Der christliche Glaube erklärt in 50 Briefen - Gerhard Lohfink - E-Book

Der christliche Glaube erklärt in 50 Briefen E-Book

Gerhard Lohfink

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Beschreibung

Das Buch des Neutestamentlers Gerhard Lohfink führt Nichtchristen in den christlichen Glauben ein und möchte zugleich eine Hilfe für Christen sein, die neu nach ihrem Glauben fragen. Alles Wichtige wird informativ und fesselnd in Gestalt von 50 Briefen entwickelt. Die 50 Briefe richten sich an ein Ehepaar, das begreifen möchte, was zum wirklichen Christsein gehört und wie die reale Praxis des Glaubens aussieht. Die Briefe antworten auf viele Fragen und Schwierigkeiten, die sich im Lauf des Briefwechsels einstellen. Die Leserinnen und Leser des Buches werden hineingenommen in die spannende Geschichte einer Familie, die Schritt für Schritt in den Glauben hineinwächst. Gerhard Lohfink schreibt in seinem Nachwort: "Mit diesem Buch war es eine seltsame Sache. Die Familie Westerkamp hat es nie gegeben – und es gibt sie doch. Nicht nur deshalb, weil es viele ähnliche Lebenswege gibt. Nein, noch aus einem anderen Grund: Je länger ich dieser fiktiven Familie Briefe schrieb, desto lebendiger stand sie mir vor Augen, vor allem auch die neunjährige Hannah, die mit ihrem Wunsch nach der Erstkommunion (obwohl sie gar nicht getauft war) alles in Bewegung brachte. Am Ende habe ich fast um die ganze Familie gezittert."

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Gerhard Lohfink

Der christliche Glaubeerklärt in 50 Briefen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (EPUB E-Book): 978-3-451-81795-3

ISBN (PDF E-Book): 978-3-451-84795-0

ISBN (Print): 978-3-451-34795-5

Inhalt

Vorwort

1. Brief Wie sich Glaube ereignet

2. Brief Vom Tier zum Menschen

3. Brief Ausgespannt auf Unendlichkeit

4. Brief Der unendliche Gott

5. Brief Schöpfung aus Liebe

6. Brief Die Schöpfung geht weiter

7. Brief Auf welche Weise sich Gott mitteilt

8. Brief Woher das Leid kommt

9. Brief Abraham, Vater des Glaubens

10. Brief Warum gerade Israel?

11. Brief Der Auszug aus Ägypten

12. Brief Der Tod im Schilfmeer

13. Brief Die Sozialordnung vom Sinai

14. Brief Die Verankerung der Menschenrechte

15. Brief Rebellion in Israel

16. Brief Jesus, ganz aus Israel

17. Brief Jesus, ganz aus Gott

18. Brief Jesus, die Gegenwart Gottes in der Welt

19. Brief Der Anspruch Jesu

20. Brief Kann ein Einzelner die Welt erlösen?

21. Brief Der Tod Jesu – ein Opfertod?

22. Brief Die Auferstehung Jesu von den Toten

23. Brief Die Erscheinungen des Auferstandenen

24. Brief Die Gegenwart Jesu im Heiligen Geist

25. Brief Das Geheimnis des dreieinen Gottes

26. Brief Das Kirchenjahr

27. Brief Was mit Kirche gemeint ist

28. Brief Die Kraft der Sakramente

29. Brief Aufnahme in die Kirche

30. Brief Stärkung mit Heiligem Geist

31. Brief Tischgemeinschaft mit Jesus

32. Brief Umkehr und Heilung

33. Brief Heil für die Kranken und Sterbenden

34. Brief Handeln in der Vollmacht Jesu

35. Brief Zeichen für die Treue Gottes

36. Brief Leben aus den Sakramenten

37. Brief Leben aus der Heiligen Schrift

38. Brief Leben aus den Geboten

39. Brief Leben aus dem Gebet

40. Brief Das Vaterunser

41. Brief Das „Ehre sei dem Vater“

42. Brief Gemeinschaft der Heiligen

43. Brief Was kommt nach dem Tod?

44. Brief Vor dem Angesicht Gottes

45. Brief Das Gericht

46. Brief Die Barmherzigkeit des Richters

47. Brief Vereint mit dem Auferstandenen

48. Brief Die Vollendung der Schöpfung

49. Brief Was Ostern bedeutet

50. Brief Wagnis des Glaubens

Nachwort und Dank

Glossar

Namen und Abkürzungen der biblischen Bücher

Quellen

Für Eliza Pieciul-Karmińska

Vorwort

Die Christen Europas versammeln sich noch in ihren großen alten Kirchen. Aber die Gemeinden werden kleiner, und manches, was früher selbstverständlich war, zerfällt. Christsein ist auch für viele Getaufte schon lange keine Lebensform mehr. Und für viele andere ist die Frage nach Gott oder nach der Kirche bedeutungslos geworden. Seltsamerweise wächst jedoch zugleich die Zahl derjenigen, die neu nach dem christlichen Glauben fragen. Sie möchten ihn genauer kennenlernen. Sie wollen wissen, was das Christliche denn eigentlich sei. Nachdem mir in den letzten Jahren immer mehr Menschen mit Fragen nach dem christlichen Glauben begegnet sind, wage ich, das vorliegende Buch zu schreiben.

Ich wähle für das, was ich sagen will, die Briefform, weil ich die Form der „Abhandlung“ so weit wie möglich vermeiden möchte. Ich schreibe dabei an eine fiktive Familie. Das schließt nicht aus, dass in dieses Buch auch Briefe einfließen, die ich an wirkliche Adressaten geschrieben habe.

Selbstverständlich wäre über den christlichen Glauben noch viel mehr zu sagen. Ich muss auswählen. Aber ich hoffe, dass in diesen 50 Briefen die wichtigsten Dinge eben doch gesagt werden. Natürlich weiß ich, dass man Christsein nicht aus Büchern lernen kann. Es braucht vor allem das Miteinander mit anderen Christen. Es braucht das Füreinander in einer christlichen Gemeinde. Sie zu finden und in ihr zu leben wünsche ich all meinen Leserinnen und Lesern von Herzen.

In großer Dankbarkeit widme ich dieses Buch der Übersetzerin meiner Bücher ins Polnische, Dr. Eliza Pieciul-Karmińska, Professorin an der Universität Poznań.

München, im Januar 2018

Gerhard Lohfink

Begriffe, die im christlichen Glauben eine Rolle spielen, Außenstehenden aber unbekannt sein könnten, werden nach Möglichkeit im Text selbst behandelt. Wenn das nicht möglich ist, werden sie am Ende des Buches in einem Glossar erklärt. Ein Sternchen* hinter dem betreffenden Begriff weist darauf hin. Ganz am Ende des Buches gibt es außerdem ein Verzeichnis für die Abkürzungen aller biblischen Bücher.

1. BriefWie sich Glaube ereignet

Sehr geehrter Herr Westerkamp,

Sie haben mich um etwas gebeten, das mir zuerst einmal eine schlaflose Nacht beschert hat: Ich soll Ihrer Frau und Ihnen selbst helfen, den christlichen Glauben kennenzulernen. Das ließ mich nicht einschlafen. Ich sah zunächst nichts als Schwierigkeiten. Kann ich das überhaupt? Der Glaube ist doch mehr als ein Paket mit Informationen, das man einfach weiterreichen könnte. Zugleich hat mich Ihre Bitte aber auch gelockt: Kann man sich etwas Besseres denken, als mit jemandem über die Vernunft und die Schönheit des christlichen Glaubens zu reden? So sage ich Ihnen beiden mit diesem Brief zu. Ich will es versuchen.

Es muss kein Nachteil sein, dass wir so weit auseinander wohnen – Sie im Norden und ich ganz im Süden. Das Internet bietet uns viele Möglichkeiten, Distanzen schnell zu überbrücken. Ich möchte mich allerdings vorläufig einmal auf längere Briefe beschränken. Die Briefform verlangt, dass wir uns (relativ) kurz fassen, erlaubt uns aber dennoch, klare und begründete Aussagen zu machen. Ich selbst muss auf wenigen Seiten jeweils über einen bestimmten Aspekt des Glaubens sprechen. Sie Ihrerseits sollten offen sagen, wo Sie Fragen oder Schwierigkeiten haben. Natürlich könnte es sinnvoll sein, dass wir uns irgendwann einmal für längere Gespräche treffen. Aber versuchen wir es doch zunächst einmal mit Briefen.

Um was geht es überhaupt beim christlichen Glauben? Man stößt da sofort auf eine Spannung, die alles beherrscht: Es geht um das Höchste, das es gibt: Es geht um Gott. Und über Gott kann man nicht reden, wie man über irgendwelche „Dinge“ redet. Gott ist heilig, verborgen und unfassbar. Gott ist nicht Welt. Er hat die Welt geschaffen, aber er ist nicht selber Welt. Das ist die eine Seite.

Andererseits geht es beim christlichen Glauben gerade um die Welt und um sehr handgreifliche Dinge. Es geht um die großen und kleinen Dinge unseres realen Lebens. Alles, was wir überhaupt tun, hat immer auch mit dem Glauben zu tun und soll von ihm geformt werden. Der Glaube ist mehr als eine Stütze. Er ist mehr als eine Hilfe für Notlagen. Er ist eine Lebensform.

Diese Spannung zwischen dem unsichtbaren Gott, vor dem all unsere Wörter und Vorstellungen versagen, und der realen, sichtbaren Welt, die unser Leben ausmacht, muss durchgehalten werden. Gott ist nicht Welt – und doch will er unsere Welt. Er ist unfassbar – und doch müssen wir über ihn reden, und zwar mit Wörtern, die aus unserer Welterfahrung stammen.

Mit dieser elementaren Spannung hängt etwas anderes eng zusammen: Der Glaube ist etwas, das wir nicht machen können. Er muss uns geschenkt werden. Wir können ihn nicht aus uns selbst hervorbringen. Er ist Geschenk, er ist Gnade.

Und doch: Wenn einer zum Glauben kommt, sind dabei immer Menschen im Spiel. Ich selbst hatte sehr gläubige Eltern. Ich weiß nicht, ob ich ohne sie je zum Glauben gekommen wäre. Und mir sind an entscheidenden Stellen meines Lebens andere begegnet, deren Glauben ich gespürt habe und an denen ich sehen konnte, wie das geht, als Christ zu leben. Außerdem gab es Bücher, die mir geholfen haben, den Glauben tiefer zu begreifen. Sie waren nicht vom Himmel gefallen, sondern von Menschen geschrieben. Kurz gesagt: Der Glaube kommt von Gott – und wird uns dennoch von Menschen vermittelt.

Am deutlichsten wird das alles bei Jesus: Er kommt ganz aus Gott – und ist doch wirklicher Mensch, gebildet aus der Geschichte Israels*. Was er verkündet, ist das Wort Gottes – und doch begegnet dieses Wort ganz und gar in Menschenwort. Das ist die Spannweite, die ungeheure und fruchtbare Spannung, die zum christlichen Glauben gehört.

Aber nun endlich zum Auslöser Ihres Briefes! Wie Sie schreiben, ist Ihre neunjährige Tochter Hannah vor einigen Monaten zu Ihnen gekommen und hat erklärt, sie möchte mit anderen Mädchen in ihrer Klasse zur Erstkommunion* gehen. Wenn ich Ihren Brief richtig verstanden habe, sind Sie selbst nicht getauft. Ihre Frau ist getauft und gefirmt, hat dann aber jeden Kontakt zur Kirche verloren. Und dahinein kam nun plötzlich der Wunsch Ihrer Tochter. Sie waren beide so klug, ihr das, was sie wollte, nicht einfach auszureden.

Man könnte einen solchen Wunsch bei einer Neunjährigen ja sehr einfach erklären: Mittun wollen, dasselbe machen wollen, was auch die Freundinnen machen. Zugleich ist dann meist eine gehörige Portion Neugier im Spiel: Neugier auf das Fremde, das Andere. Wahrscheinlich hat sogar das weiße Kleid, das die Mädchen oft noch bei der Erstkommunion tragen, eine Rolle gespielt. Die Psychologen werden da vieles ins Feld führen, und es ist ja auch nicht falsch, was sie sagen. Ihre Frau und Sie haben sich jedoch solchen psychologischen Erklärungen nicht einfach überlassen. Sie haben Ihrer Tochter nicht gesagt: „Ach komm, das geht vorbei!“ Sie sind vielmehr mit ihrem Wunsch behutsam umgegangen und haben ihn respektiert. Sie schreiben: „Wir wussten ja nicht, was da wirklich in ihr geschieht. Und wir wollten nichts zerstören.“

Hier haben Sie nun genau die Spannung, von der ich vorher gesprochen hatte: Auf der einen Seite kann man den Wunsch, mit dem Ihre Tochter zu Ihnen kam, ganz normal und natürlich erklären. So läuft es im Leben. Andererseits handelt Gott gerade mithilfe solch menschlicher Dinge. Sie und Ihre Frau waren dafür offen, dass es Größeres geben könnte, über das man nicht verfügt und das man nicht antasten darf. Gerade deshalb haben Sie mir geschrieben. Sie wollten Ihrer Tochter nichts wegnehmen – und wussten zugleich, dass der ganze Vorgang auch Sie selbst betrifft.

Hannah hat dann Taufunterricht bekommen, sie ist getauft worden und hat wenig später zusammen mit mehreren ihrer Schulfreundinnen die Erstkommunion empfangen. Sie schreiben: „Es waren jeweils zwei sehr schöne Tage, still und doch festlich. Wir beide, meine Frau und ich, haben an unserer Tochter etwas Neues entdeckt, das wir noch nicht an ihr kannten: eine Bestimmtheit und einen großen Ernst. Beides hat uns tief berührt. Als Hannah ihren Kopf über die Taufschale beugte, kamen meiner Frau die Tränen.“

Das alles hat dann in Ihnen beiden gearbeitet. Sie möchten Hannah jetzt nicht allein lassen. Sie möchten nicht, dass Ihrer Tochter etwas wichtig ist, das Sie selbst überhaupt nicht oder doch nur sehr wenig kennen. Aber genau genommen ist es noch mehr: Sie möchten vielleicht denselben Weg gehen, den Hannah jetzt voll Freude geht.

Man sieht gerade am Weg Ihrer Tochter, wie sich Glaube ereignen kann: Es geht dabei sehr menschlich zu. Da kommt keine Stimme vom Himmel. Da sehen wir nicht plötzlich eine völlig neue Welt. Da muss auch nicht unbedingt die alte Welt zusammenbrechen. Aber es kommt eben doch etwas Neues auf uns zu, mit dem wir nie gerechnet hätten. Gott kann uns auf die vielfältigste Weise erreichen. Der Glaube kommt allein von ihm, und er ist doch immer durch Menschen vermittelt. Und der Glaube hat eine Geschichte. Irgendwo fängt er an, oft mit scheinbar unbedeutenden Dingen. Und dann geschieht das Unerwartete, und es wird spannend.

Wenn ich es recht überlege, bin ich jetzt doch froh über die schlaflose Nacht. Ich bin Ihnen beiden dankbar, dass Sie mich in die Situation gebracht haben, mich auf das einzulassen, was da in Ihrer Familie geschieht. Es wird mir selbst gut tun. In dieser Dankbarkeit grüße ich Sie und Ihre Frau sehr herzlich.

2. BriefVom Tier zum Menschen

Sehr geehrter Herr Westerkamp,

vielen Dank für Ihre freundliche – nein, für Ihre so herzliche Antwort! Sie sind mit meinem Vorschlag ganz einverstanden. Genauso auch Ihre Frau. Fangen wir also vorläufig einmal mit Briefen an. Sie wollten allerdings mehr tun, als nur meine Briefe lesen. Da Sie in Ihrem Beruf ständig recherchieren müssen, haben Sie das auch gleich im Blick auf den Glauben getan. Sie haben im Internet bei Wikipedia unter dem Stichwort „Kommunion“ nachgesehen und dort gelesen, die heilige Kommunion sei „Spendung und Empfang der Gaben von Brot und Wein, die den Leib und das Blut Christi repräsentieren“. Und nun fragen Sie nach dem „Blut“ und was hier eigentlich mit „repräsentieren“ gemeint sei.

Soll ich darauf jetzt eingehen? Ich möchte es lieber (noch) nicht. Und zwar aus folgendem Grund: In meinem ersten Brief habe ich mehrfach von Gott gesprochen – dass er heilig, verborgen und unfassbar sei. Schon das war im Grunde zu viel. Ich kann nicht einfach anfangen, fröhlich und sozusagen freihändig über Gott zu reden und erst recht nicht über die Sakramente der Kirche. Da muss noch anderes vorausgehen. Bevor man über Gott spricht, sollte man zuerst über die Welt und den Menschen sprechen – ich jedenfalls sehe das so. Unser Vorhaben hat also beim Menschen anzufangen. Wie sollen wir ihn betrachten? Was macht ihn aus? Ist er lediglich ein hochspezialisiertes Tier mit einem Gehirn, das größere Speicherkapazität und dichtere neuronale Vernetzungen hat als die Gehirne der Affen?

Das 20. Jahrhundert war noch nicht sehr alt, da sprach der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, von den „drei großen Kränkungen der Menschheit“. Die erste Kränkung sei die Einsicht des Kopernikus gewesen, dass die Erde gar nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Die zweite Kränkung sei das, was wir seit Charles Darwin wissen: Der Mensch hat sich aus der Tierwelt entwickelt. Und die dritte Kränkung: Ein großer Teil des menschlichen Seelenlebens entzieht sich unserem Bewusstsein. In unserem Unbewussten geschehen Dinge, über die wir keine Macht haben. Wir sind nicht Herr im eigenen Haus. Sigmund Freud behauptete: Diese drei revolutionären Einsichten haben die Menschheit erschüttert. Sie haben den Menschen tief gekränkt. Er ist nicht mehr Mittelpunkt der Welt. Er ist nicht mehr abgesondert von den Tieren. Er ist nicht mehr Herr seiner selbst.

Ich muss gestehen, dass ich diese drei berühmten „Kränkungen“ bis heute nicht verstanden habe. Ich habe mich noch nie als Mittelpunkt der Welt gefühlt. Und es ist noch sehr die Frage, ob das unsere Vorfahren je getan haben. Es erschüttert mich auch nicht, dass der Planet Erde nur ein Stäubchen in einem riesigen Universum ist. Vielmehr bewundere ich das Weltall und staune darüber, dass in seinen unendlich weiten, eiskalten und von tödlicher Strahlung durchfluteten Räumen überhaupt Leben möglich ist.

Und die abgrundtiefen Räume des Unbewussten? Natürlich erschrecke ich, wenn in der Nacht Träume in mir aufsteigen und ich beim Aufwachen begreife, wie viele konfuse Phantasien, wie viele Versagensängste und wie viele dunkle Wünsche in meiner Seele zu Hause sind. Und ich stelle bekümmert fest, dass ich am Tag immer wieder Dinge tue, die ich eigentlich gar nicht tun möchte. Doch ich erfahre eben auch, dass ich mir bestimmte Dinge verbiete, dass ich meine Phantasie zügeln kann und dass aus den Quellen des Unbewussten nicht nur Verworrenes hervorkommt, sondern auch Notwendiges und Schönes: Lösungen für Dinge, die am Tag zuvor noch unlösbar schienen, und darüber hinaus Zuneigung, Hingabe und Dankbarkeit. Weshalb sollte ich über das Reich des Unbewussten in mir gekränkt sein? Verbindet es mich doch mit der Herkunft des Menschen und den Tiefen der Welt. Ist nicht gerade in dieser Tiefe auch der Ort, wo Gott sein leises Wort zu mir sprechen kann?

Und warum sollte es mich kränken, dass der Mensch in einem überaus langen und hochkomplizierten Prozess aus dem Tierreich entstanden ist? Ich staune über den unfasslichen Reichtum der Arten, der mir ständig begegnet: über die winzigen blauen Blumen am Rand der Wiese, von denen ich bis heute nicht weiß, wie sie heißen – über das unbeschreibbare fluoreszierende Grün eines Käfers, der mir neulich über die Hand krabbelte – über den geschmeidigen Gang der Katze, die jeden Morgen über meinen Rasen flaniert – und über die Stubenfliegen, die ich eigentlich nicht mag und deren Startgeschwindigkeit mich immer von neuem verblüfft, wenn meine Hand zuschlagen will.

Sollte es mich wirklich kränken, dass Gott den Menschen nicht aus einem Lehmkloß geformt hat, wie es die Bibel gleich am Anfang in symbolisch-poetischer Verdichtung beschreibt? Dass Gott vielmehr eine unfassliche Evolution in Gang setzte: über organische Verbindungen – über Makromoleküle – über Bakterien und Algen – über Quallen und Lurche – über die ersten Landtiere – über Wirbel- und Säugetiere – über unsere affenähnlichen Vorfahren bis schließlich hin zum homo sapiens?

In meinem vorausgegangenen Brief, Herr Westerkamp, war davon die Rede gewesen, dass Gott durch Menschen handelt. Diese Grundeinsicht der Theologie ist nun zu erweitern: Gott greift niemals durch Einzelaktionen in den Gang der Welt und der Geschichte ein. In der Geschichte handelt er immer durch Menschen; bei der Entstehung des Lebens (und natürlich auch sonst) handelt er durch sogenannte Zweitursachen*: Gase verbinden sich, Moleküle entstehen, erste Zellen mit Stoffwechsel und Reproduktion bilden sich heraus und so immer weiter bis zum Menschen – bis zu ihrer Tochter, die jetzt Schulaufgaben macht oder im Garten spielt. Alles entwickelt sich aus einer Kette „natürlicher“ Ursachen – aber das Ganze kommt vom Anfang bis zum Ende aus der Schöpferhand Gottes.

Nein, ich kann in all dem weder eine Kränkung des Menschen noch eine Herabsetzung Gottes sehen! Eine Schöpfung, die Gott so will, dass sie sich vom Urknall bis zum Geist des Menschen entfaltet, ist für mich noch viel größer und bewundernswerter als die alten Weltentstehungs-Mythen der Menschheit. Dabei ist festzuhalten, dass die Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel gar kein Mythos ist: Hier werden bereits mit theologischer Schärfe alte Mythen entzaubert: Die Sonne ist kein Gott und der Mond ist keine Göttin, sondern sie sind „Leuchtkörper“, die Gott geschaffen hat (Gen 1,16). Man durfte sie mit den Mitteln der damaligen Naturerkenntnis beschreiben.

Ich kann einfach keine Kränkung darin sehen, dass mein Skelett, mein Nervensystem, mein Verdauungstrakt und überhaupt mein gesamter Organismus weit in das Tierische zurückreichen und dort über Jahrmillionen in vielen Anläufen und zahllosen Fehlversuchen entwickelt wurden.

Ich weiß natürlich, dass gerade diese Verwurzelung des Menschen im Tierreich viele Forscher dazu gebracht hat, dem Menschen Geist und Freiheit abzusprechen. Seine angebliche Willensfreiheit sei nichts anderes als bloße Einbildung und Selbsttäuschung. In Wirklichkeit werde der Mensch in allem, was immer er tue, von physikalischen und chemischen Prozessen gesteuert. Nichts gegen physikalische und chemische Prozesse! Natürlich gibt es sie überall und unablässig, und ohne sie gäbe es kein menschliches Leben.

Und doch sind Standpunkte dieser Art eine leichtfertige Vereinfachung. Es ist ungefähr so, als würde ich von einem berühmten und faszinierenden Gemälde sagen: „Was ist dieses Gemälde? Es ist absolut nichts anderes als 700 Gramm Leinwand, drei Kilo Rahmen und dann noch 200 Gramm Farbe in Form von Pinselstrichen.“ Die Angaben selbst sind zwar nicht zu bezweifeln. Sie treffen zu. Aber werden sie dem Bild gerecht? Das Gemälde ist entschieden mehr!

Ich habe aber noch ein besseres Beispiel: Wenn alles, was wir tun, durch rein physikalische und chemische Prozesse festgelegt ist, so sind wir nichts anderes als Marionetten, Bio-Maschinen und Roboter. Menschliche Zuneigung ist dann eine Wunschvorstellung, Liebe eine Illusion. Doch wir wissen genau: Das Faszinierende an der Liebe ist gerade, dass sich mir der andere in Freiheit zuwendet. Wenn seine Zuwendung nichts als Steuerung und Zwang wäre, könnte ich sie auf die Dauer nicht ertragen. Einen Roboter benutzt man, aber man liebt ihn nicht.

Selbstverständlich setzen wir nicht den lieben langen Tag Akte der Freiheit. Das meiste von dem, was wir tun, ist zur Gewohnheit gewordene Regel, ist Ritual und Routine. Aber dann kann die Stunde kommen, wo wir entscheiden müssen, was wir zu wählen haben, und wo wir schließlich in Freiheit das tun, was in vielen kleinen Schritten gereift ist.

Im Übrigen ist es schon seltsam: Gerade diejenigen Hirnforscher, die Willensfreiheit konsequent leugnen, geben sich größte Mühe, dass wir ihre Sichtweise übernehmen. Sie sagen wörtlich: „Wir sollten endlich aufhören, von Freiheit zu sprechen!“ So etwa der Neurophysiologe Wolf Singer! Das ist nichts anderes als ein Appell an uns. Ein Appell aber setzt selbstverständlich Freiheit voraus. Es sei denn, der Satz „Wir sollten endlich aufhören …“ sei als eine Art Zauberformel gedacht, die magisch und unwiderstehlich wirken soll. Wissenschaftler in der Rolle von Magiern? Man sieht: Wer die Willensfreiheit leugnet, verwickelt sich unweigerlich in Selbstwidersprüche.

Herr Westerkamp, es kann sein, dass Ihnen und Ihrer Frau all das eine Selbstverständlichkeit ist, und dass Sie beide in dieser Hinsicht überhaupt keine Probleme haben. Sie lieben Ihre Tochter und wissen, dass diese Liebe mehr ist als tierischer Instinkt oder hormonale Steuerung. Und Sie lieben einander und möchten, dass hinter Ihrer Liebe keine verdeckten Zwänge stehen, sondern freie Zuneigung. So zu denken ist etwas zutiefst Menschliches, ja Christliches. Die Kirche hat immer groß vom Menschen gedacht. Sie sagt: Der Mensch ist von Gott geliebt und er kann auf diese Liebe in Freiheit Antwort geben.

Dass er dies kann, ist das Ziel aller Evolution, ist das Ziel eines unendlich langen Weges – von den ersten Blaualgen bis zu den lieben Augen, mit denen Ihre Frau und Ihre Tochter Hannah Sie anschauen. Ich grüße Sie alle drei sehr herzlich.

3. BriefAusgespannt auf Unendlichkeit

Sehr geehrter Herr Westerkamp,

vielen Dank für Ihre Antwort. Sie weisen mich im Zusammenhang mit meinem letzten Brief auf eine Begebenheit hin, von der Sie irgendwann einmal gehört haben. Ich habe sie im Internet gesucht und ohne große Mühe gefunden. Es handelt sich um Folgendes:

Im Jahre 1931 begann der amerikanische Psychologe Professor Winthrop Kellogg ein Experiment, das er gut vorbereitet und über das er viel nachgedacht hatte. Er ließ die sieben Monate alte Schimpansin Gua inmitten seiner Familie leben. Sie wurde zusammen mit seinem zehn Monate alten Sohn Donald aufgezogen und in allem gleich behandelt – also Bad, Strampelhosen, Küsschen, Kinderstuhl, Kinderwagen usw. Kellogg wollte sehen, ob das junge Schimpansenkind menschliche Gewohnheiten annehme, zum Beispiel Manieren bei Tisch oder Erlernen einer wenigstens rudimentären menschlichen Sprache. Das Experiment nahm jedoch einen anderen Ausgang, als der Herr Professor erwartet hatte.

Zwar fügte sich das Affenkind halbwegs in seine Umgebung ein. Doch die eigentliche Anpassungsfähigkeit zeigte sich bei Donald. Er lernte nur erschreckend langsam sprechen. Dafür aber beherrschte er schon bald perfekt den Futterruf der Schimpansin. Mit stoßartigem Keuchen bat er immer wieder wie Gua um Orangen. Er konnte besser klettern als alle Gleichaltrigen seiner Umgebung und bewegte sich, auch als er schon laufen konnte, viel lieber auf allen Vieren. Er trug Gegenstände im Mund herbei und leckte Essensreste vom Fußboden ab.

Als er eines Tages anfing, seine Schuhe zu benagen, reichte es seinem Vater. Er brach das Experiment ab (die Mutter hatte das Ganze sowieso nicht gewollt). Und siehe: Der kleine Donald holte, als Gua außer Haus und in einem Zoo war, die fehlende Entwicklung sehr schnell nach. Später promovierte er zum Doktor der Medizin. Als seine Eltern gestorben waren, nahm er sich das Leben.

Was zeigt diese Geschichte? Dass es viel leichter ist, einen Menschen zum Affen zu machen, als einen Affen zum Menschen? Doch im Ernst: Der Mensch trägt etwas in sich, das ihn grundlegend von allen Tieren unterscheidet. Seine Entwicklungsstufe kann von Tieren nicht nachgeholt werden. Der Vorgang der Menschwerdung lässt sich nicht wiederholen. Aber was macht den Menschen zum Menschen?

Noch nicht sein Werkzeuggebrauch. Den gibt es auch bei Tieren. Zum Beispiel bei bestimmten Finkenarten, die Dornen in den Schnabel nehmen und mit ihnen nach Nahrung stochern. Und schon unsere tierischen Vorfahren haben dicke Markknochen mithilfe von Kieselsteinen aufgeschlagen.

Ist es die Sprache? Auch Verständigungssignale sind im Tierreich weit verbreitet. Ebenso Informationsweitergabe. Ich erinnere mich an einen Film, der uns einst im Biologieunterricht gezeigt wurde. Er demonstrierte den Schwänzeltanz von Kundschafter-Bienen im Bienenstock. Dieser Tanz macht die anderen Bienen auf eine Nahrungsquelle aufmerksam und gibt ihnen nicht nur die Richtung an, in die sie fliegen müssen, sondern sogar die Entfernung.

Tiere vollbringen durchaus Intelligenzleistungen, oft sogar in einem bewundernswerten Ausmaß. Und es gibt bei höher entwickelten Tieren Anhänglichkeit, Treue und selbst so etwas wie Trauer, bei anderen gegenseitige Hilfe und Arbeitsteilung. Nicht einmal Ichbewusstsein dürfen wir bei einer Reihe von Tieren völlig ausschließen. Wo liegt dann der Unterschied? Was unterscheidet den Menschen vom Tier?

Der Unterschied liegt im freien Willen, über den ich schon gesprochen habe. Und der Unterschied liegt im Denken. Ein Grundbaustein des Denkens ist die Bildung von Begriffen. Wir sagen zu jenem seltsamen Gebilde, vor dem wir sitzen und von dem wir essen, nicht „Das da“, sondern wir sagen „Tisch“. Damit haben wir einen Begriff gebildet, der unzählige Gegenstände der gleichen Art einschließt. Das ist eine ungeheure Sache: unendlich viele Gegenstände, die sich gleichen und doch auch wieder unterscheiden, mit einem einzigen Wort zu benennen. Noch tollkühner wird das Ganze, wenn wir mithilfe von Begriffen urteilende Sätze bilden wie „Das hier ist ein Tisch“ oder „Dieser Tisch ist rund“ oder gar „Tische, Stühle und Schränke sind Möbel“. Solches Abstraktionsvermögen setzt voraus, dass der Mensch ein konkretes Ding, ein „Das da“, vor einem unendlichen Horizont sehen kann.

Und dieser unendliche Horizont zeigt sich noch in vielem anderen. Der Mensch bildet Zahlensysteme, fängt an zu rechnen und arbeitet dabei mit Zahlenreihen, die ins Unendliche laufen. Er sehnt sich ständig nach Neuem, das er unbedingt haben muss, und hat er es vier Wochen, wendet er sich schon wieder dem nächsten Objekt zu, das er dann der Riesenmenge an Gegenständen, die er um sich herum anhäuft, noch hinzufügt. Er streckt sich unablässig aus nach Neuem, noch nicht Erfahrenem, noch nicht Bezwungenem. Er giert nach dem Ungewissen und dem Abenteuer. Die Sehnsucht treibt ihn in andere Länder und über die Meere. Er macht jedes Jahr Urlaub, und den verbringt er nicht im eigenen Land, sondern auf einer Insel in der Karibik. Seine Wissbegierde ist niemals zu stillen. Seine Entdeckerfreude bringt andauernd neue Forschungen, ja gänzlich neue Wissenschaftsgebiete hervor.

Der Mensch vermag nach der Wahrheit zu fragen – nicht nach dem Anschein, nicht nach dem Angeblichen, nicht nach dem Erwünschten, sondern nach dem, was ist. Und er vermag, das Gute zu wollen – nicht das, was er gern hätte, nicht das, was ihm angenehm wäre, sondern das Angemessene, das Sachgerechte, eben das Gute. Der Mensch sehnt sich nach Unendlichkeit. Er ist auf Unendlichkeit angelegt. Die Kuh begnügt sich mit dem Gras, das sie auf der Weide frisst. Die Sterne bewundert sie nicht; sie sind ihr völlig gleichgültig. Der Mensch bewundert die Sterne. Er gibt ihnen Namen. Er schickt Raumsonden zur Erkundung des Jupiter, des größten Planeten des Sonnensystems. Er hinterfragt alles. Er hört nicht auf mit den W-Fragen: Wer, Was, Wie, Wo, Wann, Warum, Weswegen, Wieso, Weshalb, Woher, Wofür?

Übrigens zeigt sich dieser Drang nach dem Unendlichen auch am Phänomen der Kunst. Was unterscheidet ein schlecht gemaltes Bild, das man ansieht und sofort wieder vergisst, von einem Bild, das man täglich sehen kann und mit dem man nie an ein Ende kommt? Offenbar lassen Gemälde, die man nie satt bekommt, etwas Unendliches aufscheinen. Und warum zieht es so viele Menschen in Konzerte? Es gibt offenbar Musik, die nicht nur vieles in uns wach ruft und mitschwingen lässt. Es gibt Musik, die Unendliches und Absolutes setzt. Und warum betet der Mensch? In allen Jahrhunderten, in allen Epochen, in allen Kulturen betet er. Nur aus Not? Nur um zu klagen? Nur um zu bitten? Oder nicht auch deshalb, weil er sich ausstrecken möchte nach dem Unendlichen? Der große Theologe Augustinus hat das gegen Ende des 4. Jahrhunderts in seinen „Bekenntnissen“, die ein einziges, langes Gebet sind, so gesagt: „Auf dich hin hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“

Es gibt in unserem Leben sicher viele Ruhelosigkeiten, die es besser nicht gäbe. Aber es gibt auch eine Unruhe, die sich mit dem deckt, was Augustinus formuliert. Ob nicht auch der Wunsch von Hannah nach der Feier der Kommunion* letztlich – ganz leise und von ihr unbemerkt – von jener Sehnsucht getragen war, die tief in uns ruht und die unser Herz unruhig macht? Ich grüße Sie alle sehr herzlich.

4. BriefDer unendliche Gott

Lieber Herr Westerkamp,

Sie bitten mich, ob es nicht möglich sei, mit dem „Sehr geehrter“ aufzuhören. Ich tue es gern und bitte Sie selbstverständlich um das Gleiche. Außerdem schreiben Sie, ich müsste doch jetzt endlich einmal ausführlicher über Gott sprechen. Das Wort käme bei mir immer wieder vor. Irgendwie würde ich Gott als selbstverständlich voraussetzen. Doch ich hätte es bis jetzt vermieden, klar zu sagen, was ich unter Gott verstehen würde und wie man sich Gott vorstellen solle.

Sie haben völlig recht: Es ist Zeit, über Gott zu reden. Das heißt allerdings nicht, dass ich Ihnen jetzt sage, wie man sich Gott vorzustellen habe. Wir können uns Gott nicht vorstellen. Wenn wir es versuchen, ist der, den wir uns dann vorstellen, gerade nicht Gott.

Ist das schlimm? Nein, ich finde es gut, dass es so ist. Gott ist unendlich größer als all unsere Vorstellungen. Ein Gott, den man sich genau vor Augen führen könnte, wäre ein kleiner Götze. Mit dem wirklichen Gott hätte er nichts zu tun. Die christliche Theologie sagt mit Recht: Über Gott können wir nicht verfügen – und das heißt: Er ist unbegreiflich und unfassbar.

Nun gibt es natürlich in der christlichen Kunst Bilder und Skulpturen von Gott Vater. Ich weiß nicht, wann man mit so etwas angefangen hat. Wohl schon im Mittelalter. Es gibt aber auch mittelalterliche Handschriften, die Gott nicht darstellen, sondern am oberen Bildrand lediglich seine Hand zeigen. Das scheint mir viel besser zu sein. Ich selbst lebe seit langem in einem stillen Widerstand gegen alle Abbildungen Gottes. Meistens stoßen sie mich ab. Selbst die berühmte Erschaffung des Adam in der Sixtinischen Kapelle wird Gott nicht gerecht. Dieser Mann, der da mit einer schönen Nase, einem wohlgepflegten grauen Bart und gut definierten Armmuskeln durch die Luft fliegt, lässt mich kalt.

Ich verstehe ja, dass es Christen dazu gedrängt hat, Gott Vater abzubilden. Doch theologisch gesehen hat das seine Probleme. Im Johannesevangelium, dem jüngsten der vier Evangelien, gibt es eine Stelle, wo Jesus sagt: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Das heißt: Jesus ist die vollkommene Gegenwart Gottes. Wer ihn hört, hört Gott. Wer ihn sieht, sieht Gott. Wer wissen will, wer Gott ist, muss auf Jesus schauen. Jesus ist die bleibende und unüberholbare Definition Gottes. Wer sich Gott vorstellen möchte, sollte darauf verzichten und stattdessen den Jesus der Evangelien betrachten. Das genügt.

Ich sage also: Wir sollten uns Gott nicht vorstellen wollen. Solche Versuche müssen immer scheitern. Das heißt nun aber nicht, dass wir Gott nicht denken dürften. „Gott denken“ ist nämlich etwas anderes. Wenn der christliche Glaube sagt, Gott sei ewig, unendlich und unfassbar – oder wenn er sagt, Gott sei allgegenwärtig und allwissend – oder wenn er sagt, Gott sei allmächtig, heilig, gerecht und barmherzig, so wird dabei über Gott in Begriffen nachgedacht. Und zwar in Begriffen, die unsere Vorstellungen durchbrechen.

Die christlichen Theologen haben sich schon immer intensiv mit der Frage beschäftigt, ob man überhaupt über Gott reden kann, und wenn ja, auf welche Weise. Und alle waren sich darüber einig: Wenn wir Gott denken, sind die Begriffe, die wir dabei verwenden, von einer anderen Art, als wenn wir die üblichen Begriffe aus unserem alltäglichen Leben gebrauchen.

Wenn ich zum Beispiel sage, Gott sei „allmächtig“, so muss ich zwar von dem ausgehen, was ich aus meiner Erfahrung über „Macht“ im Kopf habe. Ich muss ausgehen von der Macht der Natur, von der Macht des Staates und von der Macht, die charismatische Menschen ausüben können. Ich muss ausgehen von der Macht großer Dichtung, der Macht der Musik und der Macht der Liebe, kurz, von den „Mächten“, die es in unserer Welt gibt und die Erstaunliches oder Schreckliches zuwege bringen. Aber dann muss ich all diese Begriffe von Macht verneinen und sagen, dass die „Macht“ Gottes etwas völlig anderes ist. Die Unähnlichkeit ist unvorstellbar größer als die Ähnlichkeit. Letztlich kann ich also über Gott immer nur in Verneinungen menschlicher Erfahrung sprechen. Ich muss zwar unbedingt von menschlicher Erfahrung ausgehen. Aber dann muss ich sagen: Bei Gott ist es ganz anders!

Ein zweites Beispiel: Ich kann sagen: Gott ist „gerecht“. Doch dann muss ich sofort dazu sagen: Seine Gerechtigkeit ist unendlich größer und damit völlig anders als jede menschliche Gerechtigkeit. Sie ist zugleich reine Barmherzigkeit.

Noch ein drittes Bespiel: Der christliche Glaube sagt: Gott ist „ewig“. Aber was ist „ewig“? Wenn wir von „ewig“ sprechen, stellen wir uns unwillkürlich eine endlos lange Zeitlinie vor, die keinen Anfang und kein Ende hat. Doch kann das die Ewigkeit Gottes sein? Diese Art von Ewigkeit wäre nichts anderes als unendlich lange Zeit. Gott ist aber jenseits aller Zeit, und deshalb muss seine Ewigkeit etwas anderes, etwas uns Unvorstellbares sein.

Jede Theologie, die versucht, Gott zu denken, ist also, recht verstanden, eine negative Theologie. Sie kann nur immer sagen: So ist Gott gerade nicht. Und so ist er auch nicht. Und so ist er erst recht nicht. Ich frage erneut: Ist das schlimm? Für mich ist es geradezu befreiend. Denn diese negative Theologie bewahrt uns vor falschen Gottesbildern. Sie bewahrt uns davor, uns einen Gott zurechtzumachen, wie wir ihn gern hätten. Sie bewahrt uns davor, Gott für unsere Zwecke zu missbrauchen. Wie oft schon wurden Menschen im Namen Gottes umgebracht! Es geschah nicht nur im christlichen Mittelalter. Es geschieht in unseren Tagen. Noch immer ermorden fanatische „Gotteskrieger“ andere Menschen und berufen sich dabei auf den Willen Gottes. Es ist also gut, dass die Theologie alle falschen Gottesbilder immer wieder auf das Schärfste kritisiert und in Frage stellt.

Allerdings erhebt sich, wenn man so weit gekommen ist, eine schwerwiegende Frage. Wie ist das eigentlich in der Bibel? Spricht da Gott nicht wie ein Mensch? Fühlt er da nicht wie ein Mensch? Handelt er da nicht wie ein Mensch? Gleich am Anfang der Bibel, im Buch Genesis, formt Gott den Menschen aus dem Staub vom Erdboden, dann haucht er in seine Nase Lebensatem und bald darauf geht er im Paradiesgarten, als der Abendwind einsetzt, spazieren (Gen 2,7; 3,8). Die ganze Bibel redet von Gott als wäre er ein Mensch. Gott freut sich oder er wird zornig, Gott wendet sich den Menschen zu oder er wendet sein Angesicht ab, Gott segnet oder er verflucht. Wie ist das zusammenzubringen mit dem, was ich über negative Theologie gesagt habe? Wieso darf sich die Bibel solche Vermenschlichungen Gottes erlauben?

Sie hängen zunächst einmal damit zusammen, dass wir über Gott eben immer nur in Bildern reden können. Wir haben nur die Alternative entweder in Bildern und Gleichnissen von Gott zu reden oder zu verstummen. Weite Strecken biblischen Redens sind bildhafte Rede. Und die Bibel weiß das. Deshalb treibt sie oft Bilder mit Bildern aus, das heißt, sie stellt einem ersten Bild ein zweites gegenüber, mit dem das erste relativiert wird. So geschieht es zum Beispiel im Buch des Propheten Hosea. Dort verwandelt sich der richterliche Zorn Gottes plötzlich in Mitleid, und dann heißt es: „Gott bin ich, kein Mensch, der Heilige in deiner Mitte“ (Hos 11,9).

Hier wendet sich also die Bibel selbst gegen alle Vermenschlichungen Gottes. Trotzdem redet sie „menschlich“ von Gott. Und das hat noch einen anderen Grund. Nur so kann die Bibel sicherstellen, dass Gott „Person“ ist. Er ist eben nicht „das Göttliche“, er ist nicht eine Art „Urgrund der Welt“ oder „Schwingung der Natur“, und er ist erst recht kein „dynamisches Energiefeld“, wie das heutige Esoteriker so berückend beschwören, sondern er ist „Person“.

Wenn wir vom Menschen als Person sprechen, so heißt das: unverwechselbares Ich; nicht austauschbare, unersetzbare Individualität; einzigartiges, bisher nie dagewesenes und so sich nie mehr wiederholendes unteilbares und freies Selbst. Selbstverständlich muss auch dieser Personbegriff, der am Menschen gewonnen ist, für Gott wieder kritisch hinterfragt, vertieft und übersteigert werden. Und dennoch: Gott ist uns wirkliches „Gegenüber“. Er hat ein „Antlitz“. Er „sieht uns an“. Er „sieht“ unsere Not. Er kann uns nicht „vergessen“. Er „liebt“ uns.

Wir kommen also, wenn wir von Gott reden, an dieser vermenschlichenden Sprache nicht vorbei. Andernfalls würden wir das „Gegenüber“, das „Du“, das er uns ist, aufgeben. Oder wir müssten über ihn schweigen. Dabei ist zu beachten, dass Bilder, die von Gott im Medium der Sprache gemacht werden, noch einmal etwas anderes sind als gemalte Bilder oder Bilder im Film. Sprachliche Bilder sind abstrakter als gemalte; sprachliche Bilder sind theologiefähiger als Filmsequenzen.

Lieber Herr Westerkamp, soviel zu der Frage, wie man überhaupt von Gott reden kann. Damit bleibt noch immer offen, ob es ihn gibt. Diese Frage ist mit all dem, was ich bis jetzt gesagt habe, noch nicht beantwortet. Sie ist überhaupt nicht mit einigen wenigen Sätzen zu beantworten. Existiert Gott?

Ich könnte jetzt natürlich auf die lange Geschichte menschlicher Kultur verweisen, auf die vielen Völker, auf die vielen Religionen, die alle voraussetzen, dass es das Göttliche, dass es Götter oder dass es Gott gibt. Es muss doch nachdenklich machen, dass, soweit wir überhaupt die Geschichte überblicken können, kein Volk ohne Religion existiert. In jedem Volk gibt es das schlechthin „Andere“, dem man sich öffnen, dem man sich anvertrauen und das man verehren muss. Allerdings schillert „Religion“ in den vielfältigsten und manchmal auch schrecklichsten Formen.

Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle lieber nicht den Religionen zuwenden. Stattdessen müsste ich jetzt sehr lange über die Erfahrungen Israels mit seinem Gott sprechen. Doch das soll später in anderen Zusammenhängen geschehen. Hier, in diesem Brief, möchte ich Ihnen lediglich eine Alternative vor Augen stellen. Ich bitte Sie und ich bitte Ihre Frau, sich einfach einmal zwei verschiedene, zwei grundverschiedene „Ansichten“ von Welt vorzustellen. Ich formuliere diese Ansichten in der Ich-Form, damit das Ganze lebendiger wird. Zwei verschiedene Menschen reden: Im Leben des ersten kommt Gott nicht vor, das Leben des zweiten ist von Gott bestimmt.

Die erste Weltansicht: „Woher das Universum kommt, weiß ich nicht. Höchstwahrscheinlich war die Welt immer schon da. Die Wissenschaft wird darüber wohl eines Tages mehr wissen. Es interessiert mich aber nicht. Was mich interessiert ist, wie man heute leben kann. Was ich brauche, ist vor allem Gesundheit. Das ist das Allerwichtigste, und dafür tue ich alles. Außerdem investiere ich Zeit und Kraft in meine berufliche Ausbildung. Ich möchte etwas Sinnvolles leisten und dabei selbstverständlich auch so viel verdienen, dass ich mir ein anständiges Haus bauen und ohne Sorge leben kann. Ich will etwas vom Leben haben. Natürlich will ich auch eine Familie. Ich möchte nicht allein leben. Ich möchte mit anderen zusammen sein, für sie da sein – und ich hoffe, dass dann eines Tages andere auch für mich da sind. Es versteht sich, dass ich mir für die Welt Frieden und Ordnung wünsche, also vernünftige Staaten, in denen es Gerechtigkeit und Sicherheit gibt. Für eine solche Gesellschaft setze ich mich ein. Deshalb bin ich in eine Partei eingetreten, die ein menschengerechtes und umweltfreundliches Parteiprogramm hat. Wir sind uns dort einig: Es muss ‚Werte‘ geben, die von möglichst vielen anerkannt werden. Für diese Werte kämpfen wir. Aber ‚kämpfen‘ ist ein großes Wort. Ich mag diese großen Wörter nicht. Es kommt auf die kleinen Dinge an: Höflichkeit, Anstand, Hinhören, Helfen. Selbstverständlich muss es soziale Gerechtigkeit geben und Absicherungen für das Alter. Ich hoffe auf ein ruhiges Alter. Irgendwann werde ich tot sein. Das erschreckt mich nicht. Ich habe dann gelebt und geliebt. Irgendwann aber ist Schluss, Feierabend, Finale. Das ist nun einmal so. Das gehört einfach zum Leben. Wenn ich tot bin, ist für mich alles vorbei. Hoffentlich können meine Kinder dann noch in Frieden leben.“

Das wäre die erste „Weltansicht“ oder, wenn Sie so wollen, „Weltdeutung“. Viele würden das alles nicht so direkt aussprechen. Aber es ist da und es ist weitverbreitet. Natürlich gibt es diese Weltansicht in vielen Spielarten. Die einen treiben exzessiv Sport und haben ein Abonnement für ein Fitness-Studio. Andere setzen sich für artgerechte Tierhaltung ein. Wieder andere kämpfen gegen Überfremdung durch zu viel Einwanderung. Viele kämpfen überhaupt nicht und leben in den Tag hinein. Die einen denken niemals über ihren Tod nach. Andere denken schon jetzt über einen, wie sie sagen, „menschenwürdigen“ Exitus nach. Wie gesagt: Diese Weltansicht gibt es in vielen Formen. Aber trotz aller Varianten: Sie verzichtet völlig auf Gott. Gott kommt im Leben der betreffenden Menschen nicht vor. Sie kämpfen nicht gegen Gott, sondern Gott ist ihnen völlig gleichgültig.

Nun die zweite „Weltansicht“,