Mutti baut ab - Kester Schlenz - E-Book
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Mutti baut ab E-Book

Kester Schlenz

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  • Herausgeber: Mosaik
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

An Muttis 80. Geburtstag im „Waldesruher Hof“ war noch alles okay – und nun? „Wie geht es dir, Mutti?“ „Beschissen. Ich bin zuhause auf die Schnauze geflogen.“ Für Sohn Kester und seine Geschwister beginnt eine Odyssee durch Arztpraxen, Pflegekassen, Krankenhäuser und Altersheime. Traute Schlenz fühlt sich dort nicht wohl, „da wohnen ja nur alte Leute“. Aber sie kämpft tapfer in der ihr eigenen, raubeinigen Art – und nach dem Motto „Fack ju, Pflegeheim!“ kriegt sie mit ihrem Rollator tatsächlich noch einmal die Kurve! Das Mutmachbuch für alle Angehörigen, entwaffnend komisch und anrührend ehrlich!

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Seitenzahl: 205

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»Wie geht es dir, Mutti?«

»Beschissen. Ich bin zuhause auf die Schnauze geflogen.«

An Muttis 80. Geburtstag im »Waldesruher Hof« schien noch alles okay zu sein– und nun? Für Sohn Kester und seine Geschwister beginnt eine Odyssee durch Arztpraxen, Pflegekassen, Krankenhäuser und Altenheime. Traute Schlenz fühlt sich dort nicht wohl, »da wohnen ja nur alte Leute«. Mit Unterstützung all ihrer Kinder kriegt sie mit ihrem Rollator noch einmal die Kurve in die eigenen vier Wände!

Entwaffnend komisch und anrührend ehrlich!

Das Mutmachbuch für alle Angehörigen

Kester Schlenz ist Autor zahlreicher, erfolgreicher Bücher, allen voran »Mensch, Papa! Vater werden– das letzte Abenteuer« und »Alter Sack, was nun?«. Er studierte Sprachwissenschaften und Psychologie und arbeitet in der Redaktion des Magazins STERN als Autor. Schlenz ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne und will später nicht ins Altersheim. Außer, wenn alle mitkommen.

Außerdem von Kester Schlenz im Programm:

Als Printausgabe lieferbar:

Mensch, Papa! (39048)

Guter Sex wär auch nicht schlecht (39263)

Der kleine Phrasendrescher (39281)

Gute Nacht, Papa! (17180)

Alter Sack, was nun? (17233)

Bleib locker, Papa! (17314)

Papas Schwangerschaftskalender (17379)

Leg los, alter Sack! (17455)

Als eBook lieferbar:

Bekenntnisse eines Säuglings (1210)

Alter Sack, was nun? (4640)

Leg los, alter Sack! (5575)

Guter Sex wär auch nicht schlecht (13321)

Der kleine Phrasendrescher (13689)

Mutti baut ab (20545)

Als Random House Audio lieferbar:

Bekenntnisse eines Säuglings (21336)

Leg los, alter Sack! (50963)

Alter Sack, was nun? (60260)

Kester Schlenz

Mutti baut ab

Wenn Eltern alt werden

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Copyright © 2017 Wilhelm Goldmann, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlag: *zeichenpool Umschlagmotiv: shutterstock Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Kö · Herstellung: sh ISBN 978-3-641-20545-4V002
www.mosaik-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Mutti kriegt Besuch

»Rauf komm ich ja! Runter ist das Problem!« Muttis sonderbare Dialektik

»Herzsport-Gruppe – wenn ich das schon höre!« Mutti ist bockig

»Weg mit dem Scheiß!« Mutti zieht um

Es geht bergab

Wie Mutti mal skalpiert wurde

Und nun? Ratlose Kinder

Gesäßviolinen und Würfelhusten

Mutti und der Notrufknopf

Kant greift ein

Mutti kommt ins Krankenhaus

»Ich wollte nichts an der Brust haben.« Mutti hat uns den Krebs verheimlicht

Operation oder Chemotherapie?

Früher, als ich Zivi war. Teil 1

Als Hypochonder mit Mutti beim Onkologen

Als Papa starb

Das Rote Kreuz scheißt mich zusammen

Eine Ärztin, die der Himmel schickt

Mutti entlässt sich selbst

Mutti kommt ins Pflegeheim

Schräge Onko-Logik

Meine Eltern – Wie alles anfing

Als ich von der Weltrevolution träumte …

Wie mein Bruder und ich beinahe Filmstars wurden

Wo sind Muttis Zähne?

Mit »Porücke« und Gebiss sieht man halt schicker aus

Auf Kriegsfuß mit dem Telefon

Der Zwischen-Fall

»Und – zack – lag ich auf der Schnauze.« Mutti rekonstruiert ihren Unfall

Wir kriegen den Pflegestufen-Blues

Früher, als ich Zivi war. Teil 2

Mutti rockt das Heim

Von Fernsehern, Gaspistolen und Scheißkinos

Mutti hält den Arzt für den Pastor

Raumpatrouille und Jim Knopf. Zu Hause vor dem Fernseher

Die Terror-Oma

Weihnachten – und immer noch die Terror-Oma

Früher, als ich Zivi war. Teil 3

Die Pflegestufen-Prüfung – »Der Tag der Abrechnung«

»Überall Beknackte« – Mutti will raus

Der Onkologe – Muttis größter Fan

Der Arzt spricht – und Mutti hört nicht zu

Alles muss raus!

Henri besucht seine Oma

Mutti baut wieder ab

Mist, ich werde ja auch älter!

Wirrwarr im Krankenhaus

Mutti allein zu Haus

Früher, als ich Zivi war. Teil 4

Überall Polizei, aber Mutti denkt an Braten

Früher, als ich Zivi war. Teil 5

Hackepeter und Rouladen

Humor hilft

Bombennächte und eine blutige Schwester

Drei tapfere Frauen beim Onkologen

»Kobold«-Bestrahlungen und wieder zu Hause

Mutti kriegt Besuch

WIE GEHT ES DIR, MUTTI?«

»Beschissen. Ich bin zuhause auf die Schnauze geflogen. So eine Scheiße.«

Meiner Mutter war es früher immer sehr wichtig, was die Leute über sie denken. Jetzt – mit einundachtzig Jahren – schien ihr das hier in diesem Zimmer des Krankenhauses »Schwesternstift« völlig egal zu sein. Sie fluchte wie ein Bierkutscher. Und sie trug auch ihre Perücke, genannt »Fiffi«, nicht. Die lugte keck aus einer Schublade neben ihrem Bett hervor.

Wir waren nicht allein. Neben ihr lag eine freundliche, still leidende Türkin. Und vor deren Bett stand ihr erwachsener Sohn und blickte angestrengt zur Tür.

Ich lächelte ihm zu.

»Tag, ich bin Achmed«, sagte er.

Ich stellte mich ebenfalls vor, während meine Mutter rief: »Das ist Machmoud. Der versteht Deutsch. Der verkauft Autos.«

»Ich bin Deutscher«, sagte Achmed leise.

»Und mit der Verdauung klappt das auch nicht«, ergänzte meine Mutter laut und vernehmlich. »Ich war schon drei Tage nicht.«

Ich sah sie mit mildem Lächeln an. Den Blumenstrauß immer noch in der Hand. So stand ich vor dem Bett von Traute Schlenz. Meiner Mutter. Die gerade wieder auf ihr Kissen zurücksank und mich mit großen Augen ansah. Es ging ihr nicht gut. Auch wenn die Sprüche immer noch die alten waren.

Dieser Tag war der vorläufige Tiefpunkt einer Negativspirale, die sich nun schon ein Jahr drehte und uns alle immer mehr verzweifeln ließ. Denn meine beiden Geschwister und ich mussten den Tatsachen ins Auge sehen. Es war nicht mehr zu leugnen: Mutti baute ab! Und wir mussten was tun.

»Rauf komm ich ja! Runter ist das Problem!« Muttis sonderbare Dialektik

VOR EINEM JAHR sah die Sache noch ganz anders aus: Mutti hatte im Oktober ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert. Im »Waldesruher Hof«. Sie hatte sich das gut abgehangene Hotel-Restaurant mit dem spröden Nachkriegscharme nicht ausreden lassen. »Nein«, sagte sie, als wir ihr schicke Läden mit moderner Küche vorschlugen. »Ich will keinen Seeteufel, Austernpilze oder so ’n Scheiß, sondern was Richtiges zu essen für meine Gäste. Braten, Klöße und so.«

Die bekam sie dann auch. Es war besser, sich nicht mit ihr anzulegen. Mutti konnte wie Joan Collins aus dem »Denver Clan« sein – eine »Klartext«-Figur, die sie über alle Maßen schätzte.

Die Feier fand mittags an einem Sonntag statt. Mutti, ihre drei Kinder plus Familie, ein paar Verwandte und Freunde. Traute Schlenz thronte in der Mitte der Tafel und hielt Hof. Ihr Rollator parkte in der Garderobe. Sie schien gut gelaunt.

»Der Rollator braucht Rallye-Streifen«, sagte mein Bruder Gerald. »So gut, wie Mutti wieder drauf ist.«

Meine Schwester Cornelia nickte. Sie war mit ihrem Mann Wolfgang aus Saarbrücken gekommen und wollte noch ein paar Tage mit meiner Mutter dranhängen. Ein kühnes Unterfangen, denn die beiden kriegten sich spätestens nach einem halben Tag immer mächtig in die Wolle. »Gefechtslage«, hatte mein Vater, ein ehemaliger Soldat, das genannt.

Zwei Jahre zuvor war Papa an Krebs gestorben. Er hatte ein halbes Jahr tapfer gekämpft und war nach nur einer Woche in einem Hospiz eingeschlafen. Die Treppe hoch in sein Zimmer dort war er selber und ohne Hilfe gegangen. Das war ihm wichtig. Ein letzter Rest Würde. Dann ließ er los.

Gerhard und Traute Schlenz waren eigentlich nur als Doppel denkbar. Sie machten nie was allein. Beide waren sich selbst genug, gingen auch nie aus. Ferngucken, Musik hören, lesen. Am schönsten fanden sie es zuhause. Ein symbiotisches Paar, das sich im Hamburger Stadtteil Allermöhe in einer kleinen Wohnung eine Art Nest gebaut hatte, von dem aus es die Welt kommentierte. Meist in deutlichen Worten. Beide hatten sich mit zunehmendem Alter eine Art »Dirty Talk« angewöhnt. Als Ausdruck größtmöglicher Coolness und Selbstbestimmung. Früher war das anders. Da hieß es nicht selten: Was sollen die Leute denken? Aber jetzt sollten die Leute erfahren, was meine Eltern dachten. Ein typischer Satz zur politischen Lage im Land fing meist so an: »Also Helmut Kohl, der Penner …«

»Mit uns nicht mehr!« sollte diese Ausdrucksweise sagen. »Uns schreibt keiner mehr vor, was wir zu denken oder zu sagen haben.« Oft war das lustig, manchmal auch anstrengend. Beide waren aber immer bestens informiert und wurden richtig sauer, wenn man etwa »Neues aus der Anstalt« oder »Extra Drei« nicht gesehen hatte. Sie liebten es, wenn jemand austeilte.

Ihre Wohnung lag im dritten Stock. Kein Fahrstuhl. Ich hatte ihnen damals dringend empfohlen, dort mit Mitte sechzig nicht hinzuziehen. Ich hätte es lassen sollen. Denn nun zogen sie sozusagen extra dorthin, weil sie sich zu alten Leuten abgestempelt fühlten. Ich habe damals gelernt, dass Ratschläge von Kindern an die alternden Eltern ebenso heikel sind wie die von Eltern an ihre pubertierenden Kinder. Man erreicht schnell das Gegenteil, wenn man zu penetrant wird oder gar schulmeisterlich auftritt. Auch wenn man recht hat! Denn natürlich erwiesen sich die vielen Treppen dann später als ein Riesenproblem. Was meine Mutter mit einer speziellen Art von Dialektik natürlich in Abrede stellte. Ihr Satz »Rauf komm ich ja. Runter ist das Problem« sollte sich später zu einer Art Mantra entwickeln. Unsere Söhne sagen noch heute gern beim Treppensteigen: »Rauf komm ich ja!« Beide finden ihre Oma vor allem lustig, wegen ihrer drastischen Sprüche und ihrer nachgerade sophistisch-irrwitzigen Argumentationen.

»Herzsport-Gruppe – wenn ich das schon höre!« Mutti ist bockig

NACH DER BEERDIGUNG meines Vaters hielt sich meine Mutter noch ziemlich gut. Sie trauerte, schien aber auch irgendwie erleichtert, dass mein Vater es nun hinter sich hatte. »Ich schaff das schon allein, macht euch keine Sorgen«, sagte sie. Und sie schaffte es.

Aber nicht lange. Ihre Anrufe häuften sich. Und sie klangen selten fröhlich.

»Ich habe Rückenschmerzen«, war der häufigste Satz.

Das kannten wir. Vor einigen Jahren hatte unsere Mutter eine Bypass-Operation hinter sich gebracht. Alles war gut gelaufen, und ihr Arzt hatte ihr geraten, nun langsam in einer Herzsport-Gruppe mit einem sehr dezenten Aufbautraining zu beginnen.

»Herzsport-Gruppe, wenn ich das schon höre«, fluchte sie. »Da muss ich dann irgendwie mit alten Leuten in einer Sporthalle rumhüpfen. Furchtbar!«

Es ist ein interessantes Phänomen, dass alte Leute sehr häufig andere alte Leute sehr verächtlich als »alte Leute« wahrnehmen, obwohl sie selber alte Leute sind. Bei meinen Eltern war das sehr ausgeprägt. Wenn mein Vater mit meiner Mutter vom Einkaufen kam, erzählte er oft, es habe an der Kasse wieder »so ein alter Sack« so lange gebraucht, oder es sei im Bus wieder so »eine alte Schabracke« so langsam vor ihm her gewackelt. Da war er selber fast achtzig.

Nun ja, auf jeden Fall fand meine Mutter die Herzsport-Gruppe schon grässlich, bevor sie überhaupt das erste Mal da war. Und erst recht, nachdem sie das erste Mal da war.

»Die sehen alle aus, als ob sie gleich tot umfallen würden«, greinte sie. »Die torkeln da rum wie Zombies oder sitzen nur auf ihrem fetten Arsch. Und dauernd soll ich die Arme hochreißen oder hin und her schwenken!«

Ein paar Mal schleppte sie sich lustlos hin, bis ihr endlich – auf mehrfaches Drängeln – ein Arzt sagte, dass sie gern »erst einmal ein bisschen pausieren« könne, wenn ihr denn der Rücken so wehtäte.

Das »Erst-mal-Pausieren« wurde bei Mutti aber natürlich sofort zu einem massiven ärztlichen Verbot jedweder körperlicher Bewegung. Mutti hatte Rücken! Und der Arzt hatte dringende Schonung verordnet.

»Du musst dich bewegen, Mutti«, flehte ich immer wieder. »Sonst baust du ab.« Tatsächlich raten Mediziner auch sehr alten Menschen, sich so viel zu bewegen, wie es irgend geht. Der Abbau der Muskeln schreitet sonst rapide voran. Und auch in Altenheimen praktiziert man heute die so genannte »aktivierende Pflege«, die Menschen möglichst viel Autonomie und Selbstständigkeit zurückbringen soll.

»Mach was, Mutti«, flehte ich also. »Bewegung ist alles!«

»Aber ich kann doch nicht – der Rücken, du weißt doch«, antwortete sie. »Der Arzt sacht das doch auch, dass ich mich schonen soll.«

Mutti hatte einfach keine Lust.

Es war nichts zu machen. Der Rollator wurde ihr Best Friend. Ich hasste das Ding vom ersten Tag an. Es mag eine hilfreiche Erfindung für viele Senioren sein, aber es macht aus meiner Sicht eigentlich noch fitte Best Ager oft vorschnell alt. Irgendwann hatte unsere Mutter drei Rollatoren. Erst einen zusätzlichen im Keller, »falls mal was an dem anderen ist«, und dann kaufte sie sich noch einen dritten mit besserer Bereifung.

»Ich hoffe nur, dass sie nicht noch einen mit Sitzheizung erfinden«, meinte mein Bruder, »sonst ist das bald der vierte.«

Doch schließlich standen die Rollis nur noch irgendwo wie stumme Denkmäler einstiger Mobilität in einer Ecke. Denn Mutti lag nur noch auf dem Sofa und klagte weiter über Rückenschmerzen. Wir Kinder nahmen das erst einmal nicht so ernst und dachten eher, dass sie psychische Probleme hätte. Hatte sie vielleicht erst jetzt richtig kapiert, dass sie nun allein war zuhause? War sie depressiv? Wir kauften für sie ein, wuschen die Wäsche, versuchten sie aufzumuntern. Aber es wurde nicht besser.

Irgendwann stand sie dann gar nicht mehr auf. So ging es nicht weiter. Unsere Mutter kam ins nächste Krankenhaus, und dort wurde tatsächlich ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert. Wir hatten ihr unrecht getan. Sie hatte allen Grund zum Jammern gehabt. Zum Glück musste sie nicht operiert werden. Sie bekam Schmerzmittel, wurde wieder aufgepäppelt und kam dann nach Hause. Dort legte sie sich erst mal erschöpft aufs Sofa, nachdem wir sie mühsam irgendwie die vielen Treppen hochgekriegt hatten. »Rauf komm ich ja!« hörten wir nun nicht mehr von ihr.

»Weg mit dem Scheiß!« Mutti zieht um

DER FAMILIENRAT TAGTE. Meine Geschwister und ich trafen uns zum Essen um zu beratschlagen, wie es nun mit unserer Mutter weitergehen sollte. Zu einem von uns zu ziehen war eine Option weder für unsere Mutter noch für eines ihrer Kinder. Jede Seite wusste: Man würde sich nach etwa einer Woche gegenseitig an die Gurgel gehen. Doch ebenso klar war: Mutti musste aus ihrer Wohnung raus. Sie brauchte etwas Altersgemäßes. Und vor allem etwas mit Fahrstuhl oder im Erdgeschoss. Wir beschlossen, entsprechende Wohnungen zu suchen und ihr dann verschiedene Möglichkeiten zu präsentieren.

In einer Seniorenwohnanlage in Hamburg-Bergedorf wurden wir schließlich fündig. Die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss mit Balkon fand auch sofort Muttis Zustimmung. Auf einmal konnte sie gar nicht schnell genug umziehen (»Diese Scheißtreppen. Ich will hier weg.«). Am besten gefiel ihr, dass sich in ihrem neuen Heim auch ein Fahrstuhl befand. Den brauchte sie eigentlich nicht, weil sie nur noch eine winzige Treppe hoch in ihre Wohnung zu bewältigen hatte. Aber der Höhenunterschied von nicht mal zwei Metern wurde später eisenhart und konsequent mit dem Fahrstuhl gemeistert. Besser, man übernimmt sich nicht.

Für Muttis Umzug reiste meine Schwester Cornelia mit ihrem Mann Wolfgang wieder aus Saarbrücken an. Auch meine Frau Gesa, unsere Söhne Henri und Hannes und dessen Kumpel Juls halfen. Als sie den fremden jungen Mann sah, fragte Mutti munter: »Und wer bist du?«

»Ich bin Juls«, antwortete der.

»Julia?« fragte Mutti.

»Nein, Juls!«

»Was ist denn das für ein bescheuerter Name?« brummte Mutti.

Willkommen in der Wohnung von Traute Schlenz, dachte ich.

Beim Umzug gab es eine Menge zu tun. Es war irrwitzig, was sich alles bei Mutti angesammelt hatte. Das Entrümpeln war ein tagelanger Prozess des Sortierens, Sich-Wunderns und Überredens. Mutti konnte sich anfangs schwer trennen. Von allem, was sie hatte. Und sie hatte von allem viel. Meine Frau und ich haben zu Hause eine Nagelschere. Bei Mutti fanden wir sechs – plus ein komplettes Nagelset und eine elektrische Nagelfeile. Wir stießen auf Reinigungsmittel in solchen Mengen, dass wir kurzzeitig einen Einbruch von Mutti in einem Drogeriemarkt befürchteten. Traute besaß zudem zwanzig Tischdecken, rund fünfzig Handtücher, Bettzeug für eine komplette Jugendherberge und acht Kämme.

Cornelias Mann Wolfgang entwickelte eine besonders ausgefeilte Technik, um Diskussionen mit Mutti zu vermeiden. Er füllte ganze Schrankfächer und Schubladen komplett in jeweilige Kisten und stellte diese in der neuen Wohnung detailgenau mit allem Chaos wieder her. Nur Altbatterien sortiert er aus. Wir fanden viele. Mutti war batteriesüchtig. Es könnte ja sein, dass eine ihrer Taschenlampen oder eine der drei Leselupen neue Energie brauchte.

Eine riesige Kiste fürs Bad packte ich zusammen mit Cornelia aus. Mutti besaß alles, was Drogeriemärkte anboten. Und das in großen Mengen. Cornelia analysierte die Lage und beschloss dann, etliche Produkte nach einem Körper-Problemzonen-System in die Fächer der Schränke einzusortieren. Wir amüsierten uns köstlich, als aus den Tiefen der Kiste schließlich die fünfte Tube Schrundensalbe für die Füße auftauchte. Mit feierlicher Stimme sagte Cornelia: »Bruder, ich glaube wir können diese Schrundensalbe getrost zum Hornhaut-Hobel und dem Bimsstein stellen, oder was meinst du?«

Irgendwann aber sah Mutti ein, dass die neue Wohnung nun einmal kleiner war und schaltete auf Aufbruchsstimmung. »Weg mit dem Scheiß«, hieß es nun dauernd. Stühle, Tische, Kleidung und Schränke kamen in soziale Einrichtungen oder zum Sperrmüll.

Während des Umzuges kommandierte sie uns – ganz Soldatenfrau – ordentlich herum. Sie hatte genaue Vorstellungen, wo was hin sollte. Wir schleppten, Mutti riss Kisten auf, rief »Der Mist kommt in die Küche«, oder »Die Scheißbücher hätte ich mal auch wegschmeißen sollen«, und forderte uns auf, ordentlich Bier zu trinken. Das sei »Tradition bei Umzügen«.

Irritiert war sie nur, dass in ihrer neuen Wohnung immer eine Alarmglocke losging, wenn man die Tür zur Terrasse und die Haustür zur gleichen Zeit öffnete. Ihre Vormieterin wollte so offenbar vermeiden, beim Verlassen des Hauses das Schließen der Terrassentür zu vergessen. Der Warnton war ohrenbetäubend. Aber Mutti wollte dennoch nicht, dass wir ihn deaktivierten (»Falls ich mal vergesse, die Terrassentür zu schließen«). Für Sicherheit im Haushalt war sie immer zu haben. Was Wunder, dass ich beim Auspacken einer Kiste plötzlich eine Pistole in der Hand hatte. »Das ist meine Gasknarre«, sagte Mutti trocken und strich zärtlich über den Lauf. »Die hat Papa angeschafft. Wegen der ganzen Bagalutten in der Gegend.« Ich konnte ihr die Wumme nicht ausreden. Sie lag stets auf ihrem Nachttisch. »Das sieht immer aus wie bei so einem Auftragskiller in einem Krimi«, sagte Hannes grinsend. Henri und er stellten sich immer vor, wie ein Einbrecher in die Wohnung ihrer Oma eindringt und die dann wie Jackie Chan aus dem Bett hüpft, die Knarre hochreißt und brüllt: »Keine Bewegung, du Penner, oder ich blas dir die Rübe weg.« Wahrscheinlich hätte sie es noch drastischer formuliert.

Hannes Kumpel Juls war beeindruckt von Muttis Raubeinigkeit, besonders, als sie ihn einmal verschwörerisch zu sich winkte und flüsterte: »Julia, willst du noch mal meine Knarre sehen?«

Mutti gewöhnte sich nach dem Unzug sehr schnell an ihre neue Umgebung. Natürlich klagte sie erst, dass in der Anlage »ja nur alte Leute wohnen«. Aber kontaktfreudig wie sie war, fand sie schnell Freunde. Sie traf sich häufiger mit anderen Menschen als in den letzten zehn Jahren mit unserem Vater, als beide sich noch selbst genug waren.

Mutti blühte regelrecht auf und feierte Silvester vor zwei Jahren sogar mit ihrer Freundin »Inge von oben«. Gerald dachte erst, die Dame sei adlig, aber Inge wohnte lediglich ein Stockwerk höher. Die Feier sah so aus, dass die beiden eine Flasche Sekt köpften, fern sahen und gemeinsam feststellten, dass dort ja nur »Irre, Asis, Besoffene und Beknackte« beim Feiern zu sehen waren. Meine Mutter musste ihre fundierte Medienkritik zudem brüllen, weil Inge schlecht hörte. Aber beim Neujahrsanruf betonte sie, dass sie selten ein so nettes Sylvester erlebt habe.

Täglicher Höhepunkt unter der Woche war für unsere Mutter das Einkaufen. Sie zuckelte morgens mit ihrem Rollator die Straße hoch zu einem Einkaufszentrum und hatte dort schnell feste Stationen. Ein Blumenhändler, mit dem sie über Klassik fachsimpelte, ein Bäcker mit einer »Dicken hinterm Tresen, die aber ganz nett ist«, und ein Edeka-Laden, in dem sie die meiste Zeit verbrachte. Mutti hatte immer schon gern eingekauft – auch gern zu viel. Das hatte sie beibehalten. Sie fror auch gern ein, obwohl das eigentlich angesichts ihrer täglichen Einkäufe nicht sehr sinnvoll war. Man könne »ja nie wissen«. Womöglich gäbe es Krieg.

Meine Geschwister und ich waren erleichtert. Konnte das wirklich wahr sein? Unsere Mutter kam als Witwe gut zurecht und schien auch gesundheitlich einigermaßen stabil zu sein. Sicher, sie war sehr langsam und sah wegen einer Makula-Degeneration immer schlechter. Aber sie kam klar.

Es sollte nicht so bleiben.

Es geht bergab

DER ERNEUTE ABBAU KAM nach etwa fünf Monaten. Plötzlich konnte Mutti jede Woche irgendetwas nicht mehr so gut oder gar nicht mehr. Das Aufstehen wurde mühsamer. Das Gehen fiel ihr schwerer. Und »Inge von oben« wohnte für weitere Treffen zu weit oben. Sie blieb jetzt wieder häufiger allein. Ihre Anrufe nahmen zu. Und sie waren von Klagen durchzogen. »Das Licht ist immer so grell.« »Ich habe keinen Appetit.« »Ich mag nicht mehr auf die Straße.«

Wir trösteten, forderten, appellierten und wussten nicht so recht, mit der neuen Situation umzugehen. Wollte Mutti nur Aufmerksamkeit, oder baute sie nun wirklich endgültig ab?

Ihr einundachtzigster Geburtstag war dann der endgültige Wendepunkt. Unsere Mutter wollte keine Feier und keinen Besuch. Nur Gerald und ich sollten bitte vorbeikommen und Kaffee und Kuchen mitbringen. Sie sei nicht mehr in der Lage, das selber zu organisieren.

Als wir beide klingelten, dauerte es ewig, bis sie aufmachte. Traute bewegte sich sehr langsam und sah blass aus. »Meine Jungs«, sagte sie und schleppte sich zum Sofa. Dort blieb sie sitzen und starrte in den Raum.

Gerald und ich deckten den Tisch, und Mutti kämpfte sich schließlich mühsam hoch und setzte sich schließlich zu uns. Wir sahen uns an. Das wirkte alles ziemlich bedrückend. Wir tranken Kaffee, aßen Kuchen. Wie immer lief das Radio bei ihr. Ein Klassiksender. Sie hörte nur Klassik. Es blitzte kurz die alte Traute Schlenz wieder auf. Rumfluchen ging noch. »Das da im Radio ist Montserrat Caballé«, sagte sie. »Die mag ich nicht. Die ist so fett.«

Und dann beschwerte sie sich, dass ein Nachbar von oben, der Idiot, sie nicht mit seinem Wagen mit zum Einkaufen genommen hätte. Ob sie ihn denn darum gebeten hätte, fragten wir. »Nee«, war die Antwort, »aber der Sack hätte ja mal fragen können.« Ein lupenreiner Traute-Schlenz-Spruch.

Wie Mutti mal skalpiert wurde

NACH DEM KAFFEE LEGTE sie sich wieder aufs Sofa. Ihre Perücke war etwas verrutscht, was ihr ein leicht bizarres Aussehen verlieh. Sie trug künstliche Haare seit den siebziger Jahren, als das schwer in Mode war, und ließ seitdem nicht mehr davon ab. Nur zum Schlafen nahm sie die Dinger ab. Jedes Jahr gab es eine neue. Ich werde ein Erlebnis mit einer ihrer Perücken nie vergessen. Es war 1973 in Schleswig. Meine Mutter und ich waren einkaufen. Es regnete, und wir hasteten den Bürgersteig entlang. Ein Mann mit einem Regenschirm kam uns entgegen. Es war eng auf dem Bürgersteig. Wir eilten dicht aneinander vorbei. Der Mann hielt den Schirm sehr niedrig. In diesem Moment geschah es: Eine seiner Schirmstangen stand etwas hervor. Wie eine kleine Lanze, die sich plötzlich im Haar meiner Mutter verfing. Mit einem Ruck riss der Mann ihr die Perücke vom Kopf, die dann an dem Schirm baumelte wie der Skalp eines bedauernswerten Indianers. Der Mann sah es und schrie auf. Meine Mutter reagierte blitzschnell. Ihr Arm schoss Spiderman-artig hervor, und im Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich ihr Haupthaar zurückerobert, stülpte sich die Perücke wieder über, ruckelte sie noch einmal zurecht und eilte weiter, ohne zurückzublicken. Ich lief mit und drehte mich noch einmal um. Der Mann mit dem Regenschirm stand immer noch da wie vom Donner gerührt.

Und nun? Ratlose Kinder

NACH DEM GEBURTSTAGSKAFFEE saßen mein Bruder und ich zusammen in meinem Auto und fragten uns: Wie lange geht das wohl noch gut mit Mutti? Wir spürten beide diese Mischung aus Mitleid und Hilflosigkeit, die uns noch so oft in den nächsten Monaten heimsuchen sollte. Wie lange konnte sie noch allein leben? Wie viel Hilfe brauchte sie schon jetzt? Wir telefonierten mit unserer Schwester und schilderten ihr die Lage.

Cornelia erwies sich als Pragmatikerin. »Ich denke, sie muss über kurz oder lang umziehen in irgendeine Art des betreuten Wohnens«, sagte sie. »Ich mach mich mal schlau, was es in der Nähe so gibt, und melde mich.«