Tödlicher Nordwind - Lars Lenth - E-Book

Tödlicher Nordwind E-Book

Lars Lenth

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Beschreibung

Ein umstrittener Windpark, ein handfester Familienkonflikt und ein Umweltschützer, der für seine Überzeugungen einsteht …

Leo Vangens neue Freundin Anita hatte ihn eindringlich gewarnt: Leg dich nicht mit meiner Familie an! Ihre Mutter Agnes betreibt auf der abgelegenen Insel Stadlandet einen Windpark und in einem heruntergekommenen Hotel eine Unterkunft für Asylsuchende, die sie aus Profitgier gnadenlos ausbeutet. Wer sich beschwert, bekommt es mit ihren beiden skrupellosen Handlangern zu tun und landet schlimmstenfalls mit einem Gewicht an den Füßen im Wasser. Und dennoch vermittelt Leo seinem Freund, dem Umweltschützer Rino, eine leer stehende Hütte in der Nähe des Hotels. Rino ist der Windpark jedoch ein Dorn im Auge. Was als Familiendrama beginnt, wird bald zum blutigen Konflikt um Profit und Ausbeutung von Natur und Menschen. Und Leo ist mittendrin …
Sie mögen besondere skandinavische Spannung? Dann lesen Sie weitere Leo-Vangen-Krimis von Lars Lenth!
1. Der Lärm der Fische beim Fliegen
2. Schräge Vögel singen nicht
3. Der böse Wolf von Østerdalen
4. Tödlicher Nordwind
Alle Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 321

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Buch

Leo Vangens neue Freundin Anita hatte ihn eindringlich gewarnt: Leg dich nicht mit meiner Familie an! Ihre Mutter Agnes betreibt auf der abgelegenen Insel Stadland einen Windpark und in einem heruntergekommenen Hotel eine Unterkunft für Asylsuchende, die sie aus Profitgier gnadenlos ausbeutet. Wer sich beschwert, bekommt es mit ihren beiden skrupellosen Handlangern zu tun und landet schlimmstenfalls mit einem Gewicht an den Füßen im Wasser. Und dennoch vermittelt Leo seinem Freund, dem Umweltschützer Rino, eine leer stehende Hütte in der Nähe des Hotels. Rino ist der Windpark jedoch ein Dorn im Auge. Was als Familiendrama beginnt, wird bald zum blutigen Konflikt um Profit und Ausbeutung von Natur und Menschen. Und Leo ist mittendrin …

Autor

Lars Lenth, Jahrgang 1966, ist ein Angel-Profi und hat sich damit sowohl auf dem skandinavischen Buchmarkt als auch im Fernsehen einen Namen gemacht. Er spielte in TV-Serien mit und brachte einige DVDs zum Thema Fliegenfischen heraus. Wenn er nicht gerade angelt oder schreibt, steht er mit einer seiner Rockbands auf der Bühne. Bei zahlreichen Besuchen in Deutschland begeisterte er mit seinen Lesungen, bei denen er oft auch selbst zur Gitarre greift.

LARS LENTH

Tödlicher

Nordwind

Ein Ökokrimi

Aus dem Norwegischen von Frank Zuber

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Norske Tilstander« bei Kagge Forlag, Oslo.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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This publication of this translation has been made possible through financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad

Copyright © der Originalausgabe Lars Lenth 2020

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Limes Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Maike Dörries

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotive: plainpicture/Anja Weber-Decker; www.buerosued.de

LA · Herstellung: sam

Satz: KCFG-Medienagentur, Neuss

ISBN 9783641283339

www.limes-verlag.de

Dieses Buch beruht auf Ereignissen, die sich vor wenigen Jahren in Westnorwegen und Bærum abspielten. Aus Rücksicht auf die Überlebenden hat der Autor den Verlauf einiger Begebenheiten sowie Datumsangaben und geographische Details geändert, ebenso die Nachnamen, Berufe und Hobbys mancher Beteiligter. Aus Respekt vor den Opfern – seien es Vögel oder Menschen – erzählt er den Rest der Geschichte genau, wie sie sich zugetragen hat.

»Denn dort siehst du, Freund Pansa, wie dreißig Riesen oder noch etliche mehr zum Vorschein kommen; mit denen denke ich einen Kampf zu fechten und ihnen allen das Leben zu nehmen. Mit ihrer Beute machen wir den Anfang, uns zu bereichern; denn das ist ein redlicher Krieg, und es geschieht Gott ein großer Dienst damit, so böses Gezücht vom Angesicht der Erde wegzufegen.«

Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quijote

Teil 1: Leichte Brise

1

Am Freitag, dem ersten Oktober, um acht Uhr morgens stieg ein groß gewachsener Mann mit schmalen Schultern und breiten Hüften aus einem roten Toyota HiAce und öffnete das Tor zum Windpark Blåfjell, der auf der Halbinsel Stadland im äußersten Nordwesten Norwegens lag. Der Mann trug grüne Gummistiefel, helle Jeans und eine braune Wachsjacke, an deren Cordkragen Vogelkot klebte. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Bergsteigerhelm mit einem weißen Streifen in der Mitte. Vereinzelte Wolken zogen über den Himmel. Es war fast windstill, das Meer lag spiegelglatt unter den Klippen – ein seltener Anblick im stürmischen Stadland, das wie ein bösartiger Tumor in den Atlantik ragte.

Charlie Fostervold räusperte sich und spuckte aus, als er das malträtierte Vorhängeschloss erblickte, das im Heidekraut lag, aufgebrochen von diesem Umweltsozialisten, der vorige Woche dort eingedrungen war und eines der Windräder sabotiert hatte.

Er hob das Schloss auf, warf es in hohem Bogen in den Moortümpel auf der anderen Seite des Weges und betrachtete die Ringe, die sich auf dem Wasser ausbreiteten. Dabei dachte er an Leeds United und daran, dass sein altes, vertrautes Leben wohl für immer vorbei war.

Charlie schlurfte zum Auto, fuhr durch das Tor und parkte wie immer unter dem Windrad Nummer eins: »Johannes«. Er kletterte aus dem Fahrzeug, knallte die Tür zu, schnappte sich die Heugabel von der Ladefläche und begann seine Inspektionsrunde.

Vor der Sabotage war er höchstens einmal pro Woche heraufgekommen, meist sonntags nach dem Gottesdienst. Das war das Geniale an einem modernen Windpark: Er war computergesteuert, betrieb sich quasi von selbst und brauchte wenig Wartung und Kontrolle. Nun aber sah er jeden Tag nach dem Rechten. Der Umweltterrorist konnte jederzeit wiederkommen.

Mit der Heugabel über der Schulter schlenderte Charlie Fostervold um »Johannes« herum, stets auf der Hut vor Küstenseeschwalben. Der Windpark war ein Brutgebiet, und die aggressiven Kamikazeflieger taten alles, um ihre Nester zu beschützen.

Zweihundert Meter weiter kam er zu Windrad Nummer zwei: »Bartholomäus«, umrundete es, inspizierte es mit kurzsichtigem Blick und stapfte weiter zu Nummer drei. »Philippus« war sein persönlicher Favorit. Auf einem kleinen Hügel errichtet, erhob es sich über die anderen elf.

Seine Frau Oda hatte darauf bestanden, die Windräder nach den zwölf Aposteln zu benennen, und erstaunlicherweise hatte Mama, der Kontrollfreak, keine Einwände erhoben.

Bei Windrad Nummer vier, »Judas Ischariot«, blieb er stehen und starrte zähneknirschend die massive Konstruktion an. Der Terrorist hatte das Steuersystem gehackt und das Windrad zum Durchdrehen gebracht. Die dänischen Windtechniker sagten, sie hätten Schwein gehabt, dass die Rotorblätter und das Maschinenhaus nicht abgeflogen waren. Aber sie müssten viele Teile austauschen, was lange dauern und verdammt viel kosten würde.

Charlie Fostervold zweifelte keinen Augenblick daran, wer in jener Nacht das System gehackt und das Windrad eingeschaltet hatte, als der Sturm tobte.

Die Sache stank nach Børre Fink.

Der Biolehrer aus Charlies Grundschule war auf seine alten Tage zum fanatischen Umweltschützer geworden. Er verbreitete das Gerücht, die Windräder seien »Todesmaschinen«, die Vögel umbrächten und die unberührte Natur von Stad verschandelten. »Visuelle Verschmutzung« nannte er sie.

Fink hatte vom ersten Tag an mit Zähnen und Klauen gegen den Windpark gekämpft. »Ein Skandal!«, hatte er in der Lokalzeitung gewettert, als das Projekt genehmigt worden war. »Korruption!«, hatte er bei der feierlichen Eröffnung vor sieben Jahren in sein oranges Sprachrohr gebrüllt, bis Sylte und ein weiterer Polizist ihn in Handschellen legten und wegtrugen.

Der alte Fink wollte Licht und Wärme in seinem Haus, er wollte Strom für seinen Plattenspieler, Anrufbeantworter und Fön, aber war er bereit, ein kleines Opfer dafür zu bringen?

Natürlich nicht.

Und dieses angebliche Vogelsterben? Von wie vielen Vögeln war hier die Rede? Ein oder zwei Seeadler im Jahr, ein paar vorbeiziehende Stockenten, der ein oder andere Uhu und vielleicht alle Schaltjahre ein Tordalk?

Mit traurigen Augen blickte er zu dem Windrad auf, dessen drei Rotorblätter stillstanden. Sie waren je sechzig Meter lang, was eine Spannweite von 125 Metern oder vier ausgewachsenen Blauwalen ergab.

Charlie Fostervold maß die Dinge gern in Blauwalen, den größten Tieren auf Erden.

In der vierten Klasse hatte Lehrer Fink alle auf den Schulhof gerufen. Mit einem Stück Kreide zog er einen Strich auf den Asphalt, schritt dreißig Meter ab und zog einen weiteren Strich. Dann deutete er auf den Boden und sagte mit andächtiger Stimme: »Kinder, so groß ist ein Blauwal!« Seitdem war Charlie von den Meeressäugern fasziniert.

Größer als ein Haus, fast so groß wie das Hotel.

Er folgte dem Pfad, den er sieben Jahre lang selbst ausgetrampelt hatte, durch die hügelige, baumlose Landschaft. Stolz dachte er, dass dies sein Werk war. Er hatte der Nachwelt seinen Fußabdruck hinterlassen.

Eine leichte Brise wehte übers Meer und setzte die engelweißen Rotorblätter in Bewegung.

Die Wunden, die Bagger und Baumaschinen in die Natur gerissen hatten, waren fast verheilt. Gras, Blumen, Moose und Kräuter hatten die Erdhügel und Steinhaufen zurückerobert. Diese Weltuntergangspropheten wollten es einfach nicht einsehen, aber die Natur reparierte sich immer selbst. Sie passte sich an oder schlug auf unerwartete Weise zurück. Menschen waren auch ein Teil der Natur, genau wie Vögel, Moore, Nagetiere oder irgendwelche seltenen Korbblütler – und Windräder standen für das Beste am Menschentier. Sie waren hohe Ingenieurkunst, Symbole der menschlichen Überlegenheit, der Zähmung und Nutzung der gnadenlosen Natur hier am Rande der Zivilisation.

Und nun wollte Mama den Windpark verkaufen. Nach allem, was er für sie getan und geopfert hatte, wollte die kleine Tyrannin sein Lebenswerk an eine Bande von Dänen verscheuern.

Was zum Teufel dachte sie sich dabei?

Bei Windrad Nummer sieben, »Matthäus«, das dem Meer am nächsten stand, fiel sein Auge auf einen dunklen Fleck am äußeren Ende eines Rotorblatts. Sein vegetatives Nervensystem begann zu arbeiten, wie immer, wenn etwas Unerwartetes eintraf. Der Adrenalinspiegel stieg, es kribbelte unter den Füßen und unter dem Helm, der Darm rumorte, und die Handflächen wurden klamm.

Langsam ging er näher heran, stützte sich auf die Heugabel und kniff die Augen zusammen. Der dunkle Fleck befand sich nun am höchsten Punkt, 150 Meter über dem Boden.

Was mochte das sein?

Die Turbine knirschte leise, der Westwind raschelte im Heidekraut und trieb die Rotoren schneller an. Tiefe, weiße Wolken zogen vom Meer heran, rund wie Wattebäusche, und verdeckten für einen Augenblick den seltsamen Klumpen.

Langsam, aber sicher kam der Gegenstand näher. Charlie strengte seine kurzsichtigen Augen an.

Als das Blatt waagerecht stand, nahm er ein Geräusch wahr, das nicht dorthin gehörte. Kein Wellenrauschen oder Knirschen, nicht das tip-tip-tip der Seeschwalben, sondern ein schwaches Jammern. Wie der Labrador seines kleinen Bruders Bill, der qualvoll erstickt war, nachdem Charlie ihm Hühnerknochen gegeben hatte. Am Tag darauf hatten sie ihn tot vor der Haustür gefunden.

Er riss den Helm vom Kopf und warf ihn ins Gras.

Das Jammern wurde lauter, und als der Klumpen den tiefsten Punkt dreißig Meter über dem Boden erreichte, erkannte er, was es war.

Das war ein Mensch.

Eine Person mit langen schwarzen Haaren war mit silbernem, extrastarkem Klebeband an das Rotorblatt gefesselt.

Charlie Fostervolds Beine gaben unter ihm nach, während das Jammern wieder leiser wurde und der Mann am Windrad langsam nach oben entschwand. Er sank auf die Knie, stützte sich auf die Arme und erbrach sein Frühstück: acht Streifen Bacon, vier weichgekochte Eier und fünf Scheiben Brot mit Erdnussbutter.

Er richtete sich halb auf, hob den Kopf und wischte den Mund mit dem Ärmel ab. Mit zitternden Fingern zog er sein Handy aus der Tasche, hustete und spuckte.

Sollte er die Polizei rufen?

Nein. Mama mochte die Polizei nicht.

Die Tjøstheim-Brüder? Oda? Bill? Er öffnete die »Häufig kontaktiert«-Liste, atmete tief ein, zählte bis fünf und drückte auf »Mama«.

Zwei Wochen zuvor

2

»Ich werde den Windpark verkaufen«, sagte die zierlich gebaute alte Dame und kratzte sich mit einer Stricknadel unter den grauweißen Locken, die wie Wollgras aussahen.

»Du willst was?« Der ungelenke Mann, der vor ihr stand, hob die Arme, aber sein halbherziger Protest verhallte. Er trug ein langärmeliges Stoke-City-Trikot, schmutzige, löchrige Jeans und gelbe Crocs ohne Socken. Seine fettigen blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. In der rechten Hand hielt er eine gestreifte Wollmütze. Bill Fostervold schaute so schockiert wie möglich drein, doch er wusste genau, dass feuchte Augen seine Mutter kaltließen.

»Dong Energy hat mir ein Angebot gemacht«, sagte Agnes Fostervold. Sie saß mit überkreuzten Beinen auf einem braunen Stuhl mit hoher, gepolsterter Lehne. Ihre milchweißen Arme ruhten auf zwei geschnitzten Drachenköpfen.

»Dong?«, sagte Bill Fostervold und runzelte die Stirn über der Adlernase, die einmal gut zum restlichen Gesicht gepasst hatte, nun aber zu dominant geworden war.

»Chinesen.« Sie legte die Zeigefinger an die Augenwinkel und zog die elastische Haut nach oben. »Meine Mutter kommt aus China.« Sie zog die Haut nach unten. »Mein Vater aus Japan.« Dann zog sie die Haut auf einer Seite nach oben und auf der anderen nach unten. »Ach, wie bin ich arm!«

Bill kicherte ohne zu lächeln und starrte ausdruckslos auf die dunkelrote Tapete und die braunen Veloursgardinen, die, seit er sich erinnern konnte, den Raum verdunkelten. Schmale Streifen Tageslicht drangen wie von kleinen Scheinwerfern durch die Löcher im Stoff und entlarvten die Staubpartikel, die durch das Zimmer schwebten.

Auf der alten Stereoanlage liefen leise die Rolling Stones. Immer die Stones … »Love in Vain« aus Let it Bleed.

Am anderen Ende des Zimmers knisterte das Feuer in dem mit Schiefer verkleideten Kamin. Der Duft von brennendem Birkenholz mischte sich mit dem Geruch von Ledermöbeln, Himbeerdrops und dem Rauch des Zigarillos, der im Aschenbecher auf dem Glastisch lag. Neben dem Kamin kauerte ein vollbärtiger Mann auf dem Boden. Er trug eine bunte Tunika und einen beigen Turban.

»Wie viel haben sie geboten?«, fragte Bill.

»Neunzig Millionen Kronen«, sagte Agnes.

Ein warmer Schauer durchrieselte Bill. Er versuchte, die Fassade zu wahren. »Was ist mit Charlie?«

»Charlie weiß nichts.«

»Er wird einen Herzinfarkt bekommen.«

»Oder einen Schlaganfall.« Agnes griff zu dem Zigarillo, nahm einen tiefen Zug und redete schon beim Einatmen. »Dein Bruder hat kein Stimmrecht. Der Windpark gehört mir.«

Bill nickte. »Er tut so, als würde er ihm gehören.«

»Dein großer Bruder lebt in einer Traumwelt.« Sie blies den Rauch durch die Nase aus. »Das war schon immer so.«

Agnes Fostervold hatte ein plattes, runzliges Gesicht mit flacher Nase, hohen Wangen, schmalen Lippen und grünen Augen. Alles an ihr war klein, nur ihre Hände, Ohren und Nase wirkten unverhältnismäßig groß.

»Das bleibt unter uns.« Sie trank einen Schluck hellbraunen Sherry aus dem Stielglas. »Wenn du petzt, hetze ich dir die Tjøstheim-Brüder auf den Hals.«

»Wann wirst du verkaufen?«, fragte Bill, um abzulenken.

»So bald wie möglich. Die Sache hat nur einen Haken.« Sie richtete sich im Stuhl auf und pulte einen Tabakkrümel von der Zunge. »Dong macht keine halben Sachen. Ihre Bedingung ist, dass sie das Nachbargrundstück dazukaufen oder mieten können. Das von Hoddevik, wo die baufällige Steinhütte steht. Sie wollen ausbauen und Nordeuropas größten Windpark errichten.«

»Aber das Grundstück gehört doch gar nicht uns?«

Agnes Fostervold lächelte. »Da hast du vollkommen recht, mein Junge.«

»Wie sollen wir ihnen etwas geben, das uns nicht gehört?«

»Ich muss dafür sorgen, dass sie es bekommen, das habe ich versprochen. Der alte Jarle Hoddevik hat die Hütte an irgendeinen Taugenichts aus dem Osten vermietet. Er weigert sich, ihn rauszuwerfen. Angeblich hat er ihm die Hand darauf gegeben, dass er zwei Jahre in der Ruine wohnen darf.«

Bill hatte den Typen von Weitem gesehen, ein riesiger Kerl. »Ist das bindend?«

»Natürlich nicht. Aber der alte Hoddevik war schon immer ein Prinzipienreiter.«

»Würde er nicht viel mehr verdienen, wenn er an Dong vermietet?«

»Mindestens zehnmal so viel, aber er will seine Abmachung mit diesem Scharlatan nicht brechen.«

»Wer ist dieser Typ?«

»Hier kommst du ins Spiel.« Agnes kniff den Mund zusammen, lehnte sich zur Seite und furzte. Es klang, als hätte jemand ein Fahrradventil aufgeschraubt. Sie drückte den Zigarillo aus. »Die Tjøstheim-Brüder waren letzte Woche dort, um ihn zu überreden, den Typen rauszuwerfen. Er hat sie ausgelacht.«

Bill grinste höhnisch. »Er hat die Tjøstheim-Brüder ausgelacht?«

Agnes nickte. »Sie haben es mir selbst erzählt.«

»Wie heißt der Kerl?«

»Das sollst du für mich herausfinden. Würdest du das für deine Mama tun?«

»Warum ich?« Bill hob die Arme. »Warum nicht Per und Pål?«

»Das hat nicht geklappt. Also will ich es mal mit the soft approach versuchen«, sagte sie mit übertriebenem Oxford-Akzent. Wahrscheinlich hatte sie zu viel Downton Abbey geschaut, dachte Bill. »Wenn ich die Zwillinge noch einmal zu ihm schicke, könnte es Verletzte geben. Du weißt doch, dass sie manchmal ein bisschen übereifrig sind.« Sie leerte ihr Glas und spülte den Portwein im Mund herum, bevor sie schluckte. »Es ist wichtig, dass alles zivilisiert vonstattengeht. Wenn es Ärger gibt, ziehen sich die Ching Chongs vielleicht zurück.«

»Und warum nicht Charlie?«

»Charlie ist sauber. Wir ziehen ihn da nicht mit rein. Du als Drogenabhängiger und Exkrimineller weißt, wie so was funktioniert.«

»Mama! Das ist ewig her.«

»Papperlapapp! Einmal Junkie, immer Junkie. Mir erzählst du nichts.« Agnes Fostervold lächelte. »Du weißt doch, dass ich dich trotzdem liebe. Für immer und ewig.«

Bill starrte auf den Teppich und wippte in seinen Crocs auf und ab.

»Was soll ich tun?«

»Statte ihm einen Besuch ab.« Sie faltete die Hände und legte sie auf die Knie. »Mach ihm ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann.«

»Und was soll ich ihm anbieten?«

»Hunderttausend Kronen und eine alternative Unterkunft in Leikanger.«

Bill wurde übel, er bereute, dass er den Joint schon zum Frühstück geraucht hatte.

Mama drehte sich zu der Gestalt neben dem Kamin um. »Usman! Siehst du denn nicht, dass das Feuer ausgeht?«

Der Mann mit dem Turban öffnete die Augen, fuhr sich durch den kohlschwarzen Bart und stand langsam auf. Er legte zwei frische Scheite nach, ging auf alle viere, steckte den Kopf in den Kamin und blies in die Glut, bis das Feuer aufloderte und den Raum erhellte. Flackernde Schatten tanzten über die ausgestopften Vögel, Nagetiere und Ölgemälde an den Wänden.

»Vorsicht mit dem Turban«, mahnte Agnes Fostervold. »Der fängt leicht Feuer.«

Der Mann klopfte sich den Schmutz von den Kleidern und ging wieder in den Lotossitz, ohne ein Wort zu verlieren.

»Dong hat mir eine Frist bis zum zehnten Oktober gesetzt. In vier Wochen muss alles geregelt sein. Sie sagen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der nationale Rahmenplan für Windkraft kommt und neue Begrenzungen festlegt.«

Bill nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, was ein Rahmenplan war. Er wusste nur eines: Die Welt seines großen Bruders würde zusammenstürzen. Der Gedanke beflügelte ihn.

»Okay, ich fahre am Montag dorthin.«

Agnes nickte. »Kein Wort darüber zu Charlie und Oda!«

»Mein Mund ist verschlossen mit sieben Segeln.«

»Mit sieben Siegeln«, sagte sie. »Mit Segeln hat das nichts zu tun.«

»Mit sieben Siegeln«, murmelte Bill.

Agnes nahm ein silbernes Glöckchen in die Hand und schüttelte es frenetisch. Im nächsten Augenblick stand ein junges Mädchen im Trachtenkleid in der Tür.

»Ja, Mama?«, sagte sie und verneigte sich.

»Füllst du mein Glas auf, Sari?«

Das Mädchen ging zum Flaschenschrank und kam mit einer Flasche Del Duque auf einem Silbertablett zurück. Sie füllte Agnes’ Glas bis zum Rand und schlich wieder davon.

Mit dem Glas in der Hand erhob sich Agnes mühsam von ihrem Thron, tappte zu ihrem Sohn, wobei sie den halben Sherry verschüttete, und strich ihm über beide Wangen.

»Ich muss zugeben, dass ich mir Sorgen um dich mache, mein Junge.«

»Um mich?« Ein kalter Schauer durchfuhr Bill, als die eiskalte Hand ihn berührte. Ihr Atem roch nach Himbeerbonbons, Alkohol und kubanischem Tabak.

»Was wirst du nur tun?«

Bill starrte auf das Bild an der Wand, auf dem hohe Wellen gegen Klippen schlugen. Der Rahmen war kaputt, und in einer Ecke hatte die Leinwand sich aufgerollt. »Was willst du damit sagen?«

»Wenn ich verschwinde, was wird dann aus dir?«

»Was redest du da?« Er sah ihr in die Augen. »Willst du uns verlassen?«

»Ich habe beschlossen, alles zu verkaufen.« Sie humpelte zum Stuhl zurück und setzte sich. »Den ganzen Kram hier. Und dann ziehe ich nach Oslo.«

Stille herrschte im Raum, nur Mick Jagger jaulte unbeirrt weiter wie ein angeschossener Alligator.

»Auch das Hotel?«, fragte Bill.

»Es ist kein Hotel mehr.«

»Du willst das Asylantenwohnheim verkaufen?«

»Die Regierung hat den Hahn zugedreht. Hast du das nicht mitbekommen?« Agnes Fostervold legte den Kopf in den Nacken, ihre Nasenflügel zitterten. »Der Vertrag mit der Kommune läuft an Neujahr aus. Das ist ein sinkendes Schiff.«

»Das kannst du doch nicht tun«, jammerte Bill. »Das Hotel gehört seit über hundert Jahren der Familie.«

»Nicht meiner Familie.« Sie trank einen Schluck Sherry und stellte das Glas mit einem Knall auf dem Glastisch ab. »Ich muss es tun, bevor es zu spät ist. Zurück in die Zivilisation. Ich kaufe mir eine Wohnung in der Bygdøy Allee, mit Stuckdecken, einem großen Bad und Kastanien, die vorm Fenster blühen. Ich will nicht an diesem gottverdammten Ort sterben, wo es immer nur stürmt.«

»Aber du hast doch immer gesagt, dass ich das Hotel einmal übernehmen würde!«

»Ich habe nie etwas versprochen.« Sie schüttelte langsam den Kopf und kniff die Augen fest zu.

»Ich dachte, das wäre klar.« Bill hob die Arme. »Und dass wir gar nicht darüber zu reden bräuchten.«

»Wie alt bist du jetzt, mein Junge, fünfunddreißig?«

»Einundvierzig.«

»Wie die Zeit vergeht.« Sie nickte. »Ihr Jungen glaubt, das Leben währt ewig, doch ehe du dich versiehst, bist du ein alter, verbitterter Tropf, der auf den Tod wartet.«

Stille.

»Ich dachte, wir hätten eine Abmachung«, sagte Bill.

»Du weißt, dass ich dich liebe, mein Junge. Aber wenn ich nicht mehr da bin, musst du dir ein eigenes Leben erschaffen. Das ist nur zu deinem Besten.«

Bill scharrte mit den Crocs über den Teppich. Er wollte so Vieles sagen, aber er schwieg.

»Weißt du, was?« Mama richtete sich auf und klatschte in die Hände. »Wenn du das mit dem Windpark regelst, werde ich mir noch einmal überlegen, was ich mit dieser alten Ruine hier mache.« Ihr mürrischer Blick streifte durch den Raum.

»Wenn ich den Typen zum Ausziehen bewege und der Verkauf gut läuft, werde ich das Hotel erben?« Ein Funke Hoffnung schwang in Bills Stimme mit, seine feuchten Augen leuchteten auf.

»Auf jeden Fall hättest du es dann eher verdient.«

Bill ging zur Tür. Dort drehte er sich um und fragte den Mann am Kamin: »Usman, was soll ich euch mitbringen?«

»Das Übliche«, flüsterte der Mann mit dem Turban.

»Was sagt er?«, rief Agnes.

»Sie brauchen Toilettenpapier, Rattengift, Mehl, Salz und Zucker – das Übliche. Überweist du mir tausend, dann kümmere ich mich drum?«

»Du kriegst achthundertfünfzig«, antwortete Agnes. »Und die müssen bis zum Ende des Monats reichen.«

»Alte Fotze«, murmelte Bill in sich hinein.

Der Mann am Kamin lächelte mit geschlossenen Augen.

»Undank ist der Welten Lohn«, sagte Agnes pathetisch, als hätte sie das Sprichwort gerade erfunden. »Kommen aus freien Stücken hierher und erwarten Hotelstandard.« Sie stand auf, nahm den Spazierstock, der am Tisch lehnte, stapfte zu Usman und klopfte ihm mit dem Stock gegen die Rippen. »Es verwundert mich immer wieder, was für Ansprüche die stellen.«

Der Mann öffnete die Augen und sah Agnes an.

»Sie wollen nicht in Afghanistan leben, sie wollen nicht in Pakistan leben. Auch nicht in Griechenland oder Paris. Und Stad ist auch nicht gut genug. Zu viel Wind, nehme ich an.« Sie rammte den Stock in den Teppich. »Das soll einer noch verstehen.«

»Sie kommen doch aus einer ganz anderen Kultur«, versuchte Bill.

»Kultur?« Agnes fuhr herum. »Was weißt du denn von Kultur?«

Bill senkte den Blick.

»Weißt du, wie man Kultur definiert?«

Er schüttelte den Kopf.

»Kultur ist die komplexe Summe aus Wissen, Glauben, Kunst, Gesetzen, Moral, Gebräuchen und allen Fertigkeiten, die Menschen in ihrer Eigenschaft als Gesellschaftsmitglieder erlernen.«

»Ja, Mama«, murmelte Bill und verschwand.

3

Zwei Tage später saß Rechtsanwalt Leo Vangen in einem gestreiften Liegestuhl auf seiner Terrasse auf Gåsøya, Bærum. Er trug türkise Shorts und ein weißes T-Shirt. Durch die große, runde Sonnenbrille, die seine Mutter 1982 auf Mallorca gekauft hatte, warf er verstohlene Blicke rüber zu der Frau, die sich wenige Meter entfernt hüllenlos sonnte, und nippte an einer Flasche Mineralwasser mit Melonengeschmack. Leo bewunderte sie gern heimlich, besonders wenn sie auf dem Bauch lag. Der Duft von frischem Lack stieg von den kürzlich gestrichenen Dielen auf und erinnerte ihn an mehr oder weniger gelungene Rauschexperimente seiner Jugend. Sie hielt ihren Körper in Form, aber nicht auf protestantisch-norwegische Weise mit endlosen Jogging- und Langlauftouren. Stattdessen spielte sie dreimal pro Woche mit einer Freundin Badminton, machte täglich eine halbe Stunde Yoga sowie morgens und abends ein paar Sit-ups und Push-ups.

Schon beim dritten Date hatte sie ihn ohne Vorwarnung zum Nacktbadestrand in Huk geschleppt. Normalerweise hielt Leo sich von den Nudisten fern. Er begnügte sich mit dem normalen Badestrand nebenan und machte höhnische Bemerkungen über Leute, die darauf bestanden, nackt herumzulaufen. Doch an jenem Tag hatte er den Mund gehalten, sich ohne Murren ausgezogen und mit einer Ausgabe der Fly Fisherman im Schoß auf die Decke gesetzt. Er hatte sich zurückgelehnt, das Gesicht in die Sonne gehalten und versucht, den Exbischof von Oslo zu übersehen, der passionierter Naturist war.

Durch die offene Terrassentür klang die heisere Stimme Jason Isbells. Der Barde aus Alabama sang von einem Elefanten, den alle ignorierten, eine Metapher für Krankheit und Tod. Leo schloss die Augen und dachte, dass er sich schon lange nicht mehr so wohlgefühlt hatte. Anitas strenges Regime tat ihm gut. Weniger Wein und Fleisch, mehr Mineralwasser und Fisch. Weniger Fernsehen, mehr Bücher, mindestens dreimal pro Woche rund um die Insel paddeln, gut für die Kernmuskulatur und den Kopf. Seine Tochter Siri hatte sich gefangen, aß wieder annähernd normal, machte eine Ausbildung als Krankenpflegerin und hatte einen Freund. Auch sein Sohn Willy hatte seine Nische im Leben gefunden, er absolvierte ein Magisterstudium an der Norwegian Business School und war Bassist in einer Rockband – eine rätselhafte Kombination, die Leo nie verstehen würde, aber er hatte sich daran gewöhnt.

Bisweilen verspürte er fast so etwas wie Dankbarkeit und pure Lebensfreude.

Er öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. Jason Isbell versuchte derweil immer noch, den Elefanten zu ignorieren. Vielleicht hatte Leo dies im Lauf der Zeit besonders gut gelernt, aber war das alles?

»Wir tun einfach so, als wäre der Elefant nicht da«, murmelte Leo.

»Elefant?«, fragte Anita Fostervold, ohne eine Miene zu verziehen. »Welcher Elefant?«

»Vergiss es«, sagte Leo. Er hob den Blick zu den weißen Wolken im Westen, die weitere faule Sommertage verkündeten. Eine sanfte Brise wehte vom Oslofjord herüber, trieb die Segelboote an und sorgte für angenehme Kühle in der Sonne. »Sollen wir am Wochenende was Schönes unternehmen?«

»Was denn?«

»Vielleicht ein Musical oder in die Oper? Oder eine Show im Wallmanns?«

»Du kannst es einfach nicht lassen.«

»Was kann ich nicht lassen?« Leo trank einen Schluck.

»Über alles zu lästern.«

»Tu ich doch gar nicht.«

»Doch. Du merkst es bloß nicht.«

Ein Geruch von verbranntem Fleisch wehte zu ihnen rüber. Sicher grillte Falch-Jensen aus dem Bauhaus-Bunker von nebenan wieder Entrecôte. Immer Entrecôte.

»Ist zurzeit nicht Grillverbot?«, fragte Leo. »Ein Funke, und die ganze Insel steht in Flammen.«

»Seit wann kümmerst du dich um Regeln und Verbote?«

Sie hatte recht. Es hatte nichts mit dem Grillverbot zu tun, Falch-Jensen war einfach ein aufgeblasener Idiot.

»Ich trete nur nach oben aus«, sagte Leo. »Nie nach unten. Das ist ein grundlegender Unterschied.«

»Quatsch«, sagte Anita und schob die Sonnenbrille über die Stirn. »Wallmanns ist überhaupt nicht vornehm, es ist einfach nur volkstümlich.«

Leo hob die Arme. »Ich muss doch meiner Natur treu bleiben.«

»Du steckst voller Vorurteile.«

»Okay«, brummte Leo. »Und wie soll ich deiner Meinung nach sein?«

»Verschwende weniger Energie auf Dinge, die du nicht magst. Schlag etwas vor, das dir wirklich gefällt. Tu nicht immer so, als hättest nur du den Durchblick. Und kauf dir eine neue Sonnenbrille.«

»Das ist aber ziemlich viel auf einmal«, sagte Leo.

Anita richtete sich auf. Im Lotossitz war ihre Nacktheit offenbarer, ihre schwarzen Schamhaare waren zu einem zirka zwei Zentimeter breiten und vier Zentimeter hohen Rechteck getrimmt. Sie neigte den Kopf zur Seite, das sonnengebleichte Haar rutschte ihr ins Gesicht und verbarg die grünen Augen. »Dir ist schon klar, was du tust, oder?«

»Mineralwasser mit Kohlensäure trinken?«

»Du erhebst dich über gewöhnliche Leute, bildest dir ein, du seist schlauer und verstündest mehr als sie. Ich glaube, das ist nur ein Ausdruck deiner tiefen Unsicherheit.«

Plötzlich spürte Leo den Wein von gestern Abend – nur ein kleiner Fehltritt – hinter der Stirn.

»Wenn du so weitermachst, bist du bald ein alter, verbitterter Sack.«

»Das war ich schon mit sechzehn«, sagte Leo.

»In den zwölf Monaten, die ich dich kenne, bist du mindestens fünf Jahre gealtert.«

»Weil ich nur schrittweise mein wahres Gesicht gezeigt habe.«

Anita lächelte und schüttelte den Kopf. »Gestern habe ich einen Anruf bekommen.« Sie hob das graue T-Shirt mit dem Amnesty-Schriftzug auf.

»Und?«, fragte Leo.

»Es war Bill, mein krimineller kleiner Bruder.« Sie streifte das T-Shirt über und zog es über die Knie.

»Ich dachte, du redest nicht mit deiner Familie?«

»Bill ruft mich manchmal an, wenn er Angst hat.«

»Und wovor hat er jetzt Angst?«

»Mama hat gedroht, den Windpark in Stadland zu verkaufen. Außerdem gibt es irgendwelchen Ärger mit dem Nachbarn. Er will nicht ausziehen.«

Leo fuhr sich durch das kurze, dunkle Haar, das an den Schläfen leicht ergraut war, und fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Das altbekannte Zittern in Armen und Beinen meldete sich zurück.

War das etwa Rino? War Rino Gulliksen schon wieder irgendwo angeeckt?

Er stand auf, stützte die Hände in die Hüften und atmete tief ein. »Ich dachte, der Windpark gehört Charlie?«

»Spinnst du?« Anita setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Alles gehört Mama.«

»Erzähl.«

»Charlie hat das Grundstück von Papa als Vorschusserbe bekommen, aber Mama hat den Windpark finanziert, und im Gegenzug ging das Eigentum auf sie über. Sie hat die Banken überredet und dafür gesorgt, dass die Kommune und Google für die ersten zehn Jahre allen Strom kauften, der dort produziert wurde. Charlie arbeitet dort nur, und das für einen Hungerlohn.« Sie legte sich wieder auf den Rücken und streckte die Arme aus. »Sie hat ihren eigenen Sohn über den Tisch gezogen.«

»Und was befürchtet Bill?« Leo ließ sich wieder in den Liegestuhl fallen. »Ich dachte, der Park wäre ihm egal?«

»Offenbar droht sie auch damit, das Hotel zu verkaufen.«

»Das Asylantenwohnheim?«

Sie nickte. »Selje Fjordhotel, das Heim meiner Kindheit, die Perle von Stad.«

»Ich dachte, die Asylbranche boomt?«

»Nicht mehr.«

Leo verschlang sie mit den Augen, er hätte ewig sitzen bleiben und sie anschauen können, mit oder ohne T-Shirt. Er hatte Anita vor genau einem Jahr im Sjøflyhavna Kro kennengelernt. Ganz zufällig. Sie hatten nebeneinander in der Abendsonne gesessen und versucht, halbwegs würdevoll Muscheln in Tomatensauce zu essen. Sie hatte eine lustige Bemerkung über die Schweinerei gemacht, als er sich die ölige Soße mit der Serviette aus dem Gesicht wischte. Sie war studierte Sozialarbeiterin, 38 Jahre alt und arbeitete als Lehrerin für verhaltensgestörte junge Einwanderer. Frauen wie sie hatten normalerweise Dinge im Gepäck, mit denen er nicht zurechtkam: skeptische Kinder aus früheren Beziehungen, eine feste Vorstellung vom »guten Leben«, das sie anstrebten, und einen Exmann mit Vollbart und unterdrückter Wut, der hinter den Kulissen lauerte. Aber Anita war nicht so. Scheinbar ohne Altlasten. »Ein paar Fehler habe ich gemacht«, hatte sie geantwortet, als er nach früheren Freunden gefragt hatte, mehr nicht. Seit vier Monaten wohnten sie nun zusammen auf Gåsøya.

Bis jetzt war alles wider Erwarten gut gelaufen. Aber wie gut kennt man eigentlich eine andere Person? In diesem Moment fiel ihm auf, dass er im Grunde herzlich wenig von ihr wusste.

»Die Branche war wirklich ein Riesenboom«, erzählte Anita. »Der Krieg in Syrien, die Flüchtlingskrise. Aber inzwischen hat es sich gelegt.«

»Liegt das an der neuen Regierung?«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Flüchtlinge werden in Lagern in Nordafrika und der Türkei zurückgehalten. Wer auf dem Mittelmeer aufgegriffen oder gerettet wird, wird zurückgeschickt. Die Anzahl der Asylbewerber in Norwegen ist drastisch zurückgegangen. Die Heime sind leer.«

»Wie traurig für die Asylbarone … und -baronessen.«

»Du tust es schon wieder.«

»Was?«

»Über andere lästern.«

»Es wird doch noch erlaubt sein, über Opportunisten zu scherzen, die sich am Unglück anderer Menschen eine goldene Nase verdienen.«

Anita setzte sich auf und schlug mit der flachen Hand nach einer Stechmücke auf ihrer Wange. Dann untersuchte sie das zerquetschte Insekt und schnipste es mit dem Zeigefinger von der Hand.

»Andere würden sagen, dass sie den Behörden helfen, ein akutes Problem zu lösen.«

»Du willst doch nicht behaupten, dass deine Mutter sich aufopfert, um anderen zu helfen?«

»Im Gegenteil. Sie ist eine verdammte Rassistin.«

»Aha, du spielst die Rassistenkarte?«

Sie kicherte. »Bill tut mir einfach nur leid. Er hat es nicht leicht gehabt. Er hat immer davon geträumt, einmal das Hotel zu übernehmen. Der alte Junkie träumt davon, es in seiner einstigen Schönheit auferstehen zu lassen.«

»Hat er genug Geld, um euch auszubezahlen?«

Anita senkte die wohlgepflegten Augenbrauen und sah ihn an. »Hier geht es nicht um Geld.«

»Natürlich nicht.«

»Der Windpark ist hundertmal mehr wert als das Hotel.«

»Dann wäre es doch eigentlich gut, wenn sie den Windpark verkauft?«

»Das ist mir scheißegal.«

»Und wer, glaubt dein Bruder, wird in dem Hotel wohnen?«

»Keine Ahnung, aber Stadland ist ein besonderer Ort.«

»Ich dachte, du hasst es?«

»Stad hasse ich nicht. Ich hasse meine Mutter.«

Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, und sofort wurde es kühler auf der Terrasse. Leos Magen knurrte. Er bewegte sich im Liegestuhl hin und her, um es zu übertönen.

»Warst du seit letztem Weihnachten noch einmal dort?«, fragte Leo.

Sie schüttelte den Kopf.

»Warum nicht? Es war doch so nett.«

Anita fuhr auf. »Kannst du nicht einmal ernst über eine Sache reden?«

»Ich versuche nur, die Stimmung etwas zu lockern.«

»Sogar deine Sonnenbrille ist ironisch.«

»Die habe ich von meiner Mutter geerbt.«

»Du schwitzt unter den Armen.«

»Iii«, sagte Leo und schnüffelte an seinen Armhöhlen.

Durch die Terrassentür drang das Intro von »No Expectations« mit Brian Jones an der Slide-Gitarre, einer seiner letzten Beiträge, bevor er sich für immer verabschiedete.

»Stones?«, sagte Anita und streckte die Zunge heraus. »Ich hasse die Stones.«

Leo lachte leise, lehnte sich zurück und starrte in den Himmel.

Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht? Warum hatte er Rino Gulliksen von der Steinhütte neben dem Windpark erzählt? Warum hatte er gegen besseres Wissen eine wandelnde Katastrophe in die Nähe von Anitas Familie gebracht?

Er konzentrierte sich auf einen Schwarm Möwen, der hoch am Himmel flog. Der Grund, warum sie dort flogen, war entweder Fressen, Flucht oder Fortpflanzung. Alles in der Natur drehte sich um diese drei Dinge. Feed, flight and fuck.Wenn es Nahrung war, was gab es dort oben? Vielleicht Insekten – und die waren aus einem dieser Gründe dort. In seinem Fall ging es mehr ums Essen und weniger um Fortpflanzung, obwohl er gelegentlich daran dachte, seit er mit Anita zusammen war. Sie hatten nie ein Wort über das Thema verloren, wahrscheinlich war sie nicht dafür zu haben.

»Bereit zum Abendyoga?«, fragte Anita.

»Immer bereit zu Nacktyoga«, sagte Leo und stand auf.

4

Zur gleichen Zeit, als Anita und Leo sich in Bærum in der Sonne aalten, trat Børre Fink, Studienrat a.D., in die Pedale, um von Selje zu seinem neuen Freund zu gelangen, der in der Steinhütte bei den Windrädern am Hoddevikfjell wohnte. Luftlinie waren es nur elf Kilometer von Finks Wohnung, doch die Straße schlängelte sich zweiundzwanzig Kilometer lang kreuz und quer durch Stadland.

Dass der pensionierte Biologielehrer auf seinem Weg durch den westnorwegischen Regenwald konstant das Tempo halten konnte, verdankte er dem Elektromotor am Hinterrad. Ein Kniefall, zweifelsohne. Batterien waren ein Werk des Teufels, von unschuldigen Kinderhänden aus den Minen des Kongo gefördertes Kobalt und Lithium, aber sie waren immer noch besser als die alte Vespa, die er letztes Jahr verkauft hatte. Ein normales Fahrrad wäre das Beste, aber er wollte seine Zeit und Kraft lieber darauf verwenden, mehr Vögel zu finden, die Verletzten unter ihnen zu retten und den Toten ein würdiges Begräbnis zu geben.

Studienrat Fink war klein und dürr wie ein Besenstiel. Sein kohlschwarzer Spitzbart und die lange graue Mähne flatterten im Wind. Er trug eine beige Kniebundhose aus Cord, weiße Wollstrümpfe, einen roten Norrøna-Anorak mit Fellkapuze und frisch imprägnierte Bergstiefel. Auf seinem Kopf saß ein Motorradhelm, eine silberfarbene Schüssel mit Chamoisleder an den Seiten, das seine Ohren wärmte und ihm einen Hauch von London-Dandy anno 1968 verlieh. Swinging London … Damals hatte Fink am King’s College afrikanische Geschichte studiert, die Beatles vergöttert, und das Leben war unkompliziert gewesen.

Seit vielen Jahren kämpfte er eine einsame Schlacht. Oft kam es ihm vor, als sei er der einzige Mensch auf der Welt, der begriffen hatte, wie wichtig der Kampf gegen die Windräder in Stadland war. Nun aber hatte er einen potenziellen Schildträger gefunden, seinen Sancho Pansa im Krieg gegen den Fostervold-Clan und deren Windmühlen.

Der Mann nannte sich Even. Der Kerl aus der Steinhütte.

Es war Zeit zu handeln. Jemand musste diese Monster aus Eisen und kohlefaserverstärktem Plastik stoppen, die die unberührte Küste verschandelten und Jahr für Jahr Massen seiner unschuldigen, gefiederten Freunde umbrachten.

Der örtliche Vogelschutzverein kümmerte sich nur um die symbolträchtigen Arten – Seeadler, Königsadler und Uhus. Børre Fink wollte für die breite Masse kämpfen – Möwen, Seeschwalben und Gänse. Auch das einfache Vogelvolk hatte das Recht auf ein vollwertiges Leben, ohne gegen Rotorblätter zu fliegen und durch die Gier der Menschen zerfetzt zu werden. Diesen Sommer war es besonders schlimm gewesen. Fast jeden Tag Nebel oder tiefhängende Wolken. Er hatte schon über vierzig tote Vögel gefunden und mindestens dreißig verletzte Opfer gerettet, bevor sie von Nerzen, Füchsen oder hungrigen Artgenossen gefressen wurden.

Als er das baumlose Plateau erreichte, wehte ihm der Sprühregen direkt ins Gesicht, es fühlte sich an wie Millionen Nadelstiche auf der Haut. Er duckte sich so gut wie möglich, summte den Beatles-Hit »Your Mother Should Know« und hielt den Lenker mit einer Hand, um mit der anderen die hervorstechende Adlernase zu schützen, die er sich ’79 am Kilimandscharo verbrannt hatte.

Der Prozess um die Windräder war eine Parodie gewesen. Nachdem das Energiedirektorat die Konzession an den Fostervold-Clan vergeben hatte, reichten die Vogelschützer Klage ein. Er erinnerte sich noch genau an die erbärmliche Antwort der Behörden:

Nach einer gründlichen Prüfung der Angelegenheit ist das Departement zu dem Schluss gekommen, dass die Folgen für die Vogelwelt nicht von solchem Umfang sind, der gegen den Bau von Windkraftanlagen auf diesem Gebiet spricht.

Sie waren sogar dreist genug zu behaupten, die Windräder stünden auf ungenutztem Terrain und seien von den Wohngebieten in Stad nicht sichtbar.

Erstunken und erlogen.

Natürlich sah man die hundertfünfzig Meter hohen Mühlen von Selje aus, sogar von seinem Wohnzimmerfenster am Strandweg. Sie standen am Horizont und wedelten aufdringlich mit ihren langen, scharfen Armen wie Missgeburten von einem anderen Planeten.

Der Duft von feuchtem Nadelwald und verrottetem Tang kitzelte ihn in der Nase, als er die Hügel auf der Nordseite der Halbinsel hinabrollte, durch dichte Tannenwälder, vorbei an der Hirschfarm bis zum Vanylfsfjord, wo die Straße in westlicher Richtung an der Küste verlief.

Das war sein Lieblingsstück, abgeschirmt vom beißenden Wind, der immer vom Atlantik wehte.

Es war Ebbe. Große schwarze Steine ragten aus dem Wasser, Büschel aus hellbraunem Tang bedeckten sie wie wild wachsende Schamhaare – ganz nach seinem Geschmack, wie damals in den Siebzigern, als »natürlich« noch kein Schimpfwort gewesen war.