Der Schattenmann - Kester Schlenz - E-Book

Der Schattenmann E-Book

Kester Schlenz

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Beschreibung

Er ist eingewickelt wie eine Mumie: In seiner Wohnung in Hamburg-Altona wird ein Toter gefunden. Verdurstet, so hat es den Anschein. An der Zimmerwand eine kryptische Botschaft: „Das Andere der Vernunft“. Was soll das? Kommissar Knudsen, leitender Ermittler des LKA in Altona, tappt im Dunkeln. Und schon bald werden weitere Leichen gefunden – erfroren, vergiftet, eingesperrt in einer dunklen Schreckens-Kammer. Und an den Wänden immer geheimnisvolle Botschaften, die nur schwer zu deuten sind. Gewiss ist nur eins: ein Serientäter treibt sein Unwesen. Doch wie ihn stoppen, wenn man sein Motiv nicht kennt? Mit Hilfe von Knudsens väterlichem Freund La Lotse, einem ehemaligen Hochseekapitän, finden die Beamten schließlich die ausschlaggebende Verbindung zwischen den Opfern. Die Spur führt in die Vergangenheit auf eine einsame Insel in der Elbe. In ein Gebäude, das seine ehemaligen Bewohner nur das kalte Haus nannten …

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Zum Buch

Er ist eingewickelt wie eine Mumie: In einer Wohnung in Hamburg-Altona wird ein Toter gefunden. Verdurstet, so hat es den Anschein. An der Zimmerwand eine kryptische Botschaft: »Das Andere der Vernunft«. Was soll das? Kommissar Knudsen, leitender Ermittler des LKA in Altona, tappt im Dunkeln. Und schon bald werden weitere Leichen gefunden – erfroren, vergiftet, eingesperrt in einer dunklen Schreckens-Kammer. Und an den Wänden immer geheimnisvolle Botschaften, die nur schwer zu deuten sind. Gewiss ist nur eins: ein Serientäter treibt sein Unwesen. Doch wie ihn stoppen, wenn man sein Motiv nicht kennt? Mit Hilfe von Knudsens väterlichem Freund La Lotse, einem ehemaligen Hochseekapitän, finden die Beamten schließlich die ausschlaggebende Verbindung zwischen den Opfern. Die Spur führt in die Vergangenheit auf eine einsame Insel in der Elbe. In ein Gebäude, das seine ehemaligen Bewohner nur das kalte Haus nannten …

Zu den Autoren

KESTER SCHLENZ, geboren 1958, ist ein echtes Nordlicht. Sternzeichen Fische. Geboren in Kiel, aufgewachsen in Schleswig. Mit 16 Jahren samt Family in Richtung Hamburg gezogen. Dort auch studiert und Journalist geworden. Stationen, unter anderem: Szene Hamburg, Cinema,Brigitte und Stern. In der Stern-Kantine ist auch die Idee zum »Bojenmann« geboren worden. Denn regelmäßig wird Schlenz von seinem Kumpel Jepsen mittags im Verlag besucht. Ansonsten spielte Schlenz in seiner Jugend Schlagzeug, und zwar in einer Band, die in Hamburg-Bergedorf weltbekannt war. Der Name der Gruppe tut hier nichts zur Sache. »Sadoboys« klingt ja nun wirklich gewöhnungsbedürftig.

JAN JEPSEN, geboren 1962, wurde in der Nacht der großen Hamburger Sturmflut gezeugt. Er wuchs – größtenteils in Gummistiefeln – in der ehemaligen Lotsensiedlung Övelgönne auf: »Unten am Hafen, wo die großen Schiffe schlafen.« Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben, Reisen und die Fotografie. Sein erster Roman (»Wie die Wilden«) handelt von einer Kindheit an der Elbe und wurde von der Kritik als Hamburger Antwort auf Tom Sawyer und Huckleberry Finn bezeichnet. Auf einer gemeinsamen Reportage in Norwegen lernte er Kester Schlenz kennen. Aus Kennenlernen wurde Freundschaft, aus Freundschaft in Co-Autorenschaft ihr erster gemeinsamer Krimi »Der Bojenmann«. Das Motto der beiden: Vier Gehirnhälften schreiben (und morden) besser als zwei.

Jan Jepsen & Kester Schlenz

DER SCHATTENMANN

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Oktober 2023

Copyright © btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Trevillion Images/Silas Manhood

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MA · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-27774-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

»Jeder Mensch ist ein Abgrund – es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.«

Georg Büchner

UM 21 UHR MUSS IMMER DAS LICHT aus sein. Dann die Dunkelheit. Der große Saal mit den vielen Betten. Das Atmen der anderen. Weinen. Leises Wimmern. Jemand hustet. Draußen an den Wasserbecken schreit ein Waldkauz. Selbst das klingt traurig.

Er liegt da und zittert. Vor Kälte. Vor Angst. Vor Einsamkeit. Ein grässlicher Dreiklang. In düsterem Moll. Die Grundtonart seines Lebens.

Von drüben, wo die Älteren wohnen, kommen Schreie. Lauter als sonst. Durch die Wand hindurch hört er ein Klatschen. Jemand wird geschlagen. Mal wieder. Eine Tür fällt ins Schloss. Dann Stille. Tückische Stille. Mit doppeltem Boden. Weil man sich nie sicher sein kann, wem was als Nächstes passiert. Es ist wie bei einem bösartigen Roulette.

Er hört Schritte auf dem Gang. Einer der Pfleger wahrscheinlich. Wer sonst? Die Schritte kommen auf seinen Schlafsaal zu. Bloß nicht bewegen jetzt. Er muss ganz still sein. Keiner darf mehr sprechen, wenn das Licht aus ist. Er hat solche Angst, die er bis in die Blase spüren kann. Bloß das nicht. Dann ist man erst recht dran.

Die Tür geht auf. Ein Lichtschimmer fällt in den Saal. Er kneift die Augen zu. Fester als sonst. Aber dann öffnet er sie wieder. Er erträgt die Dunkelheit nicht. Er hört ein Räuspern. Ein Mann betritt den Schlafsaal. Geht ein paar Schritte. Kommt näher. Er kann das Rasierwasser riechen. Er weiß jetzt, wer im Raum ist.

Der Koch.

Eine Taschenlampe geht an. Das Licht huscht durch den Saal. Trifft das Bett neben ihm. Der Lichtkegel verweilt auf dem Bett. Da liegt der kleine Martin.

Roulette, wie gesagt.

Er schließt die Augen. Heute Nacht also nicht. Doch dann ist das Licht auf seinem Gesicht. Der Mann tritt an sein Bett.

»Na, da ist ja noch jemand wach«, sagt er.

Er wünscht sich weit weg. In eine andere, eine bessere Welt. Hält sich an Stoffel fest. Dann spürt er, wie der Mann seine Decke zur Seite schlägt.

»Komm!«

… – – – …

Alles schlief, als ein blauer VW Tiguan in der Dunkelheit über die Max-Brauer-Allee in Hamburg-Altona fuhr und links in die kleinere Julius-Leber-Straße abbog. Der Wagen verlangsamte sein Tempo. Zone 30. Bloß nicht auffallen jetzt. Der Fahrer schien etwas zu suchen. Eine Hausnummer. Dann stoppte er, setzte etwas zurück und fuhr in eine der seltenen Parklücken in dieser Gegend. Der Motor wurde ausgeschaltet. Das Licht erlosch. Doch die Türen blieben verschlossen.

Eine Zeitlang stand der Wagen in der Dunkelheit. Nichts rührte sich im Auto. Als würde noch schnell ein Telefonat geführt, ein Beitrag im Radio zu Ende gehört. Oder noch einmal die eigene Entschlossenheit geprüft, an der es offenbar nicht haperte, wie sich später anhand des Tatortes feststellen ließ.

Dann wurde die Autotür geöffnet. Im Licht der Innenbeleuchtung war kurz eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt zu sehen. Mit Handschuhen und dunklem Mundschutz. Jener bis vor Kurzem noch vorgeschriebenen Hygiene-Vermummung, als gälte es noch immer, Corona zu bekämpfen.

Doch dieser Kampf war anders, er war den Dämonen der Vergangenheit geweiht.

Die Tür fiel ins Schloss. Das Licht im Wageninneren erlosch. Der Vermummte stand da, sah sich um und wartete. Niemand sonst war zu sehen, was um diese Uhrzeit auch nicht anders zu erwarten war. Dann beugte sich die Gestalt nach unten, griff zu einem ledernen Rucksack, setzte ihn auf und ging die restlichen Meter zu Fuß, zwei Straßen weiter auf ein Mietshaus zu, das still in der Dunkelheit lag. Alle Bewohner schienen bereits zu schlafen. Die Wohnung im Erdgeschoss links war das Ziel des Schattenmanns. Der fast ebenerdige Balkon lag hinter einer hässlichen Blautanne, die in Wälder gehörte, aber eigentlich nichts in städtischen Vorgärten zu suchen hatte. Unter normalen Umständen raubte sie Licht, in diesem Moment bot sie idealen Sichtschutz, um sich mit einem Stemmeisen vor der Balkontür hinzuknien. Wenn man wusste, wo man den Hebel ansetzen musste, brauchte es nur mäßig Kraft, um sich Einlass zu verschaffen. Kinderspiel, dachte er. Darüber war der Eindringling selbst erstaunt. Er war kein geübter Einbrecher; er machte das hier zum ersten Mal.

* * *

Albrecht Tarnow erwachte von einem knirschenden Geräusch. Es kam von der hinteren Hausseite. Oder war das ein Traumfragment? Er setzte sich mühsam auf. Was war das? Da hörte er auch schon erste Schritte. Eine Szene wie aus Aktenzeichen XY, nur diesmal live.

Ehe Albrecht Tarnow das Licht anmachen und »Wer ist da?« rufen konnte, stand schon jemand im Zimmer, maskiert und ganz in Schwarz gekleidet, wie aus einem dieser Ninja-Filme, die er so gern sah.

»Was soll …?!«, brachte er noch heraus. Weiter kam er nicht. Bevor er mit dem Arm die Nachttischlampe erreichte, hörte er ein Zischen und spürte einen Stich, unmittelbar gefolgt von einem Gefühl, als habe der Blitz im Brustkorb eingeschlagen. 50.000 Volt schossen durch seinen Körper. Er schrie vor Schmerzen auf, fiel zurück auf sein Bett und wurde ohnmächtig.

Als das Leben zurückkehrte und er sich zu bewegen versuchte, fühlte er sich benommen.

»Da bist du ja wieder«, flüsterte die Gestalt, streichelte ihm sanft über den Kopf und tupfte ihm den Schweiß von der Stirn.

»Liegst du bequem? Ist ein wenig eng, oder? Bist dick geworden, ganz schön dick!«

Albrecht Tarnow versuchte zu antworten. Aber sein Mund war fest mit Klebeband verschlossen. Nur die Nase des 78-Jährigen war noch frei. Sein Oberkörper steckte in einer Art Zwangsjacke. Die Beine waren mit Spanngurten an das Bett festgeschnallt, wie man sie sonst zum Fixieren von Lasten auf einem Pritschenwagen nutzte. So fest, dass seine Füße bereits anfingen, taub und kühl zu werden. Die meiste Kälte aber ging von der Stimme seines Peinigers aus.

Tarnow war zu sediert und gleichzeitig zu verschreckt, als dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Wer, warum … worum ging es hier?

Der Eindringling nahm seine Maske ab.

Ein Mann. Nicht mehr jung.

»Du kannst mich ruhig ansehen, Tarnow«, hörte er. »Beschreiben wirst du mich nicht mehr können. Es wird etwas dauern, bis du den Styx überquerst, den Fluss des Grauens, und das Ufer des Hades erreicht hast, falls dir das was sagt.«

Mit diesen kryptischen Worten verschwand der Mann. Der todgeweihte Tarnow hörte noch, wie in der Küche eine Schranktür geöffnet wurde. Wie Wasser lief. Sah wie sein Mörder mit einem großen, gefüllten Glas zurückkehrte und es neben das Bett auf dem kleinen Nachttisch stellte.

»Hier, Freundchen. Bitte sehr. Aber nicht anfassen. Du musst das Wasser sehen, wenn der Durst kommt. Kaltes, klares Wasser.«

Tarnow wand sich, versuchte zu schreien, aber es gelang ihm nur ein dumpfes Gegrunze.

»Na, na, nicht doch«, sagte der maskierte Mann. »Du kennst doch die Regel: Du schweigst und gehorchst.«

Dann zog die Gestalt ein Foto aus der Tasche und hielt es Tarnow dicht vor sein Gesicht.

»Hier, kleine Gedächtnisstütze. Erinnerst du dich?«

Albrecht Tarnow schüttelte den Kopf, machte eine hilflose Kopfbewegung Richtung Brille, die auf dem Nachttisch lag.

»Ach so, ja, das Alter …!«

Die Gestalt setzte ihm behutsam die Brille auf.

»So besser? Guck es dir an. Ist schon etwas her.«

Tarnow blickte auf das alte Schwarz-Weiß-Bild.

Und er erinnerte sich.

Damals.

Es war so lange her.

Er versuchte, etwas zu sagen.

»Nicht doch«, sagte sein Mörder und ohrfeigte ihn. Ein Schlag so kräftig, dass Tarnow die Brille vom Kopf flog und neben dem Bett liegen blieb. Er begann zu wimmern. Tränen schossen ihm in die Augen. Tränen des Schmerzes, Tränen der Reue, Tränen über die Ausweglosigkeit der eigenen Situation.

»Du wirst ganz langsam sterben«, sagte die Gestalt und begann wieder, sanft seinen Kopf zu streicheln. »Und denk an mich und die anderen, wenn der Durst kommt. Du hast mir die ersten Jahre genommen, ich nehme dir die letzten.«

Kurz darauf hörte Tarnow ein Zischen, wie aus einer Sprühdose. Es roch nach Farbe. Selbst mit Brille hätte er nicht sehen können, was da über seinen Kopf an die Wand gesprayt wurde. Er hätte es gern gewusst, am wahrscheinlichsten schien ihm sein Name – samt Todesdatum. Aber die Antwort blieb so unerreicht wie das Glas Wasser, das nur eine knappe Armlänge entfernt von ihm stand.

Albrecht Tarnows langsames Sterben begann.

* * *

Kommissar Thies Knudsen genoss mal wieder die Gastfreundschaft von Oke Andersen. Die beiden hatten gerade eines ihrer regelmäßigen gemeinsamen Abendessen beendet. Kabeljau mit Basmatireis und Fenchel hatte es heute gegeben. Oke Andersen, ein pensionierter Lotse, hatte – wie immer – gekocht und seinen Freund Thies Knudsen, der leitender Ermittler beim LKA in Hamburg war, zum Essen eingeladen. Beide schätzten das Ritual sehr: gemeinsam essen, ein bisschen was trinken und reden. Und ab und zu einen Blick hinunter auf die Elbe werfen, die ein paar Meter vor Andersens Balkon vorbeifloss. Als gräulich silbernes Band. Wie flüssiges Blei, dachte Knudsen oft.

Andersen fuhr sich gerade mit der Serviette über den Mund, als es an der Tür des kleinen Hauses in Hamburg-Övelgönne klingelte. Er sah seinen Freund fragend an und sagte: »Huch, so spät? Wer mag das sein? Hast du zur Sicherheit noch Pizza bestellt?«

Knudsen lächelte und sagte: »Oke, mein schlauer Freund, es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Geh mal hin und schau nach.«

»Wo du recht hast, hast du recht«, erwiderte Andersen, stand auf und ging durch den schmalen Flur zu seiner Haustür. »Ich tippe auf Klingelstreich! Aber nicht wieder hinter meinem Rücken den Teller ablecken, das kann ich nicht leiden.«

Kommissar Knudsen sah derweil aus dem Fenster zu, wie ein Containerschiff der Grimaldi-Line die Elbe hoch in Richtung Hafen fuhr. War von den Kästen nicht kürzlich eins vor der holländischen Küste in Seenot geraten? Er konnte in der Dämmerung noch gut den dicken schwarzen Rauch sehen, der aus den Schornsteinen des gigantischen Schiffes quoll. Schweröl. Abfall als Treibstoff, dachte Knudsen kopfschüttelnd und griff zu seinem Bier. Und höchstwahrscheinlich subventioniert. Wie sollte das gut gehen? Mit der Menschheit, wenn erst ein Mädchen die Schule schwänzen musste, damit die Leute aufwachten – und zeitgleich jedes Jahr mehr SUVs auf die Straße kamen?

Es klingelte ein zweites Mal, und er hörte, wie sein Freund Andersen mit einem gebrummten »Ja doch« die Tür öffnete.

Dann Stille.

Knudsen wurde es etwas mulmig. Eine Art Flashback – sein letzter Fall. Schließlich geisterte der mehrfache Mörder Gottfried Hellberg immer noch irgendwo herum. Und Knudsen hatte keine Waffe dabei. Natürlich nicht. Das hatte er nie, wenn er privat unterwegs war.

Knudsen sah über Andersens Schulter hinweg eine riesige Gestalt im Hausflur auftauchen. Ein breitschultriger Hüne. Der Kommissar war schon am Aufstehen, als die Gestalt einen Schritt vortrat. Jetzt beleuchtete die Lampe über der Tür das Gesicht. Knudsen atmete durch. Nein, nicht Hellberg. Eher, als stünde da Shreks kleiner Bruder. War das ein Nachbar? Sahen so Övelgönner aus? Nein.

Er ging vorsichtshalber ein paar Schritte näher Richtung Flur.

Sein Freund schien jedoch völlig entspannt.

»Im Ernst, du?«, entfuhr es Andersen, der das Riesenbaby offenbar sofort erkannt hatte. »Mensch, komm rein«.

»Oke«, sagte die Gestalt etwas fahrig. »Ich hab Mist gebaut.«

»Wie? Mist … Das trifft sich gut. Komm rein, kannst dich gleich stellen … und die Schuhe anbehalten«, antwortete Andersen arglos. »Mein Freund und Tischtenniskollege Knudsen ist auch gerade da. Thies … Thies Knudsen, vielleicht erinnerst du dich noch, der Polizist.«

Andersen drehte sich um und rief ins Haus hinein: »Thies, es ist Morf Pörksen, mein großer Ziehsohn aus alten Tagen.«

Knudsen kam näher. Sah aber niemanden mehr. Der Türrahmen war leer. Man hörte noch Schritte auf der Treppe.

»Morf, hey, warte … was ist denn? Bleib doch!«, rief er in den Hof.

Dann rannte er zurück ins Haus und raus auf den Balkon. Unten sah er gerade noch, wie eine große Gestalt auf einem Fahrrad eilig davonfuhr.

Knudsen trat zu ihm.

»Was war das denn?«, brummte er. »Kannst du nicht mal ganz normal Besuch bekommen?«

»Hm, der war schon immer etwas wunderlich«, sagte Andersen.

»Wer denn überhaupt?«

»Das war Morf Pörksen«, antwortete Andersen. »Ich vermute mal, dass er keinen gesteigerten Wert darauf legte, hier auf einen Bullen zu stoßen. Der wollte zu mir, aber, wie es scheint, nicht zu dir.«

»Kann man ihm nicht verdenken, wenn er bei dir klingelt«, erwiderte Knudsen. »Ich bin ganz froh, dass der nicht mitgegessen hat. So ein Riesenbaby.«

»Komisch«, sagte Andersen. »Was mag der gewollt haben. Er sagte nur: ›Oke, ich hab Mist gebaut.‹«

»Hat er anscheinend auch. Sonst wäre er nicht abgehauen, als er meinen Namen hörte.«

»Seltsamer Auftritt. Ich hab den Jungen jahrelang nicht gesehen«, sagte Andersen.

»War das nicht damals ein guter Freund deiner Tochter, als sie noch bei dir wohnte?«

Andersen nickte und schritt zu einem seiner vielen Bücherregale. Weil er leidenschaftlich gern philosophierte, hatten ihm seine Kollegen seinerzeit den Spitznamen La Lotse in Anlehnung an den alten chinesischen Philosophen Laotse verpasst. Auch Knudsen nannte ihn oft so.

La Lotse griff also zu einem Fotoalbum, setzte sich wieder, blätterte darin herum, drehte dann das Album zu Knudsen und tippte auf ein Foto. »Das hier ist er.«

Kommissar Knudsen sah Andersens Tochter Maria und neben ihr – fast zwei Köpfe größer – einen hünenhaften Jungen. Beide mussten damals etwa elf Jahre alt gewesen sein.

»Ich erinnere mich. Waren die beiden gut befreundet?«

»Irgendwie ja«, antwortete La Lotse. »Morf war so etwas wie ihr Schatten. Eine Art Beschützer. ›Mein stiller Bodyguard‹, hat Maria immer gesagt.«

»Still?«

»Viel hat der Junge nicht geredet. Er hatte einen leichten Sprachfehler.«

»Und einen exotischen Namen … Morf von Morphium, oder wie?«

»Keine Ahnung, warum sein Vater ihn so genannt hat. Der war auch ein komischer Vogel: Uwe Pörksen. Sozusagen Säufer als Sternzeichen. Ganz traurig. Der hat sich nicht viel um seinen Jungen gekümmert.«

Andersen drehte das Fotoalbum um und betrachtete schweigend seine Tochter und ihren großen Freund.

»Bisschen wie Die Schöne und das Biest«, sagte Knudsen. »Mach dir keine Gedanken, Oke. Der meldet sich bestimmt wieder bei dir, wenn kein Bulle in deiner Wohnung hockt. Wahrscheinlich ist er beim Klauen erwischt worden oder schuldet irgendwelchen Dealern Geld. Ich will’s gar nicht wissen. Ich hab Feierabend. Und du machst, was du für richtig hältst.«

Oke Andersen nickte und klappte das Fotoalbum zu.

Die beiden Freunde nahmen ihr Gespräch wieder auf, das von der Türklingel unterbrochen worden war.

Gut ein Jahr war es jetzt her, dass der mehrfache Mörder Gottfried Hellberg entkommen war. Jener Wahnsinnige, der einsame Matrosen aus einem Seemannsclub entführte, tötete, sie dann in einer aufwändigen Prozedur plastinierte und an verschiedenen Orten der Stadt wie Schaufensterpuppen ausstellte. Die erste Figur war in der Elbe nicht weit von Andersens Wohnung gefunden worden. Dort schwamm eigentlich auf einer kleinen Plattform der »Bojenmann«, eine Holzfigur des Künstlers Stephan Balkenhol. Aber in einer Herbstnacht hatte Hellberg das Kunstwerk durch einen plastinierten Toten ersetzt. Weitere konservierte Tote wurden gefunden. Auch Oke Andersen hatte sich an der Jagd auf den Täter beteiligt und war Gottfried Hellberg dabei zu nahe gekommen. Eines Nachts hatte der Mörder bei ihm in der Wohnung gestanden und La Lotse schon mit seinem Leben abgeschlossen. Aber dann war Hellberg plötzlich verschwunden. Andersen fragte sich wieder und wieder, warum er verschont worden war. Und wo Gottfried Hellberg jetzt wohl war. Da ging es ihm nicht viel anders als Thies Knudsen, der den ungelösten Fall für den Tiefpunkt seiner Karriere hielt.

Gar nicht mal nur, weil der Mann noch frei rumgeisterte, wahrscheinlich im Ausland, mit falscher Identität. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn er Hellberg dingfest gemacht hätte. Aber dass seine Erschöpfung damit weg gewesen wäre – eher unwahrscheinlich. Zwischenzeitlich war er sich fast vorgekommen wie ein Zirkusdirektor, der seinen Laden nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und draußen vor dem Zelt tobte eine Meute und wartete auf die letzte und beste Vorstellung, wartete darauf, dass endlich das Raubtier in Ketten durch die Manege geführt wurde. Stattdessen hatte Hellberg den Kollegen Carsten Hauber entführt, einen Monat gefangen gehalten und wie eine Trophäe halb tot ausgerechnet im Polizeimuseum in einem Rollstuhl sitzend aufgebahrt. Und er, Knudsen, war an diesem Tag sogar vor Ort gewesen, als Referent für die Besucher an einem Tag der offenen Tür. Die ultimative Kränkung. Später fand man eine Notiz in Haubers Tasche. Sie lautete:

»Sehr geehrter Herr Knudsen, wie Sie wissen, fertige ich keine ›Montagsmodelle‹ an. Die Aufregung um meine Person verhindert, dass ich zurzeit in Ruhe arbeiten kann. Anbei deshalb Ihr Kollege zurück. Ich habe bei den Gesprächen mit ihm einiges über Sie erfahren.

Wir sehen uns!

G. H.«

Hauber war noch immer dienstunfähig und erholte sich in der Reha nur langsam. Noch nie hatte Knudsen irgendeinen Fall so persönlich genommen. Das öffentliche Interesse hatte ihm damals am meisten zugesetzt. Alle möglichen Leute quatschten in die Ermittlungen rein, und ständig wollte einer wissen, »wie der Stand« sei. »Was Neues, Knudsen?« Es klang eher nach Befehl. Mit der Aufmerksamkeit nahmen auch die Meinungen der anderen zu. Wann er wo wie welche Fehler gemacht oder was er übersehen hatte. Statt zu ermitteln, so kam es Knudsen vor, war er ab einem bestimmten Zeitpunkt mehr mit Selbstverteidigung beschäftigt gewesen. Wie beim Aikido, der Kunst, die kinetische Energie, die Schlagkraft der Gegner, der Vorgesetzten, des Staatsanwaltes, gegen den Angreifer selbst zu lenken.

Es war spät geworden. Knudsen und La Lotse redeten noch ein wenig, dann verabschiedete sich der Kommissar. Er ging sonst stets früh zu Bett, weil er meist im Morgengrauen aufwachte.

Andersen räumte ab und machte den Abwasch. Das Auftauchen von Morf Pörksen beschäftigte ihn noch immer. Was konnte der junge Mann gewollt haben? Und wieso war er bei der Erwähnung des Wortes Polizei verschwunden?

Er dachte an früher. Als Maria noch bei ihm wohnte und eines Tages diesen großen Jungen von der Schule mit nach Hause gebracht hatte.

* * *

Ein Regenschauer prasselte auf das Autodach von Thies Knudsens Dienstwagen und ließ dann so abrupt nach, wie er begonnen hatte. Montagmorgen. Ganz normaler Alltag für den Kommissar – »in Morddeutschland«, versuchte er einen Scherz, der nicht wirklich zu seiner Kollegin Dörte Eichhorn vordrang. Beide parkten in der Julius-Leber-Straße in Altona und mussten nicht lange nach der richtigen Hausnummer suchen. Vor einem Gebäude stand bereits ein Streifenwagen mit Blaulicht. Der Eingang war abgesperrt und wurde von zwei Beamten gesichert. Außerdem sahen sie gerade ihre Kollegin Susanne Diercks, Spitzname Spusi, aus dem Haus kommen. Die Leiterin der Spurensicherung rief ihnen schon von Weitem zu: »Ich hoffe, ihr habt alles Nötige dabei, ihr Lieben. Es reicht, dass da drinnen schon der Hausmeister und zwei von der Streife mit ihren Straßenschuhen rumgetrampelt sind.«

Eichhorn hob wortlos eine Tasche hoch und wedelte damit vor den Augen ihrer Kollegin.

»Alles dabei, Spusi. Das ganze Outfit.«

»Ja, ja, schon gut«, brummte Spusi. »Ich mein ja nur.«

»Kannst du uns schon sagen, was uns erwartet?«, fragte Knudsen. »Soll eine Leiche geben, heißt es.«

»Das kann ich mit großer Sicherheit bestätigen«, antwortete Spusi Diercks. »Da liegt in der Tat eine Leiche. Und die hat es nicht leicht gehabt, eine zu werden. Kein schöner Anblick. Ich hole schnell den Scanner aus dem Auto. Wollt ihr euch da umziehen?«

Knudsen und Eichhorn nickten und folgten Diercks zu ihrem Transporter. Beide schlüpften in weiße Ganzkörperanzüge mit Kapuzen und zogen Überschuhe an. Nur Gummihandschuhe überzustreifen und dann den Tatort zu betreten – das gab es nur im Fernsehen. Die Vorgehensweise am Schauplatz eines Verbrechens war bundesweit klar geregelt. Nichts verändern, alles dokumentieren, keine Haare, Fasern oder DNA einbringen. Die Spurensicherung sammelte stets alles, was den Täter verraten könnte, vor allem an der Leiche, die an allen erreichbaren Stellen mit einem speziellen Klebeband bedeckt wurde. Dies wurde dann wieder abgezogen und versiegelt. So konnten Hautschuppen, Blutspuren und somit Täter-DNA gesichert werden. Erst dann durfte die Leiche bewegt und untersucht werden.

Wie Astronauten gekleidet warteten Eichhorn und Knudsen vor dem Hauseingang.

»Dann wollen wir mal«, sagte Spusi, die sich gern wie ein Guide gerierte, wenn es darum ging, einen Tatort zu begehen. »Alle schön verpackt?«

In der Hand trug sie einen graublauen Kasten mit einem Stativ, der ein wenig wie eine Kamera aussah. Es war ein 3-D-Scanner, der die Tatortanalyse revolutioniert hatte. Spusis ganzer Stolz! Wo früher alles mit der Hand vermessen und in Skizzen festgehalten oder fotografiert wurde, konnte mit dem Scanner heutzutage ein Tatort praktisch »eingefroren« und später am Computer wieder in 3-D betreten werden. So oft man wollte.

Im Treppenhaus trafen die drei auf den Hausmeister. Knudsen und Eichhorn blieben stehen, während sich Spusi schon mal mit ihrem Scanner an die Tatortvermessung machte.

Der Hausmeister, der die Polizei angerufen hatte, schaffte es, sich schon mit seiner ersten Antwort bei Knudsen unbeliebt zu machen.

»Sie haben uns informiert?«

»Jawoll!«

Sehe ich vielleicht aus wie der Führer?, dachte Knudsen. Menschen, die mit Jawoll antworteten, waren ihm suspekt. Obrigkeitshörig. Befehlsempfänger. Potentielle Blockwarte und Denunzianten. Viel zu beflissen, jede Art von Auskunft zu geben.

»Was kam Ihnen auffällig vor?«

»Wie ich schon den Polizisten vorhin gesagt habe: der volle Briefkasten. Herr Tarnow hat seinen stets geleert. Selbst sonntags, er war ja schon ein bisschen tüdelig, der Gute. Hat sich dann immer geärgert, dass da nur Werbung drin war. Er meinte: ›Früher hat man sich gefreut, wenn man Post bekam, heute, wenn nichts drin liegt.‹«

»Und dann?«, fragte Knudsen.

»Dann hab ich bei ihm geklingelt. Aber er hat nicht reagiert. Da bin ich wieder weg, und dann, ein paar Tage später, war da dieser Gestank. Der wurde immer schlimmer. Ich hab dann die Wohnung aufgeschlossen. Hab ja einen Schlüssel. Und dann … furchtbar …«

Knudsen wusste, was der Mann meinte. Er konnte es schon hier unten im Hausflur riechen. Der Geruch war wie ein Faustschlag in die Magengrube. Wie immer litt die Nase auf jeden Fall mehr, als es die Augen taten. Zumindest bei Knudsen war das so. Die Augen gewöhnten sich an die schlimmsten Dinge, aber das Riechorgan rebellierte jedes Mal aufs Neue. Und gleich heftig. Motto: Holt mich hier raus. Zur Not, indem man sich erbrechen musste. Alles schon vorgekommen. Man flüchtete ins Bad oder nach draußen. Gewöhnungseffekt – negativ. In der warmen Luft, bei geschlossenen Fenstern, war es noch penetranter, sodass man zu einem Opfer innerlich erst mal auf Distanz ging, statt Empathie zu zeigen. Dies geschah sozusagen instinktiv auf ganz primitiver, archaischer Ebene.

»Haben Sie die Wohnung betreten?«, fragte Eichhorn.

»Jawoll, Luft angehalten und kurz rein. Und da lag er da so seltsam eingewickelt. Und dann hab ich die Polizei gerufen.«

»Gut, danke, wir kommen noch mal auf Sie zurück, klären, was Sie berührt haben und so weiter. Außerdem würden wir gern wissen, ob er Besuch bekam, von wem und so weiter. Meine Kollegin hier macht das später. Wir sehen uns jetzt erst mal den Tatort an.«

»Jawoll«, zischte Eichhorn leise.

»Okay, dann mal los«, antwortete Knudsen und ignorierte die Bemerkung seiner Partnerin.

Beide setzten vor der Tür ihre Masken auf.

Sie rochen den Tod trotzdem.

Die Leiche lag auf einem Bett. Eingewickelt wie in einen Kokon. Eine makabre, riesige Seidenraupe. Der Oberkörper steckte in einer Zwangsjacke, die Beine waren mit Gurten um das Bett fixiert. Der Mund zugeklebt. Die Augen weit aufgerissen.

Knudsen schwieg und sah Dörte Eichhorn an. Aber die starrte an die Wand hinter dem Toten. Knudsen folgte ihrem Blick. Dort hatte jemand etwas in großen roten Lettern hingeschrieben:

DAS ANDERE DER VERNUNFT

»Wie mit Blut geschrieben«, sagte Dörte leise.

»Spraydose«, antwortete Spusi, die hinzutrat. »Ich tippe auf Ral-300 Signalrot oder 3003 … Rubinrot.«

»Spusi, Chapeau, du bist die Beste, manchmal denke ich, du wärst auch ’ne gute Kunstsachverständige.«

»Ja, in meinem nächsten Leben. Wollte nur sagen, der Farbton ist ganz gut getroffen, wenn man frisches, arterielles Blut imitieren will, dann am ehesten mit, ich glaube, Ral Rot 3003.«

»Vorschläge. Wem sagen diese Worte da was?«, fragte Knudsen.

Beide Frauen zuckten mit den Schultern.

»Am ehesten dann ja wohl Unvernunft«, sagte Eichhorn, und damit konnte Knudsen schon eher was anfangen. Denn jemand zu ermorden war in jedem Fall »unvernünftig«, dachte er, vor allem wenn Eichhorn und er ermittelten. Die meisten kriegten sie. Er musste kurz an Gottfried Hellberg denken, schüttelte den Gedanken aber schnell ab und betrachtete wieder das Opfer.

»Wie lange ist der Mann tot, Spusi?«

»Das kann ich dir erst genau sagen, wenn …«

»Ich weiß«, unterbrach Knudsen sie, »wenn die Rechtsmedizin ihn auf dem Tisch hatte und so weiter. Aber ich weiß, dass du genug Ahnung von diesen Dingen hast. Gib bitte mal ’ne grobe Einschätzung.«

Spusi Diercks beugte sich über das Gesicht des Toten.

Dörte Eichhorn sah weg. Es war ihr unbegreiflich, wie cool ihre Kollegin in diesen Situationen immer blieb.

»Der Gestank ist schon mal ein Hinweis auf einige Tage. Die Verwesung beginnt immer im Bauchraum. Den guckt sich Professor Prange an, wenn sie den Herren ausgewickelt und ausgezogen haben.«

»Also einige Tage, ja?«, wiederholte Knudsen.

Spusi Diercks antwortete nicht, besah sich eine Hand des Toten, dann wieder dessen Gesicht und sagte: »Etwa acht bis zwölf Tage nach dem Tod schwellen Lippen, Bauch und Brüste der Leiche an. Brüste hat er hier vermutlich nicht. Der Bauch steckt in dieser Zwangsjacke. Man sieht aber, dass die Lippen geschwollen sind. Und hier, schaut mal …«, sie öffnete den Mund von Albrecht Tarnow. »Da seht ihr’s: Blasen auf der Zunge. Das passt. Wenn ich dann noch die Verfärbung der Haut an der Hand einbeziehe, würde ich mal sagen, dass der Mann mindestens zehn Tage tot ist.«

Sie sah Knudsen an, während sie die Lippe des Toten immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. »Reicht dir das, Thies? Ich kann auch noch ein bisschen auf seinen Bauch drücken, um zu schauen, ob der Gasdruck verflüssigtes Gewebe aus Mund und Nase presst.«

»Danke, danke, es reicht«, antwortete Knudsen.

Er sah sich um. Es galt stets, einen Tatort zu »lesen«. Was war ungewöhnlich? Hatte ein Kampf stattgefunden? Sah nicht so aus. Knudsen fand nichts Ungewöhnliches. Unmittelbar neben dem Bett standen zwei Hausschuhe, so akkurat und parallel nebeneinander, dass man sie eigentlich unmöglich hatte ausziehen können, ohne dabei hinzufallen. Überhaupt fiel einem schon beim Betreten der Wohnung die penible Ordnung auf. Man hatte weniger den Eindruck, eine Wohnstätte als vielmehr ein Bühnenbild zu betreten. Da lag nichts rum, keine persönlichen Sachen, keine Bilder an der Wand. Kein Buch am Bett. Die Küche steril wie ein OP.

»Alles picobello hier«, kommentierte Knudsen.

»Todesursache?«, fragte er.

»Thies, das ist nicht dein Ernst. Der Mann ist komplett eingewickelt.«

»Aber du hast eine Vermutung, wie ich dich kenne.«

»Na ja, wenn er ansonsten unversehrt ist und auch nicht vergiftet wurde, würde ich auf Verdursten tippen«, sagte Spusi. »Wie immer: nach der Gerichtsmedizin und der Spurenauswertung mehr.«

Dann schob sie die beiden weg: »Zur Seite, Leute. Oder wollt ihr mit aufs Bild? Und bitte nicht wieder die Tatortmarkierungen umtreten.«

»Ist ja gut«, brummte Knudsen.

Irgendwie wirkten alle etwas gereizt an diesem Montagmorgen. Als ahnten sie schon, dass sie es nicht in neunzig Minuten schaffen würden, diesen Fall zu klären und den Täter dingfest zu machen, wie Sonntag für Sonntag ihre Tatort-Kollegen im Fernsehen.

Eichhorn betrachtete den toten alten Mann. Qualvoll verdurstet womöglich. Wer tat so etwas? Sie hatte Mühe, ihren professionellen Schutzschild hochzuhalten. Knudsen war der Einzige, der das stets bemerkte. Noch immer ließ Eichhorn bei fast jedem Mordopfer Betroffenheit erkennen, als wollte sie ihm post mortem die Hand halten. Das war vor allem dann der Fall, wenn ein Opfer besonders gewaltsam zu Tode gekommen war. Wenn die ausgeübte Gewalt an einem Menschen gereicht hätte, um noch zwei bis drei weitere zu ermorden. Kriminalisten sprachen dann von »Übertötung«.

Das war hier nicht der Fall. Die Gewalt, die hier ausgeübt worden war, sah eher nach Folter aus. Da hatte jemand eine Rechnung beglichen. Und dieser Jemand – sie sah zur Wand – hatte ihnen eine Botschaft hinterlassen. In Rubin- bzw. Ral Rot 2003.

ER KONNTE SEINE ANGST immer noch spüren. Nach all den Jahren. Wie eine Kriegserinnerung, dachte er. Ein ewiges Echo seiner Emotionen: der Durst. Der Hunger. Die Kälte. Die Furcht. Unterlegt vom Hass auf jene, denen er ausgeliefert gewesen war. Sein Hass brannte immer noch genauso stark wie vor der ersten Bestrafung. Wie ein Sodbrennen der Seele, das über die Jahre angeschwollen war. Versuche zu vergeben waren kläglich gescheitert. Das Einzige, was er bereute: Er hätte es schon früher tun sollen. Viel früher. Aber da war seine Familie gewesen. Die Frau. Die Tochter. Man hätte ihm beide genommen. Jetzt war auch das geschehen. Auf andere Weise.

Jetzt hatte der Erste endlich bezahlt – Tarnow! Das seelenlose Schwein, der sie so gern hungern und sie nichts trinken ließ. »Trocken werden« nannte er das. Und der zuschlug, wann immer es ihm passte. Er hatte seine Macht genossen. Keine Empathie. Nichts. Was war man denn? Mensch oder Monster?

Einen Moment hatte er so etwas wie Leichtigkeit gespürt. Als er Tarnows Wohnung verlassen und noch einmal auf den Alten geblickt hatte. Eingewickelt wie eine fette Made. Oder Sondermüll. Allein. Dem Tod überlassen. Unfähig, sich zu bewegen. Was mochte in dem Alten vorgegangen sein? In den letzten Sekunden, nachdem man ihm die Sanduhr seines Lebens vor den Augen umdrehte. Er hatte es ja begriffen. Verstanden, wer da zu ihm gekommen war. Der kleine, ängstliche Junge, der immer zu zittern begann, wenn er ihn nur ansah. Plötzlich war er da gewesen. In seinem Schlafzimmer. Ein Racheengel aus dem Dunkel der Zeit.

Er sah auf das alte Schwarz-Weiß-Foto in seiner Hand. Die Kinder. Ohne Kindheit. Keines lachte. Nur angespannte Gesichter. Umstellt von Männern und Frauen in weißen Kitteln. Wie KZ-Aufseher. Sie würden büßen. Müssen! Jeder auf seine Weise.

Er legte das Foto auf den Tisch. Sah noch einmal hin, strich dann mit dem Finger langsam nacheinander über die Gesichter der Erwachsenen. Als er den Kopf einer Frau mit strengen Gesichtszügen erreicht hatte, hielt er inne und schloss die Augen. Erinnerte sich, was sie getan hatte. Die Schläge. Die Grausamkeit. Und die Kälte. Das Wasser. So kalt. Er hörte wieder ihre schneidende Stimme. »Bist du endlich sauber, du kleiner Bastard? Warum haben sie dich nicht abgespritzt, gleich nach der Hurengeburt?« Das Lachen der anderen. Ihr Gift war bis heute in ihm. Nun endlich war die Zeit gekommen. Nichts hielt ihn mehr. Er würde diese Welt nicht verlassen, ohne sie alle zu richten. Auf das Schicksal allein war kein Verlass. Eine tiefe Ruhe überkam ihn. Er öffnete die Augen, erhob sich und ging zur Tür.

… – – – …

Spusi Diercks betrat den Konferenzraum des LKA. In der Hand hielt sie einige Ausdrucke.

»Und?«, fragte Knudsen.

»Ich hab hier den Obduktionsbericht. Der Mann ist tatsächlich verdurstet«, antwortete Spusi. »Kein schöner Tod. Das ist wie ein sich ständig steigernder Schmerz. Erst kommt der Durst. Dann sinkt der Blutdruck rapide, die Haut trocknet aus, und der Betroffene wird zusehends schwächer und verwirrter.«

»Und woran stirbt man am Ende?«, fragte Eichhorn.

»Die Nieren versagen. Sie verschließen bei Flüssigkeitsmangel die umliegenden Blutgefäße, knipsen sich so von der Versorgung ab und fallen schließlich aus. Das Resultat: Der Körper kann nicht mehr entgiften. Harnstoff und Harnsäure werden nicht mehr ausgeschieden. Das Gehirn, das Muskelgewebe und Nervenzellen werden geschädigt. Schließlich versagt das Herz. Durch eine massive Kaliumvergiftung. Das wird nämlich …«

»Danke, Spusi, das reicht. Was gibt es sonst noch?«

»Hier, das dürfte euch interessieren.« Sie reichte ein Foto herum. »Der Mann wurde vor seinem Tod offenbar mit einem Taser bewegungsunfähig gemacht oder sogar betäubt. Es fanden sich zwei typische Verletzungen an zwei Stellen des Oberkörpers, die durch die Widerhaken erzeugt werden. Die wurden dann offenbar recht ruppig entfernt.«

»Widerhaken?«, fragte ihre junge Kollegin Meral Attay, die ebenfalls im Konferenzraum saß. »Ich denke, man setzt die Leute mit Strom außer Gefecht, wenn man sie direkt berührt.«

»Wir reden hier nicht von einem üblichen Elektroschocker, sondern von einer Distanzwaffe. Die wird hierzulande eigentlich nur von der Polizei benutzt. Man schießt mit so einer Taser-Pistole aus mehreren Metern Entfernung zwei dünne Drähte ab, die vorn einen Widerhaken haben. Sobald die irgendwo auftreffen und der Schütze den Abzug drückt, fließt der Strom. Und ich kann euch sagen: Das ist kein Vergnügen. Das haut jeden um und tut höllisch weh.«

»Okay«, sagte Knudsen. »Unser Täter hat sein Opfer also erst betäubt, es gefesselt und eingewickelt und es dann verdursten lassen. Ein vorsätzlicher, kaltblütiger Mord.«

»Irgendwelche Spuren an der Leiche oder am Tatort?«

»Keine Fingerabdrücke. Keine Fremd-DNA-Spuren«, antwortete Spusi. »Unser Täter oder unsere Täterin war sehr vorsichtig. Er oder sie ist über den Balkon rein. Aufgebrochen mit einem Stemmeisen. Die Tür da war kein großes Hindernis.«

»Was wissen wir über das Opfer?«

Meral Attay klappte einen Notizblock auf: »Albrecht Tarnow, 78 Jahre. Rentner, unverheiratet. Zwei Geschwister. Offenbar ein Einzelgänger, sagen die Nachbarn. Keine Vorstrafen.«

»Was hat er beruflich gemacht?«

»Pfleger in verschiedenen Krankenhäusern, alle hier in Hamburg.«

»Dörte, was sagt dieser gehorsame Hausmeister, Mister Jawoll?«

»Nichts Aufregendes. Tarnow bekam keinen Besuch. Ging ab und an spazieren, hat hin und wieder eine Busreise gemacht, diese Einkaufsfahrten, wo einem Heizdecken angedreht werden, und guckte gern Tierfilme.«

»Oh Mann, klingt spannend. Wer bringt so einen um?«, brummte Knudsen. »Gibt’s was zu erben?«

»Klären wir gerade«, antwortete Attay.

»Und selbst wenn, dann inszeniert man einen Unfall oder so«, meinte Eichhorn, »rührt Gift in den Pudding, täuscht einen Selbstmord vor oder was weiß ich. Man macht das so diskret wie möglich. Hier nicht der Fall. Da wollte jemand ein Zeichen setzen.«

Knudsen nickte nur. »Und hat uns offenbar eine Botschaft hinterlassen.«

»Vermutlich stammt diese sonderbare Formulierung an der Wand vom Täter«, fuhr Eichhorn fort. »Wir haben in der Wohnung keine Spraydose gefunden. Und die ganze Bude ist so sauber und aufgeräumt, dass es kaum vorstellbar ist, dass der alte Mann mal eben zum Sprayer mutierte und seine Bude ein wenig poppiger gestaltete.«

»Ich fasse zusammen«, sagte Knudsen: »Wir haben nichts. Keinen Ermittlungsansatz.«

»Das hast du schön gesagt«, antwortete Eichhorn.

»Ich sehe ja ein, dass das nicht nach einer Familientragödie aussieht – trotzdem«, sagte Knudsen, »bis zum Schwippschwager alles checken. Welche Kaffeefahrten der zuletzt gemacht hat. Trieb der sich in irgendwelchen Seniorenforen rum? Sadomaso für Senile oder so?«

Eichhorn schüttelte den Kopf. »Gut, dass dich niemand hört, Knudsen.«

»Ich mein ja bloß, keinen noch so abstrusen Ansatz auslassen. Das wird eine dicke Nuss, sagt mein Gefühl.«

»Na super, Knudsen, schön, dass du überhaupt Gefühle hast«, stichelte Eichhorn, gerade so, als wollte sie ihm noch eine zweite Nuss zum Knacken servieren.

* * *

Es dämmerte. Die schmale Straße in Hamburg-Othmarschen war menschenleer. Die Bewohner der kleinen Einzel- und Reihenhäuser saßen beim Abendbrot oder bereits vor dem Fernseher. Der Mann hatte seinen Wagen ein paar Straßen weiter geparkt. Er ging forschen Schrittes, um nicht aufzufallen. Nur ein Passant mit einem bequemen Rucksack auf dem Weg nach Hause. Er passierte die Hausnummer 4d. Sein Ziel. Trotzdem ging er erst einmal an dem Grundstück vorbei, stoppte an einer Bank, die etwas versetzt am Straßenrand stand, setzte sich und schnürte sich die Schuhe. Dabei blickte er nach links und rechts. Weiterhin niemand zu sehen. Perfekt. Er stand auf, ging ein Stück zurück, bog auf das Grundstück 4d ein, betrat den gepflasterten Weg und verschwand dann im dicht bewachsenen Garten des Reihenhauses.

Zwischen einigen großen Rhododendron-Büschen blieb er – jetzt gut getarnt – stehen. Er sah hinüber zum Haus. Im Erdgeschoss brannte Licht. Die Terrassentür stand ein Stück offen. Bestens. Er würde sie also nicht aufbrechen müssen.

Er wartete weiter.

Dann sah er sein Opfer, das in diesem Moment hinaus auf die Terrasse trat. Ein Mann mittleren Alters. Der Eindringling duckte sich noch etwas weiter in die Büsche hinein, nahm ein Fernglas aus seinem Rucksack und sah sich den Mann näher an. Er wollte sicher sein. Ja, er war es. Dank Google hatte er ein Foto von ihm gefunden. Er wusste, dass der Mann heute noch allein im Haus sein würde. Er war kürzlich schon einmal hier gewesen und hatte beobachtet, wie dessen Ehefrau in einen Wagen gestiegen war. »Bis übermorgen. Ich bin am späten Nachmittag zurück«, hatte sie noch gerufen und war losgefahren. Seine Chance. Bis morgen hatte er also Zeit. Und jetzt war die Gelegenheit da. Er sah wieder zum Haus hinüber. Sein Opfer setzte sich gerade in einen Liegestuhl und zündete sich eine Zigarette an.

Der Mann mit dem Rucksack schlich in einem weiten Bogen durch den Garten seitlich an die Terrasse heran.

Dann stand er hinter dem ahnungslosen Hausbewohner, der noch genau vier Stunden zu leben hatte.

Und es sollten keine schönen Stunden werden.

* * *

Thies Knudsen saß abends beim zweiten Glas Wein in Oke Andersens Esszimmer und sah dem älteren Freund dabei zu, wie der gerade akribisch eine Pfanne säuberte. Seit Knudsen einmal darauf bestanden hatte, den Abwasch zu machen, und Andersen ihn dabei erwischt hatte, wie er eine perfekt eingebrannte, gusseiserne Pfanne mit einem harten Schwamm und Spülmittel reinigte, gab es für Knudsen Küchenverbot in La Lotses Heim.

»Danke, du Banause. Pfanne im Arsch«, hatte Oke geschimpft. »Diese Küche ist ab jetzt Sperrzone für dich.«

»Nicht mal zum Abtrocknen?«

»Nee. Lass mal. Zwei kaputte Weingläser reichen mir, du Grobmotoriker.«

Knudsen lächelte, als er sich an diese Szene erinnerte, sah dann hinunter auf seine Aktentasche und dachte nach. Dort drin waren Tatortfotos – der Fall mit dem verdursteten, gefesselten Mann.

Knudsen wusste um das umfangreiche Wissen seines älteren Freundes und besprach immer mal wieder seine Fälle mit ihm. Aber seit Andersen vor einem halben Jahr wie eine männliche Miss Marple als heimlicher Nebenermittler aufgetreten war, hatte Knudsen beschlossen, seinen Freund Andersen aus seinem Job rauszuhalten.

Eigentlich.

Andererseits wollte er auf die Expertise seines philosophierenden Kumpels nicht verzichten. Er brauchte diesen Nicht-Bullen-Blick von außen. La Lotse sah, was andere nicht sahen. Knudsen hoffte, dass sein Kumpel seine Lektion gelernt hatte und sich in Zukunft mit der Rolle des Beraters zufriedengeben würde. So wie er auch die Kapitäne nur beraten und nicht das Kommando auf der Brücke hatte. So ganz sicher war er sich da allerdings nicht. Der alte La Lotse hatte seinen eigenen Kopf.

Als Andersen wieder ins Zimmer kam, sich setzte und nach seinem Weinglas griff, gab sich Knudsen schließlich einen Ruck.

»Ich habe da gerade einen rätselhaften Fall«, sagte er.

»Ach«, sagte La Lotse nur. »Ich mag Rätsel.«

Knudsen zögerte kurz.

»Magst du dir mal ein paar Fotos angucken?«

»Jo«, sagte Andersen knapp – ganz Hamburger – und grinste.

»Weißt du eigentlich, dass ich mich damit schon strafbar mache … einem Zivilisten Bilder eines Tatortes mit einem Mordopfer zu zeigen!?«

»Der Zweck heiligt die Mittel«, antwortete Andersen, »außerdem, keine Sorge, ich zeig dich nicht an!«

Knudsen griff in seine Tasche, holte die Fotos heraus und schob sie Andersen hinüber.

»Hier. Ein Mann, der betäubt, in eine Zwangsjacke gesteckt und zusätzlich an sein Bett gefesselt wurde. Da ließ ihn der Täter dann verdursten. Neben einem vollen Glas Wasser, wie es scheint.«

»Reizend«, murmelte Andersen, »vielleicht ein Sadist …« Er blätterte durch den Fotostapel.

Auf eines der Fotos blickte er länger und runzelte die Stirn.

»Ja, genau. Danach wollte ich dich fragen. Dieser seltsame Spruch an der Tapete. Mit roter Farbe an die Wand geschrieben: ›Das Andere der Vernunft‹ – was soll das?«

»Ist das vom Täter? Ein Graffiti am Tatort, eine Signatur?«

»Davon gehen wir aus, dass das nicht moderne Kunst sein soll. Die Wohnung ist vergleichsweise spießig, kleinbürgerlich. Und es fand sich keine entsprechende Sprühdose in der Wohnung. Aber dieser Spruch … ich hab den gegoogelt, irgendwas mit Philosophie, aber da kann doch keine Sau was mit anfangen.«

»Eine Sau vielleicht nicht, Herr Kommissar, ich schon.«

Knudsen setzte sich auf.

»Im Ernst? Ich höre!«

»Ich kenne diese Formulierung. Man findet sie bei Immanuel Kant. Später haben Philosophen wie Nietzsche und insbesondere Foucault den Begriff anders interpretiert und sozusagen rehabilitiert.«

»Ich verstehe nur Hauptbahnhof.«

»Soll ich’s dir erklären?«

»Ja, aber bitte auf Grundschulniveau.«

»Also, Kant hat in seinem epochalen Werk Kritik der reinen Vernunft Rationalismus und Empirismus sozusagen durch eine eigene Lehre miteinander versöhnt. Allerdings …«

»Oke, was habe ich gerade gesagt? Das fängt schon scheiße an. Wir sind hier nicht bei 3Sat im Nachtprogramm. Erklär mir das, was für den Fall wichtig ist. Das reicht.«

Andersen schüttelte resigniert den Kopf.

»Okay, jetzt also ganz grob.«

»Ich bitte fast drum«, brummte Knudsen.

»Also, Kant, das wirst du vielleicht noch wissen, war einer der wichtigsten Vertreter der Aufklärung.«

»Ja, Mann«, unterbrach ihn Knudsen. »Ich weiß, dass das nicht Dr. Sommer war.«

Andersen verzog den Mund und fuhr fort: »Kant betonte vor allem die Vernunft, das Rationale. Andere – nennen wir es mal Zustände – also Triebe, die Sexualität, Affekte, der Traum, die Fantasie, die Ekstase, die Raserei und den Wahnsinn – all das war für ihn nur ›Das Andere der Vernunft‹. Das spielte in seiner Philosophie keine Rolle.«

Knudsen hob die Augenbrauen.

»Ah, jetzt fällt der Groschen. Das passt zu dieser bizarren Tat – Affekte, Raserei, Wahnsinn. Da passt auch Rache.«

»Genau, ich könnte mir aber vorstellen, dass euer Täter sich eher auf eine andere Lesart dieser Zustände bezieht.«

»Nämlich?«

»Insbesondere auf die von Michel Foucault …«

»Wer war das noch mal?«

»Ein französischer Philosoph, ein Poststrukturalist, der …«

»Gute Güte, jetzt bist du wieder im Vorlesungsmodus. Was willst du mir sagen? In einfachen Worten, wenn’s irgend geht.«

»Ich versuch’s. Foucault kritisierte, dass der abendländische, neuzeitliche Mensch den Wahnsinn als Antagonisten der Vernunft mit allen Mitteln bekämpft. Das war im Mittelalter anders. Da gab es solche Berührungsängste eher nicht. Das scheinbar wirre Gerede der Narren wurde sogar häufig als Botschaft einer höheren Wahrheit verstanden.«

»Das glaubt so mancher Politiker ja noch heute«, scherzte Knudsen.

La Lotse sah ihn nur missbilligend an. Er war jetzt in seinem Proseminarmodus.

»Der heilige Franz von Assisi, hast du vielleicht schon gehört, das war der, der mit den Tieren plaudern konnte … Heute nimmt man an, dass der eine Diagnose hatte und schizophren war.«

»Verstehe, eigentlich müssen die Geschichtsbücher umgeschrieben werden. Aus dem heiligen Franz müsste eigentliche der Schizo-Franz von Assisi werden.«

Andersen holte Luft: »Zur Zeit der Aufklärung schloss man die ›Verrückten‹ mit den Straftätern und Obdachlosen dann einfach weg. Und im 19. Jahrhundert erfand man dann die psychiatrischen Anstalten. Im Grunde auch Gefängnisse, um die Irren mit Hilfe von Therapien wieder zu nützlichen Bürgern zu machen. Im Grunde gegen ihren Willen. Den galt es zu brechen.«

»Angekommen«, erwiderte Knudsen. »Aber was hat das nun mit den Worten an der Tapete meines Toten zu tun?«

»Für Foucault war der Wahnsinn vor allem eine andere Denkungsart, ähnlich wie der Traum, eben das ›Andere der Vernunft‹. Und ich vermute, dass dein Täter sich genau darauf bezieht – sein Thema ist der Wahnsinn. Dazu passte ja auch die Zwangsjacke. Ich sehe das als eine Art Kritik, als eine Botschaft. An euch Ermittler. An die Welt.«

Knudsen nickte. »Klingt nachvollziehbar. Aber welche Bedeutungen hat diese Botschaft?«

»Ich sehe erst einmal vor allem eine: Da ist jemand verdammt sauer.«

Knudsen lachte. »Das kann man wohl sagen. Straftat und Bestraftat, die heimlichen Zwillinge. Ich nehme deine kleine Vorlesung beziehungsweise das, was ich davon behalten habe, mal morgen mit ins LKA in die nächste Konferenz. Aber sag mal. Siehst du das mit dem Wahnsinn eigentlich genauso wie dieser Foucault? Klingt ein bisschen so.«

La Lotse schwieg und dachte nach.

»Teilweise«, antwortete er dann. »Foucault betrachtete den Wahnsinn wie übrigens auch unsere Interpretation der Sexualität als Konstrukte medizinischer Diskurse.«

»Diskurse?« Knudsen runzelte die Stirn.

»Damit meinte er, dass sich unser Wissen über die Welt nicht nur aus objektiven Tatsachen speist, sondern vor allem auch aus durchaus wandelbaren Vorstellungswelten und Wissenssystemen. Das ist mit Diskursen gemeint. Wandelbare Deutungsmuster.«

»Und das siehst du auch so?«

»Zum Teil. Da ist ja durchaus was dran. Vor allem überzeugt mich Foucaults Analyse, dass wir den Wahn fürchten, ihn aber insgeheim faszinierend finden. Denn immerhin trinken viele Menschen regelmäßig Alkohol oder nehmen Drogen, um den Wahn, den Kontrollverlust, künstlich für eine begrenzte Zeit in sich zu erzeugen.«

Knudsen grinste und schenkte sich Wein nach. »Geht es da nicht auch um Ich-Entgrenzung, um dieser Einzelhaft seines Egos temporär zu entfliehen? Prost!«

»Schön gesagt, Knudsen, mein Meisterschüler.«

»In diesem Sinne. Ich nehm heute ein Taxi und raste vielleicht nachher noch aus.«

»Mach das. Hauptsache, du bleibst von meinen Pfannen weg«, antwortete La Lotse und hob sein Glas. »Gegen die Einzelhaft. Tschüssing!«

* * *

An einem regnerischen Nachmittag kehrte die 45-jährige Marlene Kruse aus Tübingen von ihrer Chorreise nach Hause zurück. Beschwingt, wie jedes Mal, wenn sie eine gewisse Zeit ohne ihren Mann Peter verbracht hatte. Sie parkte ihren VW Golf unter dem Carport direkt neben dem kleinen Reihenhaus in Hamburg-Othmarschen, Elbblöcken 4d. Sie war etwas in Sorge. Die Autobahnfahrt gab ihr Gelegenheit dazu. Schon von einer Autobahnraststätte aus hatte sie Peter angerufen, um sich anzukündigen. Vergeblich. Er ging nicht ran. Weder ans Festnetz noch an sein Handy. Auch am Morgen hatte sie ihn nicht erreicht. Sie spielte alles Mögliche durch. Das Herz? Ein Schlaganfall? Ach was. Sie machte sich immer zu viele Sorgen. Sie gab trotzdem Gas.

Schon beim Betreten des Hauses hörte sie die Dusche oben im Bad und verspürte schlagartig Erleichterung. Gott sei Dank. Vielleicht war Peter ja joggen gewesen, obwohl das um diese Zeit ungewöhnlich war.

»Huhu, Peter, ich bin’s!«, rief sie extralaut in den Hausflur hinein, damit ihr Mann sich nicht erschrak. Sie stellte ihre Reisetasche ab, streifte die Schuhe ab und schickte sich an, die Treppe hochzugehen.