Gegen die Verharmlosung Jesu - Gerhard Lohfink - E-Book

Gegen die Verharmlosung Jesu E-Book

Gerhard Lohfink

4,4

Beschreibung

Die Verharmlosung Jesu findet auf vielen Feldern statt. Sie geschieht, wenn Jesus als ein etwas aus der Reihe tanzender Rabbi oder als ein zwar außergewöhnlicher, aber eben doch als reiner Prophet eingestuft wird. Widerspruch ist vor allem fällig, wenn sich Christen so verhalten, als sei die Kirche eine Art Verein zur Bedienung religiöser Bedürfnisse, das war von Jesus anders gedacht. Dieses Buch handelt deshalb an vielen Stellen nicht nur von Jesus selbst, sondern auch von der Kirche. Gerhard Lohfinks Reden gegen die Verharmlosung sind provokant, voller überraschender Einsichten und stellen den christlichen Glauben in ein neues Licht.

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Gerhard Lohfink

Gegen dieVerharmlosung Jesu

Reden über Jesus und die Kirche

Die Darstellung auf dem Umschlag ist ein Ausschnitt aus einer russischen Ikone (möglicherweise von Andrei Rubljow). Sie zeigt Christus als Weltenrichter. In dem Buch, das er dem Betrachter entgegenhält, steht in kyrillischer Schrift: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!" (Mt 7,1)

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

ISBN (E-Book) 978-3-451-34561-6

ISBN (Buch) 978-3-451-34147-2

Rudolf Peschzum Gedächtnis

Inhalt

Vorwort

1 Gegen die Verharmlosung Jesu

2 Jesus revolutioniert die lineare Zeit

3 Wie werden im Reich Gottes die Hungernden satt?

4 Auf welche Weise hat Jesus geheilt?

5 Was meint das Liebesgebot?

6 Die Botschaft Jesu duldet keine Gotteskrieger

7 Starb Jesus für „viele“ oder für „alle“?

8 Wie kann ein Einzelner die ganze Welt erlösen?

9 Jesus und das zerrissene Gottesvolk

10 Der Kanon und die Vielzahl der Konfessionen

11 Friedliches zum Thema Bischofsamt und Primat

12 Muss der Papst konservativ sein?

13 Der Priester – eine aussterbende Art?

14 Was macht die ständige Neuheit der Kirche aus?

15 Der ureigene Name der Kirche ist „Versammlung“

16 Der unbekannte Paulus

17 Wie ein Sakrament wirkt

18 Eine Katastrophe im Leben Davids

19 Vom Sinn und Unsinn guter Vorsätze

20 Wird der Kirche das Fasten entrissen?

21 Beten als Realitätsgewinn

22 Was unterscheidet das Christentum von den Religionen?

23 Woher kommen unsere „Werte“?

24 Das Magnifikat: Signal für eine Revolution

25 Glauben – wie geht das?

26 Die Bibel in meinem Leben als Exeget

Anmerkungen

Verzeichnis der Bibelstellen

Verzeichnis der Personen und Sachen

Danksagung

Vorwort

Die Verharmlosung Jesu findet zur Zeit auf vielen Feldern statt. Sie geschieht, wenn Jesus als ein etwas aus der Reihe tanzender Rabbi eingestuft wird oder als wort- und wirkmächtiger Prophet, der am Ende aber doch in die Reihe der vielen Propheten gehört, die es in der Geschichte gegeben hat.

Sie geschieht, wenn in Augsburg Plakate hängen, die zu einer Reise durch die Zeitalter und die Religionen einladen: „Wir begegnen Rama, Krishna, Buddha und Jesus und singen ihre Namen. Kreistänze aus der Sufi-Tradition helfen, auch den Körper in die Meditation einzubeziehen und im Einklang von Körper und Seele tiefen Frieden zu erfahren.“ Frieden dieser Art hat Jesus gerade nicht versprochen.

Widerspruch ist aber vor allem fällig, wenn sich Christen so verhalten, als sei die Kirche eine Art Verein zur Bedienung religiöser Bedürfnisse. Auch das gehört in die lange Reihe der Verharmlosungen Jesu, denn das endzeitliche Gottesvolk, für das er am Ende starb, war von ihm anders gedacht.

Dieses Buch handelt deshalb nicht nur an vielen Stellen von Jesus selbst, sondern auch von der Kirche. Wo anders könnte denn sichtbar werden, wer Jesus wirklich war, wenn nicht am Leben der Kirche und der Christen, die es wagen, sich nach dem Christus zu benennen?

Das Buch geht auf Vorträge zurück, die ich in den letzten Jahren gehalten habe. Die Vorträge hatten ursprünglich kein sie zusammenbindendes Thema. Aber im Rückblick hat sich dann doch gezeigt, dass sie ein ziemlich dicker „roter Faden“ durchzieht: Sie ordnen sich allesamt leicht und ungezwungen dem Buchtitel unter.

Vorträge zwingen den Redner, nicht langweilig zu werden. Sonst schlafen seine Zuhörer ein und bleiben das nächste Mal zu Hause. Was noch wichtiger ist: Sie zwingen ihn, schnell zur Sache zu kommen. Denn er hat ja nur höchstens 60 Minuten Zeit. So muss es also kein Nachteil sein, ein Buch mit Vorträgen zu lesen. Deshalb habe ich den Vortragsstil auch bewusst beibehalten und nicht versucht, aus anschaulichen Reden am Ende abstrakte Abhandlungen zu machen.

Ich widme dieses Buch in großer Dankbarkeit dem verstorbenen Weggefährten Professor Dr. Dr. Rudolf Pesch, mit dem ich viele Jahre in der Katholischen Integrierten Gemeinde zusammenarbeiten durfte.

Bad Tölz, am 6. Januar 2013

Gerhard Lohfink

Gegen die Verharmlosung Jesu

Im März 1969 habe ich mir in mein Tagebuch drei Sätze von Karl Rahner notiert. Damals las ich geradezu gierig alles, was ich von ihm in die Finger bekam. Die drei Sätze lauteten1:

Die Christenheit hat keine Garantie von Gott erhalten, dass sie nicht die Gegenwart verschlafen könne. Sie kann altmodisch sein, sie kann vergessen, dass man das alte Wahre und die Werte von gestern nur dann verteidigen kann, wenn und indem man eine neue Zukunft erobert. Und sie ist zum guten Teil in diesen Fehler verfallen, so dass das Christentum von heute oft den peinlichen Eindruck erweckt, es laufe nur maulend und verärgert kritisierend hinter dem Wagen her, in dem die Menschheit in eine neue Zukunft fährt.

Diese Sätze (die nun ganz sicher nicht die Summe der Theologie Rahners darstellen) müssen damals meine ganze Zustimmung gehabt haben. Andernfalls hätte ich sie mir nicht notiert. Sie drückten aus, was ich in dieser bewegten Zeit, Ende der sechziger Jahre, selbst empfand. Und sie drückten aus, was damals viele empfanden: Die Kirche müsse endlich ihre verstaubten Traditionen entrümpeln und von der modernen Gesellschaft lernen. Fünf Seiten vorher, im gleichen Tagebuch, hatte ich mir von irgendwoher abgeschrieben:

Traditionen sind wie Laternenpfähle. Sie beleuchten den Weg, den wir gehen sollen. Nur Betrunkene halten sich daran fest.

Ja, so dachten wir damals. Eine prickelnde Aufbruchsstimmung lag in der Luft. Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche drängten viele auf Erneuerung, Veränderung, Umwälzung – und dieses Drängen war ja auch berechtigt. Es ist auch heute berechtigt. Denn jeder Organismus, der lebt, muss sich erneuern. Sonst wird er zu einem schnell verwesenden Leichnam.

Zehn Jahre später finde ich in dem ständig weitergeführten Tagebuch einen neuen Eintrag zum Thema „Tradition“ – und zwar ein Zitat des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski. Er schrieb in einem berühmt gewordenen Essay Folgendes2:

Es gibt zwei Umstände, deren wir uns immer gleichzeitig erinnern sollten: Erstens, hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch heute in Höhlen leben; zweitens: würde die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell, befänden wir uns wieder in den Höhlen. […] Eine Gesellschaft, in der die Tradition zum Kult wird, verurteilt sich zur Stagnation; eine Gesellschaft, die von der Revolte gegen die Tradition leben will, verurteilt sich zur Vernichtung.

So radikal auch dieser Text in Richtung Revolte formuliert – er ist zugleich von einer tiefen Skepsis gegenüber einem einseitigen Traditionsabbau erfüllt. Eine Gesellschaft, die ihre Traditionen, also ihre gesammelten, verdichteten und weitergereichten Erfahrungen zerstört, zerstört sich selbst. Das gilt selbstverständlich auch für die Kirche. Sie darf ihre Traditionen nicht abbauen, sondern muss sie unablässig klären, erneuern und vertiefen.

Der Maßstab aller Erneuerung

Die Frage ist nur, was die Kirche für ihre ständige Erneuerung zum Maßstab nehmen soll. Soll dieser Maßstab wirklich die Gesellschaft sein, die laut dem Wort Rahners in einem schnellen und offenbar eleganten Wagen in die Zukunft fährt?

Das kann auch Karl Rahner nicht gemeint haben. Ich habe ihn damals aber offenbar so verstanden. Heute denke ich in diesem Punkt anders. Ich möchte dabei gar nicht ausschließen, dass auch die Gesellschaft eine prophetische Funktion für die Kirche haben kann. Es gibt profane Propheten wie Friedrich Nietzsche oder Karl Marx und viele andere, von denen die Kirche bis heute viel gelernt hat und noch viel mehr zu lernen hätte. Aber der eigentliche Maßstab der Kirche kann nicht der flotte Wagen der Gesellschaft sein. Der schleudert beängstigend, bekommt nicht immer die Kurve und ist im 20. Jahrhundert nur allzu oft ein Leichenwagen gewesen.

Der wirkliche Maßstab der Kirche liegt anderswo. Die profanen Propheten und die Kritiker des Christentums ernst nehmen heißt noch lange nicht, mit heraushängender Zunge hinter der Gesellschaft herlaufen. Unser eigentlicher Maßstab, an dem allein sich die Kirche wirklich erneuern kann, ist Jesus Christus, so wie ihn uns die Evangelien vor Augen stellen. Er ist die Mitte der Kirche – und kirchliche Erneuerung kann nur heißen, dem, was mit Christus der Kirche als innerste Mitte eingestiftet ist, näher zu kommen.

Wenn Jesus der Logos Gottes ist, das letzte und endgültige Wort, das Gott gesprochen hat, das Wort, in dem Gott sich selbst ganz und restlos ausgesagt hat, dann ist Jesus uns allen und allen Zeiten freilich immer weit voraus. Dann dürfen wir seine Gestalt nicht nach unseren zeitgebundenen Maßstäben modellieren – so lange, bis sie unseren Vorstellungen entspricht. Dann können wir nur versuchen, ihm nachzufolgen. Und nur in dieser ständigen Nachfolge inmitten der Kirche, inmitten vieler Brüder und Schwestern, werden wir ihn wirklich verstehen – und dann werden wir auch die so kostbare Tradition der Kirche verstehen.

Die neue Botschaft von der Selbstannahme

Dieser Vorgang des Verstehens Jesu ist nicht leicht. Denn wir alle sind Kinder unserer Zeit. Wir sind durch die Leitbilder, die Ideen und die sich wandelnden Werte der Gesellschaft, in der wir leben, viel stärker geprägt, als wir überhaupt ahnen. Und das wirkt sich natürlich auch darauf aus, wie wir Jesus wahrnehmen. Ich möchte das sofort an einem Beispiel verdeutlichen:

Heute wird uns ständig gesagt: Du kannst den Anderen nur lieben, wenn du dich zuerst einmal selbst liebst. Das sagen uns nicht nur Psychologen und Psychotherapeuten, sondern das sagt uns auch unentwegt die religiöse „Erbauungsliteratur“ des 21. Jahrhunderts.

Ich gehe in irgendeine Buchhandlung und hole mir aus dem Regal „Religion“ irgendeines dieser neuen Bücher für religiösen lifestyle heraus. Ich schlage es auf, blättere darin und stoße dabei immer wieder auf Sätze der folgenden Art:

Du musst mit dir selbst in Einklang kommen.

Es hat keinen Zweck, sich selbst zu beschuldigen.

Du darfst dich annehmen, so wie du bist.

Du darfst dich bedingungslos annehmen.

Du darfst dich annehmen mit allem, was in dir ist.

Du darfst darauf vertrauen, dass du gut bist.

Entscheide dich für dich selbst.

Alles in dir ist gut, so wie es ist.

Du musst dich mit dir selbst aussöhnen.

Du solltest in Frieden mit dir selbst leben.

Du darfst dir selbst vergeben.

Du darfst einverstanden sein mit dir selbst.

Du musst Jesus als Tür zu dir selbst erfahren.

Es geht darum, dass du eins wirst mit dir selbst.

Geh barmherzig mit dir um.

Du musst dich selbst gern haben.

Sei zärtlich mit dir selbst.

Das alles waren wörtliche Zitate aus einem einzigen Buch, das ich eher zufällig in einer Buchhandlung von Bad Tölz durchgeblättert habe. Solche Bücher finden sich heute in jedem Buchladen zuhauf – und zwar vor allem in den Regalen für Religion und Esoterik.

Ich will die zitierten Sätze nicht einfach schlechtreden. Sie enthalten ja ein Stück Wahrheit. Selbstannahme kann etwas zutiefst Christliches sein. Ich darf mich zum Beispiel annehmen als von Gott geschaffen. Ich darf mich annehmen als einen, dem Gott immer wieder alle Schuld vergeben hat. Ich darf mich annehmen als geliebt und geführt. Solche Selbstannahme ist heilsam und heilend. Doch die Sätze, die ich zitiert habe, sind in einer anderen Tonart geschrieben. In der Wucht, mit der sie heute von vielen vorgetragen werden und in ihrer Isolation von dem, was das Neue Testament unter Versöhnung versteht, sind sie verführerisch falsch.

Interessanterweise decken sich die zitierten Sätze fast vollständig mit den Reklametexten unserer heutigen wellness-Industrie, und auffälligerweise entsprechen sie exakt der Suche des heutigen Menschen nach lustvoller Selbstfindung. Nur der Bibel entsprechen sie in keiner Weise. Die redet nicht von Selbstannahme, sondern von Umkehr, und nicht von Versöhnung mit sich selbst, sondern von Versöhnung mit Gott und dem Nächsten.

Die Bibel sagt: „Werde anders! Kehre um!“ Dagegen laufen die zitierten Sätze auf die Parole hinaus: „Bleib, wie du bist!“ Es ist für mich kein Zufall, dass mir vor einigen Tagen just diese Parole als Reklamespruch einer großen Bank im Briefkasten lag. „Bleib, wie Du bist!“ heißt es da in großen Lettern und leuchtenden Farben. Flotte Werbesprüche und pseudochristliche Selbstannahme-Spiritualität fließen konturlos ineinander.

In dem Nebel solchen Zeitgeistes verschwinden die Aussagen der Bibel wie hinter einem undurchsichtigen Schleier. Das Doppelgebot der Liebe wird nun plötzlich nicht mehr in der Weise wahrgenommen, wie es die Kirche zweitausend Jahre lang wahrgenommen hatte. Aus dem „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ wird jetzt vor allem und vordringlich die Forderung der Selbstliebe herausdestilliert. So wird aus dem biblischen Doppelgebot das „Dreiergebot“:

Du sollst Gott lieben,

du sollst deinen Nächsten lieben

und du sollst dich selbst lieben –

und zwar dich selbst zuallererst,

denn sonst kannst du weder Gott

noch deinen Nächsten lieben.

Solche Aufforderung zur Selbstliebe ist beruhigend und schenkt guten bürgerlichen Schlaf. Deshalb hat diese Auslegung in den letzten Jahrzehnten eine enorme Erfolgsgeschichte aus sich herausgesetzt.

Mit dem biblischen Doppelgebot hat eine derartige Exegese aber nicht das Geringste zu tun, denn dort meint das „ … wie dich selbst“ gar nicht das individuelle „Ich“ im modernen Sinn. Das „Ich“ des Doppelgebots ist vielmehr die eigene Familie. Man kann das sehr schön an der Berufung Abrahams sehen. Gott sagt ja zu Abraham:

Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. (Gen 12,2)

Wen meint denn dieses „du“ und dieses „dich“? Natürlich Abraham. Aber eben nicht Abraham allein. Denn mit ihm verlassen die alte Heimat seine Frau Sara, sein Neffe Lot, sowie die Knechte und Mägde, die sie in Haran gewonnen hatten (Gen 12,4–5). Abraham wandert mit seiner ganzen Großfamilie, mit seinem Vieh und seinen Zelten Kanaan entgegen.

Vor diesem Sprachhintergrund, der für das Alte Testament selbstverständlich ist, will das Gebot der Nächstenliebe aus Levitikus 19,18.34 sagen: Die Hilfe und Solidarität, die jeder in Israel der eigenen Verwandtschaft und vor allem der eigenen Familie schuldet, ist auf ganz Israel auszudehnen. Die Grenzen der eigenen Familie sind zu durchbrechen auf alle Brüder und Schwestern im Gottesvolk hin, selbst auf die Fremden, selbst auf diejenigen, die deiner Familie und deiner Verwandtschaft als Feinde gelten. Das will Levitikus 19 sagen. Und das ist Lichtjahre entfernt von der individuellen Selbstliebe, die uns heute von vielen Seiten gepredigt wird.

Inzwischen schwappt das alles schon bis in unsere Gebete hinein. So las ich vor kurzem bei einem Theologen die Gottesanrufung:

Du Kraft, die macht,

dass ich mich selber mögen kann.

Aber genug damit! Ich hatte gesagt: Jesus zu verstehen, ist nicht leicht. Denn wir alle sind Kinder unserer Zeit. Wir sind durch die Werte und Leitbilder der Gesellschaft, in der wir leben, viel stärker geprägt, als wir ahnen. Die wunderbare Verwandlung des Gebots der Nächstenliebe in eine vordringliche Aufforderung zur Selbstliebe sollte nur ein kleines Beispiel sein für die Metamorphose biblischer Texte, die heute lautlos und fast wie selbstverständlich vor sich geht. Man könnte noch viele andere Beispiele nennen.

Ich habe allerdings nicht vor, jetzt in eine Kritik derzeitiger Mentalitäten in Kirche und Gesellschaft zu verfallen. Das kann nicht der Sinn dieses Vortrags sein. Es geht ja um den Jesus der Evangelien.

Ich möchte positiv zwei entscheidende Punkte der Botschaft und Praxis Jesu herausarbeiten – die heute allerdings oft verharmlost oder sogar verdrängt werden. Ich möchte reden 1. über den Ruf Jesu in Nachfolge und Jüngerschaft und 2. über seine Naherwartung.

Jesu Ruf in Nachfolge und Jüngerschaft

Blicken wir noch einmal kurz auf Levitikus 19,18: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Dieser Satz war religionsgeschichtlich gesehen eine Revolution. Wir können uns kaum noch vorstellen, was im Alten Orient die Familie und über die Familie hinaus die Verwandtschaft bedeutete. Jeder war eingebunden in seinen Clan, schuldete ihm Gehorsam und Solidarität und empfing von ihm dafür Gemeinschaft, Hilfe und Heimat.

Diese strikte Einbindung in den Clan war für das Denken der damaligen Gesellschaft so selbstverständlich, wie in unserer heutigen westlichen Gesellschaft der Vorrang der Selbsterfahrung und das „genussvoll leben“ zu Selbstverständlichkeiten geworden sind.

In Levitikus 19 wird, wie bereits gesagt, die Binnensolidarität, die dem „Ich“, also der Familie und dem Clan gilt, aufgesprengt und ausgeweitet auf ganz Israel. Selbst der Fremde im Gottesvolk hat nun Anspruch auf die gleiche Solidarität wie der leiblich Verwandte. Selbst die Fremden im Land sollen den Alteingesessenen zu Brüdern und Schwestern werden, sagt Levitikus 19. Das war eben keine Selbstverständlichkeit. Das ging gegen alle damaligen Werte und Regeln.

Jesus greift nun exakt diesen revolutionären Schritt der Exilstheologie Israels auf. Ja, er radikalisiert ihn noch. Im Pentateuch stehen das Gebot der Gottesliebe und das Gebot der Nächstenliebe noch unverbunden nebeneinander – das eine in Deuteronomium 6, das andere in Levitikus 19. Jesus verknüpft beide Gebote miteinander, mehr noch, er setzt das Gebot der Nächstenliebe dem Gebot der Gottesliebe an Wichtigkeit gleich (Mt 22,39). Beide Gebote sind für ihn überhaupt nicht zu trennen. Beide werden für ihn zur Mitte der Tora.

Aber das alles bleibt bei Jesus nun gerade nicht eine schöne Theorie. Es wird zum Zentrum dessen, was er tut. Als Jesus auftritt, ist das Gottesvolk ja zutiefst gespalten und zerrissen: in Samaritaner, Sadduzäer, Pharisäer, Zeloten und Essener. Jede dieser Gruppen und Religionsparteien feindet die anderen an und beansprucht, das „wahre Israel“ zu sein, das allein dem Willen Gottes entspricht. Sieht man genau hin, so ist Jesus mit genau dem gleichen Skandal konfrontiert wie wir heute: mit der Spaltung des Gottesvolkes.

Was macht er angesichts dieser Situation? Sein gesamtes Wirken, seine gesamte Reich-Gottes-Praxis läuft darauf hinaus, dieses zerrissene Israel angesichts der nahen Gottesherrschaft zu sammeln, zu einen und zu erneuern.

Aber wie kann so etwas gehen? Wir alle wissen, wie unendlich schwer es ist, eine Pfarrei, ein Bistum, die katholische Kirche, die vielen christlichen Kirchentümer auf den Willen Gottes hin zu einen. Damals war es genau so schwer.

Was tut Jesus? Was macht er angesichts der tödlichen Spaltungen in Israel? Um es einmal anachronistisch auszudrücken: Er beruft keine Sachverständigenkommission. Er leitet keinen Dialogprozess ein. Er sucht keine Kompromissformeln. Erst recht lässt er keine Konsenspapiere erarbeiten. Das alles – beziehungsweise Dinge, die für seine Zeit irgendwie vergleichbar wären – tut er nicht.

Was tut er? Er proklamiert im ganzen Land die Gottesherrschaft. Und er stellt demonstrativ zwölf Männer vor die Menge hin und sagt: Das ist der Anfang des endzeitlichen Israel. Darüber hinaus sammelt er Jünger um sich, die ihm nachfolgen. Um diese Sammlung von Jüngern geht es mir jetzt. Was will Jesus damit? Warum ist ihm dieser Jüngerkreis von so entscheidender Wichtigkeit?

Zunächst einmal: Es geht Jesus selbstverständlich um ganz Israel. Es geht ihm um alle im Gottesvolk. Um die verhassten Samaritaner genauso wie um die Orthodoxen in Galiläa und Judäa, um die Sadduzäer genauso wie um die Pharisäer, um die antirömischen Zeloten genauso wie um die profitgierigen Kollaborateure, um die Schriftgelehrten genauso wie um das einfache Volk.

Die Bewegung, die Jesus in Israel auslöst, umfasst dementsprechend auch nicht nur die Jünger Jesu. Die Jesusbewegung ist viel farbiger und differenzierter. Ihr gehören nicht nur die Jünger an, die Jesus nachfolgen, die also mit ihm im Land unterwegs sind – von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort.

Zur Jesusbewegung gehören auch viele ortsgebundene Anhänger Jesu, die zu Hause bleiben, die aber ihre Häuser zur Verfügung stellen. Denken Sie etwa an die Familie des Lazarus in Betanien.

Mehr noch: Zur Jesusbewegung gehören auch Sympathisanten und gelegentliche Helfer, die Jesus vielleicht nur einmal in ihrem Leben begegnen, dann aber zur Stelle sind, weil sie plötzlich gebraucht werden. Ich erinnere an Josef von Arimathäa, der nach der Hinrichtung Jesu ein teures Felsengrab zur Verfügung stellt, und ich erinnere an das Wort Jesu, dass jeder, der einem seiner durstigen Jünger auch nur einen Becher mit Wasser reiche, den vollen Lohn erhalten werde (Mt 10,42).

Zur Jesusbewegung gehören aber nicht nur Sympathisanten und gelegentliche Helfer, sondern auch Heilung Suchende und Geheilte, Interessierte und Neugierige, Mitläufer und sogar Nutznießer. Es war damals schon so, wie es noch heute ist: Zur Kirche gehören nicht nur die Engagierten und die regelmäßigen Gottesdienstbesucher, sondern noch viele andere, die sich nur gelegentlich beteiligen oder irgendwo am Rand stehen oder selbst noch nicht richtig wissen, wohin sie eigentlich gehören. Es kann und darf um der Freiheit willen gar nicht anders sein. So wie der Jerusalemer Tempel viele Vorhöfe hatte, hat auch die Kirche ihre Vorhöfe.

Ich wollte deutlich machen: die Sammlung Israels, die Jesus in Gang gesetzt hatte, bot ein buntes und vielfältiges Bild. Viele gehörten „irgendwie“ dazu. Aber jetzt das Entscheidende: All das hätte nicht gereicht. All das hätte in der Luft gehangen, wenn es nicht den Jüngerkreis gegeben hätte. Er ist die Mitte des ungeheuerlichen Vorhabens Jesu, ganz Israel zu sammeln und unter der Gottesherrschaft zu einen.

Diejenigen, die Jesus buchstäblich nachfolgen und dazu alles verlassen haben, sind also keine Sondergemeinde, kein esoterischer Klub, kein abgeschlossenes Ghetto, erst recht keine Kuschelecke von Gleichgesinnten oder von exaltierten Jesusverehrern, sondern sie sind der Anfang des endzeitlichen Israel. Sie sind das Wachstumszentrum jenes Gottesvolkes, das Jesus vor Augen hat. Sie sind der Sauerteig, der alles durchsäuern soll.

Wenn wir die Evangelien genau lesen, werden wir feststellen, dass Jesus für die Unterweisung dieser „Mitte“ Israels außerordentlich viel Zeit aufgewendet hat. In unserem ältesten Evangelium, dem Markusevangelium, ist ein relativ langer Abschnitt fast ganz der Jüngerbelehrung vorbehalten, nämlich die Kapitel 8–11. Aber auch in den übrigen Evangelien gibt es große Redekompositionen, die zuerst und vor allem an die Jünger gerichtet sind. Denken wir nur an die matthäische Bergpredigt (Mt 5–7) und an die Feldrede bei Lukas (Lk 6,20–49).

Außerdem müssen wir Folgendes beachten: Sehr viele Texte der Evangelien, von denen wir ganz selbstverständlich annehmen, sie seien an alle Menschen in Israel adressiert gewesen oder sogar „global“ an die Welt im Allgemeinen, galten ursprünglich einmal den Jüngern. Ihr „Sitz im Leben“, wie die Bibelwissenschaftler so schön sagen, war die Unterweisung des Jüngerkreises. Ein Beispiel:

Im Lesejahr A, am 8. Sonntag im Jahreskreis, hören wir das Evangelium von der Sorglosigkeit. „Macht euch keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen, was sollen wir trinken, was sollen wir anziehen. Denn um all das geht es den Heiden. Euer Vater im Himmel weiß doch, dass ihr das alles braucht“ (Mt 6,31–32).

Eigentlich müsste jeder Prediger bei diesen Sätzen in höchste Verlegenheit geraten. Darf er denn seinen Zuhörern wirklich sagen, sie sollten sich keine Sorgen machen? Selbstverständlich müssen sie sich Sorgen machen. Jeder, der einem Haushalt vorsteht, und überhaupt jeder, der Verantwortung trägt, muss sich Sorgen machen: Er muss seinen Kontostand unter Kontrolle halten, muss den Kühlschrank auffüllen, muss Heizöl bestellen, solange die Preise noch nicht anziehen, er muss vorsorgen und nachsorgen, er muss vernünftig wirtschaften – und dazu gehören Klugheit, Vorsicht und sorgfältige Planung. Wir sind heute zu Recht wütend über Politiker, die sich um die simpelsten Prinzipien einer anständigen Haushaltsführung nicht kümmern und den Staat mit unvorstellbaren Schulden belasten.

Manche Prediger helfen sich in dieser Situation, indem sie sagen: Natürlich müssen wir in vielen Dingen sorgen und planen, aber wir sollen uns nicht ängstlich sorgen. Der Christ soll durchaus sorgen und vorsorgen, aber er sorgt gelassen.

Das mag ja richtig sein. Aber es trifft noch nicht den Kern dieser Jesusrede. Ihre Adressaten sind eben nicht einfach die Volksscharen, sondern die Jünger, die mit Jesus durch Israel ziehen.

Sie sind immer wieder unterwegs – mit Jesus und manchmal auch ohne ihn. Sie sind unterwegs, damit überall im Land der Beginn der Gottesherrschaft ausgerufen wird. Meistens wissen sie am Morgen noch nicht, wo sie am Abend sein werden. Werden sie Menschen finden, die sie am Abend in ihre Häuser aufnehmen und ihnen zu essen geben?

Ich sprach vorhin von den ortsgebundenen Anhängern Jesu, von seinen Sympathisanten, Freunden und Geheilten, von Helfern und Förderern. Gerade diese umfangreiche Gruppe der Jesusbewegung spielt hier ihre spezifische Rolle.

Jesus und seine Jünger sind ja gar nicht allein. Sie können sich auf ein Netz von Freunden und Sympathisanten im ganzen Land verlassen. Und genau hier müssen wir die Sorglosigkeit, die Jesus von seinen Jüngern fordert, verorten. Die Nachfolger Jesu, die mit ihm durch Israel ziehen, und diejenigen seiner Anhänger, die an ihre Häuser gebunden bleiben, ergänzen sich, stützen und helfen sich gegenseitig – bilden also eine untrennbare Einheit.

Jesus und seine Jünger brauchen Menschen, die sie am Abend mit Essen versorgen und ihnen für die Nacht Schutz gewähren. Umgekehrt brauchen die ortsgebundenen Anhänger den lebendigen Kontakt mit Jesus und seinen Nachfolgern, damit in ihre Familie das Neue einkehren kann, die stille Revolution des Reiches Gottes.

Zwischen beiden Gruppen gibt es also eine tiefe Beziehung: ein Miteinander und Zueinander. Die Jünger leben nicht für sich, sondern für das Gottesvolk – und die ortsgebundenen Anhänger leben nicht mehr nur für sich und ihre Kinder. So entsteht jetzt überall in den Dörfern und kleinen Städten Israels etwas Neues: ein neues Miteinander vieler Menschen, eine neue Familie, die über die alte Verwandtschaft und das alte Clandenken hinausgreift.

Jesu Wort von der Sorglosigkeit verrät also keine Weltfremdheit und erst recht keine Überspanntheit. Das sorglose Vertrauen der Jünger, von dem Jesus spricht, hat einen realen Boden: nämlich die Häuser der Anhänger Jesu überall im Land, in denen man Jesus und seine Jünger am Abend aufnimmt.

Die Jünger können sorglos sein und auf Gott vertrauen, weil sie gar nicht allein sind. Sie haben um sich ein Netz von Anhängern und Sympathisanten, eine Vielzahl von Menschen, die wie sie an das Kommen der Gottesherrschaft glauben.

So ist in Israel ein neues Miteinander entstanden, eine neue Form von Gesellschaft, in der alle einander helfen. Das Ziel dieses Miteinanders, dieses Sich-gegenseitig-Stützens-und-Helfens ist die Ermöglichung apostolischer Arbeit. Das Ziel dieses Miteinanders ist, dass die Boten Jesu das Evangelium verkünden können.

Ich bin überzeugt: Genau hier sind wir alle durch das Evangelium von der Sorglosigkeit gefragt: Wollen wir denn Gemeinde in diesem Sinn? Als ein Miteinander von Vielen, die einander beistehen, als ein Miteinander von vielen Brüdern und Schwestern, die füreinander da sind, damit der Einsatz für das Evangelium möglich wird? Es wäre der Schritt von lediglich betreuten und versorgten Pfarreien mit sich aufopfernden Einzelkämpfern zu Gemeinden, in denen es gegenseitige Hilfe gibt, gegenseitigen Zuspruch, gegenseitigen Rat, gegenseitigen Trost, gegenseitige Korrektur, immer neue gemeinsame Umkehr – und gerade so: Sorglosigkeit.

Ich denke, es ist deutlich geworden: Jesus verkündet sein Evangelium von der Gottesherrschaft nicht blindlings und blauäugig. Er hat eine klare Strategie. Die Proklamation des Reiches Gottes ist nicht einfach nur Verkündigung, ist nicht einfach nur Predigt, ist nicht einfach nur „Wort“. Sie will ein Volk, sie will ein erneuertes Gottesvolk, sie will neue Gesellschaft – und diese endzeitliche Erneuerung des Gottesvolkes hat als unabdingbare Voraussetzung die Jünger, genauer: das Miteinander der Jünger.

Das Evangelium ist voll von Aussagen über diese neue Lebensform der Jünger Jesu. Denn gerade in ihr zeichnet sich ja ab, was Reich Gottes überhaupt ist.

Die Jünger Jesu müssen einander 77-mal am Tag verzeihen, also ständig und immer wieder von neuem (Mt 18,21–22). Sie sollen nicht nach dem Splitter im Auge ihres Glaubensbruders suchen, sondern auf den Balken im eigenen Auge achten (Lk 6,41–42). Keiner darf über den anderen herrschen wollen. Wer der Erste sein will, muss den Anderen wie ein Knecht dienen (Lk 22,24–27). Keiner darf auf besondere Anerkennung und Lobreden aus sein. Wenn sie am Abend todmüde sind, müssen sie sagen: „Wir haben nur unsere Schuldigkeit getan“ (Lk 17,10).

Die Jünger sollen dabei unablässig von Jesus lernen (Mt 23,10). Sie haben nie ausgelernt. Deshalb werden sie in den Evangelien mathetai genannt, also Schüler. Das bei uns gebräuchliche Wort „Jünger“ hat das ursprünglich einmal direkt ausgedrückt. Denn das Wort „Jünger“ kommt von dem mittelalterlichen junior beziehungsweise jungiro. Und das war damals der Lehrling. Wenn also die Evangelien von den mathetai Jesu sprechen, wollen sie sagen: Sie bleiben zeitlebens Schüler, Lernende, Lehrlinge, Auszubildende.

Die Schüler Jesu sollen überall das Evangelium verkünden und durch ihr Miteinander bezeugen. Aber sie kleben nicht an festen Plätzen. Wenn ein Ort das Evangelium nicht annehmen will, sollen sie weiterziehen (Lk 10,10–12). Von „flächendeckender Seelsorge“ ist im Neuen Testament nirgendwo die Rede.

Die Schüler Jesu dürfen keine Gewalt gebrauchen, sondern sollen das Evangelium in absoluter Gewaltlosigkeit verkünden: Als Zeichen ihrer Gewaltfreiheit dürfen sie – im Gegensatz zu den Zeloten, den damaligen Gotteskriegern – nicht einmal einen Stock zur Verteidigung bei sich haben (Mt 10,10). Ja, nicht einmal Sandalen, mit denen sie schnell fliehen könnten (Lk 10,4).

Aber es kommt noch viel härter. Jesus verlangt von ihnen, dass sie ihre Familie verlassen und ihm nachfolgen (Mt 10,37). Damit hat er in radikaler Weise das realisiert, was schon Levitikus 19 vor Augen hatte: Die Mentalität des bloßen Familienverbandes, die Clanmentalität wird durchbrochen. Es entsteht „neue Familie“, die auf ganz Israel hingeordnet ist.

Jesus selber ist den Weg gegangen, den er dann von seinen Schülern verlangt hat: Als seine Verwandten ihn mit Gewalt nach Hause zurückholen wollen, weil sie überzeugt sind: „Der ist verrückt geworden“ (Mk 3,21), sagt er sich von seiner Familie los und bezeichnet alle, die jetzt durch ihn das Wort Gottes hören, in geradezu juridischer Sprache als seine Schwestern und Brüder (Mk 3,31–35). Das heißt: Er stiftet „neue Familie“ und realisiert damit endgültig Levitikus 19.

Die neue Gemeinschaft, die auf diese Weise entsteht, ist mehr als nur Lebensgemeinschaft. Sie ist Schicksalsgemeinschaft. Das geht so weit, dass der Schüler Jesu bereit sein muss, dasselbe zu erleiden wie Jesus: So wie man Jesus einen „Fresser“ und „Säufer“ (Mt 11,19), ja einen Kastrierten genannt hat (vgl. Mt 19,12), so werden auch die Jünger Jesu lächerlich gemacht werden. Man wird sie verleumden, man wird sie verhöhnen, man wird sie ausgrenzen. Sie müssen „ihr Kreuz auf sich nehmen“ (Mt 10,38).

Es ist wohl deutlich geworden: Die Jüngerexistenz, die Jesus als unabdingbare Basis für die Erneuerung des Gottesvolkes einfordert, ist keine Spielerei. Und sie steht quer zu der bekannten Liste von Forderungen, die heute als essentials für die Erneuerung der Kirche von vielen lauthals proklamiert werden – von der Abkehr vom Zölibat bis zur aktiven Sterbehilfe. Sie alle kennen die Liste. Wenn man sie genau betrachtet, ist sie vom Anfang bis zum Ende Anpassung an die Lebensformen der gegenwärtigen Gesellschaft. Mit dem Evangelium hat sie wenig zu tun.

Doch das Gottesvolk hat sich noch nie durch Anpassung erneuert. Die Propheten Israels mussten sich ständig gegen eine Parole wehren, die zu den großen Versuchungen Israels gehörte. Sie lautete: „Wir wollen sein wie die Völker“ (Dtn 17,14; 1 Sam 8,5.20; Ez 20,32). Diese Parole ertönt während der gesamten Geschichte des Gottesvolkes immer wieder von neuem: „Wir wollen sein wie die Völker“ – das heißt: wie die übrige Gesellschaft. Jesus musste zu seinen Jüngern im Blick auf die heidnische Gesellschaft sagen: „Bei euch aber soll es nicht so sein“ (Lk 22,26).

Wir sind zur Zeit in der tödlichen Gefahr, die Erneuerung der Kirche von Jesus loszulösen, oder aber Jesus dem Denken unserer Zeit anzupassen und seinen Anspruch zu verharmlosen. Das betrifft vor allem auch den Weg, auf dem Jesus das Gottesvolk erneuern wollte. Dieser Weg lief über die Sammlung von Jüngern, über das Miteinander von Menschen, die mit ihrer ganzen Existenz dem Reich Gottes dienen wollten. Haben wir noch den Mut, solche Jüngerschaft bei Frauen und Männern, bei Ehelosen und bei Verheirateten, bei jungen und alten Menschen als das Dringendste anzusehen, das die Kirche heute braucht?

Liest man die Evangelien aufmerksam und unvoreingenommen, stößt man aber nicht nur unablässig auf den Ruf Jesu in Nachfolge und Jüngerschaft, sondern noch auf etwas anderes, das genauso penetrant immer wieder auftaucht und das von uns mit noch größerer Penetranz verdrängt wird: die Naherwartung Jesu. Damit komme ich zu meinem 2. Punkt:

Jesu drängende Naherwartung

Für mich ist es keine Frage: Man kann die Verkündigung Jesu und seine Sammlung Israels gar nicht verstehen, wenn man nicht die unheimliche Naherwartung beachtet, die alles bestimmt, was er tut. Beides – Jesu Erziehungsarbeit an seinem Jüngerkreis und Jesu Naherwartung – hängt aufs engste zusammen. Jesus redet nicht über ein Reich Gottes, das irgendwann einmal kommt. Seine Verkündigung der Gottesherrschaft ist Ansage, ist Proklamation: Die neue Welt Gottes kommt jetzt, sie steht schon unmittelbar vor der Tür, ja, sie will sich jetzt, in dieser Stunde ereignen. Und seine Verkündigung der Gottesherrschaft ist nicht in einen leeren Raum hineingesprochen. Ihr muss ein sich neu formierendes Gottesvolk entsprechen, in dem die Gottesherrschaft schon Realität wird.

Wie anders sollte man sonst Jesu Seligpreisung der Armen, der Trauernden und der Hungernden verstehen? „Selig, die ihr jetzt hungert: Ihr werdet gesättigt werden“ (Lk 6,21). Das ist natürlich kein Hinweis auf das ewige Leben im Himmel. Nein, damit ist gemeint: Die Wende steht unmittelbar bevor. Das Reich Gottes kommt jetzt, und dann wird es jene Fülle geben, die entsteht, wenn Gott handelt und wenn alle in Israel einander solidarisch helfen. Deshalb preist Jesus die Armen, die ihm nachlaufen, selig. Sie werden endlich genug zu essen haben, sie werden endlich wieder lachen können und sie werden Anteil haben am Reich Gottes.

Für Jesus fängt das alles schon jetzt an. Die neue Welt Gottes liegt nicht mehr in einer noch absolut ausständigen Zukunft. Andererseits ist das Reich Gottes mit seiner ganzen Fülle noch im Kommen.

Deshalb das Gleichnis vom Feigenbaum, dem einzigen Baum in Israel, der im Winter seine Blätter abwirft. Jesus weist demonstrativ auf ihn hin, um zu erklären, wie es sich mit der Gottesherrschaft verhält: Innerhalb weniger Tage werden seine Zweige saftig und bekommen einen rötlichen Schimmer. Und dann kommt auch schon der Sommer, und die Blätter des Feigenbaums entfalten sich. So ist es mit der Gottesherrschaft, sagt Jesus. Sie bricht schon an. Ihre Zeichen sind schon zu sehen. Ihre Fülle steht unmittelbar bevor (vgl. Lk 21,29–31).

Wie sollen wir mit dieser drängenden Naherwartung Jesu umgehen?

Selbstverständlich nicht wie all jene Sekten, die das Kommen des Reiches Gottes mit dem Weltende und der Wiederkunft Jesu gleichsetzen und dazu genaue Terminangaben machen. Dann ist der angekündigte Termin eines Tages da – und weder Jesus noch das Reich Gottes sind gekommen.

Seltsamerweise ist der Frust innerhalb dieser Sekten meist gar nicht so groß. Könnte das damit zusammenhängen, dass in all diesen krausen Vorstellungen und Berechnungen eben doch verdeckt ein Stück echter Naherwartung enthalten war, das man auch weiterhin ernst nehmen konnte, selbst wenn die Oberflächenerwartungen sich als falsch erwiesen hatten?

Wie gesagt: Diesen fundamentalistischen Weg der chronologischen Berechnung kann die Kirche nicht gehen. Er ist bar jeder Vernunft. Doch wie nahe liegt es dann, alle Naherwartungstexte des Neuen Testaments einfach zu verdrängen. Wo sie vorkommen, werden sie von der Mehrzahl der Prediger nicht behandelt und nicht ausgelegt. Meist werden sie einfach übergangen und totgeschwiegen. Im Ganzen ist das Thema „Naherwartung“ eher peinlich. Aus dem Glaubensbewusstsein katholischer Gemeinden ist es seit langem verschwunden.

Immerhin ist dieser Weg der Verdrängung von der wissenschaftlichen Exegese her gesehen heute nicht mehr ganz so leicht wie früher. Denn im Jahre 1892 erschien das berühmte Buch des evangelischen Exegeten Johannes Weiß über „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“. In diesem Buch wurde neu entdeckt, wie sehr die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu endzeitlich geprägt und von Naherwartung bestimmt war.

Seitdem suchen die Theologen mit dem Phänomen „Naherwartung“ fertig zu werden. Manche sagen: Da hat sich Jesus eben schlicht getäuscht. Auch er war schließlich ein Kind seiner Zeit. Auch er war zutiefst eingebunden in die Denkweisen und Vorstellungen des damaligen jüdischen Weltbildes. Und damals dachten eben viele Juden apokalyptisch, das heißt, sie erwarteten schon in nächster Zukunft die völlige Neuschöpfung der Welt. So habe auch Jesus gedacht – und sich dabei gründlich geirrt. Das solle man doch ehrlich zugeben und die entsprechenden Texte einfach übergehen. Ich bin überzeugt, dass auch dies zu den vielen Verharmlosungen gehört, denen Jesus heute ausgesetzt ist.

Allerdings sind sich andere Theologen durchaus darüber im Klaren, dass dieses schlichte Übergehen der neutestamentlichen Naherwartungstexte keine Lösung sein kann. Sie gehen deshalb einen anderen Weg: Sie reduzieren die Naherwartung Jesu auf Ethik. Als Beispiel zitiere ich aus dem bekannten Jesusbuch des ehemaligen evangelischen Mainzer Neutestamentlers Herbert Braun3:

Das eigentliche Anliegen der Endpredigt Jesu ist nicht eine unterhaltsame Belehrung über nahe zukünftige Ereignisse, sondern eine unerhörte Schärfung der Verantwortlichkeit. […] Jesus will nicht über das nahe Ende belehren, er will angesichts des nahen Endes aufrufen. […] Die Predigt von der Nähe der Königsherrschaft Gottes will den Menschen warnen, sich selber zu verfehlen.

Das klingt nicht schlecht. Das entscheidende Defizit bei Herbert Braun besteht jedoch darin, dass er die eschatologische Grundstruktur des Redens Jesu auf Ethik reduziert. Ist die Endzeitrede Jesu im Sinne Brauns richtig übersetzt – wir könnten auch sagen: Ist sie richtig in unser heutiges Sprachsystem transformiert – dann spielen in ihr Zeit und Geschichte keine Rolle mehr.

Die Verkündigung Jesu ist dann geschichtslos geworden. Aus der lebendigen Hoffnung seiner Predigt wird „Verantwortlichkeit“. Es gibt kein Heil mehr, das aus der Zukunft, ja aus der sich bereits erfüllenden Zukunft auf den Menschen zukommt.

Differenzierter als Herbert Braun argumentieren all diejenigen, die im Gefolge von Rudolf Bultmann die Endpredigt Jesu existenzial auslegen, sie also auslegen auf die eschatologische Existenz des Menschen hin. Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Typ der Exegese bei Hans Conzelmann in seinem „Grundriß der Theologie des Neuen Testaments“. Conzelmann schreibt dort4:

Jesus ist nicht an der Frage nach dem Zeitraum als solchem interessiert. Wird die Erwartung des Reiches radikal verstanden, dann bedeutet eggiken [das Nahegekommensein] nicht eine zunächst neutrale Feststellung über Länge oder Kürze eines Zeitraums, sondern eine Bestimmung des Menschen: Diesem bleibt keine Zeit mehr für sich selbst. Er muss sich im jetzigen Augenblick auf das Reich einstellen. Noch ist es nicht da, sonst wäre die Gelegenheit zu dieser Einstellung, zur Buße, vorbei. Das Reich würde nicht mehr gepredigt. Aber es ist so nahe, dass der Mensch nicht mehr fragen kann: Wie lange habe ich noch eigene Zeit, in der ich die Buße aufschieben kann? Keine mehr! Für den Angeredeten ist jetzt der letzte Augenblick. Man kann die Zeitfrage deshalb gar nicht neutral stellen.

Ich finde die Herausarbeitung dieses existenzialen Aspekts der eschatologischen Verkündigung Jesu sehr gut. Sie deckt wichtige Elemente in der Reich-Gottes-Predigt Jesu auf. Vor allem macht Conzelmanns Auslegung plausibel, weshalb das Ausbleiben des nahen Endes für die frühe Kirche gar kein Problem darstellte: In ihr geschah ja die ständige Umkehr all der Vielen, die mit ihrer ganzen Existenz glaubten, und so immer wieder diesen „letzten Augenblick“ lebten.

Trotzdem offenbart auch die existenziale Auslegung ein tiefes Defizit: Die Eschatologie Jesu wird nur vom Einzelnen her formuliert. Kirche und Gemeinde fehlen fast ganz. Deshalb fehlt auch die Geschichte, und zwar eine Geschichte, die vom Handeln Gottes her gedacht wird und die das „Schon“ und „Noch nicht“ des Reiches Gottes ernst nimmt. Aber das muss ich genauer erklären:

Gott handelt schon immer endzeitlich, denn es gibt – paradox gesprochen – seit der Erschaffung der Welt keinen Augenblick, in dem er diese Welt nicht mit seinem Handeln, mit seiner Fürsorge, mit seinem Erbarmen, mit seiner zuvorkommenden Liebe umfangen und tragen würde. In Jesus von Nazaret hat diese schon immer auf die Welt zukommende Gnade endgültig ihr Ziel erreicht. Damit ist Endzeit. Wenn das Reich Gottes trotzdem noch nicht in seiner ganzen Fülle da ist, so liegt das nicht daran, dass Gott es noch zurückhält, sondern daran, dass wir es noch nicht voll ergriffen haben. Überall ist noch Unglaube. Das Reich Gottes kann noch nicht volle Realität werden. Was mit Christus schon da ist, hat sich noch nicht durchgesetzt.

Aber das liegt nicht an Gott. Es liegt an uns, an unserer mangelnden Umkehr. Von Gott her gesehen ist alles da, ist alles angeboten. Wir müssten es nur ergreifen.

An dieser Stelle ist dann auch die existenziale Auslegung, wie sie Hans Conzelmann vorlegt, sinnvoll. Ihr Mangel, ihr Defizit liegt nur darin, dass sie die geschichtliche Dimension dieses schon ständig in jedem Augenblick auf uns zukommenden Heiles (und Gerichtes) nicht wirklich in den Blick bekommt.

Die Welt besteht ja nicht nur aus Einzelnen, die umkehren oder nicht umkehren. Die Entscheidungen des Einzelnen sind vielmehr getragen von den Entscheidungen vieler anderer, mit denen er verbunden ist und in deren Spuren er geht – und jeder Einzelne löst mit seiner Entscheidung selbst wieder Geschichte aus, öffnet anderen Menschen Türen oder verschließt sie. Anders formuliert: Wir stehen in einer Heils- und Unheilsgeschichte, die wesentlich dadurch bestimmt ist, ob wir als Kirche, als gläubige Gemeinde leben oder nicht.

In unseren Gemeinden kommt das endzeitliche Heil Gottes ständig auf uns zu und will Welt verändern. Hier leben wir also unablässig in Naherwartung – in einem Raum, in dem sich die Verheißungen Gottes vordringlich erfüllen möchten. Wir können aus diesem Raum aber auch immer neu herausfallen, und dann erfüllen sich die Verheißungen Gottes an uns nicht und die Ankunft Christi verzögert sich.

Vor diesem Horizont sich schon erfüllender und zugleich immer wieder aufgehaltener Heilsgeschichte haben wir die Naherwartungstexte des Neuen Testamentes auszulegen. Und dann sind all diese Texte absolut wahr. Sie gehören zur Kernaussage Jesu, dass jetzt, dass heute das ganze Heil Gottes im Kommen ist.

Dem kann nur – eine freilich sachgerecht übersetzte – Naherwartung entsprechen. Solche Art Naherwartung weiß, dass sie handeln muss, weil es auf das „Jetzt“ ankommt, und weil nachher keine Zeit mehr ist. Jede Stunde ist dann kostbar, die Zeit muss ausgekauft werden – gerade weil sie endzeitliche Qualität hat.

Naherwartung – sachgerecht ausgelegt – hieße dann: Jede Stunde damit rechnen, dass der Geist Christi der Kirche neue Wege zeigen will. Jede Stunde damit rechnen, dass er neue Türen öffnet. Jede Stunde darauf setzen, dass er Unheil in Heil verwandeln kann. Jede Stunde darauf hoffen, dass Unmögliches möglich wird. Und niemals sagen: Später!, sondern immer sagen: Jetzt!

Dann sind die Naherwartungstexte des Neuen Testaments nicht etwas Peinliches, dessen man sich schämen müsste, und auch nicht etwas Zeitbedingtes, das man hinter sich zurücklassen dürfte, sondern sie gehören ins Zentrum des Christlichen.

Von hier aus gesehen würde ich auch niemals sagen, Jesus und die Urkirche hätten sich in ihrer Naherwartung getäuscht. Jesus war sich zutiefst sicher, dass Gott jetzt handelt – und zwar endgültig und unüberholbar. Er war sich sicher, dass Gott in diesem Handeln sich selbst in die Welt hinein aussagt – ganz und ohne Vorbehalt. Diesem „Ganz“ und diesem „Endgültig“ steht nun aber entgegen, dass der Mensch normalerweise ein solches „Ganz“, sofern es ihn selbst und seine Antwort betrifft, nicht will. Er möchte sich auch nicht endgültig festlegen, sondern seine eigene Entscheidung lieber hinauszögern und erst einmal alles offen lassen.

So entsteht eine tiefe Diskrepanz zwischen dem „Schon“ Gottes und dem „Noch nicht“ des Menschen. Weil sich aber Gott in Jesus ganz und absolut ausgesagt hat, bleibt für das „die Entscheidung hinauszögern“ keine Zeit mehr. Die Hörer Jesu müssen sich entscheiden: jetzt, in dieser Stunde. Und sie müssen sich nicht nur Gottes wegen entscheiden, sondern auch wegen der Not Israels und wegen des unermesslichen Leids der Welt.

Ich frage mich, ob Jesus innerhalb des eschatologischen Denkens seiner Umwelt, in dem er selbst tief verwurzelt war, dieses drängende „Jetzt“ der Entscheidung überhaupt anders hätte sprachlich erfassen und ausdrücken können als durch Naherwartung.

Sind denn wir selbst mit unserem Vorstellungshorizont von der endlos weiterlaufenden Zeit, in der es keinen wirklichenkairos mehr gibt, sondern nur noch events – sind wir mit unseren Zeitvorstellungen der Wahrheit unserer Existenz und der Wahrheit menschlicher Geschichte wirklich näher als Jesus mit seiner eschatologischen Zuspitzung?

Ich bezweifle es auf das Heftigste. Selbstverständlich müssen wir die eschatologische Sprache Jesu und der Urkirche übersetzen. Wenn das geschieht, zeigt sich: Nicht Jesus hat sich getäuscht, sondern wir selbst täuschen uns unablässig. Nicht nur über die Brüchigkeit und Ausgesetztheit unseres Lebens, sondern auch über die Nähe Gottes.

Verharmlosungen Jesu

Jesus wird in einer schrecklichen Weise verharmlost, wenn über seine Naherwartung einfach nicht mehr gesprochen wird. Und dasselbe gilt dann auch noch von vielen anderen Aspekten seiner Verkündigung und seines Auftretens, über die ich in diesem Vortrag, weil ich mich ja konzentrieren musste, nicht reden konnte.

Jesus wird verharmlost, wenn seine Gerichtspredigt, die einen beträchtlichen Teil der Evangelientradition ausmacht, totgeschwiegen und nur noch von dem lieben und zärtlichen Jesus gesprochen wird.

Jesus wird verharmlost, wenn über seine scharfen Worte gegen die Reichen nicht mehr gepredigt wird. „Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Reich Gottes“, hat Jesus gesagt (Mk 10,25). Wir behandeln seine Kritik am Reichtum und an den Reichen5 meist wie erratische Blöcke, die fremd und unheimlich in der Landschaft aufragen. Wir machen um sie lieber einen großen Bogen.

Jesus wird verharmlost, wenn das Reden über seine Ehelosigkeit tabu ist. Seine Ehelosigkeit war ja kein Zufall und kein Schicksal, sondern sie hängt mit seiner absoluten Hingabe an das Gottesvolk zusammen. Nach Matthäus 9,15 ist er der Bräutigam, und die Hochzeit mit Israel hat schon begonnen.

Jesus wird auch verharmlost, wenn wir die Behandlung der wiederverheirateten Geschiedenen durch Rom aufs schärfste verurteilen, dabei aber die überaus deutlichen und bestens bezeugten Worte Jesu gegen die Ehescheidung verschweigen. Sehen wir denn nicht mehr, dass die katholische Kirche hier Jesus treu bleiben möchte – trotz aller Not, die ihr das verursacht? Die Lösung dieser schwierigen und komplexen Frage, bei der viele Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen, kann jedenfalls nicht darin liegen, dass wir die Forderung Jesu wegerklären oder weichspülen.

Jesus wird aber vor allem verharmlost, wenn er nur als sympathischer Rabbi, als wortmächtiger Prophet oder als begabter Charismatiker dargestellt wird – oder gar nur als erster Feminist, radikaler Sozialrevolutionär oder menschenfreundlicher Sozialarbeiter. Mit all dem wird sein wahrer Anspruch verdeckt. Mit all dem wird Jesus verkürzt, entstellt, zurechtgebogen, glattgeschliffen, entmachtet und unseren heimlichen Wünschen angepasst.

Ich hätte noch über vieles andere reden müssen. Ich musste mich aber auf zwei Punkte konzentrieren: auf den Ruf Jesu zu Nachfolge und Jüngerschaft und auf seine Naherwartung. Diese beiden Punkte schienen mir am wichtigsten.

Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung zu der gegenwärtigen Glaubensnot. In den Jahren 1948 und 1949 musste Ludwig Erhard noch um den „freien Markt“ kämpfen – gegen Marktregulierung und staatliche Bevormundung der Wirtschaft. Inzwischen ist der freie Markt bei uns schon lange Realität. Seine Hauptkennzeichen: Die Freiheit, zu produzieren und zu konsumieren, der freie Wettbewerb, das freie Spiel zwischen Angebot und Nachfrage und dann vor allem das Leistungsprinzip: Wer die beste Leistung bringt, erobert den Markt. Das alles ist heute – mit vielerlei Einschränkungen: zum Beispiel der Verhinderung von Marktmonopolen – eine Selbstverständlichkeit.

Inzwischen gibt es bei uns aber auch einen freien Glaubensmarkt – mitsamt dem entsprechenden Wettbewerb und unglaublich vielen und flimmernden Sinnstiftungsangeboten. Die Medien und vor allem das Internet beweisen es.

Jeder kann die Religion propagieren, von der er überzeugt ist – und das ist gut so. Jeder kann die Religion wählen, die ihm als die richtige erscheint – und auch das ist gut so. Mehr noch: Jeder kann sich aus Versatzstücken der vorhandenen Religionen seine individuelle, ihm persönlich mundende Religion zusammenstellen – und das ist nicht zu verhindern.

Das alles hat in Europa zu einer tiefen Glaubenskrise geführt. Es ist nicht mehr selbstverständlich, Christ zu sein. Das Christentum muss heute in dem Supermarkt der vielen Religionen und Weltanschauungen seine eigene Identität behaupten. Oder soll ich sagen: Es muss sie überhaupt erst wiederfinden? Auf jeden Fall muss es zeigen, was das unterscheidend Christliche ist. Mehr noch: Es muss zeigen, dass es gar keine Religion, sondern etwas ganz anderes ist: die Erlösung aller Religion.

Die Situation, in der wir Jesus Christus verkündigen sollen, ist aber noch viel schwieriger. Da ist ja nicht nur der religiöse Supermarkt mit seinen Angeboten und Schnäppchen. Da ist darüber hinaus die fast selbstverständlich gewordene Philosophie, die heute in unzähligen Köpfen sitzt und die man auf die Formel bringen kann: „Es gibt keine Wahrheit, sondern nur Konstruktionen persönlicher Wahrheiten.“

Wenn wir in dieser hochkomplizierten Situation nicht das unterscheidend Christliche verkünden und mit unserem Leben bezeugen, haben wir auf dem Markt der sich anbiedernden Sinnangebote keine Chance. Und wenn wir sein wollen wie die Gesellschaft, wird die Chance noch kleiner. Dann werden wir als Christen schlichtweg nicht gebraucht. Dann sind wir Salz, das nicht mehr zum Salzen taugt, das weggeworfen und von den Menschen zertreten wird (Mt 5,13).

Wäre es nicht besser, statt sich anzupassen mit Psalm 126 von Gott zu erhoffen, dass ER die Glaubensnot der Christenheit wendet? Wäre es nicht besser, darauf zu setzen, dass an uns geschieht, was dort in diesem Psalm gesagt wird:

Wende doch, HERR, unser Geschick,

wie du die Trockentäler füllst im Südland.

Die mit Tränen säen,

sie werden ernten mit Jauchzen.

Sie gehen, sie gehen und weinen

und tragen den Samen zur Aussaat.

Sie kommen, ja kommen mit Jauchzen

und tragen ihre Garben heim.

Das heißt gerade nicht, die Hände in den Schoß zu legen: Es muss ja gesät werden. Aber es heißt zugleich, alles von Gott erwarten zu dürfen. Eine überreiche Ernte. Wenn wir nur Jesus und der Kirche treu bleiben.

Jesus revolutioniert die lineare Zeit

Als in New York am 11. September 2001 durch islamistische Attentate die beiden Türme des World Trade Centers zum Einsturz gebracht wurden und dabei fast 3000 Menschen ums Leben kamen, setzte in den Medien atemlose Hektik ein. Die Welt wurde überflutet mit Bildern, Filmausschnitten, Augenzeugenberichten, Kommentaren und Hintergrundanalysen. Schon unmittelbar nach dem Geschehen tauchte in vielen Kommentaren der Satz auf:

Nach dem 11. September wird nichts mehr so sein, wie es vorher war.

Natürlich kann man über diesen Satz streiten. Bereits kurze Zeit später begann in einer großen deutschen Tageszeitung ein Kommentar mit dem Satz:

Vieles ist schon wieder so, wie es vor dem 11. September gewesen ist.

Auch das war natürlich richtig. Und trotzdem gilt: Am 11. September drängte sich geradezu der Eindruck auf, die Geschichte hätte für einen Augenblick den Atem angehalten – und hätte dann ihre Richtung geändert. Ähnlich war es beim Fall der Berliner Mauer am Abend des 9. November 1989. Damals überkam viele Menschen ganz unmittelbar das Gefühl: Jetzt ereignet sich Geschichte! So ist das also, wenn Geschichte geschieht.

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