Der Boulevard der Träume - Núria Pradas - E-Book

Der Boulevard der Träume E-Book

Núria Pradas

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Beschreibung

Schillerndes Hollywood. Bewegte Zeiten. Und eine Frau, die für ihren Herzenswunsch kämpft.

Los Angeles, 1932. Die selbstbewusste junge New Yorkerin Sophie Simmons folgt ihrem Herzen nach Hollywood: Sie träumt von einer erfolgreichen Zukunft als Trickfilmzeichnerin. In der Filmwelt Fuß zu fassen, scheint zunächst aussichtslos, doch Sophie lässt sich nicht entmutigen. Als sie eine Anstellung bei Walt Disney findet, muss sie jedoch feststellen, dass die glamouröse Welt der Filmstudios ihre Schatten birgt – besonders für die weiblichen Angestellten. Allen Widerständen und Enttäuschungen zum Trotz verliert Sophie weder die Hoffnung auf eine große Karriere noch ihren unerschütterlichen Glauben an die wahre Liebe. Während zwei Männer um den Platz in ihrem Herzen kämpfen, gerät sie im Filmstudio zwischen die Fronten – und plötzlich muss sie eine Entscheidung treffen, die ihre ganze Welt auf den Kopf stellt.

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Seitenzahl: 440

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NÚRIA PRADAS arbeitete zunächst als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach dem Erfolg von Die Kleidermacherin, einer Hommage an ihre Heimatstadt Barcelona, widmet sie sich in Der Boulevard der Träume ihrer Faszination rund um die Traumfabrik Hollywood und um die Anfänge der Walt Disney Studios. Der Roman wurde 2020 mit dem renommierten Premio Ramón Llull ausgezeichnet.

Außerdem von Núria Pradas lieferbar:

Die Kleidermacherin

Die Parfümerie der Liebe

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

NÚRIA PRADAS

ROMAN

Aus dem Katalanischen von Sonja Hagemann

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Tota una vida per recordar bei Planeta, Barcelona.

Die Übersetzung ins Deutsche wurde gefördert von

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 der Originalausgabe by Núria Pradas

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd GmbH

Umschlagmotiv: © Marie Carr / Trevillion Images / mauritius images / David Tran /Alamy / www.buerosued.de

Redaktion: Anja Rüdiger

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößnec

ISBN 978-3-641-28242-4V001

www.penguin-verlag.de

Für dich, Clàudia.

Durch dich ist so vieles möglich geworden.

Zum Beispiel dieser Roman.

Ja, Fred Astaire war toll. Man darf aber nicht vergessen, dass Ginger Rogers genau das Gleiche gemacht hat. Nur rückwärts … und mit Stöckelschuhen.

Bob Thaves

AUF DER JAGD NACH EINEM TRAUM

April 1932 September 1934

Auf der Jagd nach einem Traum

Jeder Verrückte, der gern Tausende von Zeichnungen für ein paar Meter Film anfertigen will, ist herzlich willkommen.

Winsor McCay

KAPITEL 1

DIE VERGESSENEN

Die Landschaft flog vor den Augen von Sophie vorbei, die den Kopf ans Zugfenster gelehnt hatte und hinausblickte.

Lau und feucht hing die Luft im Waggon.

Sophie schloss die Lider und ließ sich von der Sonne liebkosen, die träge durch die Scheibe hereinfiel. Augenblicklich blitzten in ihrem Kopf Bilder auf, Szenen einer von ihr so sehr herbeigesehnten Zukunft. Monatelang hatte Sophie sich diese Zukunft Nacht für Nacht erträumt, sodass sie nun ihre Gedanken beherrschte und darin keinen Platz mehr für irgendetwas anderes ließ.

Sophie war klar, dass sie auf vieles würde verzichten müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Aber sie war dazu bereit, das schützende Nest ihres Elternhauses hinter sich zu lassen, ihre Freunde und die Geborgenheit der geliebten Heimatstadt.

Natürlich hatte Sophie Angst; selbstverständlich hatte die Ungewissheit sie nachts oft wach gehalten. Aber es war ihr gelungen, sich allen Zweifeln zu stellen. An diesem Punkt hatte sich vor ihr ein strahlender Himmel aufgetan, und sie war sich ihrer Überzeugung sicher gewesen: Genau das wollte sie. Sie wünschte es sich mehr als alles andere, koste es, was es wolle. Dafür war sie zu jedem Opfer bereit, sogar zu diesem hier, dem ersten: der langen Reise von New York an die Westküste. Um Los Angeles zu erreichen, musste Sophie nämlich drei lange Tage und drei unendliche Nächte in einem warmen, lauten Zug verbringen, in dem bald alles voller Ruß war.

Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, wie hart die Wochen vor ihrer Abreise werden würden.

Der Zug bewegte sich in gleichmäßigem Rhythmus voran, und die immer größere Entfernung ließ Sophies Erinnerungen langsam verblassen. Aber irgendwann kehrte alles zurück, was sie erlebt hatte, als Erstes die Ereignisse der letzten Stunden. Wie eine scharfe Kralle gruben sie sich ihr in die Brust und lösten ein Gefühl der Leere aus.

»In dieser unglücklichen Zeit müssen Pläne geschmiedet werden, die auf den Vergessenen aufbauen, auf bislang nicht organisierten, aber unverzichtbaren Einheiten wirtschaftlicher Kraft. Pläne wie jene aus dem Jahr 1917, die von unten herauf entstanden sind, nicht von oben hinab, und bei denen man wieder einmal sein Vertrauen in die Vergessenen am Fuß der Wirtschaftspyramide setzt.«

Am Abend des 7. April 1932 wandte sich von Albany in New York aus der Gouverneur des Staates und Präsidentschaftskandidat Franklin D. Roosevelt per Radio an die Nation.

Anders als Präsident Hoover versprach der Herausforderer, sich der Probleme aller Wirtschaftszweige des Landes durch die schwere Krise anzunehmen. Seine Lösungen sollten die tragische Situation der sozial benachteiligten Schichten verbessern, jener Menschen, die die Wirtschaftskrise am eigenen Leib zu spüren bekamen und am meisten darunter litten.

Die Eheleute Simmons hatten sich – ihren unabänderlichen Gewohnheiten entsprechend – wie jeden Abend zur gleichen Stunde im Wohnzimmer eingefunden und warteten auf ihre Töchter, um mit ihnen zusammen zu essen. Ebenfalls wie gewöhnlich hatte Joseph Simmons seinen Platz im Ohrensessel vor dem Kamin eingenommen und las die New York Times, während im Hintergrund das Radio lief. Seine Frau Vera saß hingegen mit dem Rücken zum Erker auf dem Dreisitzersofa und strickte.

Das Ehepaar lebte mit seinen beiden Töchtern, Elionor und Sophie, mitten in der Upper West Side in der 74th Street, fast an der Ecke zur Amsterdam Avenue. Sie bewohnten ein Sandstein-Reihenhaus, ein charakteristisches Townhouse, wie sie diese Gegend prägten.

Häuser dieses Stils, der bald als typisch für viele Viertel von New York gelten würde, entstanden seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, um die wachsende Mittelschicht zu beherbergen.

Konkret handelte es sich beim Zuhause der Simmons um ein hübsches Gebäude im Italianate-Stil, dessen Eingangstür man wie auch bei den Nachbarn über Stufen mit schmiedeeisernem Geländer erreichte. Unterhalb des Eingangs befand sich der Zugang zum Souterrain.

Im Erdgeschoss gab es große Bogenfenster und einen weiten Eingangsbereich, von dem aus eine Treppe zu den oberen Etagen führte. In den beiden Räumen links und rechts davon hatte Joseph Simmons, ein bekannter und beliebter Arzt, bis vor zweieinhalb Jahren sein Arbeitszimmer und seine Praxis gehabt.

Das Prachtstück des Hauses war ohne Zweifel der gusseiserne Vorbau, der das große Wohnzimmer im ersten Stock zierte. Im Erkerzimmer, wie die Simmons es nannten, fand das Leben der Familie statt. Von jeher kam sie in dem Raum mit weichen Teppichen, Kamin, Radio, bequemen Sofas und Sesseln zusammen, um zu lesen, zu plaudern, Gäste zu empfangen und besondere Anlässe zu feiern. Auf dieser in helles Licht getauchten Bühne spielte sich das Familienleben der Simmons ab, das bis vor Kurzem noch so strahlend und erfüllt gewesen war.

Aber es hatte sich alles geändert, weil der unheilvolle Schwarze Donnerstag des 24. Oktobers 1929 ihr Leben so wie das von Tausenden und Abertausenden Amerikanern auf den Kopf gestellt hatte.

Nur eine Woche nach dem Kurseinbruch beliefen sich die Verluste an der Börse auf etwa achtzehn Milliarden Dollar, was den Gewinnen eines ganzen Jahres entsprach. Weder das Eingreifen des Bankensektors noch das von Finanzriesen wie Rockefeller konnte die Entwicklung stoppen, genauso wenig wie die Versuche von Präsident Hoover, der Bevölkerung Mut zuzusprechen.

Auf die erste Welle von Selbstmorden unter Aktionären, die in wenigen Stunden ein wahres Vermögen verloren hatten, folgte der Mangel an Krediten. Gescheiterte Investoren konnten ihre Schulden nicht bezahlen, wodurch die Banken kein Geld einnahmen. Die Bankreserven schrumpften, was vor allem kleine Sparer und schwächere Firmen traf, sodass viele dieser Unternehmen eins nach dem anderen schließen mussten.

Durch den Börsenkrach hatte Dr. Simmons nicht nur die Ersparnisse eines ganzen Lebens verloren, sondern auch einen Großteil seiner Patienten, die ihn jetzt nur noch im äußersten Notfall aufsuchten.

Seine berufliche Tätigkeit reduzierte sich auf ein paar Hausbesuche hier und da. Aus diesem Grund hatte er irgendwann die Praxis schließen müssen.

Seitdem lag ein trübes Licht über dem bisher so erfüllten und glanzvollen Leben von Vera Simmons.

Vielleicht hatte sie sich deshalb hinter einer dicken Mauer aus Gleichgültigkeit verschanzt und übte sich jeden Tag in der Kunst der Verstellung. Statt ihre Verbitterung zum Ausdruck zu bringen, verhielt sich Vera meistens so, als wäre alles wie immer.

Im Erkerzimmer hatte sie einst zu ihrer Stärke gefunden, deshalb tat sie nun alles, um angesichts des drohenden Verfalls die Pracht des Raumes zu bewahren.

Tatsächlich hatte sich hier nichts verändert. Noch immer verströmten vom Erker aus Azaleen, Pfingstrosen und natürlich New Yorker Rosen ihren Duft wie in den guten alten Zeiten. Die Spitzengardinen filterten das Licht und hielten eine Welt in Aufruhr fern, die Vera nicht verstand.

Joseph hatte die Zeitung zusammengefaltet, die jetzt auf seinem Schoß ruhte, und lauschte mit voller Aufmerksamkeit den Worten des Gouverneurs:

»So mancher behauptet, eine riesige Investition öffentlicher Gelder vonseiten der föderalen sowie der Staats- und der lokalen Regierungen würde das Arbeitslosenproblem komplett lösen. Aber eins ist offensichtlich: Selbst wenn wir viele Milliarden Dollar aufbringen und sie in nützliche öffentliche Bauvorhaben stecken würden, könnte man mit all diesem Geld nicht die zurzeit sieben oder zehn Millionen erwerbslosen Menschen beschäftigen.«

In diesem Moment kehrte Sophie nach Hause zurück und wurde von der strahlenden Sonne in Empfang genommen, die durch die weißen Gardinen des Erkers hereinfiel. Sophies Wangen leuchteten so rosig wie das abendliche Licht, und ihre Augen glänzten.

Joseph stellte das Radio aus.

Schon bald würde Sophie ihren Abschluss an der Washington Irving High School machen, wo sie sich auf Design spezialisiert hatte, weil sie eine künstlerische Ader hatte. Das hatte sie von klein auf bewiesen und sich an der Washington Irving durch ihr zeichnerisches Talent hervorgetan.

Und da Sophie mit Abstand Josephs liebste Tochter, sein Augenstern, war, platzte er als ihr größter Bewunderer beinahe vor Stolz.

Sophies Mutter hingegen betrachtete ihre Entwicklung mit Unbehagen. Vera war eine Frau, die immer alles genau verstehen wollte: Warum etwas geschah, aus welchem Anlass, wohin es führen würde … Und je vorhersehbarer alles war, desto besser.

Für sie war es konsequent und verständlich, dass Elionor als Tochter eines Arztes Krankenschwester geworden war und in einer Klinik eine Anstellung gefunden hatte. Dafür war sie erzogen worden: für eine anständige Arbeit, nützlich und praktisch, mit der sie sich den Lebensunterhalt verdienen und ihre Zukunft sichern konnte.

Ihre jüngste Tochter Sophie hingegen schien in Veras Augen nur ihre Zeit zu vergeuden, wenn sie stapelweise Blätter mit Figuren bemalte oder Nachmittage lang die Tiere im Zoo beobachtete und zeichnete.

Vera war klar, dass ihr Mann für die ganze Sache mitverantwortlich war, da er die verrückten Ideen des Mädchens noch unterstützte.

Und wenn sie schon einmal dabei war, gab Vera einen Teil der Schuld an Sophies Neigungen auch den Lehrern der Highschool. Vor allem einer von ihnen, ein gewisser Bob Waldman, schien einen großen Einfluss auf Sophie auszuüben und hatte ihr wohl einen Floh ins Ohr gesetzt.

Sophie hatte offensichtlich keine Ahnung davon, was ihrer Mutter da durch den Kopf ging, auf welche Fragen sie vergeblich eine Antwort suchte. Denn an diesem Abend brachte Sophie eine echte Bombe zum Platzen.

»Ich gehe nach Los Angeles«, verkündete sie ganz plötzlich, ohne ihre Eltern zur Begrüßung zu küssen oder auch nur den Hut abzunehmen.

Ja, sie hatte es gleich gesagt und sofort den Eindruck gehabt, dass ihr eine schwere Last von den Schultern genommen war. Aber während sie aufatmete, hingen ihre Worte verloren im Raum, und es breitete sich tiefe Stille aus.

Vera, die beim Stricken völlig in ihre Grübeleien versunken gewesen war, schaute von ihrer Handarbeit auf und funkelte Sophie an, die den Blick abwandte.

Dass dann auch noch ein paar Maschen von der Nadel rutschten, als das Strickzeug mit einer zackigen Bewegung auf dem Sofa landete, verhieß nichts Gutes.

»Würdest du das bitte noch einmal wiederholen?«, brachte Vera schließlich hervor.

Joseph betrachtete Sophie derweil mit neugierigem, aber ein wenig beunruhigtem Blick.

»Ich habe gesagt, dass ich nach Los Angeles gehen will«, wiederholte sie mit kaum vernehmbarer Stimme. Aber sie fasste sofort neuen Mut und fuhr mit begeistertem Lächeln fort: »Ich habe nämlich ein Stipendium für das Chouinard Art Institute und fange im September dort an.«

Dann verstummte sie und wartete beklommen auf die Reaktion ihrer Eltern.

Josephs Augen leuchteten.

Die von Vera hingegen waren weiterhin mit eiskaltem Blick auf ihre Tochter gerichtet.

Da keiner der beiden den Mund aufmachte, fügte Sophie lieber noch hinzu: »Ich hab mich vor Monaten darum beworben, weil Mr Waldman mich dazu ermutigt hat. Chouinard ist die renommierteste Kunstschule …«

»Aber was sagst du denn da, Sophie? Wovon redest du nur?«, fiel Vera nun ihrer Tochter ins Wort und presste mit enttäuschter Miene die Lippen aufeinander.

»Mutter, das ist so eine große Chance, verstehst du das denn nicht? Im Chouinard Art Institute werden sowohl die schönen Künste als auch Gebrauchskunst unterrichtet. Dort kann ich die nötigen Fähigkeiten erwerben, um in einem Trickfilmstudio zu arbeiten.«

Ihre Stimme zitterte ein wenig, da der stechende Blick ihrer Mutter sie weiterhin zu durchbohren schien.

»Das ist mein Traum. Ich möchte Animatorin werden.«

»Dein Traum, sagst du? Hast du mal daran gedacht, in was für einer Situation wir uns gerade befinden?«, versetzte Vera und brachte jede einzelne Silbe voller Bitterkeit vor. Sie nahm ihren Ehemann ins Visier, so als wäre in Wirklichkeit er am Börsenkrach schuld. Dann fixierte Vera wieder ihre Tochter, und ihr noch grimmigerer Tonfall machte den Schmerz in ihrer Seele deutlich: »Womöglich hast du vergessen, dass dein Vater die Praxis schließen musste.«

»Vera …«, versuchte Joseph sie zu unterbrechen.

»Und vielleicht ist es dir ja entgangen, unter welchen Anstrengungen deine Schwester zum Einkommen der Familie beiträgt«, fuhr Vera fort, ohne Joseph zu beachten. »Oder glaubst du etwa, dass es ihr Traum war, den ganzen Tag in einem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt zu verbringen?«

Inzwischen hatte jeglicher Mut Sophie verlassen. Trotzdem fasste sie sich ein Herz und versuchte die Argumente ihrer Mutter zu widerlegen: »Mir ist schon klar, dass ich arbeiten werden muss, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich habe mir alles gut überlegt, weil ich euch nun wirklich nicht auf der Tasche liegen will. Deshalb habe ich im Laufe des Schuljahrs auch das Geld gespart, das ich mit Zeichenunterricht verdient habe. Dadurch habe ich genug für die Fahrkarte und die ersten Tage. Außerdem hat Mr Waldman für mich ein Empfehlungsschreiben verfasst, er kennt nämlich einen Animator in den Walt Disney Studios und glaubt …«

»Mr Waldman? Schon wieder dieser Mr Waldman! Warum steckt Mr Waldman die Nase nicht in seine eigenen Angelegenheiten?«, rief Vera immer lauter, während sie empört auf dem Sofa herumrutschte und sich dann an ihren Ehemann wandte, als wäre Sophie gar nicht zugegen.

»Hast du das mitbekommen, Joseph? Kannst du das fassen? Jetzt sag doch auch mal was dazu!«

»Ich denke, wir sollten ihrem Anliegen Gehör schenken.«

»Ich hingegen finde, dass wir ihr schon viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt haben. Sie ist doch erst siebzehn, Joseph, und jetzt will sie ganz allein nach Los Angeles, in den heutigen Zeiten! Begreifst du das nicht? Wie soll sie sich denn ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn sie nichts weiter kann als zeichnen? Offensichtlich will sie einmal quer durchs Land fahren … um in einem Trickfilmstudio zu arbeiten!«

Eisiges Schweigen machte sich im Raum breit, als Vera verstummte.

»Ich wollte immer schon im Bereich Animation arbeiten, Mutter. Für mich sind Zeichentrickfilme die reinste Magie, aber es handelt sich auch um eine Form von Kunst. Und du …«

»Ich? Es reicht, über dieses Thema will ich nichts mehr hören.«

Vera griff wieder nach ihren Stricknadeln und seufzte, als sie die fallen gelassenen Maschen bemerkte.

Sophie betrachtete mit stillem Hilferuf ihren Vater.

Er antwortete mit einer vielsagenden Geste, mit der er sie um Geduld und Zeit bat und auch darum, jetzt erst einmal gefasst zu bleiben.

Als Elionor nach Hause kam und noch in Schwesternuniform den Raum betrat, lief sie gegen eine Mauer aus undurchdringlichem Schweigen.

»Was ist denn los?«, fragte sie, weil ihr sofort klar war, dass etwas nicht in Ordnung war. Wahrscheinlich steckte eine der verrückten Ideen ihrer Schwester dahinter, dachte sie, die ihre Mutter so auf die Palme brachten.

»Was hast du dieses Mal verbrochen?«, fragte sie Sophie in bissigem Tonfall.

Vera stand auf, legte dieses Mal die Handarbeit vorsichtiger weg und verkündete: »Wir essen in einer Viertelstunde, macht euch dafür bitte ein bisschen frisch. Vor allem du solltest dich umziehen, Elionor, du siehst ja furchtbar aus.«

Elionor biss sich auf die Zunge, weil es ja doch nichts brachte, mit ihrer Mutter zu diskutieren, wenn sie diesen schneidenden Tonfall anschlug. Vera begriff offenbar nicht, dass man nach einem langen Arbeitstag im Krankenhaus gar keinen anderen Anblick bieten konnte. Und erst recht nicht nach der Fahrt quer durch New York in einer U-Bahn voller Menschen, die nach Schufterei rochen, nach Müdigkeit und manchmal nach Armut.

Wütend nahm Elionor die runde Haube ab, unter der ihre blonden Locken zum Vorschein kamen, und folgte Vera aus dem Zimmer.

Joseph trat an Sophie heran, die in einen Sessel gesunken war und den Blick auf das geometrische Muster des großen Teppichs gerichtet hielt. Er berührte sie am Ellbogen und zog sie sanft hoch.

»Mein Mädchen, erklärst du mir nach dem Essen die Sache mit diesem Stipendium?«

Sophie lächelte, und ihre grauen Augen begannen wieder hoffnungsvoll zu leuchten.

Es waren zwei Monate mit ständigen Drohungen, voller Unbehagen und Streitereien.

Verletzendes Schweigen empfing Sophie jedes Mal, wenn sie das Haus betrat. Abends legte sie sich nach dem ewigen Kampf mit ihrer Mutter erschöpft ins Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf.

An wieder anderen Abenden war es glühende Wut, die ihr Herz erfüllte.

Vera hatte deutliche Worte gesprochen: Sophie war noch minderjährig und würde ohne Erlaubnis ihr Elternhaus nicht verlassen dürfen. Und wenn sie doch wegging, würde man sie eben zur Rückkehr zwingen. Was für ein erniedrigender Gedanke! Aber Vera wollte alles tun, was nötig war, damit sich ihre Tochter diese Idee aus dem Kopf schlug.

Und ihr Vater schien das Handtuch geworfen zu haben.

Aber Sophie hatte inzwischen begriffen, dass ein Traum wie der ihre nicht einfach so in Erfüllung gehen würde. Sie würde dafür etwas riskieren müssen und war dazu bereit. Der Unterricht an der Kunstakademie würde erst im September beginnen. Sophie hatte jedoch beschlossen, direkt nach ihrem Abschluss umzuziehen, um sich ganz in Ruhe in Los Angeles einzurichten und Kontakt zu den Trickfilmstudios aufzunehmen.

Sie würde einfach alles tun, um ihren Traum zu verwirklichen. Vielleicht würde sie nicht sofort Arbeit in einem Studio finden, aber sie hatte zwei Hände und würde im Notfall eben als Tellerwäscherin oder Kellnerin arbeiten.

Sophie hatte sich eine einfache Fahrkarte mit dem Ziel Los Angeles gekauft und ging am Tag des Aufbruchs ohne Abschied aus dem Haus. Es war noch früh. Als sie das einzige Zuhause verließ, das sie je gekannt hatte, krochen langsam die ersten Strahlen der Morgensonne über die Straßen von New York.

Mit dem Koffer in einer Hand und ihrer Zeichenmappe unter dem anderen Arm wanderte Sophie umher, bis sie schließlich genug davon hatte und sich auf den Weg zum Bahnhof machte. Aufgeregt erreichte sie viel zu zeitig die Gran Central Station, wo trotz der frühen Stunde bereits viele Menschen hin und her liefen, die in alle Richtungen unterwegs waren.

Sophie ging am Informationsschalter vorbei und bewunderte wieder einmal die blaue Kuppeldecke mit den in goldener Farbe aufgemalten Sternbildern. Schweigend verabschiedete sie sich von den großen strahlenden Kronleuchtern, den Wandelgängen oberhalb des zentralen Foyers und dem Marmorfußboden, der trotz Tausender stets darüber eilender Füße immer makellos glänzte.

Die junge Frau wusste nicht, wann sie das nächste Mal nach New York zurückkommen würde, zu diesem Bahnhof, nach Hause. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie überhaupt je wiederkehren würde.

Beim plötzlichen Gewicht einer Hand auf ihrer Schulter befürchtete Sophie bereits, ihr Traum sei zerplatzt, bevor er auch nur angefangen hatte. Mit heftig klopfendem Herzen drehte sie sich ganz langsam um.

Was sie dann vor sich sah, war allerdings das lächelnde Gesicht ihres Vaters.

Zusammen suchten sie eines der Bahnhofscafés auf und fassten einander bei den Händen, als sie vor zwei Tassen Kaffee saßen. Dann reichte Joseph Sophie einen Umschlag mit Geld.

»Vater, das kann ich doch nicht annehmen … Ihr beide …«

Er ließ sie nicht aussprechen. »Nimm es und sei ganz unbesorgt. Du weißt ja, dass wir ein paar Wertgegenstände verkaufen mussten, um an Bargeld zu kommen. Es ist nicht viel, aber es gehört dir. Und du wirst es brauchen, glaub mir.«

Ihre Hände zitterten vor Rührung, als Sophie das Kuvert in ihre Tasche schob. »Aber Mutter … Wenn sie das erfährt …«

»Mach dir um sie mal keine Gedanken. Das regle ich schon irgendwie, deine Mutter ist nämlich ziemlich vorhersehbar. Ich werde ihr klarmachen, was für ein Skandal es wäre, wenn wir dich unter Zwang zurückholen. Da ist es ihr doch sicher auch lieber, dich glücklich in Los Angeles zu wissen. Außerdem werde ich ihr von all den wichtigen Familien erzählen, die ihre Kinder aufs Chouinard schicken. Du wirst schon sehen, in einem Monat wird sie bereits all unseren Freunden erzählen, dass sie eine Künstlerin zur Tochter hat, die mit einem Stipendium an einer der besten Kunstakademien Amerikas studiert.«

»Dabei wird sie aber nicht erwähnen, dass diese Tochter gern in einem Trickfilmstudio arbeiten würde.«

Wie so oft lachten sie verschwörerisch.

»Weißt du schon, was du nach der Ankunft dort tun wirst?«

»Zunächst schaue ich beim Chouinard vorbei und suche mir eine einfache Unterkunft für die ersten Wochen, bis ich Arbeit finde. Ich habe dir ja bereits erzählt, dass mir mein Lehrer ein Empfehlungsschreiben mitgegeben hat. Er kennt einen der Animatoren aus den Walt Disney Studios persönlich, bei dem ich mich vorstellen und meine Zeichnungen vorlegen soll. Durch Mr Waldmans Empfehlung wird bestimmt alles viel leichter, und vielleicht bieten sie mir eine Halbtagsstelle an. Mr Waldman hat mir erzählt, dass Studenten vom Chouinard bei Walt Disney sehr gefragt sind.«

Sophie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und seufzte verträumt. »Vater, dieses Stipendium gehört mit zum Besten, was mir im Leben je passiert ist. Und eine Anstellung in den Disney Studios wäre für mich die Erfüllung eines Traums. Wenn Mutter das doch nur verstehen könnte …«

»Du wirst deinen Weg gehen.«

Joseph betrachtete seine Tochter mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut im Blick.

Sophie würde die vielen gemeinsamen Momente des Glücks mit ihrem Vater fest in ihrem Herzen einschließen. Insbesondere den Zauber jenes Nachmittags, an dem er mit ihr ins Kino gegangen war und sie zum ersten Mal gezeichnete Figuren in Bewegung gesehen hatte.

»Es wird spät. Ich muss los zu ein paar Hausbesuchen«, sagte Joseph mit liebevollem, aber müdem Blick.

Die beiden standen auf und umarmten sich lange.

»Bleib einfach du selbst, meine Kleine. Egal, was passiert, sei du selbst und gib deine Träume nicht auf.« Als kaum vernehmbares Flüstern kitzelte die Stimme von Joseph Sophies Ohr. Dann löste er sich widerwillig von seiner Tochter und ging auf das große Foyer zu.

Sophie wurde das Herz schwer, aber sie zwang sich, die Schultern zu straffen und tief durchzuatmen. Jetzt durfte sie wirklich kein Feigling sein. Niemals. Stattdessen wollte sie sich ihres Vaters würdig erweisen.

KAPITEL 2

HYPERION AVENUE 2719

Nachdem der Zug die Mojave-Wüste und das noch verschlafene Pasadena durchquert hatte, erreichte er endlich Los Angeles.

Dort wurde Sophie von drückender Hitze in Empfang genommen und schleppte kraftlos ihren Koffer und die Arbeitsmappe durch den Bahnhof. Sophie stieg in ein Taxi und bat den Mann am Steuer, sie zu einem einfachen Hotel zu bringen, das nicht allzu weit vom Zentrum entfernt lag.

Sie hatte Glück, da der geschwätzige und hilfsbereite Taxifahrer alle Geheimnisse der Stadt zu kennen schien. Ihm kam nicht nur sofort ein Hotel in den Sinn, das genau ihren Vorstellungen entsprechen würde, sondern er kommentierte unterwegs auch alles, was es zu sehen gab, stolz wie ein enthusiastischer Fremdenführer.

Sophie betrachtete, was da vor den Wagenfenstern vorbeizog, und sah trotz der Begeisterung des Taxifahrers bloß eine Art deprimierende Wüstenlandschaft mit vielen leeren Grundstücken.

Im Zentrum waren die Straßen belebter, weil es dort ein paar Lagerhäuser, jede Menge Parkplätze und – in vielen Fällen leer stehende – Bürogebäude gab. Das alles hatte so gar nichts mit der bunten und kosmopolitischen Stadt gemein, aus der Sophie stammte.

Das Taxi hielt auf einer breiten Straße, dem Adams Boulevard. Dem Fahrer zufolge lag er im Westteil der Stadt und war mehr als anderthalb Kilometer lang.

Anderthalb Kilometer lang durchquerte diese Straße die Stadt wie ein Fluss, an dessen Ufern zwischen vielen viktorianischen Häuschen auch die eine oder andere Villa lag, führte in ihr Zentrum und in die südlicheren Viertel. Das Haus am East Adams Boulevard 127 gehörte zu den größeren Gebäuden, und ein Schild verwies darauf, dass es dort freie Zimmer für Gäste gab.

Als das Taxi verschwunden war, stand Sophie wie angewurzelt vor dem Klotz mit den vergilbten Mauern, der von zwei hohen Spitzdächern mit grünen Ziegeln gekrönt war. Durch einen ungepflegten Garten erreichte man eine kleine Veranda mit der Eingangstür.

Sophie ging durch den Kopf, dass der Zahn der Zeit wirklich an allem nagte. Und als sie sich auf der Straße umschaute, wurde dieser Gedanke nur bestätigt.

Die Kleider lagen ausgebreitet auf dem Bett. Blusen, Röcke, Jacken und das ein oder andere Sommerkleid warteten geduldig darauf, in den Schrank geräumt zu werden.

Während Wasser aus ächzenden Rohren in die Wanne lief, wusch sich Sophie im Bad erst einmal das Gesicht.

Als sie danach hochschaute, schien Elionor sie aus dem Spiegel heraus anzusehen. Sophie erwiderte den Blick.

Elionor war eine wahre Schönheit mit großem, schlankem Körper und ähnelte nicht nur in dieser Hinsicht ihrer Mutter.

Auch Sophie war hübsch, aber auf weniger unnahbare Art und Weise. Sie hatte ein angenehmes, herzförmiges Gesicht und helle, weiche Haut. Insgesamt war sie klein wie ihr Vater, schlank und wohlproportioniert, aber sie hatte nicht die gleiche elegante Haltung wie Vera und Elionor.

Elionors früher so langes Haar leuchtete wie Weizen und reichte ihr, der neuesten Mode entsprechend, inzwischen nur noch bis zu den Schulterblättern.

Sophie hingegen wusste, dass ihr selbst so ein Haarschnitt überhaupt nicht stehen würde, weil sich ihre rebellische Mähne ja doch nur aufmüpfig kräuseln würde. Da sich ihre dichten braunen Locken nur bändigen ließen, wenn sie sie zusammenband, wollte sie sie lieber nicht abschneiden.

Beide Schwestern hatten die grauen Augen ihres Vaters geerbt. In dieser Hinsicht ähnelten sie sich also. Oder vielleicht auch nicht, denn in Sophies Augen stand ein Blick voller Neugier, lebendig und oft ganz sanft. Manchmal glitzerte darin auch ein freches Funkeln, während Elionors Blick stets scharf wie ein Messer blitzte.

Sophie verfügte außerdem über einen in ihrer Familie einzigartigen Schatz: zwei Grübchen, die beim Lachen ihre Wangen zierten.

Vera betonte gerne, dass sie keine Ahnung hatte, wo die eigentlich herkamen.

Ja, die beiden Simmons-Schwestern waren wirklich sehr verschieden.

Elionors Verhalten, ihre Gesten und Worte wirkten immer ein wenig hochmütig und kühl.

Sophie hingegen hatte etwas Zerbrechliches an sich, ihr Blick war gütig und zeugte von Seelenruhe und Zuversicht.

Mit ihrem unterschiedlichen Charakteren und Interessen hatten sie einander nie besonders nahe gestanden. Sie waren nie gute Freundinnen gewesen, obwohl Sophie sich immer nach all den schönen Momenten gesehnt hatte, die ihrer Meinung nach zu einer engen Beziehung zwischen Schwestern gehören sollten. Während sie herangewachsen waren, hatten sich die Gegensätze aber nur noch weiter verstärkt, und die Simmons-Schwestern hatten im Leben ganz unterschiedliche Wege eingeschlagen.

Deshalb konnte Sophie einfach nicht verstehen, warum sie jetzt, in der Ferne, ständig an Elionor denken musste. Nur dreieinhalb Tage nach ihrem Weggang von zu Hause fehlte Sophie sogar das selbstgefällige Lächeln, das ihre Schwester üblicherweise auf den Lippen trug.

Vielleicht war Liebe unter Geschwistern ja genau das: sich nach dem Guten zu sehnen und nach dem weniger Guten ebenfalls.

Als Sophie Elionor im Spiegel die Zunge rausstreckte, begann das Bild der arroganten Schönheit zu verschwimmen und verschwand schließlich.

Träge begann Sophie sich auszuziehen. Nach dreieinhalb Tagen im Zugabteil fühlte sie sich schmutzig und klebrig. Damit ihre Haare nicht nass wurden, steckte sie sie sich zu einem hohen Knoten hoch und sank dann ins warme Wasser der Wanne. Mit einem genüsslichen Seufzen schloss sie die Lider und ließ den ganzen Körper von diesem wohligen Gefühl umfangen.

Am nächsten Morgen trat eine energiegeladene Sophie mit leuchtenden Augen und vor Aufregung geröteten Wangen in ihrem besten Sommerkleid auf die Straße. Ja, das Modell aus rosafarbener Shantungseide war bereits ein paar Jahre alt. Aber sie mochte es, denn es ließ sie groß und schlank wirken, weil es sich wie angegossen an ihre Taille schmiegte.

Aus Sophies lockerer Hochsteckfrisur lösten sich hier und da ein paar widerspenstige Locken, die sie unter einer gestrickten kleinen Baskenmütze in derselben Farbe wie das Kleid zu verstecken suchte.

In der rechten Hand trug Sophie die Mappe mit ihren Arbeiten, ihre Visitenkarte. In der Tasche, die über ihrer linken Schulter hing, steckten der Brief ihres Lehrers und folgende Adresse:

Walt Disney Studios

Hyperion Avenue 2719

Von diesem Studio hatte Sophie so oft geträumt und es sich auf unterschiedlichste Arten vorgestellt. Aber keine ihrer Fantasien hatte sie in eine verlassenen Gegend ohne Häuser geführt, in der Unkraut auf den Bürgersteigen wuchs und alle Ecken überwucherte.

Sophie blickte auf der zu dieser frühen Morgenstunde fast leeren Straße nach links und rechts, bis ihr ein kleines Gebäude neben einer Tankstelle auffiel. Davor standen die einzigen beiden Autos weit und breit.

Das kann doch nicht sein, dachte Sophie, hier bin ich bestimmt nicht richtig! Vielleicht hatte sie sich ja mit der Haltestelle der Yellow Car, der Straßenbahn von Los Angeles, vertan. Plötzlich fühlte sie sich ein wenig verloren, als sie sich langsam der Tankstelle näherte. Das weiß-grüne Gebäude daneben mit dem grünen Ziegeldach und der hübschen Rasenfläche schien einem Märchen entsprungen zu sein. Als sie nahe genug herangekommen war, konnte Sophie die Schrift auf einem Schild an der Tür lesen:

Walt Disney Studios

Sie schluckte, versuchte, ihre Nerven im Zaum zu halten, und schob die Tür zu ihren Träumen auf.

Sophie fand sich in einem großen, durch eine Trennwand unterteilten Raum wieder.

Links und rechts von dem kleinen Eingangsbereich befanden sich zwei geschlossene Türen. Auf den Schildchen daran stand links der Name Walt Disneys, rechts der seines Bruders Roy.

Sophies Herz machte einen doppelten Salto mortale. Da niemand ihre Anwesenheit bemerkt zu haben schien, schritt sie nun den Gang entlang, der sich vor ihr auftat. Zu ihrer Linken sah sie durch eine offene Tür einen großen Bereich, in dem man eng nebeneinander etliche Tische aufgestellt und dabei jeden Zentimeter gut ausgenutzt hatte.

Im dichten Zigarettenrauch erahnte Sophie ein paar Männer, die über Zeichentische gebeugt arbeiteten.

Einen Moment schloss sie die Lider und lauschte begeistert dem süßen Lied von Bleistiften, die übers Papier kratzten. Sie erschufen tausend Geschichten, die bald wie durch Zauberhand zum Leben erwachen würden.

Sophie machte die Augen wieder auf, als hinter ihr jemand fragte: »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Die Stimme gehörte zu einer blonden jungen Frau mit einem in leuchtendem Korallenrot geschminkten Mund.

Sophie hatte sie bisher gar nicht bemerkt, riss sich jetzt aber zusammen, klappte den Mund zu und kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Äh … also, ich suche Tom Kinney, weil ich ihm ein Empfehlungsschreiben und meine Arbeiten vorlegen will«, erklärte sie und blickte vielsagend auf ihre Mappe.

Die junge Frau schaute in den Raum hinein, in dem die Männer arbeiteten. »Tom ist noch nicht da, kommt aber bestimmt gleich. Pünklichkeit ist nicht gerade seine Stärke«, sagte sie und lachte.

»Also … vielleicht könnte ich ja hier auf ihn warten.«

»Natürlich, kein Problem, wenn es dir nichts ausmacht, dabei zu stehen. Einen Stuhl kann ich dir leider nicht anbieten. Die sind hier Mangelware.« Sie zwinkerte Sophie zu. »Ich bin Carol.«

Nachdem sie sich vorgestellt hatte, zuckte Carol unbekümmert mit den Schultern und ging zu ihrem Tisch hinüber. Sophie schaute ihr hinterher. Auf der rechten Seite des Raumes entdeckte sie an einigen maßgefertigten Tischen mit großen hohen Ablagefächern, in denen man Bilder griffbereit aufbewahren konnte, mehrere weibliche Angestellte. Sie arbeiteten direkt neben den großen Fenstern, durch die Tageslicht hereinfiel.

Carol nahm ihren Platz am Gang ein und war bald in ihre Arbeit vertieft.

Leise ging Sophie zu ihr hinüber und beobachtete eine Weile schweigend und wie hypnotisiert, was die junge Frau da tat. Irgendwann überwand Sophie ihre Schüchternheit und fragte: »Was ist das für eine Folie, an der du da arbeitest?«

Carol blickte nicht einmal auf, während sie antwortete. »Das ist eine Cel, eine transparente Zelluloidfolie. Hast du so was noch nie gesehen?«

Es kam keine Antwort, da sich Sophie gar nicht angesprochen fühlte und nur weiter fasziniert betrachtete, wie Carol das durchsichtige Blatt bemalte. Dabei drängten sich ihr jede Menge weiterer Fragen auf: »Und warum kommt die Farbe auf die Rückseite?«

Mit verschmitzten Lächeln schaute die Koloristin zu Sophie auf. »Man dreht das Bild um und malt innerhalb der Konturen aus Tinte, damit auf keinen Fall Pinselstriche sichtbar werden.«

Sophie gelang nur ein schüchternes Nicken, während sie daran denken musste, was sie über diesen wunderbaren Beruf alles nicht wusste. Sie würde noch so viel lernen müssen!

Plötzlich erschien im Türrahmen ein großer, kräftiger Mann inmitten einer Wolke von Zigarettenrauch. Sophie kam er vor wie eine Geistererscheinung.

Carol schaute wieder ein paar Sekunden von ihrer Arbeit auf und rief: »Diese junge Dame möchte zu dir, Tom.«

Tom Kinney trat näher und reichte Sophie die Hand. »Guten Tag, Miss …«

»Simmons, Sophie Simmons aus New York. Ich bin wegen meiner Ausbildung nach Los Angeles gekommen, weil ich ein Stipendium für das Chouinard Art Institute habe.«

»Fürs Chouinard? Nicht schlecht!«, rief Tom mit beeindrucktem Lächeln aus.

Sophie fühlte sich ermuntert, weiterzusprechen. »Wissen Sie, ich würde auch gern als Trickzeichnerin arbeiten. Also, so weit ich neben dem Studium denn Zeit dafür habe. Ich … hm, habe welche von meinen Bildern mitgebracht, und ein Empfehlungsschreiben von Bob Waldman …«

»Ah, Sie kennen Bob?«

»Er war an der Highschool mein Kunstlehrer und hat mich sehr unterstützt«, erklärte Sophie hastig. Auf einmal schien sie nicht genug Hände zu haben, um Kinney alles zu zeigen, was sie dabeihatte.

»Kommen Sie, wir gehen rüber ins Büro.«

Mit weichen Knien folgte Sophie Tom Kinney in das Büro von Walt Disney, in dem ein großer Tisch aus Nussbaumholz stand. Neben mehreren Stühlen gab es darin auch ein bequemes Sofa, eine Stehlampe und ein paar Regale.

Mit Sophies Zeichnungen in den Händen ließ sich Kinney in Disneys Lehnstuhl hinter dem Tisch sinken und forderte die junge Frau mit einem Blick auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Während Kinney interessiert ihre Arbeiten durchsah, betrachtete Sophie die Wand, die sie vor sich hatte. Daran hingen nur drei gerahmte Fotografien, die sich auf der leeren weißen Fläche zu verlieren schienen.

Vom mittleren Bild lächelte eine schöne Frau herunter. Sie wurde links und rechts von zwei Micky-Maus-Figuren eingerahmt, die sie wie treue Soldaten eskortierten.

Sophie musste lächeln, als sie daran zurückdachte, wie sie in New York diese gutmütige Maus zum ersten Mal im Kino gesehen hatte, in Steamboat Willie. Ein Zeichentrickfilm mit Ton! Das schien schon ewig her zu sein. Damals, im Jahr 1928, war Sophie bloß ein dreizehnjähriges Mädchen gewesen, das stapelweise Blätter mit Zeichnungen füllte und gerne Trickfilme im Kino sah.

Und nun saß sie in Walt Disneys Büro, wo die Maus mit den großen Ohren sie von der Wand her beobachtete und ihr zuzwinkerte.

Jetzt war Sophie fest davon überzeugt, dass das Universum auf ihrer Seite war.

»Hören Sie mal, Miss …«

»Simmons.«

»Miss Simmons, ja …«

Als Sophie eine Viertelstunde später wieder die staubige, Straße in ihrer traurigen Abgeschiedenheit entlanglief, hatte sie Tränen in den Augen und einen metallischen Geschmack im Mund, der wohl der des Scheiterns war.

Das Gespräch war schnell vorbei gewesen. Freundlich hatte Kinney ihr dargelegt, dass trotz der wachsenden Beliebtheit der Filme mit Micky im Studio zurzeit auf Sparpolitik gesetzt wurde. Daher konnten sie es sich nicht leisten, noch jemanden einzustellen, vor allem nicht mit einer Halbtagsstelle.

»Im Moment …«, hatte Tom Kinney noch hinzugefügt, bevor er ihr die Hand geschüttelt und sie verabschiedet hatte.

»Und was jetzt, du Träumerin?«, fragte sich Sophie laut, während sie die Straße entlangmarschierte, ohne darauf zu achten, wohin sie da eigentlich ging.

In ihrem Verdruss bemerkte sie das Auto überhaupt nicht, das nahe am Bordstein langsam hinter ihr herfuhr.

Plötzlich hielt der Wagen, und ein äußerst attraktiver Mann sprang heraus. »Miss!«

Mit ihrer Mappe unter dem Arm drehte sich Sophie überrascht um und wischte mit der freien Hand eine verräterische Träne weg. Sie sah den jungen Mann an, ohne zu verstehen, wer er war, was er hier machte und von ihr wollte.

»Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe Sie aus dem Studio kommen sehen und gedacht, dass Sie vielleicht Hilfe brauchen. Ich arbeite da, wissen Sie?«

»Sind Sie etwa Animator bei den Disney Studios?«, fragte Sophie mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Ja.«

Er sah ihr eindringlich in die Augen.

Sophie konnte seinen Blick nicht erwidern, der von Intelligenz zeugte, aber auch etwas Beunruhigendes an sich hatte. Sie schaute zu Boden.

»Jules Beck, Miss«, stellte sich der junge Mann vor und reichte ihr die Hand.

»Sophie Simmons.«

»Erlauben Sie mir, dass ich Sie ins Zentrum bringe? Oder wohin auch immer Sie möchten. Wenn Sie so weitermachen, haben Sie sich nämlich gleich verlaufen.«

Sophie ließ den Blick über die trostlose Landschaft wandern. »O nein! Darauf hab ich gar nicht geachtet.«

Jules wandte sich zu seinem Auto um. Es handelte sich um ein quadratisches, kompaktes Cabrio, das bereits einige Jahre auf dem Buckel hatte, aber in makellosem Zustand war.

Er setzte sich hinein, öffnete die Beifahrertür und forderte Sophie zum Einsteigen auf.

Als Jules den Motor anließ, schloss sie die Augen und hielt ihre Baskenmütze fest, damit sie nicht davonflog. Sophie lehnte den Kopf gegen den Sitz, atmete ganz bewusst und sog so viel Luft in die Lunge, wie sie nur konnte.

Nach einer Weile hatte sie sich aber an die Geschwindigkeit des Fahrzeugs gewöhnt und fand sie sogar angenehm.

Etwas später saßen Jules und Sophie an einem Tisch mit Blick auf den Hollywood Boulevard zusammen im Henry’s. Das Henry’s war ein beliebtes Deli in der Nähe der Vine-Street-Kreuzung. Jules hatte zwei Tassen Kaffee bestellt, und für Sophie eine riesige Portion hausgemachten Obstkuchen, den sie nun mit der Gabel bearbeitete.

»Abgelehnt zu werden ist nie angenehm«, sagte Jules, um die Stille zu durchbrechen, die sich zwischen ihnen eingestellt hatte.

Sophie schaute kurz zu ihm auf und richtete den Blick sofort wieder auf ihren Teller, wo sie weiter den Kuchen malträtierte.

»Aber sehen Sie das Ganze nicht als Scheitern, Miss Simmons.« Er verstummte einen Moment. »Darf ich Sie Sophie nennen?«

Lustlos nickte sie.

»Glauben Sie mir, Sophie, das hat gar nichts mit Ihren Fähigkeiten zu tun. Nachdem Sie gegangen waren, hat mir Tom außerdem selbst erzählt, wie gut Ihre Zeichnungen sind. Er hat auch Ihr Stipendium fürs Chouinard erwähnt.«

Seine Komplimente freuten Sophie und trösteten sie ein wenig. Daher leuchtete nun wieder etwas Hoffnung in ihren Augen. »Das hat er gesagt?«

»Sie sollten den Kuchen auch mal probieren. Der ist wirklich lecker.«

Wenig überzeugt spießte Sophie ein Stück auf die Gabel und schob es sich in den Mund.

»Wenn Sie wirklich in dieser Branche arbeiten wollen, Sophie, dann müssen Sie auch wissen, wie sie funktioniert.«

»Wahrscheinlich werde ich nie in einem Trickfilmstudio arbeiten. Ich war einfach naiv!«

Jules schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Kennen Sie die Kurzfilme mit Oswald?«

»Natürlich.«

»Die hätten das Studio beinahe ruiniert.«

»Wie bitte? Das kann doch nicht sein, schließlich sind sie so berühmt. Ich hätte gedacht …«

Jules hob die Hand, als wolle er darum bitten, das Wort ergreifen zu dürfen. »Nachdem Disney schon seit einem Jahr erfolgreich an dieser Figur gearbeitet hatte, gab es eine Änderung in der Honorarpolitik der Produktionsfirma. Plötzlich wollte Winkler Pictures für jeden Kurzfilm nur noch eine einmalige Vorschusszahlung leisten.«

»Wieso das denn? Disney hatte die Figur doch selbst entwickelt.«

»Allerdings, deshalb hat er das ja auch abgelehnt. Aber Winkler hatte die Rechte an Universal verkauft, womit die Figur Disney nicht mehr gehörte.«

»Wie kann so etwas denn passieren? Das ist ja schrecklich, wie ungerecht!«, ereiferte sich Sophie.

»Charles Mintz, der Besitzer von Winkler Pictures, hat damals ein eigenes Trickfilmstudio eingerichtet, um von diesem Zeitpunkt an die Oswald-Filme zu produzieren. Aber damit nicht genug. Außerdem hat er auch noch die meisten Animatoren der Disney Studios mitgenommen. Nur ein paar der treuesten sind bei Walt geblieben.«

Dies lenkte Sophie endlich von ihrem nagenden Misserfolg ab, und sie lauschte atemlos den Worten des jungen Mannes. »Haben Sie damals schon für Disney gearbeitet?«

»Nein, ich habe erst vor zwei Jahren dort angefangen, 1930.«

»Was für ein Glück!«, murmelte Sophie mit befangenem und ein wenig traurigem Lächeln.

»Jedenfalls ist die Truppe rund um Disney wieder auf die Beine gekommen, dank …«

»… dank Micky?«

»Ja, dank Micky. Glauben Sie mir, Sophie, das Studio war am Ende. Nicht einmal die Zeichner konnten bezahlt werden, weil kein Geld hereinkam. Aber Disney hat sich nicht unterkriegen lassen und sich auf die Entwicklung von Filmen mit Micky konzentriert, wenn auch zunächst ohne großen Erfolg.«

Jules nahm einen Schluck aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. Der Kaffee war inzwischen kalt.

»Bis Ende 1928 Steamboat Willie herauskam.«

Ein Lächeln erhellte Sophies Blick. »Den hab ich gesehen. Er ist einfach wunderbar!«

»Ja, und damit ging alles los! Steamboat Willie war der erste Zeichentrickfilm mit Ton und wurde ein voller Erfolg. Deshalb betrachtet Disney ihn auch als die wahre Geburtsstunde von Micky und nicht die beiden vorherigen Filme. Dieser große Schritt nach vorn ermöglichte die Einstellung weiterer Zeichner, von denen die meisten keine Erfahrung hatten. Und dazu habe auch ich gehört.«

Gedankenversunken saß Jules da und verlor sich in seinen Erinnerungen.

Sophie fand, dass in seinem Blick etwas lag, was schwer zu erfassen war.

Dann riss Jules sich zusammen und fügte hinzu: »Im Moment arbeite ich an einem neuen Film mit Micky: Entscheidung im Schnee.«

Er legte eine Pause ein und sonnte sich in dem bewundernden Blick des jungen Mädchens.

»Die Aussichten für das Studio sind gut. Noch sind die Gewinne zwar niedrig, aber wir arbeiten unter Hochdruck. Und was an Geld hereinkommt, wird in neue Produktionen gesteckt, um Mickys Beliebtheit zu nutzen. Roy Disney kümmert sich um die Finanzen und hält seinen Bruder an der kurzen Leine, weil er auf keinen Fall wieder so harte Zeiten durchmachen will. Deshalb wird im Moment auch kein weiteres Personal eingestellt. Dass man Sie nicht genommen hat, liegt also an den ganz eigenen Regeln dieser Branche, und nicht etwa daran, dass Sie für die Arbeit nicht geeignet wären.«

Sophie lehnte sich zurück und ließ die Schultern sinken, die sie während Jules’ Erklärungen angespannt hochgezogen hatte. Resigniert legte sie die Hände in den Schoß, und in ihren grauen Augen stand große Enttäuschung »Das verstehe ich, aber …«

Am Ende biss sie sich lieber auf die Zunge. Da kümmerte sich dieser junge Mann so freundlich um sie, obwohl sie gar nicht recht verstand, warum eigentlich. Es war ihr peinlich, wie sie hier hockte und mit den Tränen kämpfte.

»Sie haben doch das Stipendium. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Ausbildung, und danach …«

»Ich kann mir Los Angeles aber nicht leisten, wenn ich nicht arbeite!«, entfuhr es Sophie, deren Wangen zu brennen begannen. Sie war pikiert und wollte auf dieses Thema wirklich nicht weiter eingehen. Denn dieser Mann war ja ein Wildfremder, dem sie auf keinen Fall von den Problemen ihrer Familie und den Entbehrungen der letzten Jahre erzählen wollte.

»Vielleicht hätte ich in New York bleiben und mir dort Arbeit suchen sollen. Das wäre in den heutigen Zeiten wohl das Vernünftigste gewesen, aber …« Als sie Jules anschaute, standen ihr Tränen in den Augen, zugleich jedoch all die Hoffnungen, die sie einfach nicht aufgeben wollte.

»… aber ich will mich eben weiterbilden. Ich will mir den Traum erfüllen, Trickzeichnerin zu werden. Und die Entscheidung darüber hat nicht meine Familie zu treffen, können Sie das verstehen?«

»Natürlich!«, antwortete Jules, und seine Stimme wurde ernster, während er Sophies graue Augen betrachtete.

Sophie schaute durch das Fenster nach draußen.

Jules’ Worte lenkten ihren Blick aber wieder zu ihm zurück. »Es gibt in Los Angeles durchaus noch andere Studios, wenn auch nicht viele. Aber nicht alle befinden sich in derselben Situation wie das von Disney.«

Jules zog einen Bleistift aus der Innentasche seines Jacketts und schaute sich suchend um, bis er auf dem Nebentisch eine Zeitung entdeckte. Er riss eine Seite heraus und notierte für Sophie darauf einen Namen und eine Adresse.

»Dick Davis?«

»Ja, Dick Davis, ein guter Freund von mir. Jetzt arbeitet er bei den Graphics Studios, aber er war bei Disney, als ich dort angefangen habe, und wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Schauen Sie bei ihm vorbei, Sophie. Zeigen Sie ihm Ihre Zeichnungen und sagen Sie ihm, dass ich Sie schicke.«

Ein glückliches Lächeln vertrieb die Blässe und Verletzlichkeit von Sophies Gesicht, während sie die brennenden Tränen wegzuzwinkern versuchte.

»Warum helfen Sie mir eigentlich?«

Jules war bereits aufgestanden, und sein Gesichtsausdruck wurde ernst, als er antwortete: »Wir haben alle mal klein angefangen.«

Dann zog er den Stuhl für Sophie zurück und berührte sie sanft am Ellbogen, als sie sich den Hut aufsetzte.

»Ich muss zurück zur Arbeit. Wo soll ich Sie absetzen?«

Sie traten auf die Straße und stiegen in seinen Wagen.

Wieder brauchte Sophie einen Moment, um sich an das Gefühl des Autofahrens zu gewöhnen. Schon bald ließ sie aber den Blick über den Broadway Boulevard schweifen. Sie stellte fest, dass er voll von eleganten Gebäuden und Hotels mit gepflegten Grünanlagen war, von Restaurants und Luxusboutiquen. Vielleicht hatte Los Angeles ja doch seinen Reiz.

Nachdem sie zuvor nichts anderes im Kopf gehabt hatte als ihre Enttäuschung, hatte sich Sophie inzwischen weit genug beruhigt, um sich ihren Retter mal in Ruhe anzusehen.

Sie betrachtete Jules, der sich am Steuer schweigend auf den Verkehr konzentrierte. Obwohl er die fünfundzwanzig bereits überschritten haben musste, wirkte sein attraktives Gesicht beinahe jugendlich. Er hatte dunkle Augen, einen kleinen schwarzen Schnurrbart, der ihm etwas Weltmännisches verlieh, verführerische Lippen und einen geschmeidigen, eleganten Körper.

Und Jules hatte noch etwas anderes an sich, was ihm eine ausgesprochene Attraktivität verlieh, was Sophie aber nicht so recht benennen konnte. Außerdem war ihr immer noch nicht klar, wieso er ihr eigentlich gefolgt war oder warum er ihr half. Sie wusste rein gar nichts über ihn.

Wer war dieser Jules Beck nur?

Jules war 1906 in Laredo in Texas zur Welt gekommen.

Sein Vater, Elias Beck, war ein brutaler Mann, der seiner Mutter, Wilma, das Leben zur Hölle gemacht hatte, genau wie auch Jules und seinem kleinen Bruder Tyler. Wie viele Kilometer Entfernung auch zwischen ihnen liegen mochten – Jules würde sein Lebtag die groben Hände nicht vergessen, mit denen Elias oft seine Wut an seinen Söhnen ausgelassen hatte. Schon beim Gedanken daran stellten sich Jules die Nackenhaare auf.

Elias Beck war ein riesiger Kerl ohne Beruf oder festes Einkommen, der sich mit kleinen Gaunereien durchschlug. Als Wilma und er sich kennenlernten, war er ein braun gebrannter, energiegeladener junger Bursche, ein selten attraktiver Kerl mit streitlustigem Kinn und eindringlichen schwarzen Augen. Derart makellose Gesichtszüge fand man bei einem Mann nur selten, daher waren auch alle Mädchen hinter ihm her.

Jahrelang hatte Wilma sich gefragt, weshalb das Schicksal ihr nur so böse mitgespielt hatte. Warum hatte Elias ausgerechnet sie unter all den jungen Frauen für die zweifelhafte Ehre auserkoren, das Leben mit ihm zu teilen?

Sie waren nur so kurze Zeit zusammen glücklich gewesen, dass Wilma sich nicht einmal mehr daran erinnerte. Schon bald fing Elias nämlich an zu trinken, um sein elendes Dasein voller Entbehrungen zu vergessen, für das er alle außer sich selbst verantwortlich machte.

Die Schuld dafür, dass er es im Leben zu nichts brachte, suchte er bei seinen beiden Söhnen, Jules und Tyler.

Wilma erschauderte, wenn Elias sie mit unerbittlichem Blick fixierte und von ihm immer das gleiche Lied kam: »Zu viele hungrige Mäuler, das ist das Problem. Zu viele hungrige Mäuler …«

Und während sich die arme Wilma bei ihrer Arbeit als Putzfrau aufrieb, damit ihre Kinder zur Schule gehen konnten, verlor sich Elias in den Nebeln des Alkohols und kam tage-, manchmal wochenlang nicht nach Hause.

Diese Zeiten ohne ihn waren für Wilma und ihre beiden Jungen glückliche Verschnaufpausen. Obwohl sie meist spät und erschöpft von der Arbeit zurückkehrte, legte Wilma großen Wert auf liebevolle gemeinsame Momente mit Jules und Tyler. Wenn sie zusammen aßen, redeten und lachten, schien ihr Elend dadurch ein wenig gemindert.

Und wie sie zusammen lachten, wenn Elias nicht da war! Die beiden Jungen zeigten die Bilder, die sie gemalt hatten, und ihrer Mutter schwoll vor Stolz das Herz in der Brust.

Nachdem alle ins Bett gegangen waren, lag die arme Wilma dann nachts im Bett, faltete die Hände und betete. Sie flehte, dass ihr Mann nie mehr zurückkehren würde, und dankte Gott für das große Talent ihrer Söhne, durch das sie diesem finsteren Leben vielleicht irgendwann entfliehen würden. Denn Wilma war davon überzeugt, dass die beiden Jungen geborene Künstler waren, dass sie eine Gabe hatten.

Leider kehrte Elias doch immer wieder zurück, und mit ihm hielten auch Schläge, Tränen und Angst wieder Einzug. Irgendwann gingen die Jungen nicht mehr zur Schule, weil ihr Vater sie frühmorgens Zeitungen verkaufen ließ. Ihre Zeichnungen versteckten sie lieber gut vor ihm, weil sie sich Elias’ Reaktion auf solche »Kritzeleien« seiner Söhne nicht einmal ausmalen wollten.

Wilma starb im Winter 1928 an einer Lungenentzündung, als Jules zweiundzwanzig Jahre alt war.

Tyler und er waren inzwischen so attraktiv wie einst ihr Vater, groß und sehnig, mit schwarzen Augen, die wie Kohle zu glühen schienen. Der neunzehnjährige Tyler war größer und dünner als sein Bruder. Aber Jules hatte eine natürliche Eleganz, die durch seine einfache Kleidung nicht gemindert wurde.

Nachdem sie ihre Mutter beerdigt hatten, nahm Jules seinen Bruder beiseite. »Hier hält uns jetzt nichts mehr, Tyler, darum lass uns bloß verschwinden.«

Ein wenig erschrocken blickte Tyler ihn aus seinen großen schwarzen Augen an. »Nein, warten wir besser noch ein bisschen.«

»Du sorgst dich doch wohl nicht …«

»… um Vater? Nein, nein. Aber ich habe etwas Geld gespart und könnte damit endlich Zeichenunterricht nehmen.«

»Einen Zeichenlehrer findest du auch anderswo.«

»Und was ist mit Viola?«

Ungehalten verzog Jules das Gesicht. »Du kannst alle Frauen haben, die du willst. Was findest du nur an dieser Viola?«

Aber Tyler war eben sehr jung und furchtbar verliebt. Und Jules wollte ihn nicht mit ihrem Vater allein lassen. Daher übte er sich in Geduld und nahm in der Zwischenzeit jede sich bietende Gelegenheitsarbeit an. So, wie er es immer getan hatte.

Er sparte.

Und wartete.

Bis zu jenem Abend.

Wer war dieser Jules Beck, und warum konnte sie ihren Blick nicht von ihm abwenden?, fragte sich Sophie im Auto, während sie zu ihm hinüberschielte. Vielleicht lag es daran, wie er sprach und sich bewegte? Oder an den Dingen, die er sagte? An der Selbstsicherheit, von der jede seiner Gesten zeugte? Oder hatte es vielmehr mit den schwarzen Haaren zu tun, die ihm etwas Verwegenes verliehen, als der Wind sie ihm zerzauste?

Sophie zwang sich dazu, endlich den Blick von Jules abzuwenden, und schaute auf ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten. Dabei merkte sie, wie fest sie das Stückchen Papier umklammert hielt, das er ihr gegeben hatte. Es standen nur ein paar Buchstaben darauf: ein Name und eine Adresse. Aber sie gaben Sophie neue Hoffnung.

KAPITEL 3

DAS CHOUINARD

Das Art-déco-Gebäude des Chouinard Art Institute war im Jahr 1921 erbaut worden und stand im Stadtviertel Westlake im Zentrum von Los Angeles, an der Grand View Street Nummer 743.

In dieser Gegend mit eleganten Villen und erlesenen Geschäften gab es gleich drei der wichtigsten Kunstschulen der Stadt, neben dem Chouinard noch das Otis Art Institute und die Art Center School of Design.

Im Vergleich zur Konkurrenz war das Chouinard allerdings weitaus enger mit der Bildungs- und Kulturszene von Los Angeles verknüpft.

Das Otis hatte erst vor Kurzem eröffnet, und das Art Center war viel grauer als das dynamische Chouinard, wo sich die meisten jungen Leute einschrieben, die die schönen Künste studieren oder sich zu Werbezeichnern ausbilden lassen wollten. Schwerpunkt war bei beiden das Zeichnen.

Sophie betrat die Kunstschule zum ersten Mal an einem Mittag Anfang Juli, an dem der Himmel draußen in intensivem Blau leuchtete.

Obwohl das Schuljahr vorbei war, waren in den Innenhöfen noch immer viele Studierende anzutreffen: Einige von ihnen malten unter freiem Himmel, andere plauderten und lachten, offensichtlich froh darüber, dass nun der Sommer anbrach.

Mit leuchtenden Augen schaute Sophie sich um. Sie musste sich zusammenreißen, um die Begeisterung ein wenig zu zügeln, die in ihr brodelte.

Da sie es kaum erwarten konnte, auch endlich Studentin des Chouinard zu werden, erschien ihr der September unendlich weit weg!

Nun machte sie sich als Erstes auf den Weg zum Sekretariat, um dort alle Formalitäten zu erledigen. Das dauerte seine Zeit; nach erfolgter Einschreibung verließ Sophie aber schließlich mit dem Stundenplan für ihr erstes Semester wieder das Büro. Sie konnte den Blick nicht von dem Blatt Papier in ihrer Hand abwenden, auf dem die Details ihrer baldigen Zukunft vermerkt waren. Ein ums andere Mal las sie die Fächer, die sie ab September belegen würde: Zeichnen, Malerei, Design, Farbenlehre, Komposition … Sophie musste an sich halten, um vor Wonne weder zu hopsen noch zu singen. Nur ungern wollte sie für eine Verrückte gehalten werden, obwohl sich hier niemand groß darum zu scheren schien, was die anderen so trieben.