor dem bernsteinfarbenem Licht ab. Inzwischen war nur noch die Tonne zu sehen, der Sockel, der wie ein Eisberg ungefähr zu einem Siebtel aus dem Wasser ragte. Und Andersen hatte plötzlich so ein vages Gefühl, dass er am liebsten Knudsen aus dem Bett geholt hätte. Ob es nicht vielleicht ratsam sei, die anderen drei Bojenmänner, die es in der Stadt gab, vorsichtshalber unter Polizeischutz zu stellen. Allemal den auf der Alster. Die auf der Süderelbe und in Hamburg-Bergedorf konnte man vielleicht vernachlässigen. Aber den prominenten auf der Außenalster am Ostufer, den würde er zumindest observieren lassen. Wer weiß, dachte Andersen, wenn der Täter einen Hang zur Selbstdarstellung hat. Für große Auftritte. Körperwelten für den kleinen Mann ohne Eintritt? Wenn er sozusagen auf den Geschmack kam, weil sein mörderisches Machen und Schaffen so viel mediale Aufmerksamkeit erregte?

Wieder zurück in seiner Wohnung, blickte er ein letztes Mal aufs Bild. Und siehe da, die frische Luft hatte seinem Gehirn auf die Sprünge geholfen. Der Kerl, so glaubte er sich zu erinnern, hatte ihm einmal einen Kaffee gebracht. Und sogar einen relativ guten. Nie hatte er mehr Kaffee serviert bekommen als zu seiner Zeit als Lotse. Man war kaum die Lotsenleiter hoch, betrat die Brücke, grüßte den Käpt’n und zack: »Coffee!?«

»Yes, please!«

»Milk, sugar?«

So schwarz wie meine Seele, pflegte Andersen dann immer zu sagen. As black as my soul.

Wenig später kam dann der Steward. Jedenfalls war das früher so gewesen, als sich die Reedereien noch Stewards hatten leisten können. Heute hatten die Kapitäne Thermoskannen auf der Brücke. Oder der dicke Koch kam persönlich angewackelt. War es auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen? Die Europa 2 vielleicht. Oder die Queen Mary 2. Er wusste es nicht mehr. Aber er erinnerte sich, dass dieser Mann, der jetzige Tote, ihm einen sehr guten Kaffee auf die Brücke gebracht und ihn dann sehr freundlich und kultiviert in ein Gespräch verwickelt hatte. Sie hatten auf Englisch über Religion geredet. Er stammte von den Philippinen und war Christ. Konnte das wirklich der Mann auf dem Foto sein?

* * *

Am frühen Morgen des nächsten Tages joggte die 42-jährige Bankkauffrau Stefanie Bauer wie immer um die Alster. Es nieselte etwas. Noch war sie ganz allein unterwegs auf diesem Parcours der Frühsportler. Nur die Enten waren schon wach und zogen in der Dämmerung ihre Kreise auf Hamburgs malerischem Binnensee. Fast zwei Quadratkilometer Wasser mitten in der Stadt. Es war still. Die Alsterschifffahrt ruhte noch. Segel- oder Ruderboote waren noch nicht unterwegs. Auch die berühmte Alster-Fontäne schlief und würde erst in ein paar Stunden ihren Wasserstrahl in Richtung des wolkenverhangenen Himmels schicken. Hamburg wachte gerade erst auf.

Der Weg war 7,4 Kilometer lang, führte fast durchgehend am Ufer der Alster entlang und war bei Joggern sehr beliebt: eine ideale Laufstrecke. Stefanie Bauer lief in gleichmäßigem, ruhigem Tempo. Sie warf einen Blick hinüber zur Schönen Aussicht. Der Name der Wohngegend war Programm: Dort in Uhlenhorst, direkt am Wasser, lag eine der begehrtesten Gegenden der Hansestadt. Bauer stellte sich immer gern vor, dass eine bisher unbekannte, sehr reiche Tante ihr als einziger Erbin eine Villa mit Bootssteg vermachen würde. Sie lächelte. Tagträume. Besser noch Morgenträume. In Kürze würde sie sich wieder in ihrer Bankfiliale mit Kreditanträgen, überzogenen Konten und Sparplänen befassen. Sie wusste sehr gut, wie prekär die Situation in vielen Haushalten war. Das Leben wurde immer teurer. Was sie nicht wusste, war, dass dieser Morgen so ganz anders als die vorangegangenen werden würde.

Stefanie Bauer erreichte die östliche Uferpromenade auf der Höhe der Hohenfelder Brücke und blieb stehen. Es war ein Ritual. Hier konnte sie den im Wasser stehenden Bojenmannsehen. Ihren stets stillen und stummen Partner am frühen Morgen, der ungerührt auf das andere Ufer blickte. Wie ein Zinnsoldat. Den Bojenmann zu sehen, war das Zeichen, die Werte auf ihrer Fitness-Uhr zu checken.

»Ganz okay«, dachte sie zufrieden, dehnte sich etwas und sah dabei hinaus auf die Alster. Irgendetwas irritierte sie. War es der Schwan, der sich gerade aus dem Uferdickicht löste und langsam hinaus aufs offene Wasser schwamm? Nein, irgendetwas war anders als sonst. Ja, da! Die Skulptur, der Bojenmann, das war es! Der sah heute morgen so anders aus. Die Haltung! Da stimmte doch was nicht. Normalerweise stemmte er beide Arme in die Hüften. Aber auf einmal hielt er einen seiner Arme mit gestrecktem Daumen nach oben. Wie konnte das sein? Diese bizarre Siegergeste?

Moment?

Hatte sie nicht gestern gelesen, dass an der Elbe …?

Sie sah genauer hin.

Und griff zum Telefon.

Wenig später ruderte Polizeihauptmeister Hannes Leifermann in einem eilig herbeigeschafften Ruderboot vom Alsterufer die paar Meter hinaus aufs Wasser zum Bojenmann. Sein Kollege Polizeiobermeister Henri Posche stand mit Stefanie Bauer am Ufer und wartete.

»Siehst du was?«, rief Posche.

»Moment«, antwortete Leifermann. »Noch ein kleines Stück.«

Bisher drehte ihm der Bojenmann nur den Rücken zu. Dann hatte Leifermann die Skulptur erreicht.

Sie starrte ihn aus toten Augen an.

Ihr weißes Hemd flatterte im Wind und ließ den Blick auf den Körper darunter frei. Leifermann sah Muskelstränge und ein menschliches Herz.

»Was ist denn nun?«, rief Posche ungeduldig.

»Ruf das LKA an«, antwortete Leifermann.

* * *

Kommissar Knudsen wachte, wie immer, gegen vier Uhr morgens auf. Vor zwanzig Jahren hatte es nichts Wichtigeres gegeben als die Arbeit. Das hatte ihn seine Ehe gekostet. Aber nach über dreißig Jahren im Job war man ruhiger geworden. Auch wenn das Leben und Sterben um einen herum immer wilder wurde. Egal. Man war eben nicht mehr so ambitioniert mit über fünfzig. Man stumpfte ab. Verschliss.

Mit die traurigste Erkenntnis seiner Arbeit als Kommissar: die ganze Vergeblichkeit. Kaum dass man ein Schwein überführt und dingfest gemacht hatte, gab es schon wieder zwei neue Leichen irgendwo. Das störte ihn zunehmend. Dieser Sisyphos-Aspekt, also dass man es immer nur mit den Wirkungen und nie mit den Ursachen zu tun bekam. So manches Mal hatte er schon überlegt, hinzuschmeißen und eher etwas in Sachen Prävention zu machen.

»Du fährst ja auch lieber ein Schiff durchs Fahrwasser, als dass du jedes Mal ein Wrack bergen müsstest«, hatte er zu Andersen einmal gesagt. Auf einen dingfest Gemachten wuchsen irgendwo zwei Mörder nach.

Vielleicht nicht der weltbeste Vergleich, aber deutlich genug, um zu kapieren, um was es hier ging. Das Morbide im Menschen im Vorfeld zu bekämpfen. Und nicht immer hinterher erst die Leichenteile zusammenzutragen und außerdem den Todesengel bei den Angehörigen zu machen. Das Schlimmste überhaupt.

Knudsens Handy klingelte, als er sich gerade sein Müsli zubereitete.

»So früh?«, dachte er. »Kein gutes Zeichen.«

* * *

Eine halbe Stunde später saß Knudsen im Kommissariat. Es war 7 Uhr 30, als er zum dritten Kaffee und dann zum gefühlt hundertsten Mal zum Telefon griff.

»Ach du, La Lotse …, kann ich dich zurückrufen … neuer bzw. nächster Fall.«

»Ich dachte, das interessiert dich: Ich weiß jetzt, wer der Tote ist. Also vermutlich.«

»Wie? Was weißt du?«

»Der Bojenmann. Ich hab doch gesagt, dass ich den schon mal gesehen hab. Auf einem großen Pott. Vielleicht ein Kreuzfahrtschiff. Der war ein Kellner oder Steward, der mir Kaffee auf die Brücke gebracht hat.«

»Im Ernst? Mach jetzt keine Witze, Oke.«

»Mach ich nicht.«

»Das gibt’s doch nicht. Du kennst den wirklich? Hier überschlagen sich gerade die Ereignisse. Wir haben nämlich ein zweites Opfer. Bojenmann Nummer 2 …«

Andersen schwieg kurz.

»Wo?«, fragte er dann.

»Alster. Ich melde mich gleich, Oke, ja?«

Knudsen stöhnte. Was für ein Morgen. Er sah kurz auf die News-Seite auf seinem Rechner. Titel der Meldung: »Der Kunststoff-Killer – sein zweites Opfer.« Jetzt hatte der schon seinen Spitznamen weg, bevor man wusste, ob überhaupt gekillt worden war. Oder ob sich die Opfer freiwillig mit Kunststoff hatten abfüllen lassen und folglich gar keine Opfer waren.

Staatsanwalt Rolfing stürmte auf seinen Schreibtisch zu.

Schöne Scheiße, dachte Knudsen.

Jetzt auch noch der.

* * *

Dörte Eichhorn betrat ihre kleine Wohnung im Kleinen Schäferkamp nahe des Hamburger Schanzenparks. Günther tippelte sofort zu seinem Körbchen in der Ecke des Wohnzimmers, ließ sich erschöpft hineinfallen und sah sein Frauchen erwartungsvoll an.

»Frauchen«, wie Eichhorn dieses Wort hasste. Seufzend ging sie in die Küche, öffnete die Tür des Hängeschranks und holte für Günther aus einer Dose ein »Leckerli«. Auch ein Wort, das sie hasste. »Frauchen«, »Leckerli«, »Häufchen« – warum musste alles im Zusammenhang mit Hunden immer in die Verniedlichungsform gebracht werden? Sie ging zu Günthers – natürlich – »Körbchen«, hockte sich mit dem kleinen Hundekeks vor ihn und fragte übertrieben freundlich:

»Na, Hundilein – harten Tag gehabt heute, willst du zur Belohnung dein Leckerli? Ja, fein, wo ist es denn?«

Günther wedelte aufgeregt mit seinem Stummelschwanz, stand so senkrecht im Korb, wie es bei seiner Größe ging, und nahm sein Leckerli dankbar sabbernd entgegen. Kaum dass es sein Maul erreicht hatte, war es auch schon verschluckt, regelrecht inhaliert. Ob das gesund war? Fressen ohne kauen?

Dörte betrachtete ihr Tier. Diese menschengemachte Mutation. Objektiv gesehen kein hübsches Wesen. Deshalb auch Günther und nicht Giacomo oder Gianluca. Aber sie liebte ihn nun mal, diesen kleinen dicken Kerl mit der platten Schnauze. Seine größte Problemzone – die fehlende Nase – war ihr damals nicht so bewusst gewesen, als sie ihn gekauft hatte. Angeblich gab es bei Möpsen und französischen Doggen derart überzüchtete Exemplare, dass ihnen schon beim Sprung vom Sofa die Augen herausfallen konnten. Schreckliche Vorstellung. In jeder Hinsicht. Der bloße Gedanke daran ließ Dörte fast hysterisch werden. Zumal sich die Redewendung »Das letzte Kind hat Fell« bei Dörte Eichhorn problemlos in »das erste und einzige« abwandeln ließ.

Na und? Wusste sie selbst am besten. Günther half ihr gegen die Einsamkeit. Musste man ihr nicht ständig aufs Brot schmieren. Was konnte sie dafür, dass Menschen, sprich Männer, so unendlich viel komplizierter, neurotischer und narzisstischer waren? Und mindestens so viel Aufmerksamkeit einforderten wie ihr Mops.

Günther war nie eingeschnappt. Beziehungsweise nie länger als fünf Minuten.

Sie strich ihrem Mops zärtlich über den Kopf und sah aus dem Fenster. Draußen dämmerte es bereits. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, zu Hause nicht mehr über die Arbeit nachzudenken. Im Fall der Bojenmänner war das gar nicht so einfach. So etwas Bizarres hatte sie in ihrer ganzen Laufbahn noch nicht erlebt: erstarrte, unheimliche Leichen, die aufs Wasser blickten. Hier war einer am Werk, der sich richtig Mühe gab mit seinen Opfern. Morgen in der Gerichtsmedizin würden sie mehr erfahren. Der Tag war hektisch gewesen. Der zweite Tote – auch er eine Art Mumie – musste geborgen, der Tatort gesichert werden. Spusi Diercks und ihr Team hatten jede Menge zu tun. Knudsen war genau wie sie vor Ort gewesen und hatte nach Überwachungskameras Ausschau gehalten. Fehlanzeige. Es gab Reifenspuren eines Autos am Ufer, aber die hatte der nächtliche Regen verwischt. Der Mörder musste den Bojenmann in der Nacht beseitigt und durch die plastinierte Leiche ersetzt haben. Am Ende lief das Ganze vielleicht auf Totenschändung hinaus. Oder Beihilfe zum Selbstmord. Oder oder oder… Vielleicht hatte der Täter jemand, der Zugang zu einem Leichenschauhaus hatte? Ein Professor der Anatomie. Vielleicht hatten sich Studenten der Medizin einen makabren Scherz erlaubt. Schien Dörte Eichhorn gar nicht so unplausibel, wenn sie da an eine Folge von Lars von Triers TV-Serie Geister dachte. Die spielte in einem Krankenhaus in Kopenhagen, und genau da hatten sich ein paar Protagonisten einen Scherz mit einem Kopf erlaubt. Je länger Eichhorn darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihr das.

Äußere Gewaltanwendung war jedenfalls auf den ersten Blick keine erkennbar. Außerdem bildete sich Eichhorn ein, dass sie inzwischen am Gesichtsausdruck erkennen konnte, ob jemand eines natürlichen oder gewaltsamen Todes gestorben war. Mordopfer sahen jedenfalls nie wirklich friedlich aus. Nie!

Konnte natürlich sein, dass die Plastination so eine Art Lifting für Leichen war. Dass der Gesichtsausdruck, den der Täter seinem Mordopfer post mortem angedeihen ließ, über sein etwaiges Leiden vor seinem Ableben hinwegtäuschte. Die Bojenmänner standen – zumindest, wenn man nicht unter ihre Kleidung sah – wie aus dem Ei gepellt auf ihren Bojen, der eine zwinkernd, der andere mit Fußballergeste, Daumen hoch, oder wie ein römischer Imperator, der sein Gutheißen zum Ausdruck brachte.

Was – zum Kuckuck – sollte das bedeuten?

Oder war es die makabre PR-Aktion eines Leichenpräparators? Moderne Mumien? Irgendwo hatte Eichhorn mal gelesen, dass man sich in Amerika – wo sonst? – in seinen Lieblingsposen von einem Präparator auf spezielle Weise zurechtmachen lassen konnte, bevor man verbrannt wurde. Ein Rentnerrocker auf der Harley, ein Unternehmerboss mit den Füßen hoch am Schreibtisch, ein Sänger in Elvis-Pose mit Mikrofon in der Hand. Prominente taten das gern, damit die Fans und Angehörigen angemessen Abschied nehmen konnten und den Verstorbenen in guter Erinnerung behielten.

Eins war jetzt schon klar: Egal, wer wie was, die beiden Bojenmänner würde man in ganz Hamburg und Schleswig-Holstein, wahrscheinlich im ganzen Land in Erinnerung behalten. Eichhorn konnte sich nicht erinnern, dass es überhaupt jemals in der Bundesrepublik einen Fall gegeben hätte, in dem die Opfer so exponiert aufgebahrt worden waren. Das war natürlich kein Zufall. Das war mehr als Absicht, da musste man das Motiv suchen. Die Opfer, da war sich Eichhorn irgendwie sicher, hatten nichts getan, um Opfer zu werden. Oder doch?

Das alles musste sie dringend morgen mit Thies Knudsen besprechen.

»Wir haben Feierabend, stimmt’s, Gün’sen!?« Sein Spitzname. Ein Wortspiel aus Vorname und Leibgericht: Pansen. Als Reaktion kam von Günther ein leichtes Schrägstellen des Kopfes, das man weder als »Ja« noch als »Nein« hätte deuten können. Es sah eher so aus, als wollte der Mops sagen: »Wie, bitte!? Könntest du die Frage noch mal wiederholen, ich hab gerade nicht zugehört.«

»Fei-er-abend!« Aber so ganz stimmte das nicht. »Fast Feierabend, Gün’sen.«

Sie erhob sich und beschloss, noch eine Runde zu joggen. Das Minimalprogramm. Das würde ihr helfen runterzukommen. Danach vielleicht noch eine Viertelstunde Training am Boxsack, der in ihrem Flur hing. Und den Günther jedes Mal anknurrte, sobald sie auf ihn einschlug. Als müsse auch er sie vor dem Angreifer beschützen. Dann duschen und ab ins Bett. Und hoffen, dass Güni Günsen endlich lernte, draußen im Flur zu schlafen. In seinem Körbchen, und nicht wie bevorzugt, aber verboten, auf ihren Klamotten, die auf einem Stuhl in der Ecke ihres Schlafzimmers lagen. Offenbar wusste Günther genau, wann Frauchen eingeschlafen war. Einerseits zu verpennt, andererseits zu gerührt, um wirklich sauer zu sein, hielt sich Eichhorns Geschimpfe mit Günther jeweils in Grenzen. Eins musste man ihm lassen: Der Kerl, der sich so nach ihr verzehrt hätte, dass er sich jedes Mal auf ein Kleidungsstück von ihr legte, wenn sie ihn allein ließ … und sei es bloß im Schlaf, der musste erst noch erfunden werden. Und wenn es ihn gäbe: Typ Klammeraffe, wie obernervig! Dörte Eichhorn hätte ihn schneller vor die Tür gesetzt, als er gucken konnte.

Gut zehn Minuten später hatte sich Eichhorn umgezogen und joggte in der beginnenden Dunkelheit durch den Schanzenpark. Furchtlos wie immer. Die Grünanlage hatte nicht gerade den besten Ruf in der Stadt. Die Drogenszene nutzte den Park für ihre Geschäfte, und ab und an kam es auch zu nächtlichen Übergriffen gegen Spaziergänger. Nicht jede Frau würde zu diesem Zeitpunkt im Park joggen. Dörte Eichhorn schon. Zehn Jahre Karatetraining hatten sie ziemlich selbstbewusst gemacht.

Eichhorn hatte sich gerade warm gelaufen, als sie plötzlich in der Ferne einen Schrei hörte. Sie blieb stehen und lauschte. Da! Was war das? Jemand war offenbar in Not. Eine Frau. Auch Männerstimmen waren zu hören. Eichhorn lief ein Stück weiter. Dann sah sie es. Etwa zwanzig Meter vor ihr standen zwei