Der Chirurg und die Spielfrau - Sabine Weiß - E-Book
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Der Chirurg und die Spielfrau E-Book

Sabine Weiß

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Beschreibung

Von Bremen und Mallorca in den Süden Frankreichs und den Norden Italiens - eine spannende Reise durch die mittelalterliche Medizin und die Geschichte der Kreuzzüge


1217. Weil sein Vater ihn ins Kloster geben möchte, flieht der junge Bremer Adlige Thonis und schließt sich einem Kreuzzugsheer an. Doch er kommt nicht weit: Schon auf dem Weg ins Heilige Land erblindet er, wird zum Sterben zurückgelassen. Dass er gesundet, verdankt er allein dem betörenden Gesang einer Spielfrau, der ihn im Leben hält, und der Kunst des Chirurgen Wilhelm. Fasziniert lässt sich Thonis selbst zum Chirurgen ausbilden und spürt die Frau auf, die ihn einst rettete: Elena, eine Sklavin. Beide wollen sie den Menschen helfen - und geraten in einer Zeit der Kreuzzüge und Ketzerverfolgung in tödliche Gefahr ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Personenverzeichnis

Prolog

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Karte

Glossar

Anmerkung und Dank

Über das Buch

Von Bremen und Mallorca in den Süden Frankreichs und den Norden Italiens – eine spannende Reise durch die mittelalterliche Medizin und die Geschichte der Kreuzzüge

1217. Weil sein Vater ihn ins Kloster geben möchte, flieht der junge Bremer Adlige Thonis und schließt sich einem Kreuzzugsheer an. Doch er kommt nicht weit: Schon auf dem Weg ins Heilige Land erblindet er, wird zum Sterben zurückgelassen. Dass er gesundet, verdankt er allein dem betörenden Gesang einer Spielfrau, der ihn im Leben hält, und der Kunst des Chirurgen Wilhelm. Fasziniert lässt sich Thonis selbst zum Chirurgen ausbilden und spürt die Frau auf, die ihn einst rettete: Elena, eine Sklavin. Beide wollen sie den Menschen helfen – und geraten in einer Zeit der Kreuzzüge und Ketzerverfolgung in tödliche Gefahr …

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erscheint ihr erster Kriminalroman, Schwarze Brandung. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.

Sabine Weiß

Der Chirurg und die Spielfrau

HISTORISCHER ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Dr. Stefanie HeinenTextredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, FriedbergLandkarte: Markus Weber, Guter Punkt, MünchenUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, MünchenUnter Verwendung von Motiven von © akg-images/UIG/ Universal History und © shutterstock: Markus_272 | Sundraw Photography | NemesisINC | Samran wonglakornE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-7821-4

www.luebbe.dewww.lesejury.de

Die Natur ist nämlich wie ein Fiedelspieler, der mit seinem Klang die Tänzer führt und lenkt. Wir Ärzte und Chirurgen sind wie die Tänzer, und genauso, wie die Natur musiziert, müssen wir tanzen.

Henri de Mondeville (französischer Arzt, 1260–1310)

Instrumenten und Seytenspil der Musica helffen auch die gesuntheit erhalten/und die verloren wider zubringen. Dan die tön seind eben den schwachen gemüteren vergleicht/wie sich die artzneyen den schwachen leiben vergleichen.

Ibn Butlan (christlich-nestorianischer Arzt, † 1065 Antiochien)

Personenverzeichnis

NORDDDEUTSCHLAND

Thonis von Versfleth, niederadeliger Ritter aus der Wesermarsch von Geburt, Chirurg aus Berufung

Drochtleff von Owmund und Domina Amelradis, seine Eltern

Mathias und Emo, seine Brüder

Gerhard zur Lippe, Erzbischof von Bremen*

Simon zur Lippe*

MALLORCA

Elena, Sklavin und Spielfrau mit einem besonderen Talent

Loukia und Itys, ihre Eltern

Niko, Sklave

GENUA

Rambertino Buvalelli*, Podestà von Genua und Troubadour

Leibdiener Gisulfo

Maja, Sklavin

BOLOGNA

Dominus Magister Wilhelm de Congénis, Chirurg*

Domna Graziella, seine Frau

Gaston und Sibilla, ihre Kinder

Amiré, Medizinstudent und Magister Wilhelms Gehilfe

Außerdem treten u.a. folgende historisch verbürgte Persönlichkeiten auf (ansonsten mit * gekennzeichnet):

Raymond von Toulouse VI.

Oliver der Sachse

Beatrice d’Este

König Jaume I. von Aragón

Kaiser Friedrich II.

Simon de Montfort

Herzog Otto von Lüneburg, genannt »das Kind«

Prolog

Toulouse, Okzitanien, August 1222

Der Wagen rumpelte in ein Schlagloch und geriet in gefährliche Schieflage. Elena umklammerte ihre Laute, mit der anderen Hand hielt sie sich am Gestänge fest. Das Seidenkleid klebte an ihrem Leib. Ihre Lippen spannten, sodass sie sie anfeuchten musste, damit sie nicht einrissen. Ihr Herr hatte die Plane fest verschlossen, weshalb sie seit Tagen in stickiger Hitze und erzwungener Blindheit dahinfuhr. Jetzt aber öffnete sich das Leinen im heißen Fahrtwind einen Spalt weit. Die Sommerhitze lag über den kargen Feldern wie ein Leichentuch. Der Landstrich war ausgeblutet. Brandruinen von Höfen, ja ganzen Dörfern. Weinstöcke wucherten unbeschnitten, Vieh war kaum zu sehen. Sie kannte diese Gegend nicht. Wo waren sie? Wohin reisten sie?

Hungerleider rannten zu dem Frachtwagen und versuchten, ihn aus dem Loch zu schieben. Ein dürrer Junge riss an der Plane und spähte in den Wagen hinein. Als er Elena bemerkte, schob er ihr die geöffnete Handmuschel entgegen.

»Bona Domna, bitte, ein paar Münzen nur! Ich flehe …« Er brach ab, als sie ruckartig anfuhren.

Draußen gingen Bettelrufe durcheinander. »Bitte, Ser, ein Dank für unsere Hilfe!«

»Ein paar Almosen für uns!«

Der Hänfling klammerte sich an den Wagen. »Helft! Ich flehe Euch an!« Er streckte sich, beinahe bekam er ihren Schleier aus venezianischer Seide zu fassen.

Elena wich zurück. Wenn er den Schleier zerriss, würde ihr Herr sie schlagen. Dabei wünschte sie sich, sie könnte dem Jungen etwas geben. Er war fünf, sechs Jahre jünger als sie, vielleicht vierzehn, und auch wenn es für ihn anders aussehen musste, war sie genauso bettelarm wie er. Das Seidenkleid, das ihre hohe, etwas zu kräftige Figur umschloss, der Schleier über ihren schwarzen langen Locken, die feinen Schuhe – nichts davon gehörte ihr.

»Es tut mir leid, ich habe selbst nichts«, wisperte sie.

Die Peitsche zischte hell. Der Wagen fuhr schneller, sodass Elena auf die Bank gedrückt wurde. Der Junge stürzte auf die Straße.

»Bagasa!«, beschimpfte er sie als Dirne. Auch die anderen Helfer riefen ihnen Flüche hinterher. Wie beißender Rauch umwehten die Verwünschungen sie.

Nicht lange nachdem Stimmen und Schritte verklungen waren, hielten sie an. Ihr Herr öffnete den Wagenverschlag. Seine Kleidung und seine Haare waren vom Straßendreck bestäubt. Auf seine gefurchte Stirn hatten Schweiß und Staub tiefe Linien gezeichnet. Er funkelte sie wütend an.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du mit niemandem reden sollst«, fauchte er. »Hast du ihm etwa verraten, wer wir sind und woher wir kommen?«

Trotzig schwieg sie. Glaubte er wirklich, sie habe mit dem Betteljungen geplaudert? Unvermittelt schlug er ihr die Faust in den Leib. »Antworte gefälligst!«

Elena krümmte sich keuchend. Dann zwang sie sich, gegen den Schmerz anzuatmen. Mit Bauchkrämpfen würde sie nach den Strapazen der Reise ihre Aufgabe nicht erfüllen können. »Ich habe ihm nur gesagt … dass ich ihm nichts geben kann, Ser«, presste sie hervor.

Nun strich der Herr ihr über die Wange, was sie erschaudern ließ. Gönnerhaft hielt er ihr einen Lederschlauch hin. Nur kurz konnte sie sich die Kehle mit dem mit Wasser und Honig versetzten Wein netzen, ehe er ihr den Behälter wieder abnahm.

»Das reicht. Du brauchst einen klaren Kopf.«

Die Kontrolle am Stadttor war langwierig. Immerhin hatten ihre Schmerzen nachgelassen. Ihr Herr wusste genau, wie er sie schlagen konnte, ohne sie ernsthaft zu verletzen; er wollte seinen kostbaren Besitz ja nicht beschädigen. Elena lauschte dem Gespräch mit dem Zöllner. Schließlich schnappte sie den Namen der Stadt auf: Toulouse. Sie erstarrte. Deshalb also waren sie so lange unterwegs gewesen! Deshalb hatte ihr Herr darauf bestanden, unauffällig zu reisen. Todfeinde der Christenheit hatten sich in Südfrankreich ausgebreitet: die Katharer. Sie selbst behaupteten, den reinen Glauben zu vertreten, aber ihre Gegner waren davon überzeugt, dass sie dem Teufel, der sich oft in der Gestalt der Katze zeigte, den Hintern küssten. Der Papst hatte bereits vor etlichen Jahren zu einem heiligen Krieg gegen diese sogenannten Armen Christi aufgerufen, doch diese hatten offenbar Rückhalt in Adel und Bauernstand. In der Grafschaft Toulouse tobte der Kampf zwischen den Katholiken und den als Ketzer verfolgten Katharern noch immer erbittert. Es sah aus, als hätten dreizehn Jahre Kreuzzug das einst reiche Okzitanien in ein Armenhaus verwandelt. Kreuzritter, Häretiker, Aufständische und skrupellose Profiteure hatten Land und Leute zwischen sich zermahlen. Warum brachte ihr Herr sie in diese tödliche Gefahr?

Endlich durften sie passieren. Selbst durch den schmalen Spalt in der Wagenplane waren die Folgen der Belagerungen, der Überfälle und Plünderungen unverkennbar. Etliche Häuser waren zerstört, andere wirkten verlassen. Eine angespannte Stille lag über der Stadt. Nichts war von dem Trubel zu spüren, der diese reiche Handelsstadt vermutlich sonst prägte. Die gewaltige Basilika aus rosafarbenen Steinen war von unzähligen Bettlern umlagert.

Da erregte ein Tumult ihre Aufmerksamkeit: Auf einem Platz beschimpften sich Menschen, als hinge ihr Leben davon ab.

Der Wagen hielt. Besitzergreifend legte ihr Herr seinen Arm um ihre Taille, als er ihr beim Aussteigen half. Vor ihnen erhob sich ein imposantes, schwer bewachtes Steinhaus, dessen Fensterläden verschlossen und gesichert waren. Ein mulmiges Gefühl schnürte Elena den Hals zu.

Ein Diener nahm sie in Empfang. Im Dämmerlicht war Elena beinahe blind. Die gespenstische Stille im Haus verursachte ihr ein unangenehmes Zusammenziehen der Kopfhaut. Ein Adeliger begrüßte sie und flüsterte ihrem Herrn zu, dass sich die Situation, seitdem er die Nachricht geschickt hatte, dramatisch verschlechtert hatte. Graf Raymond habe einen Unfall gehabt. Jetzt gehe es um Leben oder Tod.

Als sie ins Obergeschoss geführt wurden, hörte Elena mit Verzweiflung und Hass gemurmelte Gebete. Das Kribbeln breitete sich aus und zog den Nacken hinunter. So unwohl fühlte sie sich, dass sie sich wünschte, mit den kostbaren Tapisserien an den Wänden verschmelzen zu können. Beruhigend war nur die Laute in ihren Händen, birnenbauchig, poliert und mit frischen Saiten versehen, das Beständigste in ihrem Leben.

Ihr Herr sah sie warnend an, als er sie in eine große Schlafkammer schob. »Du weißt, was du zu tun hast. Verdirb es nicht«, raunte er.

Durch das Gespinst ihres Schleiers nahm Elena die Umgebung in sich auf. Es war ein düsterer und stickiger Raum, in dessen Mittelpunkt ein großes Himmelbett mit Vorhängen aus feinstem Damast stand. Eine Dame kniete neben dem Bett und betete. Der Duft der wohlriechenden Kräuter, die in mehreren Schalen verbrannt wurden, konnte den Gestank der Krankheit nicht überdecken. Männer standen in Grüppchen in der Nähe des Betts und diskutierten erregt. Es waren Adelige, Bürger, Geistliche und Kreuzritter verschiedener Orden. Ein junger Ritter lief unruhig vor den verrammelten Fenstern auf und ab.

Und da war der Kranke. Sein Körper war von Pelzen bedeckt, sein Schädel von Seide. Dazwischen ein eingefallenes Gesicht mit blutunterlaufenen Augenhöhlen. Ein gestandener Ritter, das verriet seine Statur. Ein Mann, der das Leben ausgekostet hatte, das verriet sein Gesicht. Ein Sterbender, das verriet seine Stimme. Sein Stöhnen trieb Elena den Geschmack von Asche in den Mund.

Die Männer wandten sich ihnen zu. Die fein geschnittenen Züge eines Mönchs verwandelten sich bei ihrem Anblick in eine angewiderte Grimasse. »Was hat das Weib hier zu suchen?«, zischte er. Seinem schwarz-weißen Habit nach zu urteilen, gehörte er dem strengen Predigerorden an.

»Ihre Künste sind mir ans Herz gelegt worden. Wir müssen alles Menschenmögliche versuchen, um meinen Vater zu retten. Die Heiltränke dieses Herrn sind berühmt. Außerdem hat Graf Raymond die Musik immer geliebt«, sagte der junge Ritter, der sich mit diesen Worten als Raymond der Jüngere zu erkennen gab.

»Auf Gott sollte der Graf vertrauen! Sein Leben liegt in der Hand des Allmächtigen. Wenigstens im Tode sollte er sich angemessen verhalten«, brach es aus dem Mönch heraus.

Nun mischte sich ein Greis ein, der sein dunkles, schlichtes Gewand mit einem einfachen Seil gegürtet trug. »Der Graf ist ein guter Christ und möchte auch im Tode so behandelt werden. Lasst mich diesem Freund Gottes die Hand auflegen und sein Leben zu einem guten Ende führen.«

Elena erstarrte bei diesem Ansinnen. Der Greis musste ein Perfectus sein, einer der geistlichen Anführer der Katharer. Warum wurde er hier geduldet? Ihren Herrn schien diese Diskussion nicht zu kümmern. Mit großer Geste flößte er dem Kranken einen Heiltrank ein.

Die Reaktion des Predigermönchs ließ nicht auf sich warten. »Schweigt, verketzerte Brut!«, schrie der Mönch den Perfectus an.

»Mäßigt Euch!«, ging nun einer der Kreuzritter in scharfem Ton dazwischen.

»Ich lasse mir nicht den Mund verbieten. Extra ecclesiam nulla salus, heißt es. Auch Ihr solltet wissen, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt. Brennen soll dieser häretische Greis auf dem Scheiterhaufen, wie so viele seiner Glaubensgenossen vor ihm.«

»Ich fürchte das Feuer nicht. Es wird meine Seele befreien!«, verkündete der Perfectus.

»Damit sie in ein anderes Wesen einfahren kann, wie der Teufel? Macht endlich dieser Häresie ein Ende! Es ist eure Aufgabe, die Kirche mit euren Waffen zu verteidigen!«, fuhr der Mönch die Kreuzritter an.

Nun wandte sich einer der Hospitaliter dem Erbgrafen zu. »Eine Spielfrau? Was soll dieser Hokuspokus? Ich kann unseren Infirmarius noch einmal kommen lassen.«

»Das ist sehr freundlich von Euch, aber ich denke, Euer Infirmarius hat bereits sein Möglichstes getan«, wies Raymond der Jüngere den Vorschlag zurück. »Wir müssen auf andere vertrauen. Mein Vater muss noch einmal erwachen, er muss auf jeden Fall seinen Willen bekunden.«

»Das ist vergebene Liebesmüh. Der Graf stirbt, das ist unverkennbar. In seinem Testament hat er verfügt, als Ritter des Hospitaliter-Ordens bestattet zu werden«, sagte der Kreuzritter.

»Das ist Jahre her und unter Zwang geschehen. Längst hat Graf Raymond diese Anordnung wiederrufen. Auf keinen Fall werden wir zulassen, dass Ihr den Leichnam an Euch reißt!«, protestierte der Perfectus.

»Denkt Ihr etwa, er wird das Consolamentum empfangen, wie ein verdammter Ketzer?«

»Wenn es sein Wunsch ist, soll es so sein!«

Kurz sah es aus, als stünde ein Handgemenge bevor.

»Genug!«, machte Raymond der Jüngere dem Streit ein Ende. »Wenn Ihr nicht Frieden haltet, werde ich Euch alle dieses Hauses verweisen müssen.«

Elena schwindelte von den intensiven Farben, die während des Wortwechsels vor ihren Augen zu tanzen begonnen hatten. Gleißend roter Hass, tiefschwarze Galle, stechendes Grün und Scharlach. Dazwischen ein Pfad aus schwindendem Grau – auf ihn musste sie sich konzentrieren, ihm musste sie folgen.

Ihr Herr stellte neben dem Bett einen Schemel für sie bereit. Etwas befangen setzte sie sich. Ihre Fingerkuppen strichen behutsam über das Muster im Holzkorpus und die gespannten Darmsaiten. Sie liebkoste ihr Instrument, als wollte sie es besänftigen. Das war ihr Ritual, um zur Ruhe zu kommen. Nur wenn sie vollständig in der Musik aufging, konnte sie die richtigen Töne treffen und das erreichen, was allein sie vermochte. Fein wie Perlenschauer ließ Elena eine erste Melodie erklingen. Dann erhob sie ihre Stimme. Der Kopf des Kranken ruckte, er keuchte. Die Dame starrte sie an. War sie die Gräfin? Egal. Unbeirrt sang Elena weiter.

Ihre Pferde galoppierten querfeldein. Thonis sah sich nach seinem Lehrmeister um. Magister Wilhelm war zwar zurückgefallen, hielt aber das Tempo. Vor drei Tagen hatte die Nachricht sie erreicht. Seitdem waren sie über Handelswege geprescht, hatten Berge überquert und Flüsse gekreuzt. Eigentlich war der Chirurg mit Anfang fünfzig zu alt für eine derartige Strapaze, aber die Zeit drängte, das hatten die Vertrauten des Königs ihnen deutlich zu verstehen gegeben. Es galt, eine Seele zu retten, damit endlich Frieden einkehren konnte.

Noch einmal drückte Thonis seinem Pferd die Unterschenkel in die Seiten. Weißer Schaum flog aus den Nüstern seines Rosses. Auch seine eigene Haut war schweißbedeckt. Die Luft flimmerte, als endlich die Kirchtürme von Toulouse am Horizont auftauchten. Schon einmal hatte Thonis diesen Weg bereist. So viel war seitdem geschehen. Es kam ihm vor, als wäre er damals – war es wirklich erst vier Jahre her? – ein anderer Mensch gewesen. Was würde ihn heute erwarten?

Wenig später wurden sie in das Steinhaus in der Nähe der Basilika geführt. Zu Thonis’ Erstaunen drang aus dem Obergeschoss eine betörende Musik zu ihnen. Prompt stellten seine Nackenhaare sich auf. Sein Lehrmeister und er tauschten Blicke. Sie konnten nicht herausfinden, was es damit auf sich hatte, denn sie wurden zunächst in einen Saal geführt. Gleich darauf kam die Gräfin herein. Gegen die beiden groß gewachsenen Männer wirkte sie besonders zierlich. Als Eleonore von Aragón den dunklen Spitzenschleier hob, sah man, dass sie geweint hatte. In heftiger Atembewegung funkelte auf ihrer Brust ein Goldkreuz. Sie überflog den versiegelten Brief, den ihr Neffe, der König von Aragón, den Chirurgen ausgestellt hatte.

»Oh, Magister, Ihr seid unsere letzte Hoffnung!«, stieß die Edeldame hervor. »In diesem Haus gibt es niemanden, dem ich vertrauen kann. Jeder verfolgt nur seine eigenen Interessen, selbst bei meinem Stiefsohn kann ich nicht sicher sein, was ihn wirklich umtreibt. Von Anfang an war ich als fünfte Ehefrau meines Gatten von Missgunst umgeben. Aber jetzt geht es darum, die unsterbliche Seele dieses großen Sünders zu retten, mit dem der Allmächtige mich zusammengeführt hat.«

Tatsächlich kannte auch Thonis das Gerücht, dass Graf Raymond den ketzerischen Katharern angehörte, weshalb er vom Papst aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgestoßen worden war. Warum sonst sollte der Graf diese Ketzer in seinen Landen dulden, sogar fördern? Andere hielten sein Verhalten für religiöse Toleranz oder einfach Gleichgültigkeit. Graf Raymond schien scheinheilig und schwach zu sein.

»Die Exkommunikation ist eine schreckliche Strafe, dennoch betrachte ich es als meine Pflicht, einem Kranken zu helfen. Ich hörte von einer Schädelverletzung. Was ist dem Grafen zugestoßen?«, fragte der Magister.

Nervös drehte die Edeldame einen Rosenkranz aus Korallen zwischen den Fingern. »Mein Gatte war schon seit Wochen nicht gut zuwege. Bei einem Übungskampf stürzte er unvermittelt und schlug sich den Schädel auf. Die meiste Zeit ist er bewusstlos. Wenn er die Augen öffnet, kann er nicht sprechen. Keinen Ton bekommt er heraus. Sogleich wurden der Infirmarius der Hospitaliter und später ein Medicus gerufen, doch ihre Heiltränke und Salben waren nutzlos.« Eleonore von Aragón neigte sich dem Chirurgen zu. »Ich muss gestehen, dass ich den anderen Heilkundigen der Stadt nicht traue. Es geht um zu viel!«

»Heiltränke werden gegen einen geborstenen Schädel nicht viel ausrichten. Lasst uns zu dem Kranken gehen, dann können mein Gehilfe und ich uns an die Arbeit machen.«

Die Gräfin legte die Hand auf den Arm des Chirurgen. Ihre Augen hatten einen flehenden Zug angenommen. »Für mich zählt nur eins: seine Seele zu retten. Mein Gatte muss jeglichem Ketzertum abschwören und sich zum wahren Glauben bekennen. Das Haus Barcelona und das Königshaus von Aragón dürfen nicht dauerhaft von dem Frevel meines Gatten beschmutzt werden. Wie sehr ich dafür bete, dass der Allmächtige und die heilige Mutter Maria uns vergeben!« Innig presste sie die Lippen auf das Goldkreuz.

Im Saal fiel Thonis’ Blick auf die junge Frau, die von den Männern abgesondert auf einem Schemel saß, auf einer Laute spielte und sang. Sogleich schoss ihm die Hitze ins Gesicht, und er wandte sich ab. Hatte auch sie ihn gesehen? Zumindest hatte ihre Stimme kurz gezittert – oder hatte er sich das eingebildet? Die Geistlichen ignorierten sie missbilligend, doch die Augen der Bürger sowie eines Ritters ruhten wohlgefällig auf der Spielfrau. Der junge Mann war in einen bestickten Waffenrock gehüllt, an der Seite trug er ein kostbares Schwert.

Noch ehe der Magister die Anwesenden begrüßen konnte, schoss dieser Ritter auf sie zu. »Das ist also der Chirurgicus, den du zu Hilfe gerufen hast, Stiefmutter? Wie heißt er?«, fragte er scharf. Das musste Erbgraf Raymond der Jüngere sein. Der Erstgeborene des Grafen war ein Heißsporn, wie Thonis wohl wusste.

»Magister Wilhelm von Congénies. Er ist der Beste seines Fachs. Mein Neffe, König Jaume, hat ihn empfohlen.«

Der junge Ritter überlegte kurz, dann ging er lauernd um Thonis und seinen Lehrmeister herum. »Congénies? Der Name sagt mir etwas. Standet Ihr nicht in den Diensten unseres Erzfeindes Simon de Montfort?«

»Das ist richtig«, gab der Chirurg zu.

Raymond schnaubte. »Dann wollt Ihr jetzt also vollenden, was Euer Geldgeber nicht fertiggebracht hat? Meinen Vater töten? Unser Haus vernichten?«

Der Chirurg ließ sich von den Vorwürfen nicht aus der Ruhe bringen. »Der König von Aragón und Eure verehrte Stiefmutter baten mich um Hilfe. Da ich mich ihnen verpflichtet fühle, komme ich ihren Wünschen nach. Und nun lasst uns bitte zu Werke schreiten. Oder wollt Ihr der Genesung Eures Vaters im Wege stehen?«

Nun mischte sich Eleonore von Aragón ein. »Bitte vertrau ihm und mir. Haben wir nicht das gleiche Ziel?«, flehte sie ihren Stiefsohn an.

Der Erbgraf wedelte drohend mit dem Finger vor dem markanten Gesicht des Chirurgen. »Ich werde Euch und Euren Gehilfen im Auge behalten, Magister. Sobald ich den Eindruck habe, dass Ihr meinem Vater schaden wollt, werde ich mich nicht länger zügeln.« Er legte in einer deutlichen Geste die Hand an seinen Schwertknauf.

Die Ritter und Kleriker gingen auf Abstand, als die Chirurgen ans Krankenbett traten. Auf die Bitte der beiden Fremden hin wurden weitere Kerzen entzündet. Sie zogen sich dünne Lederhandschuhe an. Mit einem Spatel öffnete Magister Wilhelm den Mund des Grafen. Thonis leuchtete mit einer Öllampe hinein. Deutlich war zu sehen, dass die Zunge blau verfärbt war.

»Die Dura Mater ist verletzt«, hielt Magister Wilhelm fest.

»Was bedeutet das?«, fragte der Erbgraf scharf.

»Das Gehirn ist von drei Häuten umgeben. Erstens die Dura Mater, die äußere Hirnhaut. Zweitens die Pia Mater, die innere Hirnhaut. Und drittens die Arachnoidea, die Spinnwebhaut. Wenn die Pia Mater verletzt ist, kann der Patient nicht genesen«, referierte Magister Wilhelm, als stünde er vor seinen Studenten.

»So ein Urteil ist blanke Anmaßung. Ihr seid doch nicht Gott! Wie wollt Ihr wissen, wann jemand sterben wird!«, schimpfte der Mönch.

Der Erbgraf trat näher. Verwirrung und Ungeduld zeichneten sein Gesicht. »Aber diese Hirnhaut ist bei meinem Vater unversehrt, sagt Ihr.«

»So scheint es, ja.«

Behutsam nahm Thonis den Schleier vom Schädel des Grafen. Sie begannen mit der Untersuchung. Die Schwellung war gewaltig, der Verband unnütz. Auch die Bleisalbe und das Rosenöl, das Medicus oder Mönchsarzt aufgetragen hatten, damit sich die Schädelhaut zusammenzog und der Knochen wieder zusammenwuchs, würden nicht helfen. Sie würden schneiden müssen. Thonis spürte, wie die Musik ihn trotz dieser komplizierten Aufgabe mit Zuversicht erfüllte.

»Schluss jetzt mit diesem Geklimper, diesem Hexenwerk!«, rief der Mönch hinter ihnen genervt.

Der Vorwurf der Hexerei wog schwer. Thonis erwartete, dass der Gefährte der Spielfrau sich äußern würde, aber der Mann schwieg. Was für ein Feigling! »Lasst sie ruhig weiterspielen«, sagte Thonis schließlich. »Uns stört es nicht, und dem Kranken kann es nur nützen.«

»Unsinn!«

»Mit Verlaub: Nichts Übernatürliches haftet dieser Medizin an. Im Gegenteil, die Musik ist erprobte Heilkunst. Schon seit Jahrhunderten verordnen erfahrene Ärzte den Kranken die nützlichen Tonarten«, erklärte Thonis. »Das Saitenspiel der Musica hilft, verlorene Gesundheit zurückzubringen, das ist bekannt und wird an jeder hohen Schule gelehrt.«

Er breitete die Messer und Skalpelle auf einem Tischchen aus und legte den Schlafschwamm parat. Mit einem Kreuzschnitt trennte der Magister die Kopfschwarte auf. Als der Verletzte sich regte und stöhnte, hielt Thonis ihm den Schwamm unter die Nase. Die Mischung aus Mohnsaft, Alraune, geflecktem Schierling und anderen Kräutern tat schnell ihre Wirkung. Die Anwesenden beobachteten die Chirurgen argwöhnisch.

»Das Cranium ist zerbrochen. Die Knochensplitter des Schädels müssen entfernt werden, sonst wird die Wunde nicht heilen«, verkündete der Magister.

»Wird mein Gatte seine Stimme wiedererlangen, um sein Glaubensbekenntnis abzulegen? Die Exkommunikation muss aufgehoben werden!«, sagte die Gräfin aus einiger Entfernung mit zittriger Stimme.

»Das vorherzusagen wäre wahrlich Hexerei«, sagte der Magister. Mit einem Schaber kratzte er die verletzte Haut vom Schädel. Während der Prozedur hörten sie ein Seufzen, dann ein Poltern; die Gräfin war in Ohnmacht gefallen. Sofort kümmerte man sich um sie. Unbeirrt ergriff Thonis eine kleine Zange.

»Moment! Warum macht Euer Gehilfe weiter? Nur der beste Chirurg ist für meinen Vater gut genug«, protestierte der Erbgraf.

»Seid unbesorgt, mein Gehilfe ist dieser Aufgabe mehr als gewachsen.«

Thonis pickte die Splitter aus dem Fleisch, wobei er darauf achtete, die Hirnhaut nicht zu verletzen. Behutsam schob er das Winkeleisen unter den eingesunkenen Knochen, um ihn wieder anzuheben. Anschließend entfernte Thonis mit einer Zange die scharfen Spitzen des Bruchs. Nach dem Eingriff bedeckten die Chirurgen die Wunde mit Leinen, das sie vorher in Eiklar getaucht hatten. Sie wandten sich den Umstehenden zu.

»Ein Goldschmied soll eine passende Metallplatte herstellen, um das Loch zu verschließen. Mein Gehilfe wird auf einer Wachstafel die Größe einritzen. Die Haut wird dieses Plättchen später einschließen, so Gott will«, sagte Magister Wilhelm. Thonis war nicht so zuversichtlich. Die Dura Mater war stark beschädigt, was die Heilungsaussichten erheblich verringerte. Auch dauerte die Bewusstlosigkeit des Grafen schon sehr lange an.

»Wenn mein Vater stirbt, werde ich es Euch zur Last legen«, drohte der Erbgraf feindselig. »Eure Leben sind mit dem des Grafen auf Gedeih oder Verderb verbunden.«

Elena wusste nicht, wie lange sie gesungen und gespielt hatte, als sich der Zustand des Grafen endlich besserte. Mehrere Tage war die Operation her. Tage voller Musik und Nächte, die sie mit ihrem Herrn in einer engen Kammer hatte verbringen müssen. Stunde um Stunde fanden sich mehr Menschen im Krankenzimmer ein. Stetig nahm die Anspannung zu. Der Zustand des Grafen hatte Bedeutung weit über die Grafschaft hinaus, das war jedem klar. Ihr Herr nutzte die Gelegenheit, um Kontakte zu knüpfen und Gespräche zu führen. Den Chirurgen war er geflissentlich aus dem Weg gegangen, um einen Eklat zu vermeiden. Dabei hatten die Sätze des jungen Chirurgen Elena gutgetan. Es waren dürre Worte für das, was sie mit ihrer Musik bewirken konnte, und doch war sie dankbar dafür.

Ein Chirurg schnitt das Fleisch und fügte es wieder zusammen, ein Medicus verabreichte Salben und Heiltränke, aber was sie tat, wirkte unsichtbar.

Plötzlich schlug der Graf die Augen auf und murmelte etwas. Seine Frau küsste ihn erleichtert, doch er wies sie ab. Unter Tränen wich die Gräfin zurück. Sogleich redeten die Männer auf den Kranken ein. Der Predigermönch forderte Elena auf, endlich zu verschwinden, doch die Gräfin bestand darauf, dass sie blieb, als wären die Kunst der Chirurgen und Elenas Musik das Einzige, das ihren Gatten noch am Leben hielt. Der Perfectus wollte dem Grafen unter Gebeten die Hand auflegen, doch der Mönch fiel ihm in den Arm. Streit brach aus. Es ging um Katholiken und Ketzer, um den wahren Glauben und um die einzig richtige Art zu leben und zu sterben.

Schließlich verschaffte sich der Mann auf dem Totenbett Gehör. Schleppend war seine Rede, aber er sprach.

Elena nahm nur Wortfetzen auf.

»… wollte nur … mein Land … und mein Volk … vor den Kreuzfahrern schützen … Katharer … auch gute Menschen …« Er bäumte sich auf. »… in den Schoß der … Kirche zurückkehren …« Inständig bat der Graf um die Vergebung seiner Sünden. Aus Furcht vor dem Jüngsten Gericht und für sein Seelenheil übergab er sich selbst dem Herrn Gott, der heiligen Jungfrau Maria, dem heiligen Johannes und dem zu seinen Ehren gegründeten Hospital zu Jerusalem.

Wie gebannt spielte sie weiter. Ihr Gesang folgte dem aschgrauen Pfad, der von dem Kranken ausging und sich durch das Zimmer zu schlängeln schien. Seine versiegende Lebenskraft …

Da, auf einmal verschwand der Pfad im Nichts. Die Saite, die sie gerade gezupft hatte, riss. Es war vorbei. Der Kranke hatte es nicht geschafft.

Elena schoss hoch, als hätte sie geschlafen. Sofort verlor sie das Gleichgewicht und fiel. Ihr Herr fing sie auf. Verwirrt sah sie sich um. Was war geschehen? Wie viel Zeit war vergangen? Sie fühlte sich ausgelaugt und kraftlos, wie so oft, wenn sie für einen Kranken gespielt hatte. Schon rangen die Männer über dem Bett des Verstorbenen miteinander, zerrten an dem Ordensmantel, der über dem Leichnam lag, und stritten erbittert. Gleichzeitig stimmte ein Geistlicher das De profundis an. Es war vorbei.

»Die Chirurgen sind schuld! Ihr blutiges Handwerk hat meinem Vater den Tod gebracht! Ich wusste es doch! Sagt: Hat Amaury de Montfort Euch für diese Schandtat bezahlt?«, brüllte der hitzige junge Ritter mit tränenüberströmtem Gesicht und bedrohte Magister Wilhelm und dessen Gehilfen mit dem Schwert.

Ihr Herr zerrte Elena hinaus. Als sie auf der Treppe waren, ertönte ein weiterer Schrei. Dieses Mal erklang die Stimme des Mönchs: »Das Wiedererwachen des Grafen war Zauberei! Haltet die Hexe auf!«

Elena umklammerte ihre Laute, als könnte sie sich daran festhalten. Doch da wurde sie schon gepackt. Das Instrument fiel zu Boden und splitterte krachend. Ihr war, als zerbräche ihr eigenes Leben. Sie war eine Sklavin, rechtlos. Nichts besaß sie als die Musik. Schon oft war die Musik ihr letzter Halt gewesen. Erinnerungen durchzuckten ihren Geist. Sie sah sich selbst als Kind, singend, zum letzten Mal unbeschwert. Sah sich bei der Arbeit in den Gesang der anderen einstimmend. Erinnerte sich, wie sie für ihre Mutter gesungen hatte, um ihr den Lebensmut zurückzugeben. Würde ihre Gabe, die schon so vielen Menschen geholfen hatte, sie nun selbst das Leben kosten?

1

Westlich von Ponsa, Mallorca, Herbst 1217, fünf Jahre zuvor

Der Wind hatte gedreht. Eine Brise trug Gesang und Blütenduft über die Küstenlinie. Diffus brach der Sonnenschein durch das Blätterdach der Aprikosen- und Mandelbäume. Wie selbstverständlich stimmte Elena in die Melodie ein. Ohne es zu sehen, wusste sie, was die anderen Sklaven gerade taten. Gesang begleitete jede ihrer Tätigkeiten, machte selbst die schwersten Arbeiten, wie das Ausheben der Bewässerungsgräben, leichter. Jetzt gerade wurden die Tücher unter den Olivenbäumen ausgebreitet und die Schilfrohrstangen verteilt, mit denen die reifen Früchte von den Ästen geklopft wurden. Vor ein paar Tagen war der erste Herbststurm über die Insel gefegt und hatte ihnen bereits einen Teil der Arbeit abgenommen; sie mussten sich eilen, damit die Oliven nicht verdarben.

Elena beschleunigte ihren Schritt. Im Takt des Gesangs setzte sie ihren Holzstab auf. Die Olivenernte war eine angenehme Arbeit, bei der alle Sklaven zusammenkamen. Es war einer der kostbaren Momente, die sie mit ihren Eltern verbringen konnte.

Nur noch einen Felssporn musste sie mit den Ziegen überwinden. Gedankenverloren sah sie auf – und erschrak. Das Zicklein zupfte an dem Dornbusch an der Abbruchkante. Wie war es denn so schnell dorthin gekommen?

»Halt! Nicht dahin!«, rief sie und spurtete los.

Da rutschte das Jungtier schon mit einem Huf ab. Im letzten Augenblick riss Elena es zurück. Die Dornen verfingen sich in ihrem Kittel, schnitten in ihre Wange und ihren Unterarm. Erleichert atmete sie auf trotz des Schmerzes. Das war gerade noch gut gegangen! Sie hätte Schläge bekommen, wenn sie ein Tier verloren hätte. Oder sie hätte diese Aufgabe verloren, was beinahe noch schlimmer wäre. Der Aufseher hatte schon oft gemeint, dass sie, groß und kräftig, wie sie war, besser für andere Aufgaben tauge. Aus aufgerissenen bernsteinfarbenen Augen sah das Zicklein sie an. Elena versenkte ihr Gesicht in das rötlich braune Fell.

»Du dummes Ding!«, murmelte sie und setzte es wieder ab. Sogleich wollte das Zicklein wieder die knospenden Blätter fressen, aber Elena trieb es vom Abhang weg.

Als sie es in Sicherheit wusste, sah sie sich noch einmal um. Vor ihr fiel das Land zum Meer hin ab. Links von ihr war die Hauptstadt mit dem Palast des Herrschers, ihren Minaretten, den trutzigen Stadtmauern und den dahinter verborgenen Souks, Gärten und Bädern zu sehen, von denen sie schon so viel gehört hatte. Eine Bewegung in der Bucht von Ponsa fing Elenas Blick. Ein Handelsschiff war vor Anker gegangen. Es tanzte auf den Wellen, und der Wind riss in den Segeln. Ruderboote näherten sich dem Ufer. Wer war das? Ein bunter Baldachin kam in ihr Blickfeld, von Dienern getragen. Das musste ein bedeutender Besucher sein, wenn ihr Herr ihn persönlich empfing. Yaqub Ibn Nasser war ein altgedienter Grundbesitzer und Kaufmann, der es angeblich nicht mehr nötig hatte, die Mühen der Handelsreisen auf sich zu nehmen.

Elena genoss noch einen Augenblick das Spiel von Sonne und Wolken über dem Mare Mediterraneum. Das Meeresblau kontrastierte wunderbar mit den Braun- und Ockertönen der Felsen und dem frisch sprießenden Grün. Der Winterfrühling war für sie die schönste Jahreszeit. Die ersten Regenfälle nach dem sonnendurchglühten Sommer erfrischten Himmel und Erde. Alles blühte auf. Selbst ihre Mutter schien Lebensfreude zurückzugewinnen.

Elena riss sich von der Aussicht los. Sie durfte nicht trödeln, ihre Eltern warteten sicher schon auf sie. Natürlich waren die Ziegen inzwischen in verschiedene Himmelsrichtungen ausgebüxt. Elena hatte Mühe, sie wieder zusammenzutreiben. Bald wurde der Gesang lauter und verlieh auch den Schritten des Mädchens noch mehr Schwung. Dann konnte sie den Olivenhain sehen. Silbergrün zitterten die Äste der knorrigen Olivenbäume unter den Schlägen der Sklaven. Teppiche aus Butterblumen leuchteten neben den Tüchern, die unter den zerfurchten Baumstämmen ausgebreitet waren. Die Oliven wirkten wie ein schwarzer Tröpfelregen. Frauen füllten die Früchte von den Tüchern in große Säcke, die anschließend auf Eselskarren zum Landhaus gebracht wurden. Elenas Mutter Loukia las danebengefallene Oliven in ihrem Kittel auf und scherzte mit Itys; Elenas Vater klopfte die Früchte aus dem Baum. Er war so hochgewachsen, dass er sich kaum strecken musste, um die höchsten Äste zu erreichen. Die unbeschwerten Stimmen ihrer Eltern weckten Erinnerungen in Elena, die ihr ins Herz schossen: ihr kleiner Bauernhof an der thrakischen Küste. Ihre Familie bei der gemeinsamen Feldarbeit. Der Übermut ihres kleinen Bruders, der in ihren Gesang alberne Wortspiele einflocht. Der jähe Schmerz nahm ihr für einen Augenblick den Atem. So war es früher gewesen. So sollte es sein. So wäre es auch heute noch, wenn ihr Dorf nicht überfallen und sie als Sklaven verschleppt worden wären. Resigniert atmete sie tief ein und aus. Ihr Schicksal hatte sich gewandelt. Es war sinnlos, sich dagegen aufzulehnen. Genau genommen hatten sie Glück gehabt, dass sie auf dem Sklavenmarkt nicht als Familie auseinandergerissen und an verschiedene Herren verkauft worden waren. So konnten sie sich fast jeden Tag sehen, wenn auch manchmal nur aus der Ferne.

In diesem Augenblick bemerkte Elena, dass sich jemand vor ihr aufbaute. Groß und muskelbepackt, mit einem harten Gesicht. Es war Cassim, der Aufseher.

»Da bist du ja endlich. Hast wohl wieder getrödelt? Vor dich hingeträumt, was?«, sagte er in einem Tonfall, der sie den Blick senken ließ. Mit Cassim war nicht zu spaßen. Stumm schüttelte sie den Kopf. Seine rauen Finger umfassten ihr Kinn und drehten ihren Kopf, sodass er die zerkratzte Wange begutachten konnte. »Wie siehst du überhaupt aus?«

»Ich habe … Ein Zicklein hatte sich in einem Dornenbusch verheddert«, log Elena und schob eine Haarsträhne wieder unter das Kopftuch. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass ihr Vater sie beobachtete. Itys hatte ein aufbrausendes Temperament. Er würde niemals zulassen, dass jemand ihr etwas antat. Aber der Preis für seinen Kampfgeist war hoch. Als er das letzte Mal gegen schlechte Behandlung protestiert hatte, war er beinahe totgeschlagen worden. Wann ließ Cassim sie endlich wieder los?

»Du solltest nicht mehr die Ziegen hüten, das habe ich dem Herrn schon gesagt. Ein so hübsches Mädchen und allein …« Cassim musterte sie so lange, dass ihr unbehaglich zumute wurde. Was meinte er damit? Elena fand sich nicht hübsch. Sie war zu groß, zu knochig, nur ihr Haar mochte sie, das dick und schwarz war wie das ihrer Mutter.

»Es wäre doch ein Jammer, wenn ein anderer das Vergnügen hätte«, setzte Cassim mit einer Stimme hinzu, die sie erschauern ließ.

»Elena, komm her! Die Frauen brauchen deine Hilfe!«, rief ihr Vater da.

Cassims Kiefer mahlten, sein Griff wurde grob. Elena versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Endlich ließ er sie los. »Bring die Ziegen in den Pferch, nun mach schon«, meinte er grimmig.

Besorgt beobachtete Elena beim Weitergehen, dass Cassim direkt auf ihren Vater zusteuerte. Ein Wortwechsel. Die harschen Töne und der ängstliche Blick ihrer Mutter sagten ihr alles. Cassim riss ihrem Vater den Rechen aus der Hand.

»Nicht!«, schrie Elena noch.

Der Gesang der anderen Sklaven stockte, dann sangen sie halbherzig weiter, von Furcht getrieben, ebenfalls den Zorn des Aufsehers auf sich zu ziehen. Ihre Mutter warf sich Cassim zu Füßen. Einen Augenblick sah es so aus, als ob dieser Itys verprügeln würde, aber dann beließ er es bei einem einzelnen kräftigen Schlag und wandte sich ab. Elena fing den warnenden Blick des Vaters auf. Itys machte sich wieder an die Arbeit, als wäre nichts geschehen. Bebend trieb sie die Ziegenherde weiter; sie wusste, dass jeglicher Protest die Situation nur noch mehr zuspitzen würde.

Am Pferch traf sie auf den Sklaven Niko, der ebenfalls eine Ziegenherde gehütet hatte. Niko war etwa in ihrem Alter und wie sie aus Thrakien verschleppt worden. Er half ihr, die Ziegen hinter den Zaun zu scheuchen.

Niko musterte sie. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

Elena wollte nicht darüber sprechen, sondern sah zu der Gesellschaft vor dem Landgut hinüber. Der Besuch wurde ins Haus geführt. Ihr Herr trug einen Edelstein an seinem Turban und einen fein besticken Kaftan. Er zeigte gern, wie reich er war, und unter den Sklaven gab es einige, die davon überzeugt waren, dass er in seinem Landhaus unvorstellbare Schätze verbarg. Der Gast hingegen war schlichter gekleidet und trug an seinem Gürtel mehrere Beutel. Nur sein wilder Bart fiel ins Auge.

»Ein Händler, märchenhaft reich und mächtig. Unser Herr hat angeblich ein großes Geschäft mit ihm vor«, wusste Niko. »Wenn du mich fragst, geht es um die Lieferung Tuche, die vor ein paar Tagen hier angelandet wurde. Still und heimlich nachts, damit niemand etwas davon mitbekommt und Zoll ford… «

»He, ihr da! Macht schneller!«, unterbrach Cassim sie laut. Elena und Niko eilten sich, seinem Befehl nachzukommen.

Der Singsang war wieder gleichmäßiger geworden. Abwechselnd sangen Frauen und Männer im Rhythmus ihrer Arbeit. Elena machte sich daran, mit ihrer Mutter die Oliven einzusammeln, und stimmte in den Gesang mit ein. Langsam beruhigte sie sich. Wenn sie alle miteinander arbeiteten, wenn das Geschwätz der Einzelnen verstummt war, das sie oft genug verwirrte, und wenn ihre Eltern bei ihr waren, dann war sie am glücklichsten.

Im Mittagshoch wurden Wassereimer und ein Kessel herbeigeschafft. Die Arbeiter setzten sich in den Schatten des Baumes, den sie zuletzt abgeerntet hatten. Zu Elena und ihrer Familie gesellten sich auch Elenas Freundinnen Ocsona und Zaza sowie die alte Jaquinta. Loukia füllte ihrem Mann und ihrer Tochter mit frischem Rosmarin gekochte Kichererbsen in Holzschalen ein. Itys berührte die Hände seiner Frau, als sie ihm die Schale reichte. Elena sah, dass er sich kaum beherrschen konnte, sie in die Arme zu schließen. Loukia lächelte tapfer. Ihr schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und Fältchen hatten sich neben das Muttermal auf ihrer Wange gegraben. Sie hatte nie den Verlust ihres Hofs, ihrer Freiheit und vor allem ihres kleinen Sohnes, der bei dem Überfall der Sklavenhändler umgekommen war, verwunden. Als Cassim zum Herrenhaus ging, legte Itys die Hand auf Elenas Schulter; kurz schmiegte sie sich an ihn. Ihr Vater war hager und verschwitzt, die harte Arbeit hatte seinen Körper gezeichnet.

»Bist du auch wirklich nicht verletzt?«, fragte Elena.

»Halbherzig hat er zugeschlagen, um sein Gesicht zu wahren. Kann es sich nicht leisten, einen tüchtigen Arbeiter zu verlieren. Du solltest ihm aber aus dem Weg gehen! Wenn ich sehe, wie er dich anstarrt, wird mir ganz übel!«, fügte er leise hinzu.

Loukia stocherte in ihrem Eintopf. »Wenn wir nur hier verschwinden könnten!«, sagte sie.

Itys sah sie liebevoll, aber auch ein wenig resigniert an. »Du weißt doch, dass das unmöglich ist. So oft schon habe ich die Fluchtwege ausgekundschaftet, aber die Mauer um das Landgut ist hoch und die Wächter sind zahlreich. Wohin sollten wir auch fliehen? Wir haben kein Geld, kein Schiff. Hier ist niemand, der uns helfen kann. Nicht umsonst lebt unser Herr so weit draußen. Hier kann er schalten und walten, wie er will.«

»Vielleicht ist das auch gut so. In Madina Mayurqa wurden erst kürzlich wieder christliche Sklaven gezwungen, sich zu Allah zu bekennen. Islam oder Tod, heißt es«, wusste die alte Jaquinta.

»So wird in al-Andalus schon lange mit den Dhimmis umgegangen. Wir konnten uns glücklich schätzen, dass hier bislang keine Verhältnisse wie auf dem Festland bestanden haben, was Ungläubige angeht«, meinte Itys bitter.

Über Mallorca herrschte ebenfalls die strenggläubige Dynastie der Almohaden, das hatte auch Elena gehört. Allerdings schien Abu Yahya, der Wali der Inselgruppe, wenig davon zu halten, die Bekehrung der christlichen Sklaven mit drakonischen Maßnahmen voranzutreiben. Auch auf diesem Hof gingen Christen und Mauren freundlich miteinander um. Sie waren alle Sklaven – warum sollten sie sich gegenseitig das Leben schwer machen? Ocsona glaubte ebenfalls an Allah, was ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat.

Das Stimmengewirr lenkte Elena ab. Die Sklaven plauderten, scherzten, turtelten und stritten. So viele Gefühle waren im Spiel, dass es Elena Mühe kostete, sich auf ihre Eltern zu konzentrieren. Auch deshalb hütete sie gern die Ziegen. Es fiel ihr schwer, Menschen einzuschätzen. Oft genug sagten sie das eine und meinten das andere oder umgekehrt.

»Hast du mir zugehört?« Ihr Vater sah Elena an. Sie blinzelte. Was hatte Itys gesagt? »Halt dich von Cassim fern. Ich kann dich nicht immer schützen! Ich muss versuchen, mit dem Herrn zu reden. Vielleicht versetzt er dich ins Haus oder erteilt dir die Erlaubnis zu heiraten.«

»Tu das nicht! Sonst wird er noch selbst auf Elena aufmerksam!«, protestierte Loukia.

»Das wäre nicht das Schlechteste«, mischte sich Ocsona ein. Sie war eine pragmatische junge Frau, die über die Gabe verfügte, in allem das Beste zu sehen. »Wenn Allah, gepriesen sei sein Name, will, dass Elena schwanger wird, sorgt der Herr für das Kind und Elena bekommt bessere Aufgaben. Außerdem wird sie sich dann überlegen, ob sie sich zum wahren Glauben bekennen will. Also, ich hätte nichts dagegen«, sagte sie augenzwinkernd.

»Mit unserem Herrn das Lager teilen?! Wie kannst du das sagen? Er ist uralt! Arme Elena! Ich würde nie freiwillig …« Die feinsinnige Zaza schüttelte sich vor Ekel.

»Ich kann auf Elena aufpassen«, warf Niko nun grimmig ein.

Itys nahm dankbar das Angebot an. Loukia reichte ihrem Mann ihre Schüssel; sie hatte kaum einen Löffel gegessen. Elena hingegen war rot geworden. Es beschämte sie, wie über sie geredet wurde.

Schon kehrte Cassim zurück und trieb sie wieder zur Arbeit. Wenig später ritten ihr Herr und sein Besucher im Gefolge ihrer Diener herbei. Plaudernd sahen die Männer ihnen eine Weile bei der Arbeit zu. Anschließend trabten sie in Richtung des neu erschlossenen Landes mit seinen bepflanzten Terrassen, Bewässerungsgräben und Windmühlen davon.

Als die Sonne sich in das Meer senkte und die aufgezogene Wolkenschicht in einen veilchenfarbenen Vorhang verwandelte, kehrten die Sklaven müde und schmutzig zu ihren Quartieren zurück. Beim Abschied wollte Loukia noch einmal die Hand nach Itys ausstrecken, doch die Geste erstarb. Es hatte keinen Sinn, sie würden ohnehin getrennt werden.

Fackelschein erhellte das flache Dach des großen Hauses, auf dem ihr Herr mit seinem Gast unter einem Sonnensegel saß. Die Wortfetzen, die der Wind zu ihnen trug, klangen angespannt, fand Elena.

Am Brunnen, an dem die herzförmigen Blätter einer stacheligen Schlingpflanze ihren Duft verströmten, wuschen die Frauen sich notdürftig.

»Sicher hat er ihn mit Zickleinbraten, Datteln und köstlichem Rotwein bewirtet – und für uns gibt es wieder nur Eintopf, Wasser und Brot«, meinte Zaza und zog eine Schnute.

»Was geht’s uns an«, unterband Loukia das Gespräch und schob ihre Tochter zu dem einfachen Holzanbau auf der Rückseite des Herrenhauses. »Das Leben ist eben nicht gerecht«, setzte sie leise hinzu.

Elena lächelte ihre Freundin entschuldigend an. Ihre Mutter schlurfte auf ihre Unterkunft zu, als wäre sie uralt. Es war nicht nur die Plackerei des Tages – zehn Olivensäcke hatten sie gefüllt –, die sie niederdrückte. Wie stets schien Loukia in ein tiefes Loch zu fallen, wenn sie Itys nahe gewesen und wieder von ihm getrennt worden war. Als spare sie sich jedes Lächeln nur für ihn auf und verlöre, wieder verlassen, jegliche Freude. Elena verletzte dieses Verhalten insgeheim; zählte sie denn nicht?

»Willst du gar nichts essen?«, fragte Elena.

Loukia rollte sich statt einer Antwort auf dem Stroh, das den gestampften Lehmboden bedeckte, wie eine Katze zusammen.

»Mutter, wegen Cassim … heute Nachmittag …« Elena fehlten die Worte. Sie wusste, was Frauen und Männer miteinander taten, und auf keinen Fall wollte sie es mit dem Wächter tun. Dennoch sehnte sie sich danach, mit ihrer Mutter über ihre Gefühle zu sprechen, und wünschte sich, von ihr getröstet zu werden. Zart berührte Elena Loukias Schulter, doch ihre Mutter drehte sich weg. Wenig später bebte Loukia, und Elena hörte sie weinen. Leise begann sie zu singen. Es war ein Wiegenlied, aber sie wusste, dass es ihre Mutter trösten würde, und tatsächlich beruhigte Loukia sich langsam und schlief dann ein.

Irritiert schlug Elena die Augen auf. Ihr war, als hätte ein ungewohntes Geräusch ihren Schlaf unterbrochen. Sie lauschte. Nur das leise Atmen und Schnarchen der etwa zwanzig Mädchen und Frauen, die mit ihr diese Hütte teilten, und das Rütteln des Windes im Gebälk waren zu hören. Sicherheitshalber hob sie den Kopf. Auf dem Tisch neben der Tür brannte die kleine Öllampe, wie immer des Nachts. Nichts bewegte sich. Durch den Spalt in der Holzwand sah sie, dass es draußen stockfinster war. Es dauerte noch, bis Cassim sie wecken würde. Elena gähnte und legte sich wieder in das Stroh. Beruhigend spürte sie die Wärme ihrer Mutter neben sich. Es war die einzige Zeit des Tages, an der sie ihr so nah sein konnte.

Elena war gerade wieder eingenickt, als ein hartes Schrappen sie erneut aufschrecken ließ. Jemand hatte den Riegel der Hütte geöffnet und riss nun die Tür auf.

»Hoch mit euch! Alle raus hier, aber zack!«, dröhnte eine Männerstimme.

Schlaftrunken rieb Elena sich die Augen. Das war nicht Cassim. In der Tür stand ein Krieger in Kampfpanzer. Ihr Herz raste plötzlich, als müsste es zerspringen. Etliche Frauen schrien.

»Raus mit euch, sonst setzt es was!«

Das Antlitz des Kriegers sah unglaublich roh aus. Die Narbe in seinem Gesicht war schrecklich. Was war mit seiner Nase passiert? Seine Haut war dort, wo diese sein sollte, flach und vernarbt.

Verängstigt fuhr Elena auf. Krieger drangen in die Kammer ein. Einige der Sklavinnen zogen sich die Decken über den Kopf, andere, wie Zaza, versuchten, sich unter Tisch und Bänken zu verstecken. Achtlos stießen die Krieger die Möbel um. Sie zerrten die Frauen hoch und trieben sie hinaus. Panik machte sich breit, das Jammern und Weinen war unbeschreiblich.

Im flackernden Licht entdeckte Elena, dass ihre Freundin Ocsona sich des vernarbten Anführers erwehrte, der sie hinauszerren wollte. Er knurrte wütend, dann verpasste er Ocsona eine Ohrfeige, sodass sie zu Boden ging. Der Vernarbte stürzte sich auf Ocsona und schob ihren Rock hoch.

»Werd dir zeigen, wer hier das Sagen hat!«, stieß er hervor. Elena wollte ihrer Freundin zu Hilfe kommen, doch ihre Mutter zog sie mit erstaunlicher Kraft weiter.

»Schau nicht hin, wir können ihr nicht helfen!«

Mitleid und Hilflosigkeit verstörten Elena. »Was ist passiert? Wer sind die?«, fragte sie.

Keine Antwort. Elena bekam einen Stoß und stolperte über Jaquinta, die sich aufzurappeln versuchte. Das Mädchen wollte der Alten aufhelfen, wurde aber weitergestoßen. Wer waren die Männer? Wie hatten sie die Mauern des Landguts und die Wächter ihres Herrn überwinden können? Feuerschein glänzte auf dem Helm der Krieger. Woher kam auf einmal das helle Licht? Und woher dieser beißende Geruch? Sie sah sich um. Die Öllampe war umgefallen und hatte das Stroh entzündet.

»Es brennt!«, schrie Elena.

Der Strohbrand breitete sich rasend schnell aus. Etliche Sklavinnen ergriff jetzt erst recht Todesangst. Ocsonas Schreie übertönten alles. Verzweifeltes Kreischen, ein hellgelbes Inferno. Elena riss sich von ihrer Mutter los, um ihrer Freundin zu Hilfe zu kommen, konnte aber im Gedränge nicht mehr zurück. Die Hilflosigkeit war unerträglich. Es drängte sie, die Hände auf die Ohren zu schlagen und laut zu singen, um die Hilfeschreie nicht mehr hören zu müssen. Ihr Herz pumpte. Ihre Mutter umfasste ihr Handgelenk, als wollte sie es nie wieder loslassen.

Nur noch durch das Nadelöhr der Tür! Doch im Freien gefror Elenas Blut erst recht. Bewaffnete umringten das Haus und hielten die Sklavinnen mit ihren Schwertern in Schach. Elenas Blick flackerte über die Szenerie. Auch die männlichen Sklaven waren hinausgetrieben worden. Wo war ihr Vater? Das Feuer hatte die erste Hüttenwand erfasst, es strahlte in den Nachthimmel und erhellte das umliegende Gesträuch. Küste und Meer konnte man nur erahnen. Auf der Hauptseite des Herrenhauses brannte es ebenfalls. Kopflos versuchten Diener, die Flammen zu löschen. Die massive Holzpforte an der Wehrmauer hing schief in den Angeln. Und da waren die anderen – Krieger, die Warenballen und Truhen aus dem Gebäude schleppten, die die Bewohner auf die Knie zwangen, die Flüchtenden einfingen. Ihr Herr kauerte auf der Erde. Die Hände hatte er flehend über den Kopf erhoben; neben ihm stand ein Bewaffneter, der ihn mit gezücktem Säbel befragte. War das der Besucher von vorhin?

Einige der Kämpfer wurden abberufen, um beim Transport der Waren zu helfen.

Geistesgegenwärtig rief Loukia die Frauen und Mädchen zu sich und wisperte: »Die Pforte ist offen. Wartet einen günstigen Augenblick ab und rennt ins Landesinnere, ihr könnt euch in den Höhlen verstecken. Wenn ihr zunächst in verschiedene Richtungen lauft, werdet ihr entwischen können. Diese Teufel können ja nicht überall sein.«

»Und wenn doch? Sie werden uns töten!«, sagte Zaza angstvoll. Andere Sklavinnen suchten hingegen bereits Lücken in der Bewachung.

»Was haben wir für eine Wahl? Gott wird uns schützen!«, sagte Loukia, doch Elena hörte, wie die Stimme ihrer Mutter zitterte. Sie umarmte Zaza noch einmal, dann lief die Freundin los. Elena dachte an Ocsona. War ihre Freundin noch immer in der brennenden Hütte? Ihre Schreie waren verstummt. In diesem Augenblick schob ihre Mutter sie weg. »Lauf, Elena!«

»Und du?«, fragte Elena verunsichert.

Loukias Augen leuchteten ungewohnt entschlossen. »Ich gehe nicht ohne Itys!«

Ein Krieger hämmerte auf sein Schild. »Auf das Schiff mit euch! Oder müssen wir euch erst Beine machen?«, trieb er sie an.

In diesem Augenblick blitzte in der Finsternis etwas auf. Männer brachen hinter dem Rücken des Kriegers aus dem Gesträuch. Es waren die männlichen Sklaven – Elenas Vater führte sie an! Sie hielten Messer, Forken und Knüppel in den Händen.

Elena und ihre Mutter tauschten erschrockene Blicke. Würde es den Sklaven gelingen, die schwer bewaffneten Krieger durch einen Überraschungsangriff zu überwältigen?

Loukia zog die Aufmerksamkeit ihres Bewachers auf sich: »Wir folgen euch auf keinen Fall. Wir bleiben hier. Wir gehören hierher«, sagte sie laut.

»Jetzt nicht mehr. Ihr seid jetzt Besitz von Ser di Marbi.«

Ein paar Schritte noch, dann hätte ihr Vater den ersten Krieger erreicht. Auf keinen Fall durften die Männer vorher entdeckt werden! »Wir sind keine Sklaven! Meine Tochter und ich stammen aus dem Königreich Thessaloniki – wir sind freie Menschen! Lasst uns gehen!«, forderte Loukia mit erhobener Stimme.

Der Krieger lachte. »Und wenn wir das nicht tun? Was passiert dann?«

Beinahe lautlos griffen die Sklaven jetzt an. Elena vergaß vor lauter Anspannung fast zu atmen. Itys warf sich auf den Rücken des Kriegers und stach ihm ein Messer in den Hals. Der Mann griff nach Elenas Vater und zerrte ihn über die Schulter. Itys krachte auf den Boden. Schon hob der Krieger sein Schwert gegen ihn – machte ihm denn die Verletzung gar nichts aus? In diesem Augenblick knickten seine Knie ein, und Itys konnte ihm die Waffe entreißen. Gleichzeitig zog Niko einem Krieger einen Knüppel über und schlug auf ihn ein, bis dieser sich nicht mehr rührte.

»Angri…«, konnte einer ihrer Bewacher noch schreien, ehe er zu Boden gerissen und gewürgt wurde. Die Nachricht verbreitete sich dennoch im Nu.

Die ersten Sklavinnen rannten zum Dickicht. Mehrere Frauen verharrten wie von Angst erstarrt, auch Elena. Ihre Eltern! Loukia entwand einem toten Krieger seinen Dolch und hielt einen anderen damit auf Abstand. Itys war in einen brutalen Zweikampf verwickelt. »Lauf, Elena! Bring dich in Sicherheit!«, rief Loukia.

Sie konnte doch nicht einfach fliehen, während die anderen um ihr Leben kämpften! Elena zögerte zu lange. Ein muskulöser Arm legte sich um ihre Taille und zerrte sie weg. Panik brachte ihr Herz zum Stolpern. Elena trat um sich und versuchte, ihren Angreifer zu beißen und zu kratzen. Loukia versuchte ebenfalls, Elena zu befreien, doch der Krieger wehrte sie ab und schlug ihr dabei den Dolch aus der Hand.

»Itys, wir brauchen Hilfe!«, schrie Loukia.

Doch Elenas Vater hatte selbst Mühe, sich seines Gegners zu erwehren. Unvermittelt klaubte Loukia den Dolch wieder auf und rammte dem Mann, der Elena festhielt, die Schneide in den Rücken.

»Nicht meine Tochter!«, brüllte sie.

Der Griff um Elenas Leib lockerte sich, und sie strampelte sich frei. Im Fallen sah sie, wie ein weiterer Krieger Loukia nachstürzte und mit seinem Schwert ausholte.

»Nein!«

Elenas Schrei gellte über den Hof. Nun geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Vom Herrenhaus stürmten Krieger heran. Ihr Vater fuhr herum und hechtete über den Kampfplatz. Die Schwertklinge blitzte im Feuerschein auf. Itys stieß Loukia aus der Gefahrenzone.

Mit einem dumpfen Geräusch, das Elena noch lange bis in ihre schlimmsten Albträume verfolgen würde, senkte sich die Klinge in den Brustkorb ihres Vaters. Itys’ Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Er fiel auf die Seite, sein Blut nässte sogleich die Erde.

»Itys!«

Loukia rappelte sich auf und eilte zu ihrem Mann. Ein verzweifelter, zerschmetterter Ausdruck zeichnete ihr Gesicht. Auch Niko wollte ihm zu Hilfe kommen, doch es war zu spät. Stattdessen stürzten sich die nächsten Krieger auf die zwei.

Elena stand reglos da. Sie dachte nicht mehr nach, sie fühlte nur noch. Unbändige Trauer und grenzenlose Wut füllten sie aus. Mit einem beinahe tierischen Schrei warf sie sich auf denjenigen, der ihrem Vater das angetan hatte, und prügelte auf ihn ein. Den Schlag, der ihr das Bewusstsein nahm, sah sie nicht kommen.

2

Corvey, Weserbergland, und Bremen, Anfang November 1217

Quälend langsam kroch die Herbstsonne durch das Fenster und tauchte die Schreibstube in ein diffuses Licht. Seit der Bote ihm die Nachricht gebracht hatte, konnte Thonis das Ende des Unterrichts kaum abwarten. Seine Finger wanderten zu dem Brief, der in seinem Hosenbund steckte. Noch immer versetzte ihn die Nachricht in Erregung. Als er den strengen Blick des Scholasticus bemerkte, brachte er seine Hände wieder auf das Pult. Mit seinen sechzehn Jahren stand er aus der Sicht seines Lehrers ohnehin unter Generalverdacht, sündigen Gedanken nachzuhängen, zumal er nicht, wie die meisten anderen Stiftsschüler, für die geistliche Laufbahn vorgesehen war.

Thonis beugte sich tiefer über seine Wachstafel und schrieb schneller. Seine Finger waren so kalt, dass seine Schrift eckig geriet. In diesem Gemäuer war es aber auch eisig! Der Kanonikerstift Sankt Paul war zur Zeit Karls des Großen errichtet und seit bestimmt dreihundert Jahren nie erneuert worden, wie Thonis mutmaßte. Wieder wanderte sein Blick zum Fenster. Das Leben draußen schien ihm verführerischer denn je. Es drängte ihn, Corvey zu verlassen, auch wenn es die Geburtsstadt seiner Mutter war und diese ihm immer wieder vom Leben im Weserbergland vorgeschwärmt hatte. Viele Adelige schickten ihre Söhne auf diese Schule, aber Thonis fand die Stiftsherren unerträglich langweilig. Dieser heilige Ernst! Diese Wichtigtuerei! Das eine Jahr, das er noch hier verbringen sollte, erschien ihm unfassbar lang. Selbst der Unterricht machte ihm nur selten Spaß, denn er bestand in der Hauptsache im Aufsagen von Vokabeln, auswendig gelernten Regeln und gelehrten Disputen. Die Lehrer gingen dabei stumpf nach ihren Büchern vor. Da Thonis über ein gutes Gedächtnis verfügte, wurde ihm die Zeit schnell lang. Er brauchte sich die griechischen oder lateinischen Vokabeln nur einmal anzuschauen und behielt sie im Kopf; auch mathematische Probleme löste er schnell.

Am Pult neben ihm tippte Hayo gedankenverloren mit seinem Stift auf seine pickelige Stirn. Auch er, ein Sohn ritterlicher Dienstmannen, verfügte über eine schnelle Auffassungsgabe, weshalb er im Unterricht oft seine Gedanken schweifen ließ.

Thonis kratzte mit dem Fingernagel etwas Kerzenwachs vom Holz, rollte eine Kugel und schnipste sie über den Gang. Treffer! Hayo fuhr auf. Als Thonis fragend die Augenbraue hochzog, formten die Lippen des Freundes ein Wort. Thonis zog verständnislos die Braue höher – und noch höher, als er am Ohr gerissen wurde.

»Habt Ihr nur Unfug im Kopf?«, fragte der Scholasticus scharf.

»Im Gegenteil – ich war schon fertig mit der Aufgabe, Magister!«, antwortete Thonis schnell und hob in der Hoffnung, das Reißen zu verringern, den Hintern vom Schemel. Die anderen Schüler starrten auf ihre Wachstafeln und arbeiteten konzentriert weiter. Manche unterdrückten ein Grinsen, das halb schadenfroh und halb erleichtert wirkte, weil es nicht sie erwischt hatte.

»Lass sehen.« Scholasticus Henricus ließ endlich los und nahm sich die Wachstafel. Er prüfte Thonis’ Aufzeichnungen lange, fand zu seiner sichtlichen Enttäuschung nichts auszusetzen, dann fuhr er zu Hayo herum. »Oder seid Ihr etwa der Tunichtgut und habt Junker Thonis zu diesem Unfug angestachelt?«

Hayo blinzelte nervös. »Nein, ich dachte gerade an eine Handschrift des Abtes Bovo, die ich nach Unterrichtsschluss in der Bibliothek des Benediktinerklosters einsehen darf.«

Eine tiefe Falte zeigte sich auf der Stirn des Lehrers. »Ihr lügt doch!«

Hayo schüttelte empört den Kopf. »Es handelt sich um den Kommentar des Abts zu Boethius’ Consolatio.«

Magister Henricus nickte so überrascht wie anerkennend. »Zum Trost der Philosophie also. Euer Wissensdurst ist immerhin besser als das Versagen dieser Holzköpfe.« Der Scholaster schlug einem Schüler hart auf den Hinterkopf, der sich nach wie vor mit der lateinischen Übersetzung mühte. »Bist du etwa noch immer nicht fertig? Dann musst du diese Aufgabe am Abend fertigstellen. Wir kommen zur Mathematik.« Er schritt die Reihen ab und holte prophylaktisch die Rute von seinem Schreibpult. Die Schüler stöhnten verhalten.

Thonis suchte schnell das nötige lateinische Vokabular zusammen, um den Scholaster abzulenken. »Magister, verzeiht, wenn ich Euch unterbreche, aber wann werden wir uns wieder der Astronomie widmen? Sie gehört doch ebenfalls zu den septem artes liberales.«

Der Scholaster wippte auf seinen Füßen und zog dabei die Rute über die Handfläche. »Wollt Ihr mich etwa über die Lehrinhalte belehren?«

»Keineswegs. Als ich gerade die Sonne so sah, fiel mir ein, was man sich über die Kreuzpredigt von Oliver dem Sachsen erzählt: Es soll eine himmlische Erscheinung gegeben haben, als er sprach. Ich frage mich, wie das sein kann.«

»Als Ihr die Sonne so saht, fielen Euch die Sieben Freien Künste ein?«, wiederholte der Scholasticus spöttisch. »Mir scheint, sie fielen Euch ein, als ich die Kunst der Mathematik erwähnte.«

»Im Gegenteil: Die Kunst der Mathematik interessiert mich brennend. Die Reden dieses Magisters Oliver scheinen jedoch viele Menschen zu bewegen, was nicht verwunderlich ist, schließlich rief er zu einer weiteren Pilgerfahrt ins Heilige Land auf und machte sich selbst auf den Weg.«

Jetzt, wo es um eine Frage des Glaubens ging, schien der Scholasticus nicht länger ausweichen zu wollen. »Die Rückgewinnung des Heiligen Landes ist die vornehmste Pflicht eines jeden Christenmenschen. Gott hat einige Prediger entsandt, um uns daran zu erinnern. Auf ihrer Predigerreise sind Magister Oliver, Johannes von Xanten und Konrad von Marburg auch in Corvey eingekehrt, und wir hatten Gelegenheit, uns von ihrer Rechtschaffenheit zu überzeugen. Mit den Kreuzen, die der Allmächtige an den Himmel malte, beweist er, dass diese Kreuzprediger in seiner Gunst stehen. Ihr Einfluss trägt Früchte: Viele Tausend Friesen haben bereits das Kreuz genommen.«

»Habt Ihr die Astronomie auch an der hohen Schule von Bologna studiert? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie der Unterricht in einem Fach wie Astrologie dort aussieht«, hakte Thonis nach, um zu einem Thema zu kommen, dass ihn noch mehr interessierte. Er wusste, dass es seinem Lehrer ebenfalls gefiel, von seiner Studentenzeit zu erzählen.

»Nicht viel anders, als Ihr es hier gewohnt seid. An der hohen Schule von Bologna war die Himmelskunde nur ein Teil dessen, was wir lernen mussten. Wichtig ist dabei auch die Frage, wie die Himmelszeichen Einfluss auf unseren Charakter und unser Leben nehmen. Die Astrologie wurde dort unterrichtet von dem geachteten Magister …«

Thonis lehnte sich zurück. Sein Lehrer kam, wenn man ihn auf sein Studium ansprach, verlässlich vom Hundertsten ins Tausendste. Als das Geläut der Kirchenglocken einsetzte, sprach der Scholasticus noch immer. Die Schüler ließen beim ersten Ton trotzdem Schreibgriffel und Wachstafeln fallen und liefen hinaus. Zornig rief der Lehrer ihnen nach, dass er den Unterricht beende und keine Glocke.

Thonis bedankte sich für den lehrreichen Vortrag und setzte seinen Lehrer darüber in Kenntnis, dass sein Vater ihn für die nächsten Tage nach Hause bestellt habe. Er steckte sein Lateinbuch sorgfältig ein – er war einer der wenigen Schüler, die ein eigenes Exemplar besaßen – und verließ mit Hayo die Schule. Aus seinem Quartier holte Thonis seinen Beutel, dann durchschritten sie das Stiftsgelände, das sich an der Weser erstreckte, und liefen schließlich auf die Stadt zu.

»Welche weltbewegenden Probleme hast du gerade gewälzt, statt dich auf Latein zu konzentrieren, du Tunichtgut?«, fragte Thonis grinsend.

»Diesem Lateinunterricht könnte sogar unsere Milchmagd folgen, so langsam ist der Scholaster!« Hayo schoss einen Kiesel weg und setzte ernst hinzu: »Ich dachte über die Frage nach, ob es tatsächlich eine alles bewegende Seele der Welt gibt, wie Boethius behauptet.«

Thonis dachte einen Augenblick nach. »Eine Weltenseele? Aber stünde diese nicht im Gegensatz zum christlichen Glauben?«

»Schon. Dennoch war Abt Bovo, seinem Kommentar nach zu urteilen, sehr angetan von der Idee. Ich würde gerne mehr darüber wissen. Boethius bezieht sich in seinen Schriften auch auf Aristoteles, aber leider findet sich von diesem Gelehrten in der Klosterbibliothek anscheinend wenig.«