Der böse Wolf von Østerdalen - Lars Lenth - E-Book

Der böse Wolf von Østerdalen E-Book

Lars Lenth

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Beschreibung

Wenn Wolfshasser auf Wolfsschützer treffen, ist es mit dem Frieden im Wald vorbei ...

In den entlegenen Wäldern von Østerdalen in Südnorwegen stirbt eine Frau, nachdem sie von einem Rudel Wölfe angegriffen wurde. Der Vorfall macht landesweit Schlagzeilen und gießt Öl ins Feuer der Wolfshasser, die unerbittlich ein Abschussrecht für Wölfe fordern. Die ortsansässige Gemeinschaft der Wolfsfreunde und Naturschützer will nicht akzeptieren, dass wirklich Wölfe hinter dem Tod der Frau stecken – doch sie scheinen auf verlorenem Posten zu kämpfen. Bis der verlotterte, aber engagierte Einsiedler Rino Gulliksen ihnen zur Hilfe kommt und den Feinden seiner geliebten Wölfe zeigt, wer im Wald das Sagen hat. Rino ist jedoch nicht dafür bekannt, vorsichtig zu agieren, und so macht sich Rinos Kumpel Leo Vangen auf den Weg in Richtung Østerdalen, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Doch der konfliktscheue, vom Leben gezeichnete Anwalt Leo kämpft mit seinen eigenen Dämonen und ist die denkbar schlechteste Person, um ein Blutbad zwischen Wölfen, Wolfshassern und Wolfsfreunden zu verhindern ...

Sie mögen besondere skandinavische Spannung? Dann lesen Sie die unabhängig voneinander lesbaren Leo-Vangen-Romane von Lars Lenth!

1. Der Lärm der Fische beim Fliegen

2. Schräge Vögel singen nicht

3. Der böse Wolf von Østerdalen

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Seitenzahl: 320

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Buch

In den entlegenen Wäldern von Østerdalen in Südnorwegen stirbt eine Frau, nachdem sie von einem Rudel Wölfe angegriffen wurde. Der Vorfall macht landesweit Schlagzeilen und gießt Öl ins Feuer der Wolfshasser, die unerbittlich ein Abschussrecht für Wölfe fordern. Die ortsansässige Gemeinschaft der Wolfsfreunde und Naturschützer will nicht akzeptieren, dass wirklich Wölfe hinter dem Tod der Frau stecken – doch sie scheinen auf verlorenem Posten zu kämpfen. Bis der verlotterte, aber engagierte Einsiedler Rino Gulliksen ihnen zu Hilfe kommt und den Feinden seiner geliebten Wölfe zeigt, wer im Wald das Sagen hat. Rino ist jedoch nicht dafür bekannt, vorsichtig zu agieren, und so macht sich Rinos Kumpel Leo Vangen auf den Weg in Richtung Østerdalen, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Doch der konfliktscheue, vom Leben gezeichnete Anwalt Leo kämpft mit seinen eigenen Dämonen und ist die denkbar schlechteste Person, um ein Blutbad zwischen Wölfen, Wolfshassern und Wolfsfreunden zu verhindern …

Der Autor

Lars Lenth, Jahrgang 1966, ist ein Angel-Profi und hat sich damit sowohl auf dem skandinavischen Buchmarkt als auch im Fernsehen einen Namen gemacht. Er spielte in TV-Serien mit und brachte einige DVDs zum Thema Fliegenfischen heraus. Wenn er nicht gerade angelt oder schreibt, steht er mit einer seiner Rock-Bands auf der Bühne. Bei zahlreichen Besuchen in Deutschland begeisterte er mit seinen Lesungen, bei denen er oft auch selbst zur Gitarre greift.

LARS LENTH

Der böse Wolf

von Østerdalen

ROMAN

Aus dem Norwegischen

von Frank Zuber

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Menn som hater ulver« bei Kagge, Oslo.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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This publication of this translation has been made possible through financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad

Copyright © der Originalausgabe Lars Lenth 2017

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Limes Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Maike Dörries

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Yann Allègre/EyeEm/Getty Images

JB · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20188-3V001

www.limes-verlag.de

Die hier erzählte Geschichte beruht auf Ereignissen, die sich in den 2010er Jahren im norwegischen Østerdalen zutrugen. Aus Rücksicht auf die Überlebenden hat der Autor einzelne Begebenheiten, Daten und geographische Details verändert, ebenso das Aussehen, die Berufe, Hobbys und Nachnamen der Beteiligten. Aus Respekt vor den Toten – Menschen wie Tieren – wird der Rest der Geschichte genau so erzählt, wie sie sich zugetragen hat.

Das Problem der Welt ist,

dass intelligente Menschen voller Zweifel

und dumme voller Selbstvertrauen sind.

Charles Bukowski

1

Man sagt, dass der lange und gnadenlose Winter in Østerdalen einen entweder umbringt oder abhärtet. Viele wissen jedoch nicht, dass auch das Sommerhalbjahr in diesem Tal Mensch und Tier auf harte Proben stellt.

Phung Johansen spazierte durch den lichten Wald nördlich von Elverum. In der einen Hand hielt sie einen Pilzkorb, an der anderen ihren Sohn. Die sanfte Spätsommersonne schien schräg zwischen den dünnen Stämmen der Fichten hindurch und malte Streifen auf den feuchten Waldboden, ein weiches Mosaik aus Rentierflechten, morschen Zweigen, Moos, Blaubeer- und Preiselbeerbüschen.

Das Schönste an Østerdalen war, dass sie nur in den Wald gehen musste, um alles zu finden, was die Familie an Essen oder Heilmitteln brauchte. Alles war so rein und unberührt, nicht wie in der Großstadt, wo sie aufgewachsen war.

Phung hielt ihren Jungen fest an der Hand. Er schaute zu ihr auf, kniff die Augen zusammen und lächelte, den Mund voller Blaubeeren.

Nach dem Regen und der Wärme der letzten Tage bestand Aussicht auf jede Menge frische Pfifferlinge, und Phung wusste, wo sie wuchsen. Für Magic Mushrooms war es noch etwas zu früh, aber man konnte ja nie wissen.

Der Junge war inzwischen groß genug, um ihr zu helfen. Mit seinem neugierigen, wachsamen Blick entdeckte er Pflanzen, Tiere und andere Dinge, die sogar Phung übersah.

Als sie sich einem dichten Laubwald näherten, in dem die besten Giftlorcheln Elverums wuchsen, hörte Phung ein Geräusch, ein Knacken, das nicht dorthin gehörte, gefolgt von dem unangenehmen Gefühl, dass sie beobachtet wurden.

Leise stellte sie den Pilzkorb auf den grün-weißen Flechtenteppich, zog den Jungen dicht an sich heran und starrte in das Dickicht zwischen den Birkenstämmen, wo sich mehrere Schatten bewegten.

»Hallo?« Sie hielt die linke Hand vor die Stirn, um die grelle Sonne abzuschirmen. »Ist da jemand?«

Der Junge bemerkte den plötzlichen Stimmungswandel seiner Mutter. Er kratzte sich hinterm Ohr und schaukelte mit dem Oberkörper hin und her. Seine Mutter sah ihn an und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann hob sie ihn hoch, setzte ihn auf die Schultern und entfernte sich langsam rückwärts von dem Birkenwald, den sie nicht aus den Augen ließ.

Er saß ganz still, kein Weinen, keine Fragen. Unter sich spürte er den zitternden Körper seiner Mutter.

Da kamen sie aus dem Schatten. Fünf große, helle Biester mit grauem Fell und hechelnden Zungen. Sie stellten die Schwänze auf, fletschten die Zähne und knurrten.

»Hab keine Angst«, flüsterte Phung. »Die sind nicht gefährlich.«

Sie drehte den Kopf und suchte nach einem passenden Baum. Die Stämme waren viel zu hoch. Nur an einer einzeln stehenden, alten und krummen Föhre wuchs ein Ast in etwa zwei Metern Höhe. Dort mussten sie hin, er war ihre letzte Rettung.

Sie behielt die Tiere im Auge und ging seitlich auf den Baum zu, wie eine Strandkrabbe. Dort stellte sie sich mit dem Gesicht zum Stamm.

»Halt dich an den Aststümpfen fest«, sagte sie zu dem Jungen. »Stell dich auf meine Schultern und kletter auf den großen Ast.«

Der Junge tat, was sie sagte. Seine Mutter packte ihn unter den Sohlen der selbstgemachten Sandalen, hob ihn so hoch wie möglich und stellte sich auf die Zehenspitzen. Mit aller Kraft, die ihr magerer Körper aufbringen konnte, hievte sie ihn hoch genug, dass er den Ast mit beiden Händen umgreifen und sich hinaufziehen konnte.

»Halt dich gut fest«, sagte sie und versuchte zu lächeln, als sie ihr Batik-Halstuch abnahm, aber ihre Augen entlarvten sie. Er lächelte nicht zurück, sondern sah die sabbernden, knurrenden Tiere langsam näher kommen.

Phung machte einen beherzten Versuch, selbst hinaufzuklettern, aber der Stamm war zu glatt, und die morschen Aststümpfe brachen, wenn sie sie ergriff. Sie versuchte zu springen und rutschte ab. Der Junge streckte einen Arm aus, um ihr zu helfen, aber sie wollte nicht riskieren, ihn hinabzuziehen.

Phung drehte sich um und sah den Tieren in die Augen. Sie hatten sie im Halbkreis umzingelt, scharrten mit den Pfoten, knurrten und jaulten. Sie konnte sie riechen, sie stanken nach nassem Fell und Tod. Die zierliche Frau hob die Arme und wedelte mit dem Halstuch, sie machte sich so groß wie möglich, stampfte mit den Füßen, hüpfte auf und ab und schrie aus vollem Hals.

Die Tiere ließen sich davon nicht beeindrucken. Ihre bernsteingelben Augen funkelten. Sie kannten weder Angst noch andere Gefühle, nur uralte, gnadenlose Naturinstinkte.

Phung drehte sich um. Mit feuchten Augen und zitternden Lippen lächelte sie ihren Jungen an.

Er ist in Sicherheit, dachte sie. Jetzt könnt ihr kommen.

Genau das taten die Biester. Ihr Gebell hallte über Moor und Heide, durch Wälder und Täler, entlang der Pfade, Waldwege und der verrosteten Zugschienen.

Keine zehn Minuten, nachdem die Vierbeiner verschwunden waren, packten zwei kräftige sonnengebräunte Hände das zitternde kleine Bündel und hoben es von dem Ast herunter. Apathisch starrte der Junge die Überreste seiner Mutter am Boden an, dann den riesigen Mann mit dem wilden grauen Vollbart, dem Schlangen-Tattoo am Hals, der runden Damensonnenbrille und dem gelben Südwester auf dem Kopf.

2

»Wer hat sie gefunden?« Forschungsassistentin Emma Vase stützte das Kinn auf die Hand und betrachtete die traurigen Überreste eines Menschen auf dem Flechtenteppich vor ihnen. Sie und das restliche Team von Norulv waren hastig einbestellt worden, um zu bestätigen, dass es sich um einen Angriff von Wölfen handelte. Norulv war ein Projekt der Hedmark Hochschule zur Erforschung der Wölfe im norwegischen Grenzgebiet. Nun sollten sie bestätigen, dass zum ersten Mal seit dem Jahr 1800 ein Mensch in Norwegen von Wölfen getötet worden war.

»Ein Wanderer, der zufällig vorbeikam«, sagte der Polizeichef Embret Tomteberget, ein großer, breitschultriger Mann mit einem rötlichen, viereckig geschnittenen Vollbart. Er trug eine schwarze Lederjacke mit dem POLIZEI-Aufdruck auf dem Rücken, eine schwarze Hose und eine schwarze Schildmütze, auf der das Reichswappen prangte. »Ihr Junge saß in einem Baum.« Er zeigte auf eine alte Föhre und schüttelte den Kopf. »Er hat wohl alles mit ansehen müssen.«

Es war acht Uhr abends und noch immer behaglich warm in der Sonne, aber ein frisches Lüftchen aus Norden ermahnte sie, dass der Sommer sich dem Ende entgegenneigte. Emma verschränkte die Arme und streckte den Rücken. Sie konnte den Blick nicht von der Leiche, dem Blut und den Eingeweiden abwenden, die verstreut am Boden lagen. Sie bereute, nicht die Daunenjacke anstelle der dünnen Windjacke angezogen zu haben, und dass sie jemals beschlossen hatte, Biologie zu studieren.

»Sie haben also einen Zeugen?«

»Er ist erst fünf Jahre alt.« Tomteberget nahm die Mütze ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ziemlich harter Start ins Leben.«

»Das kann man wohl sagen«, kommentierte Emma.

Sie sah den Polizisten an, aus dem sie nicht klug wurde. Er betrachtete die Leiche, als wäre sie ein modernes Kunstwerk, das er nicht verstand.

»Aus welchem Stoff ist die Hose?«, fragte der Polizeichef.

»Sieht aus wie Samt«, sagte Emma und beugte sich näher heran. »Lila Samt. Oder Velours.«

»Ein Kind sollte nicht zusehen müssen, wie seine Mutter von Wölfen zerfleischt wird«, sagte Tomteberget. »Das sollte ein Menschenrecht sein.«

Emma schüttelte den Kopf und ging in die Hocke. Bis auf ihre verstorbene Großmutter hatte sie noch nie einen toten Menschen gesehen.

»Ich habe gerade mit dem Vater, also ihrem Mann, geredet«, sagte Tomteberget.

»Kennen Sie ihn?«

»Kaum.« Der Polizeichef setzte die Mütze wieder auf und strich sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken hinunter. »Die beiden waren Pilze sammeln, wie jeden Dienstag und Donnerstag, sagte er. Sie hat offenbar Pilze geliebt.«

»Gibt es auf den Philippinen Pilze?«

Eine junge Frau in Polizeiuniform kam auf sie zu. Polizeimeisterin Sigrun Wroldsen hatte blaue Augen, war nicht besonders groß und etwas pummelig. Unter ihrer Dienstmütze ragte ein blonder, kurzer Pferdeschwanz hervor. Sie warf einen raschen Blick auf die Leiche und rümpfte die Stupsnase.

Tomteberget sah sie fragend an.

»Woher weißt du, dass sie von den Philippinen kam?«

»Nur geraten.«

Emma Vase stand auf und rollte mit den Augen.

»Das ist, als würde ich sagen, dass du aus Belgien kommst, weil du Europäerin bist«, sagte Tomteberget.

»Was ist denn an Belgien so verkehrt?«

»Eine ganze Menge.« Tomteberget kniff die Augen zu. »Aber das ist nicht der Punkt. Du scherst alle über einen Kamm, als wären alle Frauen mit Schlitzaugen, die hier wohnen, von den Philippinen.«

»Aber das sind sie doch«, sagte sie.

»Falsch«, sagte Tomteberget. »Sie war aus Drammen.«

»Schlitzaugen?«, sagte Emma. »Ich finde, sie hat schöne Augen.«

»Ein schönes Auge«, korrigierte Wroldsen. »Das andere ist ja weg.«

»Krähen«, sagte Tomteberget.

Sie schwiegen und betrachteten, was von Phung Johansen aus Drammen übrig war.

»Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, sagte Polizeimeisterin Wroldsen.

»Findest du das etwa lustig?«, fragte Tomteberget.

»Ich habe lange davor gewarnt.« Wroldsen zog die Nase hoch und schluckte. »Aber die Wolfsfreunde haben mich als paranoiden Dorftrottel abgestempelt. In Wirklichkeit war es nur eine Frage der Zeit.«

»Dreh eine Runde durch die Büsche, Wroldsen, und sieh nach, ob du irgendwelche Spuren findest.«

Als die Polizistin außer Sichtweite war, drehte Tomteberget sich zu Emma um.

»Was glauben Sie? Eins von Ihren Tieren?«

»Schwer zu sagen, solange wir die DNA nicht untersucht haben, aber die Fellbüschel stammen von einem Wolf, da bin ich mir ziemlich sicher.«

Polizeichef Tomteberget ging in die Hocke, hob ein Fellbüschel auf und hielt es ins Licht.

»Was soll es denn sonst sein?«

»Wölfe greifen keine Menschen an, wenn man sie nicht provoziert«, sagte Emma.

»Vielleicht wurden sie provoziert?«

Ein zwei Meter großer, hagerer Mann in blank geputzten Jagdstiefeln, frisch gebügelter Feldhose und einem grünen Wollpullover mit Reißverschlusskragen humpelte auf sie zu. »Wie lange liegt sie schon hier?«, fragte der Wolfsprofessor Bjarne Gilbert. Seine Augen flackerten wild, die graue Mähne flatterte im Wind.

»Seit der Mittagszeit, sagt der Gerichtsmediziner«, antwortete Emma.

»Wer hat sie gefunden?«

»Ein Obdachloser«, sagte der Polizeichef. »Ein Riese von einem Mann voller Tätowierungen.«

»Ist er von hier?«

»Hab ihn noch nie gesehen. Er kam mit dem Jungen in die Wache spaziert. Sagte, er hätte ihn auf einem Baum gefunden und den ganzen Weg ins Dorf getragen.«

»Hat er gesehen, was geschehen ist?«Gilbert ging neben der Leiche in die Hocke.

»Der Junge soll alles gesehen haben.«

»Ich meinte den Obdachlosen.«

»Der ist nicht besonders gesprächig. Er bleibt über Nacht auf der Wache.«

»Mein Gott«, sagte Professor Gilbert und inspizierte die Leiche mit seinen bernsteingelben Augen. »Das ist ja Phung Johansen.«

»Kannten Sie sie?«, fragte Tomteberget.

»Ich kenne ihren Mann aus dem Verein.«

»Landbewohner für Raubtiere?«

»Richtig.«

»Wie alt war sie?«, fragte Emma.

»Noch ein Kind«, sagte der Polizeichef. »Sie und ihr Mann haben einen kleinen Hof in Åsta. Ziegen, Freilandhühner, Weidekühe.« Er sah Gilbert in die Augen. »Sie bauen lauter komisches Zeug an. Ökologisch.«

»Sie machen ihren eigenen Käse«, sagte der Wolfsprofessor.

»Unter anderem«, erwiderte Tomteberget.

»Käse?«, fragte Emma.

»Eine Art norwegischen Feta«, sagte Tomteberget. »Aus Ziegenmilch.«

»Sieht aus, als müsste Lyder Johansen den Käse in Zukunft alleine machen«, sagte Bjarne Gilbert und kratzte sich an der langen Nase. Sie betrachteten den malträtierten Menschenkörper. Die Flechten ringsum waren rot vom Blut. Käfer und Ameisen krabbelten darüber, Fliegen, Stechmücken und Bremsen schwirrten durch die Luft. Im Westen verschwand die Sonne hinter den Wolken, es kühlte rasch ab.

»Nimm so viele DNA-Proben wie möglich und mach Nahaufnahmen von allen Bisswunden«, sagte Gilbert.

»Es gibt ja mehr Wunden als Körper, der halbe Torso fehlt.« Emma biss sich auf die Unterlippe.

»Stell dir vor, es wäre ein gerissenes Schaf«, sagte Gilbert. Er ging zu der jungen Assistentin, legte den Arm um sie und streichelte ihr über den Rücken »Denk an all die Tiere, die das Opfer in seinem Leben gegessen hat.«

Emma machte einen halbherzigen Versuch, ihn von sich zu schieben, aber er hielt sie fest.

»Was meinst du damit?«

»Wir alle sind Teil der Natur, kleine Rädchen im großen Kreislauf.« Er klopfte ihr auf den Rücken. »Fressen und gefressen werden.«

Emma befreite sich aus der Umarmung des Professors und wischte sich eine Träne von der Wange.

»Ich glaube, sie war Vegetarierin«, sagte Tomteberget. »Sogar Veganerin.«

»Dann denk an die Tiere, die sie verspeist hat, ehe sie erleuchtet wurde.«

Tomteberget schüttelte den Kopf und ging zu seinem Dienstwagen, der etwa zweihundert Meter entfernt auf einem Waldweg stand.

Als der Polizeichef außer Hörweite war, sah Gilbert Emma mit funkelnden Augen an.

»Ist dir klar, was das bedeutet?«

Emma nickte.

»Das ist ein Super-GAU.«

Der Wind fuhr in Gilberts frisch gewaschene Mähne, die in alle Himmelsrichtungen flatterte.

»Falls du heute Nacht nicht schlafen kannst: Der Schlüssel liegt unter dem Schafschädel rechts neben der Tür«, sagte Gilbert, ohne den Blick von der toten Frau abzuwenden.

Emma sah ihren alternden Mentor von der Seite an.

»Ich habe Schlaftabletten«, sagte sie schließlich. »Wird schon gehen.«

»Davon träumen die Wolfshasser seit dreißig Jahren«, sagte Gilbert.

»Jep«, sagte Emma. »Das bedeutet Krise.«

3

Dank seiner roten Masai-Schuhe mit den fünf Zentimeter dicken Sohlen landete Leonard Vangen weich und anatomisch korrekt, als er in Elverum aus dem Zug sprang. Masai Barefoot Technology – schweineteure orthopädische Schuhe mit abgerundeten Sohlen, in denen man wie ein Idiot aussah. Der Beweis dafür, wie weit ein Mann ging, um Rückenschmerzen loszuwerden.

Ein leichter Spätsommerregen fiel auf den Asphalt, kitzelte ihn im Gesicht und verstärkte die Düfte, die über der Kleinstadt hingen, eine exotische Mischung aus Nadelwald, Frittierfett und fossilen Brennstoffen.

Er ging in die Richtung, in der er die Polizeiwache vermutete. Dazu überquerte er die Glomma auf einer der beiden Brücken, die Norwegens längsten und wasserreichsten Fluss in Elverum überspannten. Auf der anderen Seite blieb er stehen und ließ den Blick schweifen: anonyme Gebäude aus Beton und Backstein zwischen hübschen, alten Holzhäusern, ein riesiges Einkaufszentrum mit moderner Holzfassade und hinter der Stadtgrenze bewaldete Hügel, soweit das Auge reichte. Elverum war von einem Meer aus Bäumen umringt.

»Rasch und schlammig fließt die Glomma wie eine offene Wunde mitten durch Elverum«, murmelte Leo. Außer diesem Schmähvers des Barden Ole Paus, der erfolgreichen Handballmannschaft und dem Café Elgstua kannte er nichts und niemanden aus Elverum. Es war ein Ort, durch den er auf dem Weg nach Trondheim, Schweden oder zu der Hütte in Rendalen fuhr.

Rino Gulliksen war sehr wortkarg am Telefon gewesen, hatte nur gesagt, dass er im Polizeigewahrsam saß und Hilfe brauchte. Leo hatte seit zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört. Alle glaubten, er wäre in der Flutwelle in Storbørja ums Leben gekommen. Er selbst hatte versucht, ihn zu vergessen.

Leo überquerte die vielbefahrene R25, so rasch es die abgerundeten Sohlen zuließen. Der Verkäufer hatte ihm erklärt, wie er gehen und denken sollte, um möglichst viel von dem Schuhwerk zu haben. Irgendetwas mit Verlängerung des Körpers und dass er ein integraler Teil des Universums sei.

Die Räder des limettengrünen Rollkoffers ratterten über den Asphalt, als er die Storgata entlangging. Er strengte sich an, selbstsicher und entspannt auszusehen, bis ihm einfiel, dass niemand in Elverum ihn kannte. Hier kümmerte es keinen, wie er aussah und was er tat.

Die Hauptstraße war voller kleiner, merkwürdiger Läden: Kebab, ein geschlossener indischer Imbiss, eine wilde architektonische Mischung aus Alt und Neu. Als er an einer altmodischen Bäckerei vorbeikam, in der die Backwaren im Schaufenster lagen, konnte er nicht widerstehen. Er bestellte ein Rosinenbrötchen und grünen Tee. Eigentlich hatte er mehr Lust auf schwarzen Kaffee, aber sein vegetatives Nervensystem brauchte keine zusätzliche Stimulanz.

Während der Tee zog, nahm er den Koffer mit auf die Toilette, zog ein Päckchen Beruhigungstabletten aus der Außentasche und spülte eine davon mit Leitungswasser hinunter.

In dem zerbrochenen Spiegel sah Leo sich an: Ringe unter den verquollenen Augen wie ein nichtsahnender Barsch, der aus der Tiefe gezogen wird.

Rino Gulliksen hätte ihn niemals angerufen, wenn es nicht ernst wäre. Was hatte Rino getan? Was hatte er ihnen erzählt? Was in aller Welt sollte Leo der Polizei sagen?

Aus der Toilette zurück, nahm Leo den Pappbecher und das Rosinenbrötchen in die eine und den Koffer in die andere Hand. Er versuchte, langsam zu essen und die Geschmacksnerven zu gebrauchen, anstatt es einfach in sich hineinzustopfen.

Er fragte das Mädchen hinter der Theke, wo die Polizeiwache lag.

»Gleich um die Ecke«, sagte der Teenager und lächelte.

Sie war ungefähr in Siris Alter, hatte dieselbe Haarfarbe und sah ihm tief in die Augen, voller Zuversicht und Erwartungen an das Leben, wie es sich für Mädchen ihres Alters gehörte.

Als er die Bäckerei verließ, spürte er, wie das Clonazepam langsam zu wirken begann. Das Kribbeln im Körper legte sich und seine Handflächen trockneten. Er fühlte sich benommen und beschützt. Die Welt war nicht mehr so bedrohlich.

Leo betrat das dreistöckige rote Backsteingebäude, und eine blonde Polizistin mit Pferdeschwanz und Snus unter der Lippe nahm ihn freundlich in Empfang. Sie brachte ihn in ein Zimmer mit grüner Wandverkleidung und weißen Gardinen. Hinter dem aufgeräumten Schreibtisch saß ein vielleicht vierzigjähriger Mann in einem frisch gebügelten Uniformhemd. Er aß ein Sandwich mit Käse und Gurke und blätterte dabei in einer Jagdzeitschrift. Als er Leo sah, legte er die Zeitschrift auf den Tisch, wischte sich mit dem Ärmel die Krümel vom Mund und streckte die Hand aus. Polizeichef Embret Tomteberget hatte freundliche Augen, einen festen Händedruck und roch nach billigem Rasierwasser.

»Er hat nicht viel gesagt«, berichtete der Polizeichef. »Nur, dass er mit dem Rechtsreferendar Leonard Vangen aus Lilleaker sprechen will.«

»Anwalt«, berichtigte Leo. »Ich bin Anwalt.«

»Ja«, sagte Tomteberget und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Was ist eigentlich der Unterschied?«

»Man muss mindestens drei Prozesse geführt haben, um sich Anwalt zu nennen.«

»Ja«, wiederholte der Polizeichef. Er nahm einen Bleistift und schrieb irgendetwas in ein großes schwarzes Buch.

»Das weiß kaum jemand«, sagte Leo.

»Gratuliere«, sagte der Polizeichef, ohne eine Miene zu verziehen.

»Wofür?«, fragte Leo.

»Dafür, dass Sie drei Prozesse geführt haben.«

Leo setzte sich auf einen Stuhl an der Wand und stellte den Koffer ab. Machte der Polizeichef sich über ihn lustig? Er sah sich die Bilder an den Wänden des Büros an. Ein Mann mit einem riesigen Hecht, eine Frau mit ein paar kleinen Äschen, Mann mit Gewehr und totem Elch, Mann mit Gewehr, Schweißhund und Hirsch, Mann mit Flinte, Auerhahn und Apportierhund, alle Varianten.

Ein Bild stach heraus. Es war als Einziges eingerahmt und ziemlich verblichen. Es zeigte eine Gruppe stattlicher, grinsender Kerle in voller Jagdmontur. Vor ihnen im Schnee lag ein zotteliger Wolf mit einem Stock im Maul.

»Was ist das denn?«, fragte Leo. »Das kommt mir bekannt vor.«

Der Polizeichef schaute von seinem Buch auf.

»Das ist der Vegårsheiwolf, geschossen am 10. Januar 1984.«

Leo erinnerte sich an das Biest, das damals aus dem Nichts in Südnorwegen aufgetaucht war, als alle dachten, der Wolf sei für immer ausgerottet. Die ganze Nation verfolgte die Jagd, die über ein Jahr dauerte. Ein paar Fragen lagen ihm auf der Zunge, aber Leo schwieg.

»Zuerst dachte ich, er wäre Beerensammler aus Litauen oder Lettland«, sagte der Polizeichef, »und dass er kein Norwegisch versteht.«

Leo sah Tomteberget schweigend an.

»Aber dann sagte er plötzlich völlig akzentfrei, dass er mit Ihnen reden wolle.«

»Was hat er getan?«

Der Polizeichef legte den Bleistift ab und verschränkte die Hände hinter dem Nacken, wobei er große Schweißflecken enthüllte.

»Er kam gestern Nachmittag hier rein, mit einem fünf Jahre alten Jungen auf den Schultern. Nach einer Weile erzählte er uns, wo er den Jungen gefunden hatte, und dass sein Au Pair tot im Wald läge.«

»Au Pair?«

»Das war natürlich Unsinn. So etwas haben wir nicht hier in Elverum.«

»Er ist also zu Ihnen gekommen?«

Der Polizeichef nickte.

»Wie sich herausgestellt hat, war die Tote im Wald die Mutter des Jungen. Sie wurde vor den Augen ihres Sohnes von Wölfen angegriffen und in Stücke gerissen.«

»Wölfe?« Leo hob beide Augenbrauen. »Ich dachte, Wölfe greifen keine Menschen an?«

»Das erste Mal in Norwegen seit dem Jahr 1800. Also schon ziemlich ungewöhnlich, ja.« Tomteberget stand auf. »Kommen Sie mit.«

Sie gingen in das Nebenzimmer, wo Rino Gulliksen in braunen Gummistiefeln, roten Adidas-Shorts und einer schmutzigen Schaffellweste über dem nackten Oberkörper am Fenster stand. Er hatte ein paar Kilo abgenommen und die Haare entweder verloren oder rasiert, aber der wildwüchsige graue Vollbart verdeckte noch immer sein halbes Gesicht und das tätowierte Kleeblatt auf der linken Wange. Er sah aus wie ein Freibeuter oder ein exzentrischer Eremit. Als er Leo erblickte, strahlte er.

»Klären Sie mich auf: Wer ist das?«

Der Polizeichef stand mitten im Zimmer und stützte die Arme in die Hüfte.

»Ein alter Freund.« Leo verschränkte die Arme und räusperte sich. »Er hat es in letzter Zeit etwas schwer gehabt, hat seinen Job verloren.«

»Ist er immer so gesprächig?«, fragte Tomteberget.

»In dem heiligen Schweigen, in der Ruhe der Natur liegt der höchste Trost für alle, die ihre Sprache verstehen.« Leo wippte auf seinen Masai-Schuhen vor und zurück und erwartete eine Reaktion auf das Klassikerzitat.

»Ja«, sagte Tomteberget nur, steckte einen Portionsbeutel Snus mit Mentholgeschmack unter die Oberlippe und musterte Rino Gulliksen.

»Er braucht nur ein wenig Ruhe und Frieden«, sagte Leo.

»Warum sagt er nicht, wer er ist? Er hat doch nichts Gesetzwidriges getan, eher im Gegenteil.«

»Er heißt Even.« Das war der erste Name, der Leo einfiel. »Er ist manchmal so … Even.«

»Unser Even hier ist möglicherweise Zeuge der ersten tödlichen Wolfsattacke auf norwegischem Boden seit über zweihundert Jahren«, sagte der Polizeichef.

»Ich habe nichts gesehen«, sagte Rino Gulliksen. Er stand am Fenster und starrte sehnsüchtig über den braunen Fluss auf den Wald.

»Jesses.« Tomteberget riss die Augen auf und tat, als wäre er überrascht. »Er spricht.«

»Ich habe schon gesagt, was geschehen ist«, fuhr Rino Gulliksen fort. »Ich habe den Jungen auf einem Baum gefunden. Was von der Frau übrig war, lag unter dem Baum auf dem Boden. Es war zu spät. Ich konnte nichts mehr tun. Ich wollte nur den Jungen in Sicherheit bringen.«

»Das klingt ja schrecklich«, sagte Leo.

»Warum dann diese Geheimniskrämerei?«, fragte Tomteberget. »Warum wollen Sie nicht sagen, wer Sie sind? Was haben Sie da draußen gemacht? Warum haben Sie keinen Ausweis dabei?«

Rino drehte sich um.

»Ich war auf Campingtour. Alle meine Sachen liegen im Zelt.«

»Hätten Sie das nicht früher sagen können?« Der Polizeichef kratzte sich im Nacken. »Das hätte uns viel Mühe erspart.«

»Bist du in Ordnung?«, fragte Leo.

»Mir ging’s nie besser«, antwortete Rino. »I’m in my prime.«

Tomteberget grinste breit und streckte den Zeigefinger in die Luft.

»Doc Holliday in Tombstone!«

Rino zwinkerte dem Polizeichef zu.

»Ich bestätige hiermit, dass dies Even Smith ist«, sagte Leo mit fester Anwaltsstimme. »Mein Klient gibt gern Fingerabdrücke ab, wenn es nötig sein sollte.«

»Nicht nötig«, sagte Tomteberget und sah die breite Gestalt am Fenster an. »Aber bleiben Sie vorerst in der Kommune Elverum. Wenn Sie gebraucht werden, nehmen wir mit Ihnen Kontakt auf.«

»Listen, Mr. Kansas Law Dog, law don’t go around here«, sagte Rino in breitem Amerikanisch.

Der Polizeichef grinste von Ohr zu Ohr, formte die Hand zu einer Pistole und zielte auf Rino.

»Gut«, sagte Leo und streckte die Hand aus. »Vielen Dank.«

»Danke ebenso«, sagte Tomteberget und schüttelte Leos Hand. »Ich hoffe, ich sehe Sie beide nie wieder.«

4

»Alles voller Bissspuren mit deutlicher Zersplitterung der Knochensubstanz.« Balder vergrößerte die Bilder der Leiche auf dem Monitor. Der dreiundzwanzigjährige Forschungsassistent aus Rasta in Østerdalen trug einen weißen Kittel und eine Kopfbedeckung, die wie eine durchsichtige Duschhaube aussah. »Typisch Wolf. So töten sie ihre Beute.«

Der Raum war steril, rundum weiß gefliest, an der eierschalenfarbenen Decke hingen lange Neonröhren, die jeden Millimeter ausleuchteten. Das Labor in Evenstad war Ende des letzten Jahrhunderts als Forschungsstätte des panskandinavischen Projekts Norulv errichtet worden.

Die Stipendiatin Emma Vase saß auf einem Barhocker aus Stahl und beugte sich über das Mikroskop, das auf einem Aluminiumtisch stand. Sie trug denselben Mantel und dieselbe Kopfbedeckung wie Balder, weiße Holzschuhe und einen hellblauen Mundschutz.

»Kein Zweifel, die Haarbüschel stammen vom Wolf. Und die Verletzungen des Opfers sehen auf den ersten Blick auch sehr nach Wolf aus.« Sie hob den Blick. »Es waren mehrere Tiere, mindestens fünf, aber keines von unseren. Keine Übereinstimmung in der DNA-Datenbank.«

»Wo in aller Welt kam das Rudel her?«, fragte Balder.

»Vielleicht hat die Wölfin des Juvberg-Paars ihren sterilen Partner ausgetauscht und einen neuen Wurf bekommen?«, schlug Emma vor.

»Das wüssten wir«, sagte Balder.

»Ich sage nur, dass es möglich wäre.«

»Nein, das ist verdammt noch mal nicht möglich.«

Professor Bjarne Gilbert trank einen Schluck Mineralwasser. Er lief nervös im Kreis, hielt die Hand unters Kinn und summte I’m Your Captain von Grand Funk Railroad.

»Morgen früh schicke ich alle Proben an die Raubtier-Datenbank«, sagte Emma. »Aber das wird dauern.«

»Wahrscheinlich waren es umherstreifende Tiere aus Schweden«, sagte Balder.

Gilbert hörte auf zu summen und sah den jungen Assistenten an, als hätte er ihn aufs Gröbste beleidigt.

»Ihr wisst genau, dass keine Wolfsrudel aus Schweden in Elverum ›umherstreifen‹, ohne dass wir sie entdecken.«

»Sie müssen unter dem Radar durchgeschlüpft sein.« Balder rümpfte die Nase. »Wortwörtlich.«

»Unsinn.« Der Professor zwinkerte Emma zu. »Ihr wisst ganz genau, dass sie niemals Menschen auf diese Weise angreifen würden. Schon gar nicht zwei Menschen, und noch weniger am helllichten Tag.«

Balder sah Emma an und lächelte zaghaft.

»Was war es dann?«

Gilbert stapfte zum Fenster und schaute auf den dichten Fichtenwald auf der anderen Talseite.

»Im Dickicht der Gesetze und Regulierungen lauert ein grauer Schatten.«

Kunstpause. Balder und Emma tauschten fragende Blicke.

»Er starrt uns mit gelben Augen an und erinnert uns daran, dass die Grenzen zwischen Arten und Rassen, wild und zahm, Natur und Kultur, gefährlich und harmlos, nicht so klar sind, wie wir es gerne hätten.«

Balder runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«

»Das habe ich einmal in einem Artikel der Aftenposten geschrieben.«

»Und was soll das heißen?«

Emma nahm den Mundschutz ab.

»Was glaubt ihr?« Gilbert drehte sich um.

»Keine Ahnung«, sagte Balder.

»Manchmal gibt es kein Licht am Ende des Tunnels«, sagte Gilbert.

Emma hüpfte von dem Hocker und stemmte die Arme in die Hüfte.

»Warum sprichst du in Rätseln? Die Haare stammen von Wölfen, da besteht kein Zweifel.«

»Ich höre, was du sagst.« Wieder zwinkerte Gilbert ihr zu. »Aber was ist ein Wolf?«

»Willst du damit sagen, dass es keine Wölfe waren?«, fragte Balder.

»Ich sage nur, dass man für alles offen sein sollte.«

Balder schüttelte den Kopf.

»Das ist eine Katastrophe«, sagte Emma.

»Eine handfeste Krise.« Gilbert trank einen Schluck aus der Wasserflasche. »Das habe ich wirklich nicht kommen sehen.«

»Du weißt, dass Bon Aqua zu Coca Cola gehört und sein Wasser aus der Glomma holt?«, sagte Balder. »Du trinkst amerikanisches Glomma-Wasser für sechzig Kronen pro Liter.«

»Nicht mehr«, sagte Emma. »Jetzt holen sie ihr Wasser aus der sogenannten Telemarksquelle.«

»Aber es ist immer noch Coca Cola?«, fragte der Professor.

»Ja. Und wir beschweren uns, dass der Liter Benzin vierzehn Kronen kostet.«

Gilbert ging zum Waschbecken und schüttete das Mineralwasser demonstrativ in den Ausguss. Dann füllte er die Flasche mit Leitungswasser und stellte sie mit einem Knall auf dem Arbeitstisch ab.

»Erst 1993 wurde der Haushund, canis familiaris, zum canis lupus familiaris umklassifiziert, weil die Forschung festgestellt hatte, dass Wolf und Hund ein und dieselbe Art sind.«

»Redest du mit uns?«, fragte Emma.

»Kreuzungen zwischen Wolf und Hund sind keine Hybride, sondern Bastarde«, fuhr Gilbert fort. »Das ist grundlegende Biologie.«

»Das weiß doch jeder«, sagte Balder. »Worauf willst du hinaus?«

»Wo verläuft die Grenze zwischen Wolf und Hund?« Wieder zwinkerte er Emma zu. »Und wer soll hier eigentlich vor wem beschützt werden? Denkt mal nach.«

»Geht es deinem Bein besser?«, fragte Emma. »Du humpelst nicht mehr.«

»Die Schmerzen kommen und gehen«, sagte Gilbert.

»Ich weiß nur, dass die Wolfskritiker bald Amok laufen werden«, sagte Balder.

»Sie werden alle Wölfe im Umkreis von hundert Kilometern abknallen – und die norwegische Bevölkerung wird ihnen stehend Beifall spenden«, sagte Emma.

»Genau darauf haben Onkel Viggo und seine Gang gewartet.« Gilbert sah Balder in die Augen und hob den Zeigefinger. »Wir müssen alles Menschenmögliche tun, um diesen Prozess aufzuhalten.«

»Aber wie?«, fragte Emma. »Es liegt doch auf der Hand, was hier geschehen ist.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Gilbert. »Wir müssen Zweifel säen.«

»Wer soll das tun?«, fragte Gilbert.

»Du.«

»Was ich sage, kümmert keinen.« Balder verschränkte die Arme. »Ich bin nur ein bedeutungsloser Forschungsassistent aus Rasta.«

»Alle großen Männer sagen das«, bemerkte der Professor, sprang auf den Arbeitstisch und baumelte mit den Beinen.

»Wäre das nicht deine Aufgabe?«, fragte Emma. »Das ist lebenswichtig.«

»Balder kommt aus der Gegend, der Vizebürgermeister ist sein Nennonkel, die Leute hören auf ihn. Ich bin nur ein Zugereister aus der Hauptstadt, der seinen Kaffee mit Milch trinkt.« Wieder zwinkerte er Emma zu, die seinem Blick auswich.

»Jetzt mal im Ernst«, sagte Balder. »Wäre es nicht besser, wenn du das machst?«

»Ich kann nicht riskieren, alles, was ich aufgebaut habe, zu zerstören, indem ich eine vollkommen idiotische Behauptung aufstelle. Meine Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.«

»Was soll ich sagen?«, fragte Balder.

»Dass wir nicht bestätigen können, dass es sich um Wölfe handelt.«

»Wäre das keine Lüge?«

»Es ist die Wahrheit.« Gilbert bohrte sich in der Nase und schnipste einen Popel ins Waschbecken. »Man stolpert meist über sie, wenn man etwas ganz anderes sucht.«

»Wer hat das gesagt?«, fragte Balder.

»Jerry.«

»Seinfeld?«

»Jerry Garcia von Grateful Dead.« Er fuhr mit der Hand durch seine widerborstige graue Mähne. »Sag einfach, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt nichts Sicheres sagen können.«

»Wie viele Wölfe leben momentan in der Gegend?«

»Sag, dass es ungefähr fünfzig sind«, sagte Gilbert und sprang von der Ablage.

»Das Julussa-Rudel zählt ungefähr zehn Tiere, Letjenna sechs, Slettås sechs, Mangen auch sechs und Osdalen vier. Wenn irgendwelche idiotischen Ignoranten fragen, sagst du, dass alle dem skandinavischen Wolfsstamm angehören.«

»Wir riskieren, dass die Behörden eine unbegrenzte Abschussgenehmigung erteilen«, sagte Emma. »Die ›Entnahme‹ aller Wölfe auf der norwegischen Seite, wie es heißt.«

»Das würden sie nie tun«, sagte Balder. »Nicht nach einem einzigen Unfall.«

»Woher willst du wissen, dass es ein Unfall war?« Gilbert zwängte sich aus dem hellblauen Kittel, hängte ihn an einen Haken und verließ den Raum.

»Wie zum Teufel hat er das gemeint?«, fragte Balder.

»Er weigert sich zu akzeptieren, dass es Wölfe waren. Es widerspricht allem, was er seit vierzig Jahren predigt.«

»Hat er zu viel gekifft?«

»Wahrscheinlich.«

»Gehen wir heute Abend ins Buckey’s?« Balder scharrte mit den Schuhspitzen auf den Fliesen. »Die Wombats spielen.«

»Sind die nicht aus England?« Emma schaute ins Mikroskop.

»Aus Liverpool. Aber der Bassist ist aus Elverum.«

»Ein Junge aus Elverum, der Karriere in der großen, weiten Welt gemacht hat?«

»Ich glaube, er ist auf die Paul-McCartney-Schule gegangen.«

»Gibt’s überhaupt noch Karten?«

»Ich kenne den Türsteher.«

»Ich weiß nicht. Bin nicht recht in Stimmung.«

»Du kannst doch nicht die ganze Nacht arbeiten.«

»Ich bin einfach nicht in Tanzlaune.« Emma sah ihm in die Augen. »Geh du, wir sehen uns morgen.«

Balder ging zur Tür, aber er drehte sich noch einmal um.

»Warum lässt du eigentlich zu, dass er so mit dir redet?« Die Neonröhre gab seinem Gesicht einen grünen Schimmer. »Er könnte dein Großvater sein.«

»Was meinst du?«

»Genau, was ich sage. Ich habe bemerkt, wie er dich dauernd anzwinkert und in welchem Ton er mit dir redet.« Balder stemmte die Hände in die Hüften. »Das ist pervers.«

»Beruhig dich. Er könnte mein Großvater sein.«

»Sag ich doch.«

»Da hast du vollkommen recht.«

Emma sah wieder in ihr Mikroskop.

»Du weißt, was man über ihn sagt?«

»Nein.«

»Dass er alle seine Assistentinnen besteigt. Es heißt, dass er sie nur nach dem Aussehen aussucht. Er benimmt sich wie ein Alphawolf.«

Emma schnaubte.

»Gilbert ist ein harmloser alter Knacker, der Probleme mit dem Älterwerden hat.«

»Er betrachtet mich als Konkurrenten. Deshalb will er mich auch bei der Pressekonferenz heute Abend den Wölfen vorwerfen.«

»Interessante Metapher.«

»Er hinkt absichtlich.«

»Ich weiß.«

»Um sich interessanter zu machen.«

»Ist das nicht süß?«

»Lass ihn nicht zu dicht ran.« Balder hob den Zeigefinger. »Nur ein Ratschlag von einem einfachen Bauerntrampel.«

»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du wärst eifersüchtig.« Emma neigte den Kopf und lächelte ihn mit geschlossenem Mund an. »Bist du eifersüchtig, Balder?«

5

Leo und Rino standen auf dem Parkplatz vor der Polizeiwache und sahen einander an. Nach einer Weile verzog Rino den Mund zu einem breiten Grinsen, und seine Augen wurden feucht. Er breitete die massiven, tätowierten Arme aus und drückte Leo fest an sich, als wäre er sein Sohn, der nach zwanzig Jahren aus Amerika zurückgekommen ist.

»Schön, dich zu sehen«, schniefte er in Leos Haare. »Du riechst besser als je zuvor.«

»Was man von dir nicht gerade behaupten kann«, antwortete Leo. »Du siehst aus, als hättest du die letzten zwei Jahre in einer Höhle gehaust.«

»Höhle?« Rino legte die Hände auf Leos Schultern und schob ihn auf eine Armlänge Abstand. »Ich habe im Zelt gewohnt.«

»Du stinkst nach Schaf.«

»Das ist die Weste. Die habe ich selbst gemacht.«

»Ein Wolf im Schafspelz?«

Rino schüttelte sich vor Lachen, wobei er eine weiße Zahnreihe entblößte, die nur durch einen braunen Eckzahn entstellt war.

»Sag nicht, dass du was mit der toten Frau zu tun hast«, mahnte Leo.

»Ich habe den Jungen gerettet.« Rino ließ Leo los. »Hoffentlich trägt er keine bleibenden Schäden davon.«

»Wahrscheinlich ist er für den Rest seines Lebens traumatisiert.«

»Sicher, aber wer ist das nicht?« Rino grinste. »Danke, dass du gekommen bist. Ich stehe tief in deiner Schuld.«

»Du hast mir damals auf Gåsøya das Leben gerettet. Jetzt sind wir quitt.«

Rino nickte bedächtig, kratzte sich am Kinn und musterte Leo.

»Und wie geht es dir?«, fragte er. »Du siehst ein bisschen fertig aus.«

»Blendend«, sagte Leo.

Rino runzelte die Stirn.

»Ein paar Problemchen mit der Familie«, sagte Leo. »Aber sonst geht’s gut.«

»Was für Probleme?«

»Meine Tochter hat es zurzeit nicht ganz leicht.« Er schabte mit der halbrunden Sohle über den Asphalt. »Sie will nichts mit mir zu tun haben.«

»Wie alt ist sie?«

»Siri ist zwanzig.«

»Ist doch völlig normal in dem Alter«, sagte Rino. »Das gibt sich wieder.«

»Und das Haus auf Gåsøya steht zum Verkauf.«

»Auch das wirst du überleben.«

»Ich meditiere dreimal täglich«, sagte Leo und hob den Blick.

»Das ist doch ein gutes Zeichen, wenn du dich selbst ernst nimmst.«

Leo musterte Rino Gulliksen von Kopf bis Fuß. Er trug den gelben Südwester, der ihn irgendwie jünger machte, und schien viel konzentrierter als früher, wachsamer.

»Was hast du in der Zwischenzeit getrieben?«

»Mich von den Menschen ferngehalten.«

»Und außerdem?«

»Singer und Heidegger gelesen.«

»Die Philosophen?«

»Jep. Peter Singer und Klaus Heidegger.«

»Du meinst Martin? Klaus war ein österreichischer Alpinist.«

»Martin, natürlich.«

Rino schlug sich gegen die Stirn.

»Du bist also von Hamsun auf Heidegger gekommen?«

Rino verschränkte die Arme und beobachtete einen braunen Vogel, der hinter Leo im Gebüsch saß.

»Hamsun war Heideggers großer Held.«

»Sein und Zeit. Hab ich mal versucht zu lesen und kein Wort kapiert.«

»Weil du in alten Denkmustern gefangen bist.«

Leo lächelte und schaukelte wie ein Stehaufmännchen auf seinen Masai-Schuhen.

»Heidegger war doch ein Nazi.«

»Aber er hat es bereut.«

»Und damit ist die Sache erledigt?«

»Irren ist menschlich.« Rino hob den Südwester an und strich sich über die Glatze. »Er hat es wiedergutgemacht.«

»Wie denn?«

»Er hat lange alleine in einer Hütte im Schwarzwald gelebt.«

»Als eine Art Bußübung, meinst du?«

Rino nickte.

»So wie du in den letzten zwei Jahren?«

»Nenn es, wie du willst«, brummte Rino. »Auf jeden Fall habe ich alleine gelebt.«

Leo schaute in den Himmel. Der Regen hatte aufgehört, die Wolkendecke brach auf und zeigte hellblaue Risse.

»Ich bin langsam von Mosjøen nach Süden gezogen«, sagte Rino. »Und habe mich so weit wie möglich von den Menschen ferngehalten. Eine Weile habe ich in einem alten Bootshaus in Sunnmøre gelebt, ein paar Monate in einem Windschutz an einem Seitenarm des Sognefjords. Es war kein Zuckerschlecken.«

»Wie bist du hier gelandet? Warum gerade Elverum?«