Der City-Cleaner - Regine Bott - E-Book

Der City-Cleaner E-Book

Regine Bott

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Beschreibung

Die Zukunft – was ist das? Ein Stiefelabdruck auf dem Mond, ein permanenter Tritt in das Gesicht der Menschlichkeit, die Hölle eines anderen Planeten? Wir wissen es nicht – oder wollen es nicht wissen. Denn vielleicht ist sie ja bereits da … Vier Autoren werfen in vier bitterbösen Geschichten einen kurzen Blick auf die Welt von morgen – eine nicht wirklich schöne neue Welt, die nur einen Lidschlag (oder Stiefeltritt) von der Welt von heute entfernt ist.

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Seitenzahl: 199

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Regine Bott

Holger Jörg

Gerd Rödiger

Joachim Speidel

Der City-Cleaner

und andere Dystopien

Deutsche Erstausgabe als E-Book

Copyright: © 2015

Regine Bott / Holger Jörg / Gerd Rödiger / Joachim Speidel

Film- und Medienzentrum, Königsallee 43, c/o Landeplatz

71638 Ludwigsburg

Covergestaltung: Branwen Arts

Vektorgrafiken:www.flaticon.com

Korrektorat, Lektorat, Satz & Layout: Lektor-hoch-drei

www.lektor-hoch-drei.de

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung – auch auszugsweise – ist nur mit Zustimmung der Verfasser erlaubt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter dnb.dnb.de abrufbar.

Vorwort

Willkommen im 21. Jahrhundert! Schöne neue Welt, in der wir leben – universell vernetzt, voll automatisiert und von so lästigen Aktivitäten wie selbstständigem, verantwortungsvollem Denken weitgehend freigestellt.

Irgendwie gruselig. Möglicherweise beunruhigend. Aber nur, wenn man zu viel darüber nachdenkt. Oder auf solche Miesmacher des 20. Jahrhunderts hört wie auf George Orwell, der einmal gesagt hat:

»Wenn Sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Gesicht tritt.

Unaufhörlich.«

Aber wie wird dieser Stiefel aussehen? Wie der von Neil Armstrong, der sich zu den Sternen emporgeschwungen hat, oder doch eher wie der des irren Alex aus »Clockwork Orange«? Wird vielleicht schon bald der künstliche Mensch ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft werden – einer Gesellschaft der Reichen und Mächtigen? Aber was passiert dann mit den Schwachen und Unterprivilegierten? Entsorgungsmaterial und Futter für die Morlocks von morgen, Versuchsobjekte für Meinungsmanipulationen und implantierte Erinnerungen?

Schöne neue Welt, in der wir leben. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht … ja … vielleicht …

»Vielleicht ist diese Welt die Hölle eines anderen Planeten.«

Aldous Huxley

Die Verfasser

Joachim Speidel

Der City-Cleaner

1

Es war kurz nach fünf Uhr morgens, als ich mit Laura vor meiner Wohnung im vierten Stock stand. Wir waren beide nicht mehr ganz nüchtern, und ich hatte das Problem, dass ich den Wohnungsschlüssel nicht fand.

»Ich könnte dir stundenlang zugucken«, sagte Laura nach einer Weile und lehnte sich an die mit Graffiti verschmierte Wand neben der Wohnungstür. Sie hatte einen schicken Jeans-Overall an und ein enges Lederjäckchen. Sie strich eine dunkle Haarsträhne aus ihrem schmalen Gesicht und grinste frech. Ich drehte in der Zwischenzeit meine Taschen zum zweiten Mal um.

»Gib mir noch eine Minute«, bat ich. Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, und durch die ewige Sucherei war mir schwindlig geworden.

Sie zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Habe ich mich eigentlich bei dir bedankt?«

»Bedankt? Für was?«

»Dass du mich zu dieser scheißlangweiligen Vernissage begleitet hast.«

»War mir eine Ehre.«

»Im Ernst, ohne dich wäre ich nie hingegangen.«

»Es hat dich doch niemand gezwungen.«

»Doch, mein Beruf. Erinnerst du dich, ich bin Journalistin.«

»Ach, stimmt ja. Die Spezialistin für Kaninchenzüchtervereine und Vernissagen.«

»Genau!« Sie legte ihren Kopf schief und blies den Rauch zur Seite.

»Hier ist Rauchen verboten«, sagte ich.

»Hier in diesem versifften Treppenhaus?« Ihr Lachen hallte von den Wänden wider. Ich stellte mir schon meine Nachbarn vor, wie sie am Türspion hingen und Laura mit offenem Mund und mit dem Kinn voller Sabber beäugten.

»Brandgefahr!«, sagte ich.

»Es würde dem Treppenhaus gut tun, wenn es hier mal brennen würde.« Sie warf die Zigarette zu Boden und trat sie aus.

Endlich spürte ich Metall an meinen Fingern. Ich zog den Schlüsselbund aus meiner Hosentasche und hielt ihn ihr vor die Nase. »Schau mal!«

»Du bist einfach einsame Spitze, Ben! Habe ich dir eigentlich von dem gut aussehenden Mann erzählt, den ich auf dieser scheißlangweiligen Vernissage und der darauffolgenden Party getroffen habe?«

»Nein, hast du nicht.«

»Ist das nicht ein Witz? Der einzige Mann, der mir gefallen hat, der einzige, der was hergemacht hat, warst du! Mein Ex!«

»Du hast schon immer einen guten Geschmack gehabt.«

»Ben, ich meine es ernst. Du siehst gut aus. Richtig gut! Du siehst aus, alle hättest du dich gefangen, als hättest du alles wieder im Griff.«

»Ich habe erst alles im Griff, wenn du wieder bei mir bist.«

»Ach, Ben, du Dummschwätzer!«

Sie nahm meine Hand in ihre Hände. Dann drehte sie meine Handfläche nach oben, führte sie zu ihrem Mund und leckte ganz langsam von meiner Herzlinie rüber zur Schicksalslinie, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.

2

Laura schloss auf. Ich selber hätte in dem Zustand, in dem ich war, etwa einen Monat dazu gebraucht.

Als sie die leeren Flaschen, die in Zweierreihen auf dem Fußboden im Flur standen, und die prall gefüllten und zum Teil zerrissenen Müllbeutel sah, fiel ihr der Unterkiefer herunter.

»WAS ZUM TEUFEL IST DENN DAS?«

3

Ich rieb mir den Nacken. »Tut mir leid wegen der Unordnung. Hatte viel um die Ohren in letzter Zeit.«

Sie fing an, mein Gesicht zu sondieren, so als hätte ich mich gerade in etwas verwandelt, in das man ungern in einem Grünstreifen trat.

»Viel um die Ohren? Hast du sie nicht mehr alle? Wenn man viel um die Ohren hat, muss man noch lange nicht leben wie auf einer Müllhalde – oder wie in einem Altglas-Container.«

»Du musst jetzt nicht alles dramatisieren.«

»Nicht alles dramatisieren? Spinnst du? Was ist mit dir los? Du siehst gut aus, hast dich für den Abend fein rausgeputzt, machst einen richtig guten, coolen, aufgeräumten Eindruck – aber wenn ich mir das ansehe, das ist alles andere als cool und aufgeräumt. Ich habe mich geirrt, als ich gedacht habe, du hättest dich wieder gefangen. Du hast alles – nur nicht dein Leben im Griff.«

Sie zog ihr Lederjäckchen aus und suchte nach einem Kleiderhaken. Es gab keinen. Der letzte war mir vergangene Woche aus der Wand gebrochen. Sie warf die Jacke in eine Ecke, die noch nicht ganz verdreckt aussah, und krempelte die Ärmel hoch. Dann ging sie die Schränke im Flur durch.

»Was hast du vor?«, rief ich ihr hinterher.

Sie drehte sich zackig um. »Ich räume hier jetzt auf.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Doch, und du hilfst mir dabei! Wo hast du einen verdammten Besen? Und einen Putzlappen, einen Eimer und Müllsäcke, die noch nicht im Arsch sind?«

4

Der Müll stapelte sich im Flur. Sauber verpackt in schwarzen Mülltüten. Alles war aufgeräumt und geputzt.

Die Uhr zeigte halb sieben, und ein grauer Morgennebel klebte an den Fenstern.

Wir saßen in der Küche auf dem Boden, ich mit dem Rücken am Backofen, Laura mit dem Rücken am Besenschrank. Jeder von uns hatte ein Bier vor sich stehen. Meine Flasche war schon wieder leer. Dafür fielen mir auch fast die Augen zu.

Laura hatte ein neues, frisch ausgepacktes T-Shirt von mir als Turban um ihren Kopf geschlungen. »Du musst dein Leben ändern, Ben. Sonst gehst du vor die Hunde. Dein Leben ist eine Katastrophe.«

»Was sorgst du dich um mein Leben? Du hast mich verlassen. Vor etwa einer Million Jahren. Die Erdgeschichte hat da in der Zwischenzeit schon etliche Eiszeiten erlebt.«

»Und trotzdem mach ich mir Sorgen um dich. Diesen Luxus leiste ich mir.«

»Das heißt, ich bedeute dir noch was?«

»Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein. Klar, bedeutest du mir noch was. Wir waren immerhin neun Jahre zusammen und ...«

»Neuneinhalb Jahre.«

»Meinetwegen, neuneinhalb Jahre ... aber was mach ich eigentlich? Bin ich gerade dabei, mich zu rechtfertigen dafür, dass ich mir Sorgen um dich mache?«

»Sieht so aus.«

»Gut, dann mache ich mir halt Sorgen um dich. Aber jetzt hör mal her, Ben: Du musst raus aus dem Sumpf. Du brauchst Struktur in deinem Leben. Du brauchst endlich einen ordentlichen Job. Geregelte Arbeitszeiten. Weißt du überhaupt noch, was das ist?«

»Was?«

»Geregelte Arbeitszeiten.«

»Schon verstanden.«

»Schon verstanden? Was willst du denn verstanden haben?«

»Na, das, was du gesagt hast.«

»Und was habe ich gesagt?«

Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Ich war kaputt und hundemüde. »Geregelte irgendwas.«

»Irgendwas ist alles, was dir dazu einfällt?«

Der Kopf fiel mir auf die Brust.

»SAG MAL, BEN! HÖRST DU MIR ÜBERHAUPT NOCH ZU?«

Tat ich nicht. Ich kippte im Sitzen um und schlief auf dem Boden ein.

Eine Woche später stellte ich mich bei den »City-Cleanern« vor.

5

Ich bin ein Kartenmensch, ich hab mich mit Navis nie anfreunden können. Bevor ich losfahre, studiere ich die Fahrtroute. Was Orientierung angeht, hat mir noch nie jemand so schnell was vormachen können.

Aber beim ersten Kreisverkehr bog ich zu früh ab. Bei der nächsten Kreuzung landete ich in einer Einbahnstraße, und dann geriet ich an einen Kerl mit Glotzaugen, der an einer Bushaltestelle stand. Als ich ihn nach dem Weg fragte, fing er an nachzudenken. Das Nachdenken dauerte etwa ein halbes Jahr. Nach diesem halben Jahr grummelte er, dass er noch nie was von der »Alten Munitionsfabrik«, dem Sitz der »City-Cleaner«, gehört habe.

Als ich schon aufgeben wollte, kam ich auf eine Straße mit zerbrochenen, aber noch einigermaßen befahrbaren Betonplatten. Am Ende der Straße lag die »Alte Munitionsfabrik«: ein riesiges Areal, rote Ziegelsteinbauweise, ein weitläufiger Innenhof mit vielen dunklen Nischen. Die alte Fabrik stand offensichtlich unter Denkmalschutz und wurde gerade aufwendig restauriert. Ganze Fassaden waren eingerüstet, und Bauschuttmulden standen überall auf dem Hof herum.

Als ich an diesem Nachmittag, es war kurz nach vier, aus dem Wagen stieg, war kein Baulärm zu hören. Ich sah auch niemanden auf den Gerüsten. Das Fabrikgelände wirkte tot und leer.

An einem Gebäudeteil, dessen unterer Stock von außen einigermaßen grundgereinigt und saniert aussah, stand »City-Cleaner« und über einer mächtig alten Eisentür: »Anmeldung«.

Ich spuckte meinen Kaugummi auf den Boden und drückte die Tür auf.

6

»Um 22 Uhr ist Arbeitsbeginn, um 6 Uhr ist Arbeitsende. Nachtzuschläge zahlen wir nicht. Wenn du die einklagen willst, darfst du es gerne tun, aber dann kannst du dir gleich einen anderen Job suchen. Einmal im Monat hast du Dienst am Wochenende, Samstag und Sonntag. Dafür hast du Montag und Dienstag frei. Wie hört sich das an?«

»Nach geregelten Arbeitszeiten.«

»Geregelte Arbeitszeiten! Das will ich auch meinen. Und was meinst du zur Bezahlung?«

»Die Bezahlung ist okay.«

»Du bist der Erste, der das sagt.«

»Gut, die Bezahlung ist scheiße. Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Wenn sie dir nicht passt, kannst du gehen.«

Ich sah mich in dem Büro um.

Es war eigentlich eher eine Empfangshalle. Eine Empfangshalle, die saniert wurde. Die Fenster in den Hof waren neu. Ansonsten standen überall Leitern, Paletten mit Dämmplatten und Zementsäcke aufgestapelt an den Wänden.

Es gab einen Tresen aus Edelstahl, und dahinter saß ein Riese von einem Mann auf einem Bürostuhl, der unter seinem Hintern aussah wie eine Nussschale. Der Riese war fett, richtig fett. Mit seinem Karo-Hemd hätte man ein Fußball-Feld abdecken können. Laut dem Schild auf dem Tresen hieß er Lukas Schneider und war zuständig für Büro, Buchhaltung und Personal. Er blickte mich mit erstaunlich kleinen Augen an. Seine Haut war rosig und glänzte wie frisch eingefettet. In seinem Rücken befanden sich Regale mit Ordnern und Registraturschränken. Die EDV-Ausstattung schien auf aktuellem Stand zu sein. Vor dem Tresen gab es einen Vorraum mit einem langen Glastisch und jede Menge Edelstahl-Schwinger.

Zum Sitzen hatte ich keine Lust. Zum hier Arbeiten auch nicht.

Schneider reichte mir einen Wisch über den Tresen. »Hier ist der Arbeitsvertrag. Lies ihn dir durch. Überleg es dir gut, ob du bei uns anfangen willst, und wenn du meinst, du packst es, dann unterschreibst du unten rechts.«

»Das ist schon alles?«

»Das ist alles!«

»Und das Vorstellungsgespräch?«

»Was für ein Vorstellungsgespräch?«

»Ich habe gedacht, es gibt ein richtiges Vorstellungsgespräch. Will niemand was von mir wissen? Will mich niemand nach irgendetwas fragen?«

»Wie lautet deine Lieblingsfarbe?«

»Lieblingsfarbe?«

»Mensch! Bist du taub? Wie lautet deine Lieblingsfarbe?«

»Grün!«

»Also die Frage ist gestellt worden, du hast eine Antwort gegeben. Das reicht.«

»Das soll wohl ein Witz sein!«

Er wedelte mit meiner Bewerbungsmappe in der Luft. »He, und was ist das? Ist das vielleicht ein Witz? Hast du uns einen großen, langen Scheißwitz auf Papier gedruckt, ihn eingetütet und an uns geschickt? Hast du erwartet, dass wir darüber herzhaft lachen?«

»Nein.«

»Was heißt hier – nein? Wenn du nicht willst, brauchst du nicht bei uns arbeiten. Niemand zwingt dich dazu. Verstehst du? Wenn du gehen willst, dann geh.«

Ich betrachtete den Vertrag in meinen Händen und spürte, wie die kleinen Augen mich genau beobachteten.

In dem Moment ging die Tür zum Büro auf.

7

Der Kerl, der das Büro betrat, hatte eine Designer-Bomberjacke an, verwaschene Jeans und schwarz glänzende Cowboystiefel. Er war fast zwei Meter groß und übersah mich geflissentlich. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand und studierte irgendwelche Listen und Eintragungen, während er langsam an die Theke trat.

»Hi, Lukas!«

»Chef!«

Schneider drückte sich in seinem Bürostuhl mit beiden Armen hoch, damit er etwas geschäftiger wirkte.

Seine kleinen Augen hatte er so weit geöffnet, wie es nur ging. »Phil und Justin haben die Flatter gemacht«, sagte er schnell.

Der Chef zuckte die Achseln. »Phil und Justin, okay. Ist nicht schade um diese Loser. Echt nicht schade. Und? Gibt es sonst noch was Neues zu berichten? Vielleicht ausnahmsweise was Erfreuliches?«

»Das Erfreuliche steht neben dir.«

Der Chef wandte mir langsam sein Gesicht zu und blickte auf mich herab. Im ersten Moment hätte man ihn für einen Albino halten können: weißes Gesicht mit weißen, nach hinten gekämmten Haaren. Aber seine Augen waren dunkel. Erst jetzt sah ich, dass er einen Zahnstocher zwischen den Lippen stecken hatte.

»Ein bisschen klein geraten, oder?«

»In der Stellenanzeige stand nichts von Hypersomie.«

»Hypersomie?« Seine Augenbrauen zogen sich fast unmerklich zusammen. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er hatte ein paar tiefe Falten in der Fresse. Aber vielleicht war er auch Mitte dreißig und hatte schon einige unangenehme Dinge erlebt. Er sah zäh aus. Hatte kein Gramm Fett auf den Rippen.

»Riesenwuchs«, sagte ich.

»Hypersomie!« Der Chef grinste zu Schneider hinüber. »Leck mich am Arsch! Lukas, wir haben hier einen richtigen Klugscheißer.«

»Sieht so aus«, sagte Schneider.

»Lukas«, sagte der Chef, ohne mich aus den Augen zu lassen, »hast du das mit der Hypersomie in der Stellenanzeige etwa vergessen zu erwähnen?«

»Scheiße! Scheint, dass mir da ein Fehler unterlaufen ist. Nehme ich voll auf meine Kappe.«

Der Chef legte sein Klemmbrett auf die Theke und begann, mit dem Zahnstocher in seinen Backenzähnen herumzustochern. »Tja, was machen wir jetzt mit dir?«

Schneider sagte rasch: »Ich hab ihm den Vertrag schon gegeben. Er muss nur noch unterschreiben.«

»Und?«, sagte der Chef zu mir. »Wirst du unterschreiben?«

»Kommt ganz drauf an.«

»Auf was kommt es an?«

»Bin mir noch nicht so sicher, ob es mir hier gefällt.«

Schneider mischte sich wieder ein: »Wir haben hier sechs Wochen Probezeit.«

Der Chef sagte: »Na, ist das ein Wort?«

»Sie würden mich also auch nehmen, wenn mein Kopf beim Sitzen nicht an der Decke streift?«

»Tja, was soll ich sagen? Ja! Das Risiko geh ich ein.« Er musterte mich von oben bis unten. »Du siehst aus, als hättest du ordentlich was auf dem Kasten!«

»Es geht so«, sagte ich und zuckte mit den Achseln.

»Ach was?« Er kaute gelangweilt auf seinem Zahnstocher herum. »Sag mal, wie viel Kilo schaffst du?«

»Was soll die Frage?«

»Na, komm schon! Du hast doch schon Gewichte gestemmt. Warst doch schon mal in einer Mucki-Bude. Also, wie viel hast du hochgebracht in deinen besten Zeiten?«

»Keine Ahnung. Ich hab nie auf die Gewichte geachtet.«

Der Chef nahm den Zahnstocher aus dem Mund, zerbrach ihn in der Mitte und warf ihn in einen schicken Drahtkorb, der als Abfalleimer diente und neben der Theke stand. Er verschränkte die Arme vor der Brust.

Er zeigte mit dem Kinn auf eine Reihe mit Zementsäcken hinten an der Wand.

»Siehst du die?«

»Klar. Was soll ich machen? Das Büro hier verputzen?«

Er fing an zu grinsen. Dann linste er rüber zu Schneider, der uns von seinem Platz hinter der Theke neugierig beobachtete.

»Hast du das gehört, Lukas? Wir haben es hier nicht nur mit einem Klugscheißer zu tun, sondern auch noch mit einem Witzbold!«

»Tja, und wenn er jetzt noch tanzen und singen kann, gehen wir mit ihm auf Tournee!« Der fette Mann fing an zu kichern, was seinen fetten Leib zum Wabern brachte. »Aber he, die Idee mit dem Verputzen ist nicht schlecht. Schau dir doch mal die Wände an! Die Gipser machen einen Bogen um uns. Vielleicht sollten wir mal wieder die Rechnungen bezahlen. Was meinst du?«

»Jetzt fängst du auch noch mit Witzen an, Lukas! Lass das lieber bleiben! Die zünden nicht. Dass es hier so scheiße aussieht, weiß ich selber. Aber in diesen Kasten investiere ich keinen müden Cent mehr. Drüben am Hafen stehen ein paar schicke Bürogebäude leer. Vollglas mit einem Hauch Stahlbeton.«

»Hast du uns das nicht schon letztes Jahr erzählt, Chef?«

»Ach, halt dein Maul, kommt eh nichts Vernünftiges raus! Mach deine Arbeit! Schmier die Briefkuverts mit deinem Achselschweiß ein, damit du sie richtig zukleben kannst.«

Lukas kicherte noch leise vor sich hin, dann wandte er sich seinem PC-Monitor von der Größe einer mittleren Kinoleinwand zu.

Der Chef zeigte mit dem Kinn auf den Stapel mit den Zementsäcken an der Wand. »Was meinst du? Schaffst du es, zwei Säcke auf einmal zu stemmen.«

Ich sagte nichts. Ich ging rüber und zog mir zwei aufeinanderliegende Säcke zurecht. Dann packte ich den unteren. Zwei Zementsäcke wiegen zusammen achtzig Kilo. Achtzig Kilo sind eigentlich ein Klacks für mich, wenn sie in Form von Hanteln auf einer Hantelstange stecken. Aber zwei Zementsäcke – die kriegte man kaum zu fassen.

Ich hob sie an und richtete mich auf. Ich drückte sie an meine Brust. Der eine Sack begann zu rutschen.

Der fette Mann hinter dem Schreibtisch schielte zu mir rüber. Ich sah in seinen Augen, dass er es mir nicht zutraute.

Der Chef machte ein gelangweiltes Gesicht. Es schien ihm auf einmal egal zu sein, ob ich es schaffte oder nicht.

Ich musste mit den Händen unter die Säcke kommen. Jetzt rutschten beide. Aber ich kriegte sie noch zu fassen. Dann hieß es, schnell zu machen. Im nächsten Moment hatte ich sie oben.

»So okay?«, sagte ich und warf dem Chef einen überfreundlichen Blick zu.

Er zuckte mit den Schultern. »Okay, lass sie wieder ab. Lass sie aber bloß nicht fallen. Wenn sie kaputt gehen, zahlst du sie. Du kannst heute schon anfangen, wenn du willst. Um zehn heute Abend hier im Hof! Und jetzt unterschreib schon den scheißverdammten Vertrag!«

8

»Fünf Millionen Volt, Jungs! Ihr drückt das Teil eine ZEHNTEL SEKUNDE auf die Brust von so einem Arschloch – und er scheißt sich in die Hose!«

Der Chef ließ seine Blicke über seinen Trupp schweifen wie ein General über seine Armee vor der alles entscheidenden Schlacht. Der Elektroschocker sah aus wie eine schwarze, lange Stabtaschenlampe. Er hielt ihn in der Rechten und klopfte damit in die Handfläche der Linken. Nach einer Kunstpause fuhr er fort: »EINE SEKUNDE auf der Brust – und ihm platzt der Darm! DREI SEKUNDEN – und ihm platzt der Schädel!«

Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Im Innenhof standen achtzehn Männer in schwarzen Overalls und schwarzen Springerstiefeln. Ich gehörte zu ihnen. Mein Overall war eine Nummer zu groß. Was mir recht war. Ich hatte genügend Bewegungsfreiheit für die Schultern und Arme, und die Ärmel und Hosenbeine hatte ich umgeschlagen.

Der Chef war der Einzige, der diese Einheitskluft nicht anhatte. Er steckte immer noch in seinem Bomberjacken-Cowboy-Outfit.

»Ihr wisst also, dass ihr mit diesem Gerät vorsichtig umgehen müsst. Keine unnötigen Aktionen. Habt ihr das verstanden?«

Niemand nickte. Es war kalt. Verdammt kalt. Viel zu kalt für April. Der Hof wurde von zwei Flutlichtscheinwerfern beleuchtet. Atemwölkchen stiegen hoch und lösten sich in der Nachtluft auf. Alle warteten auf den Einsatzbefehl.

Ich hatte an diesem Nachmittag noch ein paar knappe Einweisungen erhalten, mehr nicht. Ich war dann nach Hause gefahren und hatte ein paar Gläser Wodka getrunken. Jetzt war ich bereit.

»Was ich euch damit sagen will, Leute, ist: Ihr habt eine gefährliche, eine richtig gefährliche Waffe in euren Händen. Ihr tragt Verantwortung. Was ihr macht, Männer, ist ein wichtiger Job. Ein Job für Leute, die gerne Verantwortung tragen.«

Dass der Chef auch gleichzeitig der Einsatzleiter war, verwunderte mich nicht im Geringsten.

Neben mir stand ein Schrank von einem Mann, hohe Stirn, Kuhaugen, Lippen dick wie Teufelsschnecken. »Oh, Mann! Hör sich bloß einer den Scheiß an«, zischte er. »Dass er diesen Dreck jedes Mal verzapfen muss!«

Ich sagte nichts.

Der Chef drehte sich in unsere Richtung. »Arkadi, hast du was gesagt?«

Arkadi neben mir grinste, sah sich um, traf auf weitere grinsende Gesichter und sagte dann: »Klar, Chef, habe ich was gesagt.«

»Und was hast du gesagt? Darf ich das erfahren?«

»Klar, Mann!«

Der Chef trat langsam auf ihn zu.

»Also, was hast du uns mitzuteilen? Was gefällt dir nicht an dem, was ich sage?«

»Ich kann dieses Gesülze nicht mehr hören. Zehntelsekunde – Sekunde – drei Sekunden. Das haben wir schon so oft gehört.«

Als der Chef dann vor Arkadi stand, blickte er ganz entspannt auf ihn herunter. Er war schmaler, überragte ihn aber gut um einen halben Kopf. Während der Chef die Ruhe selbst war, begann Arkadi, mit den Schultern zu rollen.

»Das ist Teil der Sicherheitsunterweisung. Und die Sicherheitsunterweisung mache ich nicht zum Spaß. Die ist Vorschrift. Es gibt Regeln, Gesetze – und an die wollen wir uns halten.«

»Scheiß-Vorschrift. Scheiß-Regeln. Scheiß-Gesetze. Jeden Abend die gleiche Leier. Und wenn ein Neuer hier ist, hörst du gar nicht mehr auf mit dem Rumsülzen. Das geht mir auf die Nüsse.«

»Ich geh dir also auf die Nüsse?«

»Wir vertrödeln hier nur Zeit, Chef. Und es ist scheißkalt. Lass uns losfahren. Die Stadt durchkärchern.«

»Arkadi, Arkadi, Arkadi!«, tadelte ihn der Chef. »Nun mal langsam, ja! Wann wir aufbrechen, bestimme immer noch ich. Ist das klar?«

»Ist klar, Mann! Ich will nur, dass es jetzt endlich losgeht. Ich werde hier nicht fürs Rumstehen und Zuhören bezahlt.«

Der Chef zeigte jetzt ein tückisches Grinsen. Er drehte sich den anderen City-Cleanern zu. »Für den einen oder anderen von euch ist dieser Job vielleicht nur ein Beruf, bei dem ihr Geld verdienen könnt. Geld, für eure Familien, Geld, um es zu vertrinken oder es bei irgendwelchen Nutten liegen zu lassen. Das ist mir auch egal, vollkommen egal, was ihr mit eurem Geld macht, aber denkt daran, dass das Wort ›Beruf‹ auch von ›Berufung‹ kommt.«

Arkadi stampfte wie ein trotziges Kind mit dem Fuß auf. »›Berufung‹! Scheißdreck.«

Der Chef fuhr herum: »Hast du was gesagt?«

Arkadi zog seine Schultern hoch und nahm seinen Kopf ein wenig herunter. Er schaltete in den Kampfmodus um. »Klar, habe ich was gesagt. Ich hab gesagt, dass auch dieses ›Berufungs-Gequatsche‹ ein alter Scheißdreck ist. Das hängt mir so zum Hals raus.«

»Hängt dir so zum Hals raus? Soso! Wie komme ich dann zu der gewagten Vermutung, dass du bis zum heutigen Tag immer noch nicht kapiert hast, was ich damit sagen will? Hm? Und vielleicht denkst du auch mal darüber nach, dass vielleicht auch ein paar andere hier anders denken als du. Und vielleicht hört Ben, unser Neuer, das alles heute Abend zum ersten Mal.«

»Dann sag ihm das unter vier Augen, Mann«, sagte Arkadi. »Ich will meinen Job machen. Mehr nicht.«

»Das wollen wir alle!«

Arkadi lachte spöttisch und schüttelte den Kopf. »Mann, Chef, du solltest dich mal selber hören! Hier stehen sich die Leute die Füße in den Arsch und können es kaum erwarten, dass es bald losgeht. Ich weiß nicht, ob du ihm«, er blickte dabei auf mich herab, »erklärt hast, dass wir auf Prämie arbeiten. Aber auf Prämie arbeiten, heißt, dass jede Scheiß-Minute, die wir hier rumstehen, verlorene Zeit ist.«

»Arkadi ...«

»Nichts da mit Arkadi! Falls es dir noch nicht aufgegangen ist, wir arbeiten hier, weil wir Geld dafür kriegen, nicht wegen irgendeiner Scheiß-Berufung.«

Der Chef wiegte seinen Kopf verständnislos hin und her.

Die anderen Männer wurden unruhig. Vielleicht war ja etwas dran an dem, was Arkadi gesagt hatte.

»Arkadi, wenn dir der Begriff ›Berufung‹ nicht gefällt – kein Problem. Was ich sagen will, ist: Unser Beruf macht Sinn.« Er sprach über die Schulter zu den anderen: »Wenn ihr das kapiert, Männer, dass unser Job Sinn macht, habt ihr die Miete schon eingefahren. Wenn ...«