Der Damenfriede - Marie Cristen - E-Book

Der Damenfriede E-Book

Marie Cristen

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Beschreibung

Paris 1529. Schon zu lange befindet sich Frankreich im Krieg, braucht dringend Frieden, sonst ist es dem Untergang geweiht. So beschließt die Mutter des französischen Königs, unter größter Geheimhaltung mit ihrer Habsburger Erzfeindin zu verhandeln. Die junge Venezianerin Simona Contarini ist auf dem Weg nach Flandern, als sie mehr zufällig in den Umkreis des Pariser Hofes gerät. Sie ahnt nicht, wie sehr ihre Talente den Regierenden zupasskommen – und bald schon beginnt ein bitterer Kampf um ihre Freiheit, ihre tiefsten Überzeugungen und ihre große Liebe … Der Damenfriede von Marie Cristen: historischer Roman im eBook!

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Marie Cristen

Der Damenfriede

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungKarte: Das Burgundische Reich 1477PrologErstes BuchErstes Kapitel AbschiedZweites Kapitel EntdeckungenDrittes Kapitel HinrichtungViertes Kapitel WissenFünftes Kapitel HausgenossenSechstes Kapitel GefühleSiebtes Kapitel KetzerAchtes Kapitel InquisitionNeuntes Kapitel FreundeZweites BuchZehntes Kapitel NeuigkeitenElftes Kapitel VertrauenZwölftes Kapitel EigennutzDreizehntes Kapitel KomplikationenVierzehntes Kapitel StaatsaffärenFünfzehntes Kapitel HindernisseSechzehntes Kapitel FieberSiebzehntes Kapitel UnbeherrschtheitAchtzehntes Kapitel VorwürfeNeunzehntes Kapitel AufruhrZwanzigstes Kapitel ErinnerungenEinundzwanzigstes Kapitel SchmerzenZweiundzwanzigstes Kapitel GeheimnisseDreiundzwanzigstes Kapitel VerlangenDrittes BuchVierundzwanzigstes Kapitel BittgesuchFünfundzwanzigstes Kapitel RatlosigkeitSechsundzwanzigstes Kapitel VersprechenSiebenundzwanzigstes Kapitel WiedersehenAchtundzwanzigstes Kapitel ErklärungenNeunundzwanzigstes Kapitel VerdächtigungenDreißigstes Kapitel LiebesehenEinunddreißigstes Kapitel WeigerungZweiunddreißigstes Kapitel EinsichtDreiunddreißigstes Kapitel HoffnungVierunddreißigstes Kapitel UmarmungenViertes BuchFünfunddreißigstes Kapitel LösegeldSechsunddreißigstes Kapitel HochzeitSiebenunddreißigstes Kapitel TrauerAchtunddreißigstes Kapitel KrönungNeununddreißigstes Kapitel PestVierzigstes Kapitel ErlösungEpilogAnhangStammbaum des Hauses Contarini – van LieweDank
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Gewidmet meinem Vater Matthäus Hörger

1914 – 1980

Deine Liebe zu Frankreich hat mich geprägt.

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Prolog

Venedig, 12. Oktober 1527

Simona hasste die Nacht. Jede Nacht. Sie starrte in die Dunkelheit und wartete. Obwohl müde und zutiefst erschöpft, fand sie keinen Schlaf. Die Angst hielt sie wach. Würde Zanino heute Nacht wieder betrunken über sie herfallen?

Der Palazzo Bragadin lag in tiefer Stille. Auf dem Canale Orseolo, an dessen Ufer er lag, war Ruhe eingekehrt. Venedig schlief dem Sonnenaufgang entgegen.

Da – ein Geräusch. Atmen. Jemand stand an ihrem Bett. Zanino. Er stank nach Wein, Garküche und Hurenparfüm.

Sie zwang sich, ruhig zu liegen. Manchmal ließ er dann ab von ihr. Wenn er jedoch ihre Angst spürte, würde er bleiben. Es gefiel ihm, sie in Angst und Schrecken zu versetzen.

Was hatte er vor? Nach welcher neuen Teufelei stand ihm der Sinn? Sie wusste nicht genau, was es war, aber irgendetwas versetzte sie in Panik.

Mit einem Aufschrei warf sie sich zur Seite. Scharfer Schmerz zuckte wie ein Peitschenhieb über ihre Schulter. Ein Messer? Wollte er sie umbringen? Ihm war alles zuzutrauen.

Blind tastete sie nach dem Kerzenleuchter auf dem Ablagebrett neben sich. Die Todesangst verlieh ihr Kraft. Mit beiden Händen griff sie nach dem Leuchter und schleuderte ihn mit voller Wucht in Zaninos Richtung. Sein Aufbrüllen verriet, dass sie ihn getroffen hatte.

»Verfluchtes Frauenzimmer!«

Zaninos Hände legten sich um ihren Hals und drückten erbarmungslos zu. Rote Blitze zuckten hinter ihren Lidern. Das Rauschen ihres Blutes übertönte alle weiteren Beschimpfungen.

Ein rüder Stoß riss Simona wieder aus der Benommenheit. Sie prallte gegen die geschnitzten Ranken des Kopfendes.

»Hexe! Was ist in dich gefahren?«

»Du bringst mich um. Willst du das?«

Sein Lachen gellte ihr in den Ohren. Simona fasste sich an die Schulter. Sie blutete. Furcht, Schmerz und Hass drehten ihr den Magen um. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sie sich erbrach.

»Hast wohl den Kopf verloren vor Angst. Eines sage ich dir«, er packte sie am Hemd, zog sie grob hoch, und zerriss es dabei. Halbnackt war sie seiner Gewalt ausgeliefert. »Wenn du nicht tust, was ich sage, werde ich mit dem Dolch nachhelfen.«

Keiner in Venedig ahnte, was Zanino Bragadin für ein Scheusal war. Er war ein Heuchler, ein Wolf im Schafspelz.

Seit fünf Jahren war sie ihm ausgeliefert. Musste machtlos erdulden, dass er ihre Mitgift verschleuderte und ihre Selbstachtung mit Füßen trat. Allen anderen spielte er meisterhaft den liebenden Gemahl der unfruchtbaren Contarini-Tochter vor. Musste man ihn nicht bewundern, für so viel selbstlose Nachsicht. Was zählte da sein fehlender Geschäftssinn, sein Hang zu falschen Freunden, zum Aufschneiden und zum Glücksspiel. Kein Mann war vollkommen.

»Hör mir zu«, drang seine Stimme kalt an ihr Ohr. »Du wirst nach der Morgenmesse zum alten Paolo in die Casa Contarini gehen. Er muss mir helfen. Ich bin schließlich ein Familienmitglied der Contarini. Er hat Einfluss auf die Richter. Er kann die Anzeige niederschlagen lassen. Kapiert?«

Er hatte inzwischen die Kerzen im Kandelaber neben der Tür entzündet. In ihrem Schein entdeckte Simona hektische rote Flecken auf seinen Wangen. Sein Wams starrte vor Schmutz, auf seiner Stirn prangte eine blutende Schramme. Er sah aus, als habe er sich geprügelt. Vielleicht, weil er einmal mehr beim Glücksspiel verloren hatte oder weil seine Mitspieler die bleigefüllten Würfel entdeckt hatten, mit denen er so gerne betrog?

»Welche Anzeige?«

»Das tut nichts zur Sache. Der alte Fuchs wird es bereits wissen. Er weiß alles, was in dieser Stadt geschieht«, beschied er sie brüsk. »Jammer ihm was vor, das kannst du doch so gut. Sag, du seist überzeugt davon, dass dein lieber Mann böswillig verleumdet wird, dass er niemals vom rechten Weg abweichen würde. Er wird dich anhören. Die Familienbande halten, sie überziehen Venedig wie ein Spinnennetz – achtundzwanzig Einzelsippen!«

Seine Notlage musste größer denn je sein, wenn er nicht mehr bei ihrem Vater, sondern bei Onkel Paolo Hilfe suchte. Simona wusste, dass er das Familienoberhaupt der Contarini im Grunde seines Herzens fürchtete. Manchmal fragte sie sich, ob der alte Mann hinter die Fassade blickte, die Zanino Venedig präsentierte. Wenn ja, warum half er ihr nicht?

Weil du keine Rolle spielst, Simona. Für niemanden.

Ihre Schwestern hatten in bedeutende Familien eingeheiratet, ihren Ehemännern inzwischen mindestens ein Kind geschenkt, und bedauerten bei jedem Treffen wortreich, wie leid es ihnen tat, dass das Schicksal Simona um dieses Glück betrog. Und Simonas Stolz ließ es nicht zu, zu offenbaren, was sich hinter der Tür ihrer Schlafkammer abspielte und welchen Demütigungen sie täglich ausgesetzt war. Dass sie in all den Jahren kein Kind empfangen hatte, gab Zanino in seinen eigenen Augen das Recht, sie zu bestrafen.

Wenn sie sich jetzt weigerte, die Casa Contarini als Bittstellerin aufzusuchen, würde er sie so lange quälen, bis sie es gerne tat. Schon die Finanzierung des Stoffhandels, den Zanino in seiner Unfähigkeit ruiniert hatte, ehe er richtig in Schwung kam, hatte sie bei ihrem Vater vermitteln müssen.

Besaß sie genügend Kraft, seinen Grausamkeiten dieses Mal zu trotzen? Ihre Schulter brannte wie Feuer. Ein Rest von Selbstachtung riet ihr trotzdem nachdrücklich, den Bittgang zu verweigern.

Dabei liebte sie das Stammhaus der Contarini und sehnte sich danach, es wieder einmal zu betreten. Schon wegen der Gemälde ihres Urgroßvaters, Lucas Contarini, die überall hingen. In der Kapelle befand sich Simonas Lieblingsbild. Die büßende Maria Magdalena. Monna Hannah, ihre Urgroßmutter, hatte dafür Modell gestanden. Auch ihr Vater liebte dieses Bild besonders.

»Du siehst ihr ähnlich. Du hast ihre Augen, ihr dunkles Haar und ihr sanftes Wesen«, hatte er ihr einmal gesagt, als sie es gemeinsam betrachteten.

Simona konnte keine Ähnlichkeit entdecken, aber das seelenvolle Lächeln ihrer Urgroßmutter hatte ihr schon als Kind Trost geschenkt, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte.

Fröstelnd zog sie ihr zerrissenes Hemd enger um den Körper. Der Stoff, nass und steif vom geronnenen Blut, klebte auf der Haut. Sie war Zaninos Gefangene. Gefangene in einer Ehe, in einem Haus, das sie bis ans Ende ihrer Tage von ganzem Herzen hassen würde.

Zanino ließ sie nicht aus den Augen. Er belauerte jede ihrer Bewegungen. Er kannte sie zu gut.

»Ich sehe, du verstehst«, sagte er gönnerhaft und lächelte tückisch. »Mach dich gleich nach der Prim auf den Weg. Wenn ich aufstehe, möchte ich hören, dass du Erfolg gehabt hast.«

Er schlenderte aus der Kammer und warf die Tür hinter sich zu. Der Knall ließ Simona zusammenzucken. Sie sank auf das Bett zurück und schloss die Augen. Das kurze Aufflackern von Lebensenergie, das sie zur Gegenwehr getrieben hatte, war längst erloschen. Was war so schlimm am Tod? Er würde ihr endlich Ruhe und Vergessen schenken.

Ihre Familie würde sie beweinen, aber am Ende doch zum Alltag zurückkehren. Ihre Nachreden konnte sie sich unschwer vorstellen.

Sie war nie wie die anderen. Immer ein wenig seltsam.

Simona stützte sich auf den unverletzten Arm. Suchend glitten ihre Blicke über das Bett. Unter zerwühlten Laken versteckt, entdeckte sie das Gesuchte. Zaninos Dolch.

Auf der zweischneidigen, spitz zulaufenden Klinge befand sich getrocknetes Blut. Ihr Blut. Hatte sie damit ein Anrecht auf die Waffe erworben? Der Silbergriff, in dessen Heft drei polierte Achate eingelassen waren, schimmerte matt. Achate schützten vor Giften und machten ihren Besitzer unbesiegbar. Wie gerne wäre sie unbesiegbar gewesen!

Sie schloss die Finger um den Dolch. Er war nicht so schwer, wie sie erwartet hatte, aber er verlieh ihr ein trügerisches Gefühl von Macht.

Als sie das piano nobile mit dem großen Saal betrat, fiel die Morgendämmerung durch das Maßwerk der Frontfenster. Aus diesem Stockwerk führte die rückwärtige Treppe in den Hof, zum Brunnen und zur Küche. Dort würde sie die Mägde finden, die die Schlafkammer säubern und frisches Leinen aufziehen sollten. Sie waren es nicht gewohnt, die Herrin des Hauses zu so früher Stunde zu sehen. Ob sie den Grund für ihre Schlaflosigkeit und das blutige Nachtgewand ahnten? Sie wollte es nicht wissen.

Der Sonnenaufgang lockte sie an die Bogenfenster. Sie liebte den Blick über die Lagune um diese Tageszeit. Wenn sich das Grau mit Rosentönen mischte, die Sonne die Nebelschwaden auf dem Wasser vertrieb und die ersten Fischerboote ausliefen, lag der Tag unschuldig und hoffnungsvoll vor ihr. Zumindest hatte er das in ihrem Elternhaus getan.

Die Casa Bragadin lag an einem Seitenkanal und erlaubte nur die Aussicht auf das gegenüberliegende Haus. Ein schmaler Streifen Himmel zwischen den Dächern verriet, dass der Tag so heiß wie der gestrige werden würde. Mit einem unterdrückten Laut hob Simona den Dolch, den ihre Rechte bislang zwischen den Rockfalten verborgen hatte. Gedankenverloren starrte sie die Klinge an.

Es war eine Todsünde, das eigene Leben zu beenden. Dennoch wurde die Versuchung stärker, je länger sie darüber nachdachte.

Mach ein Ende, Simona!

Die Dolchspitze gleißte im ersten Sonnenstrahl, als sie die andere Hand auf die Stelle legte, wo ihr Herz schlug. Sie musste nur zustechen. Ein wenig fester, ein wenig tiefer.

»Madonna, was habt Ihr getan?«

Erschrocken ließ Simona den Dolch sinken und starrte Zaninos Leibdiener an. Sein kreideweißes Gesicht, seine ausgestreckte Hand. Er deutete auf ihren Dolch, auf dem die Spuren ihres Blutes klebten.

»Nichts«, antwortete sie gepresst. »Geh an deine Arbeit. Ich brauche keine Hilfe. Dein Herr …«

Das Geräusch, das sich seinem Mund entrang, ließ Simona innehalten.

»Was ist?«

Seinem Blick folgend, entdeckte sie, was ihn entsetzte. Neben dem Schauschrank, der einmal Silbergerät enthalten hatte und nun völlig leer war, lag reglos Zanino.

»Zanino!«

Simona trat näher, sank in die Knie und drehte den Leblosen auf den Rücken. Den Mund zum stummen Schrei aufgerissen, starrte ihr Mann mit blicklosen, gebrochenen Augen zur Decke. In der Brust klafften, noch Blut lassend, mehrere Wunden.

Gelähmt vom Anblick des Toten, verharrte sie kniend. Er musste seinem Mörder, von ihr kommend, direkt in die Arme gelaufen sein, denn er trug noch immer das schmutzige Wams. Der Ausdruck fassungslosen Erstaunens auf seinen Zügen zeigte, wie unverhofft der Tod ihn getroffen haben musste.

Zanino ist tot, hallte es ungläubig in ihrem Kopf.

»Ihr habt ihn ermordet!«, hörte sie wie von ferne die Stimme des Leibwächters, wieder und wieder.

Da sie nichts erwiderte, machte er auf dem Absatz kehrt und schrie die Neuigkeit mit sich überschlagender Stimme in den Morgen hinaus.

»Der Herr ist tot! Erstochen und ermordet von der eigenen Frau! Ruft die Stadtwachen!«

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Erstes Buch

Bernard Palissy

 

 

Erstes KapitelAbschied

Venedig, 4. August 1528

Du solltest Gott auf Knien danken, dass Gianni Malipiero dich als Ehefrau in Betracht zieht, Simona. Nach den schrecklichen Ereignissen des letzten Jahres befürchtete ich im Geheimen, du müsstest deine Tage in einem Kloster beenden.«

»Nein!«

Monna Donata Contarini war mit ihrem Latein am Ende.

Seit mehr als einer Woche versuchte sie ihrer jüngsten Tochter die Vorteile dieser Verbindung aufzuzeigen, aber Simona ließ sich nicht überzeugen.

»Sagt doch auch etwas, Piero. Lasst nicht zu, dass Simonas Leid kein Ende findet«, forderte sie ihren Ehemann auf. »Das Trauerjahr ist fast vorüber. Dem Anstand wurde Genüge getan, nun müssen Entscheidungen getroffen werden. Es geht nicht länger an, dass du deine Tage damit vertust, die Blumen des Gartens zu zeichnen.«

Sie fasste ihre Tochter ins Auge, die wie eine Besucherin auf der äußersten Kante einer Bank unter den Gartenarkaden saß. Sie zeigte keinerlei Anteilnahme.

»Du bist kein Kind mehr, Simona«, fügte sie mahnend hinzu.

»Ich habe mich schon entschieden«, antwortete Simona an ihres Vaters Stelle. »Ich will nicht wieder heiraten. Niemals. Wozu denn?«

»Was ist das für eine Frage?« Ihre Mutter konnte nur den Kopf schütteln. »Es ist die Pflicht einer jeden Frau, Kinder zu gebären und ein Haus zu führen. Es sei denn, sie dient Gott.«

»Gott versagt mir Kinder.«

»Malipiero ist Vater von drei unmündigen Kleinen. Seine Frau ist ihm im Kindbett genommen worden. An seiner Seite kannst du endlich deine Bestimmung als Ehefrau und Mutter finden.«

Simona verspürte nicht den Drang, drei Rotznasen für einen Witwer aufzuziehen, der keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass es ihm bei seinem Heiratsantrag nur um die Versorgung seiner Kinder ging. Ihr war klar, dass ihr Ruf schwer beschädigt war. Obwohl sie einer mächtigen und einflussreichen Sippe angehörte, würde es ihrem Vater nicht so leicht gelingen, dieses Mal einen passenden Ehemann für sie zu finden.

»Warum widersetzt du dich deiner Mutter«, fragte Piero Contarini. Seit Simona wieder in ihrem Elternhaus lebte, musste er oft zwischen beiden vermitteln. Bislang hatte er der Tochter vieles nachgesehen. Sie hatte Schlimmes erlebt und musste erst wieder zu sich finden. Eine neue Ehe würde die Vergangenheit endgültig in Vergessenheit geraten lassen. »Nachdem der Mord an Zanino nicht mehr in aller Munde ist …«

»Den ich nicht verschuldet habe«, fiel sie ihm ungewohnt brüsk ins Wort. »Die Quarantia Criminal hat einen Handelsagenten aus Zypern der Tat überführt. Zanino hat sein schlimmes Ende mit Betrug und Lügen selbst verschuldet. Ich sehe keinen Grund, noch länger für dieses Verbrechen büßen zu müssen.«

Bis das Strafgericht von Venedig dies zweifelsfrei verkündet hatte, musste Piero Contarini allen Einfluss geltend machen, dass man seine Tochter nicht in den Kerker warf. Der Beweis ihrer Unschuld war beklagenswert spät gekommen. Ihr Ansehen hatte bereits nicht wieder gutzumachenden Schaden erlitten. Simona war in ihr Elternhaus zurückgekehrt, der Palazzo Bragadin geschlossen worden. Bis heute hielt sich das Gerücht in Venedig, dass sie nur der Name Contarini und nicht ihre Unschuld gerettet habe.

»Umso wichtiger ist es, dass du wieder ein normales Leben führst und dich nicht in deinem Elternhaus vergräbst«, antwortete ihr Vater beschwichtigend.

»Ein neuer Ehemann kann am besten dafür sorgen, dass das Getuschel aufhört«, fügte Donata an. »Wie soll Lucca jemals unter den Nobile zu Macht und Ansehen kommen, wenn seine Schwester weiterhin den Namen eines ermordeten Betrügers trägt.«

Das Gespräch drehte sich im Kreis. Simona bewahrte nur mit Mühe Haltung. Die neue Ehe, die ihre Mutter für sie eingefädelt hatte, sollte in erster Linie dazu dienen, den untadeligen Ruf der Familie wiederherzustellen. Donata liebte ihre vier Mädchen, aber der einzige Sohn war ihr Ein und Alles. Lucca, seine politische Karriere, sein Ansehen in Venedig waren das Wichtigste in ihrem Leben.

»Kann ich nicht meinen eigenen Haushalt führen?«, appellierte Simona an den Vater. In ihm hatte sie oft schon einen Verbündeten gehabt. Ihm gefiel, dass sie als einziges seiner Kinder das künstlerische Talent geerbt hatte, das er an seinem Großvater so bewundert hatte. In ihrer Kindheit hatte er dieses Talent durch entsprechende Lehrer gefördert, und Simona hatte es ihm mit Eifer gedankt. Zanino hatte ihre Malerei lediglich verspottet, und als er herausfand, wie viel Freude sie dabei empfand, hatte er sie ihr ohnehin verboten.

Donata schüttelte indessen so nachdrücklich den Kopf, dass Simona die Antwort des Vaters nicht abwartete. Sie wusste, dass er ihr niemals in Gegenwart ihrer Kinder widersprechen würde.

»Es muss ja nicht in Venedig sein«, fuhr sie beschwörend fort. »Lasst mich auf die Terraferma gehen, auf unser Landgut. Habt Ihr nicht erwähnt, der Verwalter sei alt und nachlässig geworden, Vater. Wenn ich …«

»Gott bewahre!« Donata bekreuzigte sich hastig. »Das wäre ja ein neuer Skandal. Eine Contarini wird Bäuerin. Das kommt nicht in Frage. Nein, du musst allen die Stirn bieten. Du heiratest Malipiero, basta. Am Sonntag. In San Marco.«

»Ich – werde – nie – wieder – heiraten«, sagte sie lauter als gewöhnlich, mit akzentuierter Betonung jeder einzelnen Silbe. »Unter keinen Umständen. Ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist.«

»Du … du …«

Zum ersten Mal erlebte Simona, dass es ihrer Mutter die Sprache verschlug. Sie sah zu ihrem Vater, der sie ungewohnt zurückhaltend betrachtete. Es fiel ihr schwer, sich ihm zu widersetzen. Sie liebte ihn sehr. Er war ein ausgesprochen schöner Mann, seine blauen Augen strahlten Güte aus, und obwohl sein blondes Haar schon ergraut war, war er immer noch eine große, imposante Erscheinung.

»Du trotzt uns«, wiederholte Piero das Offensichtliche.

»Ihr habt mich in die Enge getrieben«, antwortete sie bebend. »Glaubt mir, ich will Euch keinen Kummer machen. Immer habe ich mich bemüht, zu gehorchen und das Rechte zu tun, aber es gibt Grenzen. Erspart mir einen neuen Ehemann, ich bitte Euch.«

Stille senkte sich über den Laubengang. Donatas Brokatröcke raschelten, als sie die Hände faltete. Simona wagte nicht, sie anzusehen. Seit sie denken konnte, war sie sich nicht sicher, ob sie ihre Mutter liebte oder fürchtete. Vermutlich beides. Sie führte Familie und Haus mit energischer Hand.

»Dann bleibt dir eigentlich nur der Rückzug in ein Kloster«, brach ihr Vater schließlich das Schweigen.

»Und wenn ich Venedig einfach verlasse?«

»Du wirst unter keinen Umständen allein auf das Festland gehen«, verbot Donata.

»Aber in Venedig kann ich nicht länger leben! Seht das bitte ein!«

Sie erhielt keine Antwort. Es hielt sie nicht länger auf der Bank. Mit dem Mut der Verzweiflung flehte sie: »Es muss irgendwo einen Platz auf dieser Welt für mich geben, wo ich leben kann, ohne dass man mich verleumdet, vergewaltigt, demütigt und peinigt.«

In der Erregung hatte sie zu viel verraten. Sie bemerkte es erst, als die Mutter entsetzt eine Hand vor den Mund schlug. Ihr Vater beugte sich im Stuhl nach vorne, die Stirn gefurcht, die Augen vor Zorn verdunkelt.

»Hat Zanino Bragadin gewagt, dich zu schlagen?«, rief er schockiert.

»Das und mehr«, gestand Simona nach langem Schweigen tonlos. »Deswegen werde ich mich nie wieder freiwillig in die Gewalt eines Mannes begeben. Lieber nehme ich mir mit eigener Hand das Leben.«

»Du versündigst dich, Kind.«

»Am Morgen, als man Zanino fand, war ich entschlossen dazu. Ich hatte seinen Dolch in der Hand, weil ich ihn gegen mich selbst richten wollte. Ich fand keinen anderen Ausweg.«

Bis heute fragte sich Simona, ob sie den Mut aufgebracht hätte, den Vorsatz in die Tat umzusetzen, wenn sie nicht von Zaninos Leibdiener gestört worden wäre. Sie würde es nie erfahren.

Piero und Donata sahen sich bestürzt an. Beiden fehlten die Worte.

Simona hatte sich wieder auf die Bank fallen lassen und die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie schämte sich zutiefst. Noch nie hatte sie mit jemandem darüber gesprochen, was sie alles in ihrer Ehe hatte erdulden müssen. Sie wollte vergessen. Nun aber hatte sie den Erinnerungen selbst Tür und Tor geöffnet.

Hastige Schritte näherten sich. Ein Lakai in Contarini-Livree überbrachte eine Botschaft, auf die Piero gewartet hatte. »Man schickt aus dem Hafen nach Euch, Messèr Contarini. Das Schiff aus Flandern, das Ihr erwartet, ist eingetroffen. Die Karavelle Christina liegt an der Mole von San Marco.«

»Danke, ich komme sofort.«

Er wies den Diener an, am Tor auf ihn zu warten, und wandte sich an Mutter und Tochter. Erleichterung war ihm anzumerken beim Erteilen seiner nächsten Befehle.

»Diese Lösung schickt uns der Himmel. Du reist nach Flandern, Simona, wenn die Karavelle nach Antwerpen heimkehrt. Die Contarini in Brügge und Antwerpen werden dich mit offenen Armen empfangen. Unsere Verbindungen sind ausgezeichnet. Auf diese Weise kannst du Venedig verlassen, ohne dass böswilliges Gerede entsteht. Wir werden verbreiten, dass die Reise seit langem geplant war und du nur auf das Eintreffen der Christina gewartet hast. So wirst du die Zeit haben, die du brauchst, um mit all den Schrecken fertig zu werden.«

»Aber Malipiero …«

Dieses Mal tat Piero den Einwand seiner Frau mit einer Handbewegung ab.

»Vergiss den Heiratsplan, Donata. Malipiero wird eine andere finden. Diese Reise ist eine bessere Lösung. Nach allem, was unsere Tochter durchgemacht hat, ohne dass wir ihr zur Seite stehen konnten, hat sie unsere Nachsicht verdient.«

»Aber wir können sie doch nicht alleine reisen lassen.«

»Sie wird nicht alleine reisen. Außerdem – erinnere dich an meine Großmutter. Sie hat diese Reise ebenfalls auf sich genommen und mit Lucas Contarini in Venedig ihr Glück gefunden.«

Ihr Vater verteidigte den Plan. Er war auf ihrer Seite. Simona verspürte zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten wieder eine Spur von Hoffnung.

Ehe sie sich gefasst hatte und ihm danken konnte, war er gegangen. Sie hörte ihn im Haus nach Lucca rufen.

Eine Berührung am Arm riss sie aus ihren Gedanken.

»Bist du sicher, dass du das willst, Kind?« Donatas Stimme bebte. »Venedig verlassen? Du bist in dieser Stadt geboren und aufgewachsen, du kennst kein anderes Leben. Es gibt auf der ganzen Welt keine Stadt, die der Serenissima gleicht. Sie ist einmalig.«

Simona konnte ihre Verwirrung nachempfinden. Ihre Mutter stammte aus der Familie des regierenden Dogen Andrea Gritti. Die Liebe zu Venedig hatte sie mit der Muttermilch eingesogen. Für sie war Venedig der Nabel der Welt.

»Du weißt nichts von Flandern, geschweige denn von Frankreich oder Spanien«, fuhr die Mutter fort. »Die Karavelle wird ihren Weg entlang der Küsten nehmen müssen. Die Contarini-Schiffe bevorzugen diese Route, um Piratenüberfällen auszuweichen. Du wirst unendlich lange unter dürftigsten Umständen unterwegs sein. Du wirst das nicht durchstehen.«

»Immerhin spreche ich die Sprache unserer Verwandten, Mutter. Auch das Französische und das Spanische sind mir geläufig. Habt Ihr vergessen, wie umfassend die Ausbildung auch Eurer Töchter war?« Simona versuchte, sich keine Angst einjagen zu lassen.

»Das Vorhaben ist nichtsdestoweniger Wahnsinn. Herrscht nicht in Flandern sogar Krieg?«

»In Flandern ist kein Krieg, Mutter. Warum sucht Ihr nach Hindernissen? Ihr wisst so gut wie ich, dass nach dem Tod des letzten burgundischen Herzogs, der in der Schlacht von Nancy sein Leben verloren hat, die Waffen schweigen. Flandern gehört jetzt zum Reich der Habsburger. Kaiser Karl hat seine Tante, Margarete von Österreich, mit der Statthalterschaft über die niederländischen Gebiete betraut. Man sagt ihr nach, dass sie sehr tüchtig ist und eine große Förderin der Künste. Seid gewiss, dass mir in Brügge und Antwerpen nichts zustoßen kann.«

»Und was ist mit Frankreich? König François’ Truppen sind bis nach Mailand vorgedrungen.«

»Das war 1515, Mutter! Wir schreiben das Jahr 1528! Venedig bildet mit Frankreich, dem Kirchenstaat, Mailand und Florenz die Liga von Cognac. Wir sind Verbündete. Außerdem ist es unserem Dogen bisher immer gelungen, Venedig aus allem Zwist herauszuhalten. Kein Schiff der Serenissima ist in Gefahr.«

»Das ist ein Bündnis gegen den Habsburger Kaiser, der immer mächtiger wird«, entgegnete Donata aufgebracht. »Der Franzose kann es dem Habsburger niemals verzeihen, dass er in Spanien in Ketten gelegt wurde. Trotz seiner Freilassung weigert er sich bis heute, die burgundischen Gebiete an den Habsburger abzutreten, obwohl er es zugesagt hatte. Es wird wieder Krieg geben.«

Dass Donata mit allen Mitteln die Trennung verhindern wollte, hatte sie so nicht erwartet. Im Gegenteil. Müsste sie nicht eher erleichtert sein, die unbotmäßige Tochter endlich loszuwerden?

»Urteilt nicht zu hart über den französischen König«, sagte Simona. »Sechs lange Kerkermonate in Madrid müssen seiner Gesundheit zugesetzt haben. Dass er danach auf seine Ansprüche in Italien ebenso verzichtete wie auf Burgund und Artois, ist verständlich. Karl hat ihn außerdem erpresst.«

»Und was wird aus seinen minderjährigen Söhnen, die er dem Kaiser als Pfand überlassen hat?«

»Mutter, ich bitte Euch. Was hat all dies mit meiner Reise nach Flandern zu tun?«, brach es schließlich aus Simona heraus. Ihre Geduld war erschöpft. »Auch Vater kennt die politische Lage und die Gefahren. Ihr glaubt doch nicht, dass er mich sehenden Auges in mein Unglück rennen lässt.«

Donata konnte darauf nichts erwidern. Sie verließ den Raum. Simona sah ihr zweifelnd nach. Durfte sie sich auf die Reise freuen oder würde die Mutter den Vater wieder umstimmen?

* * *

Der Abschied fiel Simona schwer. Im Wissen, dass sie Eltern, Bruder und Schwestern sehr lange nicht sehen würde, erschien das Vergangene auf einmal nicht mehr so schlimm. Donata umarmte sie liebevoller als sonst. Die Küsse ihrer Schwestern brannten ihr auf den Wangen. Lucca beneidete sie. Er wäre gerne an ihrer Stelle gewesen, sie sah es ihm an.

Die letzte Umarmung gehörte dem Vater. Er steckte ihr ein schmales Kästchen zu, das er geschickt vor allen anderen verbarg.

»Öffne es erst, wenn du allein bist«, sagte er mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern. »Und nun geh mit Gott. Der Kapitän wartet auf dich. Das Schiff muss mit der Flut ablegen.«

Zahllose Verwandte und Neugierige säumten die Mole vor San Marco. Vom höchsten Punkt des Achterkastell verschwammen ihre Gesichter. Simona hörte Rufe, sah, dass sie mit Hüten, Tüchern und Blumen winkten, während die Leinen an Land gelöst wurden. Die Menschen wurden kleiner, Farben flossen ineinander. Die Konturen der Stadt, die sie noch nie aus solcher Entfernung betrachtet hatte, wurden filigraner. Der Palast des Dogen und die goldene Kuppel der Kathedrale schimmerten in der aufgehenden Sonne.

Venedig verschwand.

Wasser klatschte gegen den Schiffsrumpf. Wind fuhr in die schweren Segel, spannte die Taue. Mit leisem Rauschen nahm die Christina Fahrt auf. Simona fühlte die Bewegung unter ihren Füßen. Das Gesicht dem Wind zugewandt, schloss sie die Augen. Die Tränen ließen sich nicht länger aufhalten.

Was auch die Zukunft bringen würde, eines schwor sie sich in aller Eindringlichkeit: Nie wieder will ich etwas gegen meinen Willen tun. Mein Leben gehört mir!

»Heilige Maria, Mutter Gottes, breite deinen Mantel über uns aus. Beschütze und bewahre uns …«

Sie reiste nicht allein. Bisher hatte Simona diesen Umstand erfolgreich verdrängt. Donata hatte unter den Matronen, die sie mildtätig unterstützte, Elisabetta Gritti ausgewählt. Die Witwe eines Bootsführers war von üppiger Gestalt. Sie wusste sich mit einer Männerstimme Respekt zu verschaffen, obwohl sie Wert darauf legte, wie eine Dame aufzutreten und als solche behandelt zu werden.

Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, erinnerte sie Simona an eine Saatkrähe. Eine fromme Saatkrähe, die zu jeder Tageszeit den Rosenkranz betete und ständig Sünden tadelte. Schon jetzt machten die Männer auf dem Schiff einen ehrfürchtigen Bogen um sie.

»Ihr solltet auch beten«, riet sie nun eindringlich. »Mein Seliger pflegte zu sagen: Das Meer ist tief und launisch wie eine Frau. Man muss sich der Unterstützung des Himmels versichern, wenn man sich mit ihm einlässt.«

»Ist Euer Mann auf dem Meer geblieben?« Simona versuchte das Gespräch in weniger andächtige Bahnen zu lenken.

»Nein, sie haben ihn am Dorsoduro aus dem Wasser gefischt. Ertrunken. Vermutlich betrunken. Gott sei seiner sündigen Seele gnädig.«

»Eure Gebete werden ihm helfen«, erwiderte Simona und unterließ weitere Erkundigungen. Sie verspürte keine Lust auf eine Unterhaltung, da sie lieber ihren eigenen Gedanken nachhing.

Von ihrem Vater wusste sie, dass die Karavelle Seidenstoffe, griechischen Wein, Spiegel und Kostbarkeiten aus den venezianischen Goldschmiedewerkstätten geladen hatte. Antwerpen, der Heimathafen des Schiffes, lief Brügge und Gent inzwischen den Rang als erster Handelsplatz Flanderns ab. Die Christina würde vermutlich eines der letzten Schiffe sein, das vor den Herbststürmen die große Reise durch das Mittelmeer und den äußeren Ozean unternahm. Kapitän Gerards hatte keine Voraussage gewagt, wie viel Zeit er für die Fahrt veranschlagen musste.

In der Seitentasche ihres Umhanges konnte sie das Geschenk ihres Vaters fühlen. Obwohl sie neugierig war, wollte sie einen passenden Zeitpunkt abwarten, um es zu öffnen. Auf jeden Fall wollte sie dazu alleine sein. Ein schwieriges Unterfangen, da sie mit Elisabetta einen Raum teilen musste.

Im Schein einer Kerze, die auf dem Eisendorn einer Laterne steckte, öffnete sie das Kästchen erst, nachdem Elisabetta sich abends zur Wand gedreht hatte. Die Witwe quoll über die Kanten des schmalen Holzbettes, ihr Busen wölbte die Decke. Ihr Schnarchen war ohrenbetäubend. Das Geräusch erinnerte Simona unliebsam an Zanino.

Langsam hob sie das Samttuch. Ein Dolch lag vor ihr. Der Silbergriff leuchtete im Licht, die Achate schimmerten. Sie erkannte die Klinge auf den ersten Blick. Zuletzt hatte sie sie in der Hand des Richters gesehen, der sie des Mordes an ihrem Ehemann beschuldigt hatte.

Schaudernd berührte sie mit den Fingerspitzen die Narbe an ihrer Schulter.

Wie kam ihr Vater an diese Waffe? Was wollte er ihr mit diesem Geschenk sagen?

Zwischen Dolch und Stoff steckte ein gefaltetes Papier. Die Schriftzüge Pieros waren ihr vertraut, aber sie musste das Blatt näher an die Kerze halten, um die Zeilen lesen zu können.

 

Der Himmel leite deine Schritte, meine Tochter, auf dieser Reise in den Norden. Die Waffe soll dich begleiten und daran gemahnen, dass die Dinge oft nicht das sind, was sie scheinen. Trage den Dolch, obwohl er dich an Zanino erinnert. Aus dieser Erinnerung ziehst du vielleicht die Kraft, ihn zu gebrauchen, wenn es einmal nötig sein sollte.

Es wird mich bis an das Ende meiner Tage belasten, dass wir dich nicht so behütet haben, wie es nötig gewesen wäre. Deine Mutter und ich gewähren dir schweren Herzens die Freiheit, nach der du dich sehnst. In deinem Gepäck findest du Sendschreiben an deine Verwandten, aber auch an wichtige Persönlichkeiten in Flandern und Frankreich. Du bist eine Contarini, wenn du Hilfe brauchst, öffnet dir der Name viele Türen. Wir beten zu Gott, deine Mutter und ich, dass du in der Ferne findest, was dir in Venedig verwehrt geblieben ist. Glück und Zufriedenheit. Dein Vater Piero Contarini.

 

Vorsichtig prüfte Simona die Dolchschneide mit dem Daumen. Im Nu zeigte sich ein Schnitt auf der Fingerkuppe. Winzige Tropfen drangen heraus. Wie dumm. Sie musste lernen, mit einer solchen Waffe umzugehen.

Welch ungewöhnliches Geschenk. Normalerweise bedachte Piero seine Frau und seine Töchter mit Schmuck, kostbaren Stoffen, Düften und modischem Zierat. Dass er ihr Zaninos Dolch mit auf den Weg gab, erstaunte sie sehr. Stets hatte er sie seine kleine Künstlerin genannt, seine süße Blume, die im Schatten ihrer Schwestern stand. Die Waffe passte nicht zu diesem Bild. Sie forderte zu Verteidigung und Tat auf. Sie umfasste den Griff fester. Sie hatte ihren Garten Venedig verlassen. Sie musste allen Mut zusammennehmen und aus dem Schatten treten. War es das, was der Vater ihr sagen wollte?

Monna Elisabetta verstummte. Simona warf einen prüfenden Blick auf das Bett gegenüber. Erst als die Witwe in höherer Tonlage weiterschnarchte, entspannte sie sich wieder. Sie entdeckte, dass auch eine passende Lederschneide im Kasten bereitlag, die mit einer Schlaufe an jedem Gürtel befestigt werden konnte. Ihr Vater hatte an alles gedacht.

Sie schob den Dolch in die Hülle und legte beides unter ihr Kopfkissen. Erst danach tat sie Brief und Kästchen in ihre Reisetruhe, die am Fußende ihres Lagers stand, löschte die Laterne und versuchte Ruhe zu finden.

Das Rauschen und Knarren des Schiffes, das sich seinen Weg durch die Vollmondnacht suchte, übte beruhigende Wirkung auf sie aus. Sie war auf dem Meer. Auf dem Weg nach Flandern.

Die Reise war lang, sie hatte genügend Zeit, Pläne zu machen. Viele Tage und Nächte lagen wohl vor ihr.

Zweites KapitelEntdeckungen

Narbonne, 22. September 1528

Die feine Linie am Horizont nahm Formen an. Land. War es Narbonne, das im Dunst auftauchte? Aus den Gesprächen des Kapitäns mit dem Steuermann und dem Lotsen, den sie in Pisa an Bord genommen hatten, wusste Simona, welchen Hafen sie ansteuerten.

Kapitän Gerards hatte nach Palermo nicht die übliche Flandernroute gewählt, die über Palma, Cadiz und Lissabon nach Norden führte. Stattdessen hatte er sich für den Weg der Galeeren entschieden, der Neapel, Civitavecchia und Pisa berührte. Im Golf von Lyon brachten sie wechselnde Winde immer wieder vom Kurs ab. Trinkwasser und Vorräte neigten sich dem Ende zu. Der nächstgelegene Hafen war, laut Aussage des Kapitäns, Narbonne. Ehe sie die spanische Küste ansteuerten, wollte er dort Proviant und Wasser auffüllen.

»Dem Himmel sei Dank«, vernahm Simona Elisabettas erleichterten Ausruf. »Endlich wieder Land.«

Die tückischen Sturmböen des Mistral, die das Schiff bei strahlend blauem Himmel die Wellentäler hinab- und wieder hinaufgetrieben hatten, waren nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Hinzu kam ihre Furcht vor Piraten. Mit ihren Gebeten, Seufzern und Schauergeschichten strapazierte sie Simona täglich.

Diese nämlich hatte entdeckt, dass sie es liebte, wenn der Wind ihr an den Kleidern zerrte und ihr die aufgesteckten Haare löste. Ein Wust dunkler Locken umgab zumeist ihr Gesicht. Nie zuvor war sie der Natur derartig ausgeliefert gewesen.

Das Leben auf dem Kauffahrer fand in jeder Hinsicht ihr Gefallen. Sie war zu einem vertrauten Anblick für den Kapitän und seine Männer geworden. Eine schmale Gestalt, die dem Wind trotzte.

Endlich konnte sie die Stadt erkennen. Unverkennbar waren die drei viereckigen Türme des erzbischöflichen Palastes von Narbonne, der mehr einer Festung als einer Bischofsresidenz glich. Auch die Umrisse der Kathedrale des Saint Just wurden sichtbar. Der Kapitän hatte ihr erzählt, dass an dem Gotteshaus seit Jahrhunderten gebaut würde. Es fehle an Geld, es fertigzustellen. Das antike Narbo Martius, einst ein wichtiger Hafen an diesem Küstenstrich, war heute arm und bedeutungslos.

Befehle wurden gebrüllt und die Ankerwinde betätigt.

»Ankern wir etwa hier draußen?« Elisabettas Stimme wurde schrill. »Warum mitten auf dem Meer? Warum legt das Schiff nicht an der Mole an?«

»Narbonne hat einen Flusshafen. Ihr könnt es selbst erkennen. Dort vorne ist das Wasser braun von Sand und Erde. Die Aude, die noch im vergangenen Jahrhundert dafür gesorgt hat, dass Schiffe ihre Ladung direkt im Hafen löschen konnten, versandet zunehmend.« Der Kapitän versuchte sie zu beruhigen. »Das Wasser ist nicht mehr tief genug für uns. Die Christina würde auf Grund laufen, wollten wir es wagen, im Hafen einzuschiffen.«

»Heißt das, wir können das Schiff nicht verlassen?«, rief Elisabetta entsetzt.

»So habe ich es verstanden«, erwiderte Simona gelassen, weil der Kapitän sich schon wieder abgewandt hatte.

Auch sie war enttäuscht. Der Kapitän hatte den versandeten Flusslauf zuvor nicht erwähnt. Liebend gerne hätte sie die Stadt erkundet, die so verlockend nahe lag. Römer, Goten, Araber und Spanier mussten Spuren hinterlassen haben. Gebäude, Wandgemälde, Mosaiken, Statuen, wie sie sie aus Venedig nicht kannte.

Als Elisabetta begriff, dass ihre Entrüstung nichts an den Tatsachen änderte, wechselte sie das Thema. Irgendwie hatte sie jedoch das Bedürfnis, ihren Unmut loszuwerden. Simona bot sich als einziges Opfer an.

»Eure Hände und Euer Gesicht sind schon so braun wie die einer Bauersfrau. Ihr müsst aus der Sonne. Wie wollt Ihr einen Ehemann in Flandern finden, wenn Ihr so wenig auf Eure Erscheinung gebt.«

»Einen Ehemann? Wer sagt, dass ich nach Flandern reise, um einen Ehemann zu finden?« Simona fuhr erschrocken zu ihr herum.

»Monna Donata. Was denkt Ihr?«, erhielt sie zur Antwort. »Warum sollten Eure Eltern Euch sonst so eine weite Reise machen lassen? In Flandern weiß niemand etwas von dem Skandal, der Euch in Venedig in solche Schwierigkeiten gebracht hat.«

Erschüttert, dass sie die Pläne ihrer Eltern nicht von Anfang an durchschaut hatte, fehlten Simona die Worte.

Erwarteten sie, dass sie in Antwerpen oder Brügge einen Mann fand? Enthielt das Schreiben, das sie ihren Verwandten übergeben sollte, entsprechende Anweisungen und Vorschläge?

Simona begriff, dass sie, gleich den Singvögeln im Garten der Casa Contarini, schon wieder in einem Käfig saß. Man erlaubte ihr ein wenig zu zwitschern, aber nicht einen Flug in die Freiheit.

Sie starrte zur Küste, wo soeben eine kleine Flotte von Fischerbooten und Barken Kurs auf die ankernde Christina nahm.

Irgendeine Möglichkeit muss ich finden, die Pläne meiner Eltern zu vereiteln.

Entschlossener denn je richtete sie sich auf und entdeckte die näher kommenden Boote.

»Ich werde mit dem Kapitän sprechen. Bis er die gewünschten Wasserfässer und Vorräte erhält, können wir sicher einen Landausflug unternehmen. Ich will unbedingt die Kathedrale aus der Nähe sehen. Wusstet Ihr, dass der Grundstein für den Bau eigens aus Rom gesandt wurde? Papst Clemens IV. hat ihn gesegnet. Er wollte, dass in der Stadt, die einmal das Zentrum katharischer Ketzer war, ein Gotteshaus entsteht, ebenso prächtig wie die Kathedralen des Königreiches im Norden von Frankreich.«

Nur widerstrebend fand sich Kapitän Gerards bereit, ihrer Bitte nachzugeben. Er wollte nichts davon hören, dass die beiden Frauen Quartier in einer Herberge nahmen, aber er gab schließlich sein Einverständnis, dass sie am nächsten Tag an Land gingen, um ihre Gebete in der Kathedrale zu verrichten. Er würde ihnen zwei kräftige Seeleute als Leibwache an die Seite geben, obwohl er die Männer an Bord dringend benötigte.

»Wann plant Ihr, den Anker wieder zu lichten, Kapitän Gerards?«, wollte Simona zuletzt wissen.

»Mit der Nachmittagsflut. Ich hoffe, bis dahin kann ich die nötigen Vorräte und Waren erwerben.«

»Dann seid bitte so freundlich, das Boot und Eure Männer eine Stunde nach Sonnenaufgang bereitzuhalten. Wir wollen frühzeitig aufbrechen.«

Der Kapitän nickte zustimmend.

* * *

Der Morgen war überraschend kühl, obwohl die Sonne schien. Simona schloss den dunkelbraunen Wollumhang aus flandrischem Tuch. Der Stoff schlug schwer gegen ihre Beine, als sie behende über eine Strickleiter in das Ruderboot kletterte, das an der Christina festgemacht hatte. Es tanzte auf unruhigen, kurzen Wellen, aber sie balancierte sicher zum Sitzbrett und wies die Hilfe des graubärtigen Fischers ab. Elisabetta würde sie nötiger brauchen.

Sorgsam zog sie die Falten des Mantels um sich, damit sie nicht versehentlich einen der Briefe zerdrückte, die in seiner Innentasche steckten. Sie hatte es nicht über sich gebracht, die Papiere an Bord zu lassen. Ihre Kammer konnte nicht verschlossen werden, und das Schloss ihrer Reisetruhe besaß keinen besonders komplizierten Mechanismus. Sie hatte gelernt, auf ihren Besitz zu achten. Die Bankdokumente, die ihr Geld von jeder Niederlassung der Contarini zusicherten, waren ihr ebenso wichtig wie die Schreiben ihres Vaters. Den Dolch mit dem Gürtel hatte sie um ihre Taille geschnallt. Es gab ihr Sicherheit. Ihr Schmuck war ohnehin in die Säume des Mantels eingenäht.

»Man muss es Galgenvögeln jeder Art schwermachen«, hatte ihre Mutter diese Vorsichtsmaßnahme erklärt.

Die Strickleiter knarzte bedrohlich unter Elisabettas Gewicht. Zahllose Hände hatten ihr über die Reling geholfen, und nun senkte sich der Kahn.

Elisabetta schwieg, bleich umklammerte sie den Bootsrand. Augenscheinlich bereute sie es, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Simona genoss es. Das Gesicht mit geschlossenen Augen der grellen Morgensonne zugewandt, gab sie sich ganz der reinen Freude hin, die sie durchströmte.

Aus der Nähe war Narbonne enttäuschend. Verfall und bittere Not waren nicht zu übersehen. Verlassene Häuser, vernagelte Lagerschuppen, eingefallene Mauern und geborstene Steintreppen, wohin Simona blickte. Der Fluss, an diesem Morgen trügerisch glatt wie ein Tuch, spiegelte das Elend wider. Zerlumpte Kinder spielten am Schlammsaum des Wassers. Knochendürre Katzen strichen um den Stand eines Fischhändlers, der eine Gruppe schnatternder Frauen angelockt hatte. Bettler hockten apathisch im Schatten und hielten den Vorübergehenden jammernd die Hand hin.

»Du lieber Himmel.« Kaum wieder auf sicherem Boden, fing Elisabetta wie gewohnt an zu zetern. »Das ist kein Hafen, das ist eine Müllhalde.«

»Ihr dürft die Stadt nicht mit Venedig vergleichen«, antwortete Simona. »Hier liegen die Zeiten des Glanzes lang zurück. Aber es hat sie unzweifelhaft gegeben. Seht dort die Säule. Dieses korinthische Kapitell ist wunderschön.«

»Das ist keine Säule, das sind nur noch Steinreste von einer Säule«, widersprach Elisabetta. »Lasst uns gehen, ehe die Bettler nach unseren Rocksäumen grabschen. In der Kathedrale werden wir hoffentlich unbehelligt bleiben.«

Sie fand kein Gehör, denn Simona hatte unweit der zerstörten Säule etwas entdeckt, das sie magisch anzog. Die Säule hatte offensichtlich zu einer Speicheranlage aus römischer Zeit gehört. Nichts erinnerte mehr an den Innenhof, um den sich früher die einzelnen horrea gegliedert hatten. Im Schatten einer halb zerstörten Mauer saß ein junger Mann. Er hatte ein schmales Brett auf den Knien und zeichnete.

Der Rötelstift bewegte sich geschickt und schnell über das Papier. Vorsichtig blickte sie über seine Schulter. Er hatte sie bemerkt.

Ein braunes Gesicht mit tiefschwarzen Augen sah zu ihr auf, und der Stift hielt inne.

»Interessiert dich meine Malerei? Was ich mache, ist nicht gut, aber es wird besser werden.« Ein frohgemutes Grinsen zeigte seine weißen Zähne.

Es war so ansteckend, dass Simona es erwiderte, ohne dass es ihr bewusst war. Sie ließ den Blick über sein einfaches Wams gleiten, sah die mageren braunen Beine mit den bloßen Füßen und den Schmutz unter seinen Nägeln. Dem Aussehen nach war er eher ein Handwerker als ein Künstler, stellte sie fest. Dennoch besaß sein Strich eine verblüffende Präzision, und er hatte ein Auge für Details.

»Du bist umgeben von den Spuren einer beeindruckenden Vergangenheit, und du zeichnest eine hässliche Kröte. Das verstehe ich nicht«, sprach sie ihre Gedanken schließlich laut aus.

»Das ist Menschenwerk.«

Die Antwort verblüffte Simona. »Was hast du gegen Menschenwerk?«

»Nichts. Es interessiert mich nur nicht.«

Die ebenso bestimmte wie freundliche Antwort weckte ihre Neugier noch mehr. Ohne sich um Elisabettas Rufe zu kümmern, ging sie in die Hocke und besah sich die kleine Skizze genauer. »Das musst du mir erklären. Was ist an dieser Kröte interessanter als an einem kunstvoll gemeißelten Marmorwerk?«

»Das Tier ist Gottes Werk. Mir liegt nichts daran, einem Stück Marmor oder Holz Konturen zu geben. Ich will die Schöpfung unseres Herrn in ihrer ganzen Herrlichkeit abbilden. Die Kröte ist nicht hässlich, das siehst du falsch. Schau genau hin. Erkennst du die Zartheit der Zehen, die Maserung der Haut, das Gold der Augen?«

Seine Stimme war voller Begeisterung. Simona bemühte sich, das Tier mit seinen Augen zu betrachten. Die Kröte fühlte sich gestört und hopste mit weiten Sprüngen davon.

»Das tut mir leid«, entschuldigte sich Simona.

»Es ist nicht deine Schuld«, entgegnete er und zog eine komische kleine Grimasse. »Meine Zeichnung taugt ohnehin nichts. Ich muss noch herausfinden, woran es liegt.«

»Der Fehler liegt in den Proportionen«, erklärte Simona. »Von oben hast du einen anderen Blickwinkel. Sieh nur, der Kopf ist im Vergleich zum Körper ein wenig zu groß geraten.«

»Wie kommst du darauf? Wer bist du? Du sprichst die französische Sprache nicht wie die Menschen in Narbonne. Bist du fremd hier?«

Seine Fragen holten sie in die Wirklichkeit zurück. Sie sah sich nach Elisabetta um, die ihr ungeduldig winkte, und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie warten sollte. Das Gespräch mit dem jungen Maler bereitete ihr Vergnügen.

»Ich heiße Simona. Unser Schiff liegt dort draußen auf dem Meer. Mit meiner Begleitung bin ich an Land gekommen, um die unvollendete Kathedrale und den Palast des Erzbischofs zu sehen. Ich komme aus Venedig und bin auf dem Weg nach Flandern. Mein Urgroßvater war ein Künstler, dessen Bilder heute noch bewundert werden. Ein wenig von seinem Wissen ist auch an mich weitergegeben worden.« Sie errötete. Nie zuvor war sie einem Fremden gegenüber so mitteilsam gewesen. Warum erweckte ausgerechnet dieser Junge in ihr ein solches Vertrauen? »Und wer bist du?«, gab sie ihrer Neugier nach.

»Bernard. Bernard Palissy aus Lacapelle-Biron. Du wirst nie etwas von diesem Dorf gehört haben, es liegt bei Agen. Ich habe das Handwerk des Glasmachens und das Glasmalen gelernt. Jetzt bin ich auf Wanderschaft, um meine Fähigkeiten zu vervollkommnen.«

Wenn er schon ein ausgebildeter Geselle war, konnte er nicht mehr so jung sein, wie sie anfangs gedacht hatte.

»Ich will die Welt sehen, die Schönheiten der Natur«, erzählte er munter weiter. »Mit anderen Worten, die Wunder der Schöpfung.«

Einem so ansteckend fröhlichen und gleichzeitig ernsthaften Menschen war Simona noch nie begegnet. Jung und doch schon reif. Seine Gegenwart übte eine befreiende Wirkung auf sie aus, die es ihr schwermachte, ihn zu verlassen.

»Ich wünsche dir Glück für deine Wanderschaft, Bernard«, sagte sie bedauernd. »Wie du siehst, wartet man auf mich.«

»Du kannst nicht einfach gehen, du musst mir das mit den Proportionen noch besser erklären.« In einer geschmeidigen Bewegung kam er auf die Füße und sah nun auf sie herab. Er war nicht nur sehr mager, sondern auch ungewöhnlich groß. Seine braunen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. »Ich begleite dich in die Kirche, wenn es dir genehm ist.«

»Hast du denn Zeit?«

»Ich bin mein eigener Herr.« Er schob den Rötelstift hinter ein Ohr und breitete die Arme aus, als wolle er die Welt umarmen. »Ich bin nicht nach Narbonne gekommen, um Kröten zu zeichnen. Ich wollte das Töpferhandwerk bei einem bekannten Meister lernen. Er hat leider die Stadt verlassen, um in Nîmes eine Werkstatt zu eröffnen. Bis ich ihn gefunden habe, kann ich tun, wonach mir der Sinn steht.«

»Ich beneide dich«, gestand Simona ehrlich. »Es muss wundervoll sein, ohne Vorschriften zu leben. Ich wünschte, ich könnte das auch.«

»Dann komm mit mir.« Bernards Grinsen wurde noch breiter. »Ein hübsches Mädchen ist genau die Begleitung, die ich mir für meine Wanderschaft gewünscht habe. Noch dazu eines, das etwas vom Zeichnen versteht. Wir gäben ein gutes Paar ab.«

»Du weißt nicht, was du sagst.« Simona machte mit wehenden Röcken kehrt.

»Ich mein’ es ernst«, tönte Bernards Stimme in ihrem Rücken. »Denk nach darüber.«

»Was ist in Euch gefahren«, rügte Elisabetta, sobald Simona zurück war. »Ihr könnt nicht mit jedem Landstreicher plaudern, der sich an Euch heranmacht. Eure Mutter wäre entsetzt.«

»Ist schon gut«, beschwichtigte Simona sie. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie wohltuend das kurze Gespräch mit dem Jungen gewesen war. Für ihn war sie einfach ein Mädchen gewesen, mit dem er ohne jede Formalität sprach. Keine Contarini. Einfach Simona.

»Gehen wir.«

Simona ging voraus, ohne sich darum zu kümmern, wer ihr folgte. Der Weg führte stetig bergauf, denn die Kathedrale war auf dem höchsten Punkt der Stadt errichtet worden. Sie bestand nur aus einem hohen Chor. Die Strebepfeiler und Glasfenster waren jedoch prächtig. Schade, dass dem Gebäude das Kirchenschiff fehlte.

»Auch wenn der Erzbischof noch so stolz auf seinen Chor ist, Saint Just ist in seinen Proportionen ebenso wenig geglückt wie meine Kröte, findest du nicht auch?«

Bernard stand lachend hinter ihr.

Simona drehte sich zu ihm um. Er lehnte an einer Mauer, einen Fuß nach hinten an die Steine gestemmt, sein Holzbrett unter den Arm geklemmt. Ihre Blicke trafen sich. Welch seltsame Augen er hatte. Glänzende Kohlestücke.

»Du scheinst wirklich keine Pflichten zu haben«, erwiderte sie sein Lachen.

»Ich bin frei wie ein Vogel. Soll ich dir die Kirche von innen zeigen? Komm mit.«

Zu Elisabettas Entsetzen bogen sie Seite an Seite scherzend in eine Gasse ab. Sie eilte mit gerafften Röcken hinterher und fand am Fuße hochaufragender Pfeiler die offene Kirchentür.

Das Dämmerlicht in der Kirche machte sie zunächst blind. Erleichtert vernahm sie Simonas Stimme. Sie würde sie zur Rede stellen müssen. Ihr Benehmen war purer Leichtsinn und eine Schande obendrein für eine Contarini-Tochter.

»Ein eigenartiger Bau. So klein im Verhältnis zur Höhe.«

Langsam gingen sie durch die Kirche, und der junge Glasmacher erklärte ihr jedes Detail. Es war eine Freude, ihm zuzuhören. Er wusste über die erstaunlichsten Einzelheiten Bescheid. Je länger sie mit ihm zusammen war, umso leichter und freier fühlte sie sich, ganz und gar unbeschwert. Es musste himmlisch sein, so ungebunden wie er durch die Welt zu ziehen.

Komm mit, hatte er einfach gesagt.

Meinte er das ernst?

Simona erschrak bei ihren Gedanken. Schon längst hörte sie Bernard nicht mehr zu. In ihrem Kopf ging es drunter und drüber.

Was nutzte ihr die noble Herkunft? Seit Jahren kannte sie weder Freude noch Glück. Zanino hatte sie nie zum Lachen gebracht. Diese schreckliche Ehe. Jeder Tag war eine Qual gewesen. Niemandem konnte sie sich mitteilen. Sie hatte gelernt zu schweigen. So gründlich, dass sie inzwischen das Reden fast verlernt hatte.

Und was erwartete sie in Flandern? Die gleiche Unterdrückung? Womöglich eine Zwangsheirat mit ähnlichen Auswüchsen und neuem Elend?

Simona betrachtete die bunten Lichtbündel, die durch die hohen Glasfenster ins Innere des Gotteshauses fielen. Ein Regenbogen aus Farben, der ihr schönheitsliebendes Herz entzückte. Es gab so vieles zu sehen, zu entdecken auf dieser Erde. Es würde ihr für immer vorenthalten bleiben, wenn sie gehorsam den Weg ging, den ihre Eltern für sie bestimmten.

Nein!

Schlagartig stand ihr Entschluss fest. Sie ergriff Bernard am Ärmel und sah ihm in die Augen.

»Ich nehme an. Ich komme mit«, sagte sie mit fester Stimme, »wenn du es ernst gemeint hast.«

Bernards fröhliches Lachen erlosch.

»Es ist nicht meine Art, andere zum Narren zu halten, aber was ist mit Flandern? Was ist mit der Dicken und den Seeleuten? Ich möchte keinen Ärger mit der Obrigkeit.«

Bei Simona fielen alle Schranken. Sie war fest entschlossen.

»Flandern wird auf mich warten müssen, und die Dicke ist nur eine Anstandsdame. Sie kann mich nicht aufhalten.«

Er glaubte ihr. Simona erkannte es daran, dass sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen.

»Wenn du so entscheidest, soll es an mir nicht liegen. Schlag ein. Ich hoffe, du bist gut zu Fuß, der Weg nach Nîmes ist lang, und die Via Domitia ist nicht mehr so gut gepflastert wie zu Römerzeiten.«

Bernard hielt ihr die Hand auffordernd entgegen.

Simona hatte am Morgen alles Wichtige mitgenommen. Hatte sie geahnt, was auf sie zukam? Auf die Seiden- und Brokatkleider in ihrer Reisetruhe legte sie keinen Wert. Sie trug feste Schuhe, ihr Umhang hielt Wind und Regen ab. Lediglich um den Holzkasten mit den Farben und Papierblättern tat es ihr leid. Aber dann warf sie entschlossen den Kopf in den Nacken. Je weniger sie mitschleppen musste, umso leichter würde es sich wandern. Schlimmer, als es in den letzten Jahren gewesen war, konnte ihr Leben nicht werden.

Sie legte ihre schmale Hand in Bernards kräftige. Mit einem festen Händedruck bestärkten sie vor dem Altar ihren Entschluss.

Elisabetta stellte Simona ohne alle Umschweife vor vollendete Tatsachen.

»Der Kapitän muss ohne mich auslaufen. Meinen Verwandten in Flandern könnt Ihr erzählen, was Ihr wollt«, beschied Simona sie knapp.

Das ängstliche Gestammel – »Eure armen Eltern werden vor Sorge umkommen – das haben sie nicht verdient – Ihr seid undankbar« – prallte ab an Simona.

»Ich werde Contarini-Kuriere finden, und regelmäßig Nachrichten nach Hause senden. Und Angst braucht Ihr auch nicht zu haben. Es wird Euch nichts Böses geschehen in Antwerpen ohne mich. Mein Entschluss kann Euch nicht angelastet werden. Lasst jetzt die Männer im Boot nicht länger warten. Der Kapitän will mit der Nachmittagsflut ablegen.«

Sie eilte mit Bernard davon, ohne sich in weitere Wortgefechte verwickeln zu lassen. Nicht einen Blick warf sie zurück.

Lange gingen sie schweigsam nebeneinanderher. Erst nach einer langen Weile fragte er vorsichtig: »Bereust du es?«

»Nein. Warum sollte ich. Es war mein Entschluss. Niemand hat mich gezwungen.«

Er nickte. »Gut. Sobald ich meine Sachen aus der Herberge geholt und ein paar Vorräte gekauft habe, verlassen wir Narbonne.«

»Hier.« Simona drückte ihm einen Silberpfennig in die Hand. »Das ist mein Anteil.«

»Donnerwetter.« Bernard wog das Geldstück beeindruckt in der Hand. »Meine Kupfermünzen bekommen hochnoble Gesellschaft, das lob ich mir.«

Beide lachten befreit.

Simona streifte energisch den Kopfputz ab. Sie löste Kämme und Nadeln, ehe sie die Zöpfe auf den Rücken warf. Der Wind löste das Flechtwerk. Ihr Lachen klang glücklich.

Bernard entdeckte den Glanz in ihren Augen. Sie sah aus wie ein Schmetterling, der aus der Raupe schlüpft.

Drittes KapitelHinrichtung

Via Domitia, 2. Oktober 1528

Völlig unbeweglich verharrte die Eidechse auf dem Stein. Bernard hockte vor dem Tier im Staub und zeichnete. Dass die Sonne gnadenlos auf seinen Scheitel brannte, war ihm egal.

Simona wusste nicht, was sie mehr beeindruckte. Das winzige Reptil, dessen Schuppenkleid in leuchtendem Grün, mattem Gold und stumpfem Braun schillerte, oder der Künstler, der sein Bild einzufangen versuchte. Längst hatte sie herausgefunden, dass Bernard Palissy kein leichter Vogel und Spaßmacher war.

Zu Beginn ihrer gemeinsamen Wanderschaft war sie jedes Mal überrascht gewesen, wenn er unverhofft mitten im Schritt anhielt und das sperrige Paket der Zeichenmaterialien aus seinem Bündel holte. Sein Skizzenbuch, gebundenes Papier, von einem festen Ledereinband geschützt, glich den Folianten ihres Vaters, aber es enthielt keine Texte. Zeichnung um Zeichnung füllte die Seiten. Seine Vorliebe waren kleine Tiere. Käfer, Schnecken, Eidechsen, Salamander, Schlangen, Erdkröten und Würmer.

Bernards ganzer Ehrgeiz ging dahin, sie realistisch darzustellen. Er konzentrierte sich stets so auf seine Arbeit, dass die Welt um ihn herum versank. Simona hatte gelernt, dann jeweils einen Schattenplatz aufzusuchen und sich in Geduld zu üben. Heute bot allein ein römischer Meilenstein, verwittert und übermannsgroß am Wegrand, einen schmalen Sonnenschutz. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und streckte die Beine aus, die erstaunlicherweise nicht mehr weh taten.

Sechs Tage waren sie schon gemeinsam unterwegs, und Bernards Voraussage hatte sich bewahrheitet. Anfangs hatten ihr die schmerzenden Füße, die Hitze und der Durst so zugesetzt, dass sie am liebsten aufgegeben hätte. Des Öfteren mit den Tränen kämpfend, verbot sie es sich jedoch, diese Schwäche einzugestehen. Auch die Freiheit hatte ihren Preis.

»Halte durch, Simona! Die ersten Tage sind die schwersten …«, hatte Bernard sie getröstet, wenn sie abends taumelnd auf ihrem Nachtlager zusammenbrach, das, unter dem Sternendach des Himmels, meist aus Stroh und trockenen Blättern bestand.

Seit sie den Orb bei Béziers auf der römischen Brücke überquert hatten, konnte sie mit Bernards gleichmäßigem Schritt mithalten. Ihre Füße, ihr Körper, auch ihr Geist hatten sich den Strapazen angepasst. Die Weite der urwüchsigen Landschaft erlaubte ihr, ungestört Gedanken und Gefühle zu ordnen.

Die Ängste, die sie in den ersten Tagen heimsuchten, waren dem Stolz auf die eigene Leistung gewichen. Mit jedem Tag fühlte sie sich leichter und stärker.

Die Via Domitia, vor Jahrhunderten von den Römern gebaut, führte vom Gebirge der Pyrenäen zur Rhône nach Beaucaire. Sich vorzustellen, dass römische Legionäre, antike Händler, Mauren, Spanier und Gallier die gleiche Straße vor ihr gegangen waren, gefiel Simona. Obwohl stellenweise Gras und Blumen zwischen den Pflastersteinen wuchsen und die hochkant gestellten Seitenbegrenzungen nur noch selten eine gerade Linie bildeten, war die Via Domitia ein Wunderwerk menschlicher Tatkraft. Sie folgten ihr, um irgendwann Nîmes zu erreichen.

Bernards Profil zeichnete sich in der Mittagsglut scharf gegen die Sonne ab. Die Nase verlieh seinem Jungengesicht einen markanten Ausdruck.

»Was hältst du davon?«

Er hielt ihr sein neues Werk zur Begutachtung hin und riss sie aus ihren Träumen. Dass ihr Urteil ihm wichtig war, schmeichelte Simona. Niemand zuvor hatte Wert darauf gelegt. Sie hatte versucht, ihm das Geheimnis der Zentralperspektive zu erläutern, und seine Zeichnungen hatten zunehmend an Lebendigkeit und Tiefe gewonnen.

»Du wirst von Tag zu Tag besser«, lobte sie und stand auf, um die Skizze genauer in Augenschein zu nehmen.

»Ich weiß nicht.« Bernard war stets sehr kritisch. »Es ist immer noch nicht plastisch genug. Zu flach. So fein ich die Rötelspitze auch schabe, der Schuppenpanzer ist trotzdem zu grob.«

»Du musst Geduld mit dir haben«, riet Simona. »Auch Malen ist ein Handwerk, das geübt werden muss. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.«

Bernard stand auf und packte zusammen.

»Ich will es versuchen, aber Langmut ist nicht meine Stärke. Lass uns weitergehen. Ich will in Montpellier einen Händler suchen, der mir feinere Stifte oder vielleicht sogar Zeichenkohle verkauft. Bis dahin muss ich mich mit dem behelfen, was ich habe.« Er klang etwas betrübt. Sein Drang nach Perfektion nahm mit jedem Fortschritt noch zu.

»Woher kommt deine Vorliebe für all dieses Krabbelgetier?«, fragte Simona ihn, als sie Seite an Seite ihren Weg wieder aufnahmen.

»Die kleinen Tiere sind ohnegleichen vielfältig und gut aus der Nähe zu betrachten. Ich finde, sie eignen sich besonders für die Glasmalerei. Und dann hat mich die Tatsache, dass König François einen Salamander im Wappen führt, auf eine Idee gebracht. Mir schweben Glasbilder für reiche Kaufleute, mit Wappen und Symbolen vor. Die Kaufleute haben Geld und wollen es zeigen, während für Kapellenfenster schon längst keine Aufträge mehr vergeben werden. Im Süden werden kaum noch Kirchen gebaut, seit der Papst wieder in Rom residiert. Das Handwerk darbt.«

»Aber für die Kathedrale von Narbonne werden doch bestimmt noch mehr Fenster gebraucht«, warf Simona ein.

»Wenn tatsächlich einer der Erzbischöfe irgendwann an das Gotteshaus und nicht an seinen Besitz denken sollte. Aber auch dann wird man sich der Zeit anpassen wollen. Die Heiligenbilder und Rosetten, die wir früher gefertigt haben, lassen kaum Licht durch. Die Kirchenfürsten bemängeln dies. Je intensiver die Farben sind, umso mehr Licht schlucken sie. Bisher fehlten die Zwischentöne. Mittlerweile ist es zwar möglich, auch gelbe Töne aufzutragen, die eine Illusion von Gold schaffen, aber mehr Helligkeit bringt das nicht.«

»Es ist schon etwas dran.« Simona entsann sich der Kirchen in Venedig. »In manchen Gotteshäusern sieht man kaum die Hand vor Augen, wenn nicht alle Kerzen brennen. Die Gläubigen stolpern durchs Dunkle. Diebe können fast ungestört ihrem Gewerbe nachgehen.«

»Und in den Beichtstühlen wird sogar Unzucht getrieben«, ergänzte Bernard.

Sie schaute ihn so ungläubig an, dass er sich zu einer weiteren Erklärung genötigt sah.

»Im Dunkeln lauert oft das Böse, das haben auch die Kirchenväter erkannt, deswegen wünschen sie Glasfenster mit einer höheren Lichtdurchlässigkeit. Im Licht sind die Menschen friedvoller. Licht ist Leben, deswegen nennt man mein Handwerk auch Lichtmalerei.«

Simona hatte bisher nie über die Bedeutung des Lichts nachgedacht. Ihr Alltag in Venedig war vom Halbdunkel beherrscht gewesen. Ihre Augen waren an den Dämmerschein weitläufiger Treppenfluchten, Kirchenschiffe und Kammern gewöhnt, deren Fenster tagsüber mit Holzläden beschattet wurden, damit im Sommer die Hitze und im Winter die Feuchtigkeit draußen blieben. Bernard machte ihr klar, was sie in all dieser Zeit vermisst hatte. Helligkeit. Klarheit. Licht.

»Die Menschen wollen nicht in der Finsternis leben, sie wollen das Licht, das Licht des Lebens, das sagt schon der Apostel Johannes in der Heiligen Schrift«, fügte Bernard hinzu.

»Du sprichst Latein?«

Bernard lachte. »Wahrhaftig nicht. Ich bin ein Handwerker, kein Gelehrter.«

»Aber du zitierst die Heilige Schrift wie ein Mönch.«

Er zögerte, ehe er antwortete. »Die Herren der Kirche sehen es nicht gerne, aber es gibt inzwischen Übertragungen der Heiligen Schrift in unsere Sprache.«

»Das ist verboten«, warf Simona betroffen ein.

Bernard hob die Schultern. »Wenn es nach den Herrschenden geht, ist ohnehin alles verboten. Ganz besonders im Süden. Sieh dich um, wir sind arm geworden über den Konflikten der Mächtigen. Ausgeblutet vom Krieg, den unser König mit den Spaniern führt. Entvölkert von Seuchen und Hungersnöten, ächzen wir unter den Steuerforderungen der königlichen Rechnungskammer. Die einfachen Leute in Carcassonne oder Narbonne wissen kaum, wer gerade regiert, die Spanier, die Franzosen, die Kirche? Sicher ist nur, dass sie alle an den spärlichen Einkünften der Menschen teilhaben wollen und keinen Finger rühren, wenn sie unverschuldet in Not geraten.«

Simona wusste zu wenig, um zu widersprechen.

Bernard hatte sich in Rage geredet. »König und Papst gründen ihre Macht auf den Zufall von Geburt und Rang. Ich kann nicht glauben, dass das im Sinne Gottes ist, aber sollen sich klügere Köpfe als wir darüber ereifern. Lass uns etwas schneller gehen. Wenn wir Pinet heute noch erreichen, können wir vielleicht in einer Herberge unterkommen. Sicher würde es dir gefallen, einmal nicht unter freiem Himmel schlafen zu müssen.«

»Es gefällt mir gut unter dem Sternenzelt«, antwortete Simona.

»Die Wolken, dort im Süden, sagen mir, dass du heute wenig vom Sternenzelt zu sehen bekommen wirst.« Bernard deutete auf die Himmelsfärbung zu seiner Rechten. »Wir müssen uns beeilen.«

Sie schritten zielstrebiger aus. Längst hatte auch Simona ihren Umhang und ihr venezianisches Gewand zu einem Bündel verschnürt, das sie wie Bernard an einem Stecken über der Schulter trug. Schon in Béziers hatte sie auf dem Markt einen Kittel und einen Rock mit Bandzug erstanden, wie ihn die Frauen in dieser Gegend trugen. Ein Hut aus geflochtenem Stroh schützte sie vor der Sonne. Ihre Schuhe, deren feine Machart nicht zu dieser Aufmachung passte, waren so vom Staub bedeckt, dass das nicht auffiel.

Wie üblich war Bernard trotz allem guter Laune. Er pfiff fröhlich vor sich hin. Simona musste sich gewaltig anstrengen, um sein Tempo halten zu können. Er hatte die längeren Beine, und auf zwei von seinen Schritten kamen drei von ihr.

Als sie die Hand in die Seite drückte, um das unangenehme Seitenstechen zu lindern, blieb er unverhofft stehen.

In der Ferne, ganz in der Nähe des Kirchturms, über dem Ort, erhob sich eine schwarze Rauchsäule. Der Qualm wallte langsam in die Luft, ölig, schwarz, als hätte man Fackeln mit Lumpen umwickelt und in Pech getaucht.

»Es brennt«, stieß Simona hervor. »Hoffentlich können sie das Feuer rechtzeitig löschen.«

Bernard brummte: »Ich fürchte, keiner will das wirklich.«

»Wie kommst du darauf?«

»Es sieht danach aus, als würde irgendein armer Teufel dort gerade sein Leben lassen.«

»Eine Hinrichtung durch Feuertod, meinst du?« Simona fröstelte, obwohl ihr in der schwülen Nachmittagsluft der Schweiß über die Stirn rann. »Welches Verbrechen rechtfertigt eine solch grausame Strafe? In Venedig gibt es nur selten Scheiterhaufen.«

»Frag mich nicht. Lass uns einen Bogen um Pinet machen. Orte der Inquisition jagen mir Angst ein.«

Simona stimmte ihm zu, fragte aber dennoch zaghaft: »Und das Gewitter?«