Der Blutfluch - Marie Cristen - E-Book

Der Blutfluch E-Book

Marie Cristen

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Beschreibung

Von Zigeunern wurde die kleine Aliza einst gerettet, als ihre Mutter sich in einem reißenden Fluss ertränkte. Obwohl sie ein Blutmal im Nacken trägt, das immer wieder den Aberglauben nährt, nimmt man sie an Kindes Statt an. Jahre später, als die Sippe 1156 bei Barbarossas Hochzeit in Würzburg ihr Lager aufschlägt, wendet sich Alizas Schicksal dramatisch: Ihr ungewöhnlicher Tanz betört den kaiserlichen Hof und lässt die "blonde Ägypterin" zum Zentrum eines Intrigenspiels werden, in dem sich Politik und Leidenschaft auf höchst gefährliche Weise mischen …

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Marie Cristen

Der Blutfluch

Roman

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Inhaltsübersicht

MottoPrologBesançon, im April 1139Erstes Buch HoftageErstes Kapitel HochzeitenAlizaWürzburg, 12. Juni 1156Beatrix von Burgund Der Königshof zu Würzburg, 13. Juni 1156Rupert von Urach Würzburg, bischöfliche Residenz, 15. Juni 1156Zweites Kapitel SchwüreAliza Burg Donaustauf, 31. August 1156Rupert von Urach Burg Donaustauf, 1. September 1156Königin Beatrix Burg Donaustauf, 2. September 1156Drittes Kapitel SchicksalsschlägeRupert von Urach Burg Donaustauf, 2. September 1156Aliza Burg Donaustauf, 3. September 1156Königin Beatrix Burg Donaustauf, 5. September 1156Viertes Kapitel FrauenratRupert von Urach Burg Donaustauf, 6. September 1156Aliza Burg Donaustauf, 6. September 1156Königin Beatrix Kreuzhof bei Regensburg, 7. September 1156Fünftes Kapitel FluchtRupert von Urach Kreuzhof bei Regensburg, 8. September 1156Königin Beatrix Kreuzhof bei Regensburg, 10. September 1156Aliza Kreuzhof bei Regensburg, 10. September 1156Sechstes Kapitel ÜberraschungenRupert von Urach Kreuzhof bei Regensburg, 11. September 1156Aliza Kreuzhof bei Regensburg, 11. September 1156Königin Beatrix Regensburg, 14. September 1156Siebtes Kapitel HilfsbereitschaftRupert von Urach Regensburg, 15. September 1156Aliza Kreuzhof bei Regensburg, 16. September 1156Königin Beatrix Kreuzhof bei Regensburg, 18. September 1156Achtes Kapitel TotenklageRupert von Urach Kreuzhof bei Regensburg, 18. September 1156Aliza Donaustauf, 18. September 1156Königin Beatrix Kreuzhof bei Regensburg, 19. September 1156Zweites Buch Villa LutraNeuntes Kapitel GeheimnisseRupert von Urach Kaiserpfalz, Villa Lutra an der Lauter, 5. Januar 1157Aliza Villa Lutra, 5. Januar 1157Königin Beatrix Villa Lutra, Dreikönigstag 1157Zehntes Kapitel VerantwortungAliza Villa Lutra, 7. Januar 1157Rupert von Urach Villa Lutra, 8. Januar 1157Königin Beatrix Villa Lutra, 8. Januar 1157Elftes Kapitel WahrheitenRupert von Urach Villa Lutra, 9. Januar 1157Königin Beatrix Villa Lutra, 9. Januar 1157Aliza Villa Lutra, 9. Januar 1157Zwölftes Kapitel ErinnerungenRupert von Urach Villa Lutra, 10. Januar 1157Aliza Villa Lutra, 11. Januar 1157Königin Beatrix Villa Lutra, 13. Januar 1157Dreizehntes Kapitel AufbruchRupert von Urach Villa Lutra, 14. Januar 1157Königin Beatrix Villa Lutra, 14. Januar 1157Aliza Villa Lutra, 14. Januar 1157EpilogBesançon, im Oktober 1157Anhang
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Der Weise vermag mehr als der Starke,

und der Einsichtige mehr als der Kraftvolle.

Bibel – Das Buch der Sprüche

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Prolog

Besançon, im April 1139

Was fehlt dir, Leena? Dein Stolz, den Tibo mit Füßen getreten hat? Schau der Wahrheit ins Gesicht! Danitza erwartet sein Kind!

Das Rauschen des Wassers bekam einen anderen Klang. Nicht länger verführerisch und einladend, sondern wütend und aufbrausend. Leena straffte die Schultern. Wie lange hockte sie schon hier am Ufer des Doubs, bis zum Scheitel in Selbstmitleid versunken? Was suchte sie hier? Einen Ausweg? Im Wasser? Weil ein Lügner, Schurke und Heuchler sie hintergangen hatte?

Oh, nein! Sie wollte ihm und der Sippe die Stirn bieten. Rache war das Gebot der Stunde, nicht Verzicht.

Leena erhob sich steif, taumelte, bis sie am Stamm einer verkrüppelten Weide Halt fand. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass es Nacht geworden war. Fröstelnd versuchte sie sich zu orientieren. Ihr Gewand, fadenscheinig und mit Flitter besetzt, bot kaum Schutz vor dem Eishauch des Flusses. Das Schmelzwasser aus den Bergen des Jura nährte seine Fluten. Völlig durchgefroren schlang sie auf der Suche nach etwas Wärme die Arme um den Oberkörper. Der Frühling in Burgund hatte den Winter noch längst nicht besiegt.

Schwarz gegen das Dunkel der Nacht erhob sich rechter Hand der Steinbogen jener Brücke, die als einzige weit und breit den Doubs überspannte. Bis zum heutigen Tag bezeugte sie die Meisterschaft römischer Baumeister, die sich weder von steilen Ufern noch von tief eingegrabenen Flussläufen hatten beeindrucken lassen.

Eine Bewegung auf der Brücke erregte ihr Misstrauen. Die Augen eng zusammengekniffen, versuchte sie Einzelheiten zu entdecken, während sie hastig die Böschung emporkletterte.

Am Scheitelpunkt der Wölbung des Bauwerks, genau zwischen Nachthimmel und Fluss, beugte sich eine Gestalt, gleich einem Schattenriss, gefährlich weit über die Brüstung. Herzbewegendes Säuglingsgeschrei übertönte das Wasserrauschen.

Noch eine Unglückliche, die ihrem Leben ein Ende setzen wollte? Leenas Gespür, das sie sogar befähigte, im Linienverlauf einer Handfläche Schicksal und Zukunft der Menschen zu erkennen, warnte eindringlich davor zu säumen.

Sie flog geradezu den Hang zur Straße hinauf. Kaum spürte sie unter ihren bloßen Sohlen den Übergang von Gras zu Stein. Keuchend rannte sie auf die Brücke, die Hände nach der Unbekannten ausgestreckt.

»Tu es nicht!«

Gemeinsam stürzten sie auf die Pflastersteine, so heftig war der Ruck, mit dem sie Mutter und Kind vom Abgrund zurückriss. Das Kleine verstummte jäh. Ob vor Schreck oder weil es zu Schaden gekommen war, konnte Leena nicht sagen. Sie rappelte sich hoch, wollte der Frau ebenfalls beim Aufstehen helfen und erntete nur Undank.

»Bist du von Sinnen? Was willst du? Fass mich nicht an!«

Der bestimmte Ton verriet die Person von Stand, auch wenn die Worte geschluchzt wurden.

Leena gab die Gewandfalten frei, die sie immer noch umklammert hielt. Stattdessen berührte sie angstvoll das stille Bündel, ohne dass ihr die Geste zu Bewusstsein kam. Nicht nur Tibo sehnte sich schmerzlich nach Kindern. Hatte er sich deswegen einer anderen zugewandt?

»Was tust du?«, fragte sie vorwurfsvoll, sobald sie eine Regung von Leben unter dem Tuch erspürte und leises Wimmern vernahm. »Der Tod löst keine Probleme. Ich weiß, wovon ich spreche.«

»Nichts weißt du. Du hast keine Ahnung, was mir das Schicksal angetan hat.«

»Kein Leid rechtfertigt es, sein Leben wegzuwerfen. Schon gar nicht das eines unschuldigen Kindes«, widersprach Leena heftig. »Kinder sind das kostbarste Geschenk des Himmels.«

»Dieses nicht. Es hätte nie zur Welt kommen dürfen.«

Ein Windstoß zerriss das Wolkenband vor dem Mond, so dass ein Lichtstrahl auf die Verzweifelte fiel. Sie war selbst noch ein Kind, kaum älter als fünfzehn Jahre, aber sichtlich von den Strapazen der Geburt gezeichnet. Feucht klebte ihr das Haar an den Schläfen. Das Kleid, obwohl aus Wolle und bestickt, war voller Schmutzflecken. Entweder hatte sie ihr Kind auf der Straße geboren, oder man hatte sie kurz nach der Geburt auf die Gasse gejagt. Woher sie die Kraft nahm, sich aufrecht zu halten, war Leena ein Rätsel.

»Du brauchst Hilfe«, stellte sie fest. »Wärme und Nahrung. Auch dein Kind hat Hunger. Hat dir niemand gezeigt, wie du es anlegen musst? Wann hast du es geboren?«

»Heute.«

»Und in aller Heimlichkeit, nehme ich an.«

»Ich hatte keine Wahl. Es ist ein Teufelsbalg, die Strafe für meine Sünden. Sieh her, es trägt ein Blutmal. Es ist verflucht. Ein solches Mal bringt Tod und Verderben für alle, die mit dem Kind in Berührung kommen.«

Sie riss die Tücher auseinander, und das Wimmern wurde prompt zum Kreischen. Mit Händen und Füßen wild fuchtelnd, schrie das Neugeborene aus voller Brust.

Leena konnte kein Mal entdecken, das den Kindskörper entstellte. Im Gegenteil: Die Haut des Kindes schimmerte wie die Blüte einer Christrose. Den Kopf bedeckte silbriger Flaum, die Augen blickten klar. Es war ein Mädchen, zart, aber hungrig und mit kräftiger Stimme.

»Ich sehe kein Mal. Was ich sehe, ist lediglich, dass deine Tochter friert und vor Durst weint«, antwortete sie ruhig. »Halte sie warm und gib ihr zu trinken. Ich versichere dir, danach wird es auch dir bessergehen. Ihr müsst jetzt füreinander da sein.«

»Und was ist das?«

Die Mutter ergriff ihr Kind um die Körpermitte und zog die Decke von seinem bloßen Rücken. Haltlos sank das Köpfchen gegen ihre Schulter. Im Nacken, am Ende der zerbrechlichen Wirbelsäule, wies die Haut eine deutlich sichtbare Verfärbung auf.

Leena trat neugierig näher. Der Mond enthüllte die fremdartigen Zeichen auf ihren Wangenknochen. Erschrocken wich die junge Mutter zurück.

»Du gehörst zu den Ägyptern, die vor dem Stadttor lagern. Zu den Zauberern«, stammelte sie. »Du willst mein Kind. Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand von euren heidnischen Ritualen und Opfern.«

Ausgerechnet einer Selbstmörderin, die ihr Kind mit in den Tod nehmen wollte, den Aberglauben ausreden zu wollen war fast zu viel für Leena.

»Ich will dir nur helfen. Es ist Unsinn, was sie über uns erzählen. Wir sind weder Ägypter noch Zauberer. Unsere Sippe gehört zum Volk der Tamara, und wir tun keinem Menschen etwas zuleide. Schon gar nicht unschuldigen Kindern. Im Gegenteil, unsere Heilerin kann …«

»Lass mich! Ich glaube dir kein Wort.«

Obwohl sie die ablehnende Reaktion nicht überraschte, hätte Leena die Verzweifelte am liebsten geschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen. Welches Argument konnte sie nur überzeugen?

»Denk an deine Mutter. Hat sie dich nicht mit Liebe umsorgt und dich vor Bösem bewahrt? Nimm dir ein Beispiel an ihr.«

»Und wie schlecht habe ich meiner Mutter diese Liebe gedankt!«

Leena hatte ins Schwarze getroffen. An der Brückenmauer brach die Verzweifelte in Ströme von Tränen aus. »Ich habe meine Familie entehrt und meiner Mutter das Herz gebrochen. Onkel Eléazar hat mir die Tür gewiesen. Er sagt, er duldet keine Hure unter seinem Dach.«

»Erzähl mir davon«, ging Leena auf die Fremde ein. »Auch die ärgste Last wird leichter, wenn man sie teilt.«

»Das wirst du nicht mehr sagen, wenn du die Wahrheit kennst …«

Nicht alles, was das Mädchen überstürzt und unzusammenhängend hervorsprudelte, verstand Leena. Teils, weil sie die Sprache der Gegend nicht gut genug beherrschte, teils, weil ihr Schluchzen manche Sätze verstümmelte. Dennoch konnte sie sich die Tragödie schnell zusammenreimen. Adeliza war die Tochter eines angesehenen Magistrats in Besançon. Sie hatte den Liebesschwüren eines jungen Ritters vertraut, der sie umworben und danach verlassen hatte. Entehrt und schwanger war sie zurückgeblieben, der Schande und der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Weder die kranke Mutter noch der strenge Onkel, der die Vaterstelle an ihr vertrat, fanden sich bereit, die Sünde zu verzeihen. In ihrer Bedrängnis sah sie nur einen Ausweg. Den Fluss.

»Sie allein ist an allem schuld!« Adeliza streckte das winzige Kind mit solchem Abscheu von sich, dass Leena fürchtete, sie würde es fallen lassen. »Der Teufel hat die Saat in meinen Schoß gepflanzt, um mich für meine Sündhaftigkeit zu bestrafen. Das Mal im Nacken beweist es. Ihr Blut ist verflucht!«

»Wer hat dir so etwas eingeredet? Viele Kinder kommen mit einem solchen Mal zur Welt. Es hat nichts zu besagen, es verblasst im Laufe der ersten Lebensjahre.«

»Du lügst.« Adelizas Stimme überschlug sich in Hysterie. »Wir sind verflucht, mein Kind und ich. Die Hölle wartet auf uns.«

Alles geschah zur selben Zeit.

Leena erfasste sofort, was Adeliza im Sinn hatte. Tollkühn warf sie sich halb über die Mauer, um zu verhindern, dass das Kind mit der Mutter in die Tiefe stürzte. Im letzten Moment erhaschte sie ein Füßchen, aber sie verlor das Tuch dabei, das das Neugeborene notdürftig vor der Nachtkälte geschützt hatte. Fahl segelte der Stoff in die Tiefe. Auf keinen Fall durfte sie dieses erbärmlich dünne Bein loslassen, es hätte den sicheren Tod des Kindes bedeutet. Rote Kreise tanzten ihr vor Augen, ihr Herz raste vor Angst. Tief unten toste der Fluss.

Die Mauerkante presste sich ihr hart in den Magen, ihre bloßen Sohlen rutschten auf den Steinen. Das Entsetzen raubte ihr den Atem, und erst nach und nach gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Erleichterung. Adeliza mochte das eigene Leben geringgeschätzt haben, aber sie hatte ihre Tochter vor ihrem Sturz im letzten Augenblick freigegeben. Das Mädchen zappelte erbärmlich, und Leena beugte sich noch tiefer, um es sicher zu halten.

»Tu es nicht!«

Nach einer kurzen Verschnaufpause wurde Leena so unerwartet rücklings an den Oberarmen gepackt, dass sie vor Schreck das Kind fast wieder verloren hätte. Wütend trat sie mit dem Fuß nach hinten und barg das zappelnde, eiskalte Neugeborene schützend an ihrer Brust. Erst dann drehte sie sich um: Tibo!

Sie maß ihn mit einem Blick purer Verachtung, weil sie ihm ansah, was er dachte. Aber sie war weder so verzweifelt noch so schwach wie Adeliza, die nur einen einzigen Ausweg gesehen hatte: den Tod.

»Was soll ich nicht tun? Denkst du, ich stürze mich in den Fluss wie dieses arme, irregeleitete Mädchen? Nehme mir deinetwegen das Leben? Das bist du nicht wert, Tibo. Danitza kann dich behalten. Ich will dich nicht mehr. Geh zu deiner Dirne und mach ihr die Söhne, die du so dringend haben willst.«

Wie es seine Art war, überhörte er die Anklage einfach und deutete auf das Kind.

»Und was soll das hier sein?«

Seine Stimme verriet sowohl Zorn wie ein schlechtes Gewissen und eine Spur von Unsicherheit. Seine Zornesausbrüche waren ihr vertraut, die beiden anderen Gefühlsregungen waren ihr fremd an ihm. Gemeinhin strotzte Tibo vor Selbstsicherheit und Kraft, Skrupel oder Schwäche schienen ihm fern. Was hatte ihn durcheinandergebracht? Die Sorge um eine Frau, die er ohnehin betrog? Kaum vorstellbar. Leena bot ihm unerschrocken die Stirn.

»Es ist mein Kind.« Sie hüllte das Neugeborene schützend in die Falten ihres Rockes.

Die Bewegung sollte Tibo zeigen, wie sehr sie sich als Mutter dieses Kindes fühlte. In ihrem Volk konnte man die Brüste entblößen, ohne Anstoß zu erregen, aber keine Tamara enthüllte ohne äußerste Not ihre Schenkel.

»Kinder fallen nicht vom Himmel. Und du kannst keine zur Welt bringen«, erwiderte Tibo.

Es war gefühllos, sie daran zu erinnern, aber Tibo war ein Freund klarer Worte.

»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erhielt er zur Antwort.

»Du bist wütend, ich weiß. Ich war ein Trottel, mich auf Danitza einzulassen. Sie ist eine Schlange. Verzeih mir. Ich will es wiedergutmachen. Du musst nicht einer anderen Frau das Kind nehmen, damit ich zu dir zurückkomme. Wir werden auch ohne eigene Kinder glücklich …«

»Sei still.«

Leena war es endlich gelungen, den Herzschlag des Mädchens zu ertasten. Eilig, wie der eines verletzten Vogels, drängte er sie zu handeln. Das Schicksal schenkte ihr eine Tochter, aber wenn sie sich nicht sputete, würde sie sie noch in dieser Nacht wieder verlieren.

»Das Kleine braucht Wärme, Milch und Liebe. Dieses Kind wird mir niemand nehmen. Im Notfall werde ich gegen Tod und Stammesgesetz zugleich kämpfen, das schwöre ich dir, Tibo. Wenn dir wirklich an meiner Vergebung liegt, wirst du mir helfen und ihm ein guter Vater sein.«

»Und was ist mit der Mutter? Womit hast du sie überredet, dir das Kind zu überlassen? Hast du ihr Schicksal aus den Handlinien gelesen und sie in Ängste versetzt, bis sie nicht mehr wusste, worauf sie sich einlässt? Wenn du deine Talente auf solche Weise einsetzt, musst du dich vor dem Stammesrat verantworten. Unsere Regeln erlauben keinen Missbrauch, das solltest du wissen.«

Leena schnaubte verächtlich. Sie kannte die Gesetze des Stammes besser als Tibo. Von Generation zu Generation mündlich überliefert, bildeten sie die Basis ihres Lebens. Von Mutter zu Tochter wurden sie weitergegeben.

»Die Mutter dieses Würmchens hat sich vor meinen Augen in den Fluss gestürzt. Gott hat ein Wunder bewirkt und mir erlaubt, das Kleine zu retten, ehe sie es mit in den Tod reißen konnte. Wenn der Fluss ihre Leiche freigibt, werden alle denken, dass der Strom ihr Kind auf Nimmerwiedersehen verschlungen hat. Niemand wird je davon erfahren, dass es als unsere Tochter weiterlebt.«

Tibo beugte sich über das Geländer und sah in die Tiefe, wo der Fluss um die Brückenpfeiler tobte. Wer dort hinuntersprang, wählte den sicheren Tod.

»Du machst es dir zu einfach, Frau. Du bringst die Sippe in Gefahr. Wir können kein Christenkind bei uns aufwachsen lassen. Ohnehin ist unser Leben schwierig genug. Nirgendwo dürfen wir länger bleiben. Überall haben die Dummköpfe Angst vor uns, da können ihre Frauen noch so oft heimlich in unser Lager schleichen und dich bitten, ihnen die Zukunft vorauszusagen. Man schimpft uns Gauner und Landstreicher und sieht uns am liebsten, wenn wir wieder abziehen. Das weißt du doch.«

Seine Einwände fanden kein Gehör bei Leena. Für sie zählte allein das Kind. Aliza würde sie es nennen, im Andenken an seine verzweifelte Mutter. Wenigstens diese Erinnerung schuldete sie ihr.

»Aliza ist mein Kind. Du musst dich auch für sie entscheiden, Tibo, wenn dir daran liegt, mit mir in Frieden zu leben.«

Nie zuvor hatte Leena gewagt, ihm Befehle zu erteilen.

Erschrocken über die eigene Kühnheit, nahm sie dennoch kein Wort zurück. Sie wandte sich zum Gehen.

Wenn er ihr folgte, hatte sie gewonnen – eine Tochter und die künftige Oberhand über den Ehemann und Stammesführer der Tamara.

Würde er ihr folgen?

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Erstes BuchHoftage

Erstes KapitelHochzeiten

AlizaWürzburg, 12. Juni 1156

Alizas Augen suchten den Kaiser. Inmitten des Gedränges, das den Festzug begleitete, war er kaum auszumachen. Sizma, ihre jüngere Schwester, hatte sie vorgewarnt. Er sei von mittlerer Größe und beileibe nicht das Idealbild eines Ritters, das jeder erwarte. Aliza reckte sich auf die Zehenspitzen. Ihre Blicke kreuzten sich mit denen Fremder, flogen gleichgültig weiter und kehrten jäh zurück. Welcher Blick hatte sich mit dem ihren getroffen? Sie verspürte ein unbekanntes Gefühl.

Beunruhigt und neugierig zugleich, begegnete sie den Augen von neuem. Augen von einem glänzenden Blau, das die Farbe des Himmels in den Schatten stellte. Um sie herum drückte das Stimmengewirr Erstaunen aus. Das Deutsche war ihr inzwischen so geläufig, dass sie die Worte verstand.

»Die Königin. Beatrix von Burgund.«

»Lieber Himmel, wie klein sie ist. Kaum größer als meine Jüngste. Ein Kind noch.«

»Eine Jungfrau von dreizehn Lenzen, sagt man.«

»Und der Kaiser ist mehr als doppelt so alt. Warum heiratet er ein Kind?«

»Weil das Kind die reichste Erbin des Abendlandes ist. Weil es ihm die Herrschaft über Burgund einbringt. Weil er damit freien Weg nach Süden in seine lombardischen Städte bekommt.«

Ein Wort gab das andere, aber Aliza schenkte den politischen Einzelheiten keine Beachtung.

Das also war die Königin? Sie konnte die Augen nicht von ihr abwenden, obwohl der Zug seinen Weg fortsetzte und sie schließlich nur noch den Schleier sehen konnte, der, von einem goldenen Reif gehalten, über Schultern und Rücken der Braut wallte. Die Begegnung verwirrte sie, ohne dass sie gewusst hätte, weshalb. Ihre Neugier hatte dem Kaiser gegolten, aber ihn hatte sie über dem Blickwechsel mit Beatrix völlig vergessen. Auf eine rätselhafte Weise fühlte sie sich von ihr angezogen. Zu gerne hätte sie sie kennengelernt, mit ihr gesprochen. Alles in ihr drängte sich danach, über Rang und Standesgrenzen hinweg.

»Hier steckst du. Ich habe dich überall gesucht. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du das Lager nicht alleine verlassen sollst. Es ist gefährlich.«

Obwohl ihre Mutter einen Kopf kleiner als sie war, besaß deren harter Griff Autorität und Kraft. Aliza wagte keinen Widerspruch. Bedauernd, aber gehorsam folgte sie. Je größer ihr Abstand zum Hochzeitszug wurde, desto schneller kamen sie vorwärts.

»Denkst du, wir sind zum Vergnügen nach Würzburg gekommen?«, wurde sie unterwegs scharf gescholten. »Wir müssen die Feiern und den Hoftag nützen, um unsere Beutel zu füllen. Du weißt selbst, wie hart der vergangene Winter uns zugesetzt hat, wie oft wir hungern mussten. Es geht nicht an, dass du den Tag untätig vertrödelst.«

»Du bist ungerecht«, wehrte sich Aliza gegen den Vorwurf. »Ich drücke mich nicht vor der Arbeit. Ich wollte nur den Festzug sehen.«

»Und die Gewänder der Königin und ihrer Damen bewundern. Denkst du, ich weiß nicht, wie sehr du dich nach feinen Stoffen, Schleiern und Juwelen sehnst? Wach auf, Aliza, du machst dich unglücklich mit solchen Träumen.«

Hitze stieg Aliza in die Wangen, ihr Nacken versteifte sich. War sie so leicht zu durchschauen?

»Ach, Kind!«

Der vertraute Stoßseufzer ließ ihren Widerspruch verstummen. Sie wollte ihrer Mutter keinen Kummer machen, sie liebte sie. Mehr als den Vater oder die Schwester. Dennoch fand sie, dass sie ein Recht auf ihre Träume hatte, egal, ob sie nun vernünftig waren oder nicht.

»Beatrix ist eine wunderschöne Braut«, verteidigte sie ihre Bewunderung für die Königin. »Etwas Besonderes geht von ihr aus. Kein Wunder, dass der Kaiser sie der Nichte des Basileus von Konstantinopel vorgezogen hat.«

»Er zieht die fünftausend Kriegsknechte vor, die zu ihrer Mitgift gehören. Das ist der wahre Grund für die Heirat«, erhielt sie trocken zur Antwort. »Und jetzt komm, wenn im Königshof auf der linken Mainseite die Fanfaren zum Bankett blasen, strömt das Volk auf die Festwiese. Dort werden wir gebraucht.«

Ihre Mutter hatte recht. Aliza, Sizma und den anderen jungen Frauen des Stammes blieb keine Zeit zur Muße. Milosh und Tal strichen die Fideln, die Mädchen tanzten und schlugen im Tanz das Tamburin dazu. Je schneller und peitschender der Rhythmus wurde, umso aufreizender flogen ihre Rocksäume, die Fransenschals und das offene Haar.

Das Spektakel der »Ägypter« lockte reihenweise Neugierige an. Würzburger, Hochzeitsgäste und Mitglieder des kaiserlichen Hofes bildeten mit Kriegsknechten, Rittern, Reisenden und Mönchen einen dichten Kordon um die Handvoll Tänzerinnen. Ihre Flitterkleider und die fremdartige Musik stachen sogar Wurfbuden, Wunderheiler, Bärenführer und Akrobaten aus. Immer dichter wurde das Gedränge. Münzen flogen zwischen die bloßen Füße der Mädchen. Die Kleinsten des Stammes lasen sie geschickt aus dem Staub auf, ohne den Wirbel der Frauen ein einziges Mal zu behindern.

Obwohl ihre Sohlen mittlerweile brannten und das Gewand ihr verschwitzt am Körper klebte, ging Alizas Atem gleichmäßig. Die Lider halb gesenkt, beobachtete sie das Getümmel. Das Wanderleben hatte die Menschenkenntnis der Siebzehnjährigen geschärft, sie vermochte Menschen erstaunlich treffend einzuordnen.

Den meisten Männern war die Begierde ins Gesicht geschrieben. Die Frauen des Stammes waren Freiwild für ihresgleichen. Fahrende Dirnen, die außerhalb von Recht und Gesetz standen. Sie ängstigten sie. Sie hoffte, die Stadtbüttel würden auch die Festwiese im Auge behalten. Nicht überall kümmerte man sich um die Sicherheit des fahrenden Volkes, aber zum Schutz der kaiserlichen Hochzeit würden die Ordnungshüter sicher umfassende Aufsicht üben, beruhigte sie sich.

Ehrbare Frauen, Mägde und Bürgerinnen machten jedoch trotzdem einen Bogen um diesen Bereich des Festplatzes. Wenn sie sich den Fahrenden überhaupt näherten, so taten sie es verstohlen, um die Dienste von Alizas Mutter und der älteren Frauen zu suchen. Hinter Zeltwänden oder im Schatten der Wagen ließen sie sich für ein paar Kupfermünzen die Zukunft aus zögernd ausgestreckten Händen lesen oder sich aus den Karten Rat holen. Meist verdienten die Wahrsagerinnen mehr als die Kesselflicker und Korbflechter der Tamara. Sogar mehr als die Tänzerinnen. Gerne hätte auch Aliza das Handlesen gelernt, aber die Mutter weigerte sich, sie in die Geheimnisse einzuweihen.

»Dir fehlt die Gabe dafür, Herzchen. Es geht nicht darum, einer unglücklichen Jungfer Hoffnung auf einen reichen Freier zu machen. Jede Vorhersage lädt auch die Verantwortung dafür auf dein Gewissen. Sei froh, wenn du nichts damit zu tun hast. Es ist gefährlich, zu viel zu wissen.«

Aliza sah es ein, so verhasst es ihr auch war, vor fremden Menschen zu tanzen. Das Johlen und die zweideutigen Scherze konnte sie überhören, aber die Blicke brannten wie Feuer auf der Haut. Im Gegensatz zu Sizma, die sich ganz der Musik hingab und vom Beifall angestachelt die Rocksäume wirbeln ließ, während sie sich wie eine Schlange um die eigene Achse drehte, widerstrebte es ihr zutiefst, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sizma verlor sich mit Leib und Seele im Tanz. Aliza hätte sich am liebsten in Nebel gehüllt und unsichtbar gemacht.

Sie ahnte nicht, dass gerade diese Befangenheit sie im Wirbel der Tänzerinnen zu etwas Besonderem machte. Von hellerer Haut als alle anderen, das Haar unter einem Tuch verborgen, umgab sie ein Geheimnis, das die Zuschauer in Bann schlug. Kein Mann war unter ihnen, der nicht gerne gewusst hätte, weshalb sie ihr Haar verbarg und warum ihr Tanz, obwohl weniger aufreizend als der der anderen, doch die Sinne ansprach.

Die Fideln endeten mit einem Vogeltriller, die Schellen an den Tamburinen verstummten. Für einen Moment herrschte völliges Schweigen. Sizma und die anderen stemmten die Arme in die Hüften, so dass ihre Brüste fast die weit ausgeschnittenen Blusen sprengten. Aliza schlug befangen die Augen nieder und hielt sich im Hintergrund.

Milosh und Tal wischten sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Wie üblich schoben sie sich unmerklich, mit ein paar anderen Männern des Stammes, als lebende Barriere zwischen die Mädchen und die Menge.

Berauscht vom Fest, dem Wein und dem Bier – an allen Straßenecken wurde frei ausgeschenkt – reagierten die Schaulustigen enttäuscht auf das Ende der Vorstellung. Aus Beifall wurde übergangslos Protest, aus Jubel Zorn. Eingekreist und bedrängt, rückten die Tänzerinnen immer enger zusammen. Sogar Sizma zog die Bluse züchtig höher und versteckte sich ängstlich hinter der größeren Schwester. Vergeblich.

Ein Kriegsknecht mit einem Gesicht, das rot war wie ein Bischofshut, packte sie um die Taille und wollte sie küssen. Sizma kreischte aus vollem Hals, und Aliza kam ihr zu Hilfe. Sie stieß dem Kerl mit aller Kraft den Ellbogen zwischen die Rippen, so dass er die Schwester zunächst japsend freigab. Er rieb sich kurz den Brustkorb, rülpste und grapschte ohne Zögern gierig nach ihr. Eine Wolke säuerlichen Weindunstes verschlug ihr den Atem.

Noch während er sie an sich riss, erkannte er seinen Fehler. Tretend, kratzend, spuckend und fauchend ging Aliza so wütend auf ihn los, dass die Nähte ihres Kleides zu reißen drohten, das Kopftuch verlorenging und die Haarnadeln flogen. Das Haar, ohnehin schwer zu bändigen, löste sich binnen kürzester Zeit aus dem ordentlich geflochtenen Zopf. Es flog wild um sie herum, während sie den Rotgesichtigen derart attackierte, dass er die Hände schützend vor das Gesicht halten musste.

So schnell das Gerangel auch entstanden war, der ungewohnte Anblick brachte es noch schneller zum Erliegen. Alizas rotblonde Mähne wehte wie eine Flagge, als der Mann sie endlich packen und zornig schütteln konnte. Gemurmel setzte ein.

»Donnerwetter, eine rothaarige Ägypterin! Wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt. Tanz für uns, Mädchen«, grölte er berauscht. »Dann will ich dir nachsehen, dass du reizbarer bist als eine Viper.«

Die Menge ließ sich von ihm anstecken. Immer lauter und fordernder wurden die Rufe nach Alizas Tanz.

Milosh wechselte einen Blick mit Tal und den anderen Männern der Sippe. Sie alle wussten, dass die Stimmung auf der Kippe stand. Streitsucht und Trunkenheit gingen Hand in Hand. Wenn es zur Rauferei kam, würden nur die Ägypter bestraft und aus der Stadt getrieben werden.

Aliza erahnte den Befehl, ehe Tal ihn gab.

»Tanz!«, forderte er knapp in ihrer Sprache. Er setzte die Fidel zwischen Kinn und Schulter an und nickte ihr zu. »Worauf wartest du?«

Münzen flogen durch die Luft und fielen klimpernd zu Boden.

»Aber ich …«

»Wir haben keine Wahl«, raunte Milosh an ihrer Seite. »Tanze. Tu dein Bestes, sonst machen sie uns die Hölle heiß. He, macht Platz!«, wandte er sich an die Menge. »Aliza wird für euch tanzen. Aber nur, wenn ihr Raum dafür lasst und euch erkenntlich zeigt.«

Obwohl Aliza lieber in der Erde versunken wäre, sah sie ein, dass es keinen anderen Ausweg gab. Zornig und stolz warf sie die Haarflut nach hinten, hob mit der Rechten das Tamburin über den Kopf und tat mit dem linken Handballen den ersten Schlag.

Sie konzentrierte sich allein auf Miloshs Fidel und untermalte ihre Schritte mit dem Tamburin, indem sie es jetzt fast beiläufig am Oberschenkel aufschlug. Dankbar erkannte sie in der Melodie ein Liebeslied, dessen melancholischer Klang die Gemüter hoffentlich ein wenig besänftigen würde. Schon wurde es ruhiger.

Milosh war ein Meister seines Instruments. Er bot all sein Können auf, um Aliza zu unterstützen. Da er um ihre Scheu vor Menschenmassen wusste, hüllte er sie schützend in seine Musik. Dankbar nickte sie ihm zu, ehe sie die Lider senkte und die Schlagzahl der runden Schellentrommel langsam erhöhte. Dem Rhythmus folgend, versuchte sie zu vergessen, wo sie sich befand und wer ihrem Tanz zusah.

Der Versuch misslang trotz aller Mühen.

Die Ausdünstungen der dicht an dicht schwitzenden Menschenmenge auf der Festwiese hatten längst die Wohlgerüche des Festmahls und des Rauchwerks überlagert, die den Hochzeitszug umweht hatten.

Da sich alle Welt ungeniert hinter Buden und Zelten erleichterte, trocknete die Sonne zudem den menschlichen Unrat in die Erde. Der beißende Gestank mischte sich mittlerweile ätzend bei, jeder Atemzug kratzte in der Kehle, und Wein und Bier flossen reichlicher, als für ein friedliches Miteinander ratsam sein konnte.

Da übertönte Trompetenschall Miloshs Fidel. Ehe Aliza den fremden Ton einordnen konnte, spürte sie schon, dass die Aufmerksamkeit mit einem Schlag von ihr wich. Allen voran die Waffenträger, wussten die Männer, was der Ruf bedeutete. Aufgeregt tauschten sie sich aus.

»Das Hochzeitsturnier. Man gibt die Reihenfolge der Kämpfe für morgen bekannt!«

»Lasst uns hören, wer für die Welfen und wer für die Staufer in die Schranken reitet.«

»Ein Schlachtross aus kaiserlichem Stall und eine Rüstung aus der Werkstatt eines Meisterschmiedes warten auf den Sieger! Vielleicht küsst ihn sogar unsere schöne neue Königin.«

Die Stimmen entfernten sich. Alles drängte unvermittelt zur westlichen Stadtmauer, wo das Turnierfeld schon vor Tagen ausgesteckt und vorbereitet worden war. Eine Tribüne mit Baldachin, errichtet am Rande der Absperrung, erwartete das Brautpaar und seinen Hofstaat. In angenehmem Schatten würden sie von dort die Wettkämpfe verfolgen und den Siegern Beifall spenden.

Aliza ließ das Tamburin sinken, ihre Knie zitterten. Erleichtert schlossen sich die übrigen Mitglieder ihrer Sippe um sie. Die Gefahr war abgewendet.

Sizma zeigte keine Dankbarkeit dafür, dass Aliza ihr beigestanden hatte gegen den Rüpel, der zunächst ja sie bedrängt hatte. Sie nörgelte wie üblich. »Du hättest dich ruhig mehr anstrengen können. Nur Kupfermünzen, Kreuzer und Pfennige haben sie aus dem Staub gekratzt. Kein einziges Silberstück.«

»Dass du den Hals nie voll bekommst, ist mir klar«, murmelte Aliza und drehte ihr den Rücken zu.

Das Tamburin unter den Arm geklemmt, fasste sie ihr Haar zusammen und flocht es wieder zum Zopf. Staub und Feuchtigkeit hatten es verfärbt. Es klebte ihr an den Schläfen, das auffällige Rotblond erschien glanzlos. Sie befestigte das Tuch darüber. Das Gefühl, beobachtet zu werden, zwang sie plötzlich zum Innehalten und Aufsehen.

Wenige Schritte entfernt, an der Bretterwand einer Garküche lehnend, beobachtete sie einer der Ritter. Wappenrock, Waffengürtel und pelzverbrämte Kappe wiesen ihn als Edelmann aus. Das schwarzgelbe Wappen auf der Brust kam ihr bekannt vor, aber sie konnte es dem richtigen Haus nicht zuordnen. Die Gäste des Kaisers kamen aus allen Himmelsrichtungen.

Sein Blick begegnete ihrem, ohne auszuweichen.

Sie errötete verlegen und drehte sich hastig um. Dennoch hatte sie Einzelheiten registriert. Die athletische Gestalt, das helmkurze braune Haar. Das Gesicht, schmal und bartlos, wurde von einer Adlernase und hellen Augen beherrscht. Den Augen einer Wildkatze, schillernd und golden. Oder war das eine Täuschung, vom Sonnenlicht bewirkt?

»Lass uns zurück in die Stadt gehen.« Milosh umfasste besitzergreifend Alizas Handgelenk und zog sie mit sich. »In den Schänken und auf den Plätzen rund um den Königshof wird ebenfalls gefeiert. Dort sind wir mit unserer Musik und unseren Tänzen bestimmt gern gesehen.«

Aliza befreite sich stumm. Milosh würde wohl nie begreifen, dass er keinen Anspruch auf sie hatte. Warum wandte er sich nicht Sizma zu, die sie beide aus schmalen Augen beobachtete? Sie verzehrte sich nach seiner Aufmerksamkeit, auf die Aliza keinen Wert legte.

»Lass mich bitte. Ich gehe meiner eigenen Wege.«

»Das geht nicht.« Sizma ergriff die Gelegenheit, sich einzumischen.

»Wer sollte mich daran hindern? Du vielleicht, Schwester?«

»Nein. Unser Vater. Du kennst ihn. Tibo tobt, wenn er hört, dass du dich wieder von uns abgesetzt hast. Beim letzten Mal hat er dich so verprügelt, dass du tagelang nicht sitzen konntest.«

Obwohl Aliza die väterlichen Wutausbrüche fürchtete, blieb sie bei ihrer Weigerung. Sie war die Ältere. Sizma hatte ihr keine Befehle zu erteilen, auch wenn sie es immer wieder versuchte. Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit kam sie zurück zum bunt bemalten Holzhaus auf Rädern, das ihr Zuhause war.

Nur der Stammesführer und seine Familie sowie Rupa, ihre Großmutter, lebten in einem Wagen mit einem Holzdach, das Regen und Wind abhielt. Alle anderen mussten sich mit Karren begnügen, die kaum genug Platz für Mensch und Habe boten. Stoffplanen, an Weidenruten befestigt, schützten sie nur notdürftig. Im Sommer lebten die Tamara ohnehin unter freiem Himmel. Nur im Herbst und Winter drängte man sich, auf der Flucht vor Kälte und Nässe, in den undichten Behausungen zusammen.

Jetzt im Juni waren die Nächte im Deutschen Reich warm und kurz. Es lohnte der Mühe nicht, auch nur ein Zelt aufzubauen. Das hatte zudem den Vorteil, dass sie, sollten sie Hals über Kopf aufbrechen müssen, im Handumdrehen verschwinden konnten.

An das Weiterziehen dachte Aliza ohnehin nicht gerne. In der Stadt sprach man davon, dass die Feiern mindestens eine Woche dauern würden. Danach würde es bestimmt noch weitere Zeit in Anspruch nehmen, bis alle Festgäste endgültig abgereist waren. Erst dann würden sich die Ratsherren wieder auf den Alltag in ihren Mauern besinnen.

Als Erstes verwies man dann wie üblich das fahrende Volk der Stadt. Danach folgten die Spielleute und Gaukler, dann die zwielichtigen Wanderhändler und Quacksalber, manchmal auch ein Teil der jüdischen Bevölkerung. Keiner dieser Ausgewiesenen konnte auf einen Fürsprecher unter den ansässigen Bürgern hoffen.

»Warum können wir nirgends bleiben?«

Immer wieder hatte sie als Kind ihrer Mutter diese Frage gestellt und stets die gleiche Antwort erhalten.

»Weil nirgends unser Zuhause ist.«

Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden. Was sie jedoch nicht begriff, war die stoische Gelassenheit, mit der alle Frauen und Männer des Stammes es hinnahmen. Die Zufriedenheit, mit der sie sich trotz allem auf den Weg machten, zum nächsten Jahrmarkt, zum nächsten Mysterienspiel, zum nächsten Kirchsprengel, wo man von den dunkelhäutigen Fremden wieder nichts wissen wollte, war ihr unverständlich. Anfangs hatte sie dieser Gleichmut erstaunt, danach verwundert. Inzwischen begehrte sie leidenschaftlich dagegen auf.

Wer gab den Menschen das Recht, sie immer und immer fortzujagen? Waren nicht auch die Tamara Kinder des einen, großen Gottes? Weshalb verweigerte er ihnen eine Heimat? Was hatten sie verbrochen, um so gestraft zu werden?

Tibos Stimme ließ sie unweit des Wagens verharren. Brummig drang sie durch die Holzwand. Alles Zögern hatte nichts genutzt. Die Eltern erwarteten sie, und wie es sich anhörte, lagen sie miteinander im Streit. In letzter Zeit schienen sie sich über gar nichts mehr einig zu sein. Aliza zog sich in den Schatten zurück und lauschte ängstlich. Solange Leena und Tibo sich anbrüllten, hielt sie sich besser im Verborgenen. Die Auseinandersetzung wurde lauter, mühelos verstand sie jedes Wort.

»Schluss mit diesem Gejammer, Leena. Lange genug habe ich mich von dir beschwatzen lassen. Milosh wird deiner Tochter ein guter Mann sein und ihr die Launen austreiben. Ich verlange Frieden in der Sippe. Wir können uns diese ständige Rivalität unter den jungen Männern nicht länger leisten. Am Ende kommt es noch zu einer Fehde, die unsere Sippe schwächt.«

Eine Heirat? Zwischen Milosh und Sizma?

Aliza wusste, dass die Schwester den Fiedler um jeden Preis zum Mann haben wollte. Milosh tat ihr heute schon leid. Sizma würde dem sanftmütigen und hilfsbereiten Jungen auf der Nase herumtanzen. Sah der Vater denn nicht, dass die Schwester eine feste Hand benötigte? Lehnte sich die Mutter deswegen gegen seinen Befehl auf?

»Du willst bloß Frieden, weil Sizma dir ununterbrochen in den Ohren liegt. Ihr heißes Blut verlangt nach Leidenschaft. Sie ist vom gleichen Schlag wie ihre mannstolle Mutter. Auch Danitza hat sich jedem Kerl an den Hals geworfen und sich nie um die Folgen gekümmert.«

»Musst du die alten Geschichten aufwärmen? Danitza ist tot. Hab ich dich, seit wir Sizma zu uns genommen haben, jemals betrogen? Im Gegenteil, eine zweite Tochter hab ich dir geschenkt. Dankbar solltest du sein, nicht nachtragend wie ein Esel.«

Aliza stockte der Atem. Verstand sie das richtig? War Sizma nur ihre Halbschwester? Empfand sie deshalb so wenig geschwisterliche Liebe für sie? Ohne Gewissensbisse schlich sie näher zum Wagen. Kein Wort des Streits wollte sie mehr versäumen. Was hatten sie ihr noch alles verschwiegen?

»Du weißt, dass deine Mutter den Tod in den Karten gesehen hat«, warnte Leena soeben. »Zwing Aliza nicht zur Heirat mit einem Tamara. Nur wenn sie frei unter uns lebt, ist die Sippe in Sicherheit. Nichts wird so sein wie früher, wenn du das Schicksal gewaltsam veränderst.«

»Weibergeschwätz.«

»Besinne dich, Tibo. Du stürzt uns ins Unglück!«

Je mehr Aliza hörte, desto weniger verstand sie. Fast konnte sie Tibos Ärger nachvollziehen. Dass Großmutter oft in Rätseln sprach, hielt sie ihrem Alter zugute, dass die Mutter ebenfalls damit anfing, jagte ihr jedoch Angst ein. Jedes Kind der Sippe kannte die Bedeutung der Karte des Todes: Altes muss sterben, damit Neues geboren werden kann. Ein Abschied steht bevor.

»Schweig, Frau! Ehe wir weiterziehen, wird es verkündet. Sizma bekommt Tal, Aliza Milosh. Ich habe mit beiden Vätern gesprochen, wir sind uns einig. Die Kinder, die sie bekommen werden, werden die Sippe stärken.«

»Auch wenn du der Anführer unseres Stammes bist, Tibo, dies darfst du nicht bestimmen, ohne den Ältestenrat zu befragen. Du gefährdest unser aller Leben mit dieser Entscheidung.«

»Du gefährdest dein Leben mit diesem Ungehorsam, Weib!«

Aliza wusste nicht, was sie mehr erschreckte, sein Gebrüll, oder das, was er sagte. Eines wusste sie jedoch, nie und nimmer würde der Vater einlenken. Ein Aufschrei, Faustschläge und das Bersten von Holz bestätigten ihre Befürchtung.

Die Tür des Wagens wurde aufgerissen, wutentbrannt und wüst fluchend stürmte ihr Vater in die Nacht hinaus. Er sah weder sie noch die Gestalt, die sich hinter einen Weidenbusch am Mainufer duckte.

Sobald sie sicher sein konnte, dass er nicht sofort zurückkehren würde, betrat Aliza zögernd den Wagen. Die Mutter kauerte auf dem Boden, den Kopf gesenkt, die Hand auf den Magen gepresst. Auf dem Jochbogen unter ihrem rechten Auge rötete sich die Haut. Um sie herum lagen die Trümmer eines Hockers.

»Er hat dich geschlagen.« Betroffen sank Aliza neben ihr in die Knie und berührte sanft die unverletzte Wange. »Er hat kein Recht dazu.«

Leena zuckte zurück.

»Wo warst du? Woher kommst du?«

»Ich habe euren Streit gehört. Ich verstehe nicht, was das alles zu bedeuten hat. Sind Sizma und ich keine Schwestern? Wollt ihr uns zur Heirat zwingen? Ich will nicht heiraten, Mutter, weder Milosh noch einen anderen. Ich will keinen Mann, der mich behandelt wie Vater dich.«

»Still. Dazu wird es nicht kommen.«

»Was hat Großmutter in den Karten gesehen, Mutter? Du musst es mir sagen, bitte! Ich will niemanden ins Unglück stürzen.«

»Nichts.« Leena wich ihrem Blick aus.

»Du sagst nicht die Wahrheit.«

Aliza sammelte die Reste des Hockers auf. Einer der Männer würde ihn wieder zusammensetzen.

Sie hatte schon jede Hoffnung auf eine Antwort aufgegeben, als die Mutter sich ächzend erhob und doch noch zu sprechen begann.

»Ich schulde dir die Wahrheit, ich weiß es längst. Es fällt mir schwer, es dir zu sagen, aber du hast ein Recht darauf. Ich bin nicht deine leibliche Mutter. In deinen Adern fließt kein Tamarablut. Du bist die Tochter einer Burgunderin, die dich mit in den Tod nehmen wollte, kaum dass du das Licht der Welt erblickt hattest. Ich konnte nicht tatenlos danebenstehen und es geschehen lassen. Jahrelang hatte ich mich vergeblich nach einem Kind gesehnt, und sie wollte das ihre nicht haben. Ich habe dich gerettet, denn du warst die Erfüllung aller meiner Wünsche. Der erste Blick aus deinen Augen traf mich ins Herz.«

»Und Sizma?«

»Sie ist eine Tamara. Tibos Tochter, nicht meine. Er hat mich mit Danitza betrogen. Als sie starb, brachte er die Kleine zu mir, und ich fand, sie sollte ebenso wenig für die Fehler ihrer Eltern büßen wie du, Aliza.«

Und liebst du sie mehr als mich?, lag Aliza auf der Zunge, aber sie unterdrückte die Frage. Die Angst vor einem Ja hieß sie schweigen.

»Warum tragen Sizma und ich keine Zeichen wie die anderen Frauen alle?«, erkundigte sie sich stattdessen.

Schon immer hatte sie sich gewundert, weshalb man ihr den Schmuck der Stammeszeichen verweigerte, den jedes Mädchen erhielt, wenn es vom Kind zur Frau wurde. Und nur sie und Sizma trugen keine Ornamente auf den Wangen. Bisher hatte sie nie eine befriedigende Antwort auf diese Frage erhalten. Heute antwortete Leena bedrückt.

»Einmal in die Haut geätzt, bleiben die Symbole ein Leben lang erhalten. Ich habe nicht das Recht, dich auf diese Weise zu zeichnen. Großmutter hat uns jedoch geraten, auch Sizma nicht zu tätowieren. Es hätte nur Fragen und Anlass zu weiterer Eifersucht zwischen euch gegeben. Seit ihr zusammen seid, schwelt Rivalität zwischen euch.«

Aliza konnte es nicht leugnen. Immer war da eine Spannung zwischen ihr und Sizma. Stets neidete Sizma ihr etwas oder versuchte ihr den eigenen Willen aufzuzwingen. Zuneigung empfand sie eigentlich nur in Form einer unliebsamen Verantwortung für die Jüngere. Erleichtert stellte sie die nächste Frage.

»Was weißt du von meiner Mutter?«

»Nichts, Kind. Sie war dem Wahnsinn nahe vor Verzweiflung. In diesem Zustand konnte sie nichts mehr erklären.«

»Du musst es wissen.«

Leena schüttelte wie unter Zwang den Kopf.

»Ich habe dich als meine Tochter angenommen«, sagte sie müde, aber doch laut genug für die an der Holzwand lauschende Sizma. »Aliza, dein Platz ist bei uns. Du wirst woanders keinen besseren finden. Du bist keine Tamara, aber du bist und bleibst ausgestoßen wie wir.«

Das neue Wissen brach wie eine Sturmflut über Aliza herein. Sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte.

»Vielleicht hättest du mich besser sterben lassen, Leena«, antwortete sie schließlich heiser.

Sizma entlockte sie mit dieser Antwort ein grimmiges Schnauben.

Leena presste die Hand auf ihr stolperndes Herz. Aliza hatte sie nicht mehr Mutter genannt.

Beatrix von Burgund Der Königshof zu Würzburg, 13. Juni 1156

Das Bett war Zuflucht und Insel zugleich. Schleiervorhänge trennten es vom übrigen Gemach und verschafften Beatrix die Illusion von Abgeschiedenheit. Endlich musste sie nicht länger die Augen niederschlagen, sich sittsam, schweigsam und fromm in ihre neue Rolle fügen.

Die Stirn nachdenklich gefurcht, die Augen auf das Webmuster der Bettdecke gerichtet, ohne es tatsächlich zu sehen, überdachte sie die vergangenen Tage.

Dem Lärm des Festes lauschend, das unter den Gewölben der großen Halle ohne sie seinen Fortgang fand, wurde ihr klar, dass niemand sie vermisste. Schon gar nicht der Kaiser, ihr Mann. Barbarossa nannten Friedrich von Hohenstaufen die, die bei der Kaiserkrönung in Rom dabei gewesen waren und nun seinen engsten Rat bildeten, weil das Blond von Haar und Bart zum Rot tendierte. Sie feierten seinen Triumph.

Sosehr Beatrix sich auch bemüht hatte, die Anstrengung zu verbergen, ihre zunehmende Blässe war dem Kaiser nicht entgangen. Er hatte ihr erlaubt, sich zurückzuziehen. Hochzeit, Hoftag, Bankette und Empfänge verwirrten und überanstrengten sie. Keiner konnte sich vorstellen, was es für sie bedeutete, nach dem ruhigen Klosterleben unvermutet solchem Trubel ausgeliefert zu sein. Friedrich hielt ihre Schwäche einfach für ein Zeichen von Empfindsamkeit, die er ihr als Frau und ihrem zierlichen Wuchs zuschrieb.

»Wie klein sie ist«, war auch seine erste Reaktion, als er sie zum ersten Mal sah. Es klang enttäuscht.

Sicher, sie war klein, aber keine Zwergin. Außerdem rühmte man ihre Schönheit, ihre Wohlerzogenheit und ihre Frömmigkeit. Er hatte keinen Grund, enttäuscht zu klingen.

Aber weder der Erzbischof von Besançon noch Dietrich von Mömpelgard, die sie beide nach Würzburg begleitet hatten, fanden es der Mühe wert, dem Kaiser zu erwidern. Er sprach schließlich von der Erbin von Burgund, von seiner Braut, der künftigen Mutter seiner Kinder. Gerne hätte sie ihm selbst geantwortet, aber im letzten Augenblick erinnerte sie sich an die Ermahnungen der Mutter Äbtissin und schwieg.

Seit dem Tod ihres Onkels und Vormunds, Wilhelm von Mâcon, waren der Erzbischof und Mömpelgard ihre engsten Verwandten. Ihre Familie. Sie hatten diese Eheschließung gefördert, die Onkel Wilhelm bis zu seinem Dahinscheiden so vehement bekämpft hatte. Ihm war nicht daran gelegen gewesen, dass Burgund in Stauferhände fiel. Nach Friedrichs Besuch in Burgund vor drei Jahren war ihre Abgeschiedenheit im Kloster von Dôle zu einer Art Gefangenschaft geworden. Am liebsten hätte der Onkel gesehen, dass sie für immer den Schleier genommen hätte. Als Braut Christi wollte er sie segnen, nicht als die eines weltlichen Herrschers, der ihm die Regierung über die burgundischen Gebiete entzieht, die zu ihrer Mitgift gehörten.

Es war anders gekommen. Nach Wilhelms Tod im vergangenen Herbst hatten sich die Dinge förmlich überstürzt. Schon im Januar war zu Straßburg der Heiratsvertrag mit Friedrich von Hohenstaufen aufgesetzt worden, energisch befürwortet von Matthäus von Oberlothringen, der mit einer Schwester des Kaisers verheiratet und zudem der Bruder von Beatrix’ verstorbener Mutter war. Ihm lag eine Menge daran, der Familie ihr Erbe zu sichern. Man hatte sie in Dôle vor vollendete Tatsachen gestellt und sie auf den Weg zu ihrem künftigen Ehemann gebracht.

Um ihre Meinung hatte niemand sie gebeten.

Am 9. Juni hatte sie zunächst Erzbischof Hillin von Trier in Worms empfangen und sie zur deutschen Königin gekrönt. Erst anschließend war sie nach Würzburg zu ihrer Hochzeit mit Friedrich von Hohenstaufen gereist. Einen besonderen Vertrauensbeweis des Kaisers nannten ihre Verwandten die vorgezogene Königskrönung. Mit Gehorsam und Demut sollte sie Friedrich dafür danken.

Gehorsam war ihr aus dem Klosterleben vertraut, doch wofür sollte sie dankbar sein? Sollte nicht umgekehrt der Kaiser ihr für den Machtzuwachs dankbar sein, der ihm durch die Ehe mit ihr zuwuchs?

Ein aufrührerischer Gedanke?

Beatrix war in Dôle nach dem Tod ihrer Eltern umfassend erzogen und unterrichtet worden. Sie beherrschte Französisch, Lateinisch, Italienisch und Deutsch in Wort und Schrift, konnte reiten, die Laute spielen, und ihre Nadelarbeiten entzückten die Nonnen. Von den Mönchen war sie zudem in den wichtigsten freien Wissenschaften unterrichtet worden. In Rhetorik, Grammatik und Dialektik geschult, las sie die Schriften der Kirchenväter im Original und wusste über Arithmetik, Geometrie und Astronomie Bescheid. Dass Musik und Poesie ihr von allem das größte Vergnügen bereiteten, blieb ihr Geheimnis.

Zu ihrer Mitgift zählten neben erheblichen Vermögenswerten fünftausend Bewaffnete, die Stadt Besançon und andere Rechtstitel im Burgundischen sowie die Grafschaft Mâcon.

Dass es Friedrich bislang an den nötigen Mitteln gefehlt hatte, um seine Herrschaft über das Kaiserreich zu festigen, war Beatrix nicht verborgen geblieben.

Nicht ihr Liebreiz hatte ihn in diese Ehe gelockt, sondern ihr Vermögen.

Die Ländereien ermöglichten es ihm, gefahrlos die Alpen in Richtung der reichsitalischen Gebiete zu überqueren, um seine Ansprüche auf die Städte und Domänen des Südens geltend zu machen.

Ihre Erziehung hatte Beatrix darauf vorbereitet, Fürstin oder Äbtissin zu werden. Sie durchschaute Friedrichs Motive, ohne gekränkt zu sein, aber es hätte ihr dennoch gefallen, wenigstens ein paar Worte des Wohlwollens zu hören, und nicht dieses enttäuschte »Wie klein sie ist …«. Das Schlagen eines Truhendeckels erinnerte sie daran, dass sie trotz aller Abgeschiedenheit hinter den Schleiern des Bettes nicht allein war. Ihre Ehrendamen legten die Gewänder für den nächsten Tag bereit.

In den Truhen befand sich eine solche Überfülle von Kleidern, Hemden, Strümpfen, Schuhen, Gürteln und Tand, dass Beatrix’ Wahrnehmung die einzelnen Dinge gar nicht mehr zugänglich waren. Sie wertete die Ereignisse in der Regel kritisch, und zog darüber in Gedanken den Vergleich mit dem Goldenen Kalb. Würzburgs neugieriger Menge zum Tanz ausgestellt, war sie das Symbol, dass Friedrich mit dem Segen der Kirche und des Adels regierte.

Mit Macht unterdrückte Beatrix ein aufsteigendes Heimweh. Würde sie Burgund je wiedersehen?

Friedrich hatte bisher kein Wort darüber verloren, wo sie mit ihm wohnen würde. Würzburg war nur für die Spanne der Heirat und des Hoftages seine Residenz. Welche Pfalz sollte ihre neue Heimat werden? Mussten sie wirklich ununterbrochen das Reich bereisen, um seine kaiserliche Macht zu demonstrieren, wie man ihr in Dôle versichert hatte? Beim nächsten Wiedersehen wollte sie ihn fragen.

Würde er sie heute noch aufsuchen?

Seit der peinlichen Zeremonie am kaiserlichen Hochzeitsbett hatte er ihre Schlafkammer kein zweites Mal betreten. Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie sich der Hochadel um ihr Bett gedrängt hatte, während der Bischof die Laken mit geweihtem Wasser segnete. Sie war sich der Wärme des riesigen Männerkörpers ebenso bewusst gewesen wie der neugierigen Blicke. Was würden sie alle wohl gesagt haben, wenn sie erfahren hätten, dass nach ihrem Abgang nichts geschehen war?

»Ich wünschte, sie hätten mir nicht verschwiegen, dass du fast noch ein Kind bist. Ich will dir nicht weh tun. Es scheint, als müsste noch einige Zeit vergehen, ehe du im Stande sein wirst, meine Kinder auszutragen«, hatte Friedrich seine Zurückhaltung begründet.

Beatrix hatte nicht gewusst, was sie darauf hätte antworten sollen. Im ersten Moment war sie einfach erleichtert gewesen, dass ihr zumindest in dieser Nacht erspart blieb, was die Mutter Äbtissin als eine heilige Pflicht bezeichnet hatte. Es war bei einem Kuss auf die Stirn geblieben und bei ihrem Erstaunen darüber, dass er Rücksicht auf sie nahm. Niemand hatte je Rücksicht auf sie und ihre Gefühle genommen.

Inzwischen hatte sie erkannt, dass Friedrich Söhne und Erben brauchte. Ihre Pflicht war es, sie zur Welt zu bringen. Sie zupfte gedankenverloren an ihrer Nasenspitze, eine Angewohnheit, die die Mutter Äbtissin stets streng getadelt hatte.

»Gott befohlen, Majestät. Angenehme Nachtruhe.«

Die Ehrendamen und Mägde knicksten ehrfurchtsvoll und verließen das Gemach. Beatrix blieb allein zurück. Die plötzliche Stille bedrückte sie.

Alles hätte sie in diesem Moment gegeben für eine vertraute Person, die sie anhörte und ihr Rat gab. Allein, an wen sollte sie sich wenden? Der Hofstaat war ihr fremd. Seit sie das Kloster verlassen hatte, war sie von Menschen umgeben, die ihre Dienste taten. Man erwies ihr Respekt, und ihre Ehrendamen stammten aus den ersten Familien des Reiches, waren teilweise sogar mit dem Kaiser verwandt, aber das machte ihr niemanden zur Freundin. Beatrix mochte jung und unerfahren sein, aber ihr Verstand ließ sie vorsichtig sein. Ehe sie jemandem Vertrauen schenkte, musste sie ihn kennenlernen.

Es hielt sie nicht länger im Bett. Sie warf die Decke zurück und rutschte von der Matratze des Alkovens. Der Raum lag im Dunkeln, nur die Nachtkerze gab ein kleines flackerndes Licht. Zwischen den halbrunden Steinbögen des Fensters schimmerte der Nachthimmel. Die dünne Mondsichel spiegelte sich im Main und zeichnete silbrig die Konturen der Stadt nach. Sie stützte sich am Sims auf die Arme, streckte neugierig den Kopf ins Freie und versuchte Einzelheiten zu erkennen.

Die Lage Würzburgs am Fluss erinnerte sie unwillkürlich an Besançon, wo sie die wenigen glücklichen Jahre unbeschwerter Kindheit verbracht hatte. Es erschienen ihr keine klaren Bilder mehr, aber ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit stellte sich ein, wenn sie an diese Zeit dachte. Städte an einem Fluss schienen auf Anhieb ihr Herz zu gewinnen. Leise gab sie einen Seufzer frei.

Sie hatte weder das Öffnen der Tür noch Friedrichs Schritte gehört.

»Die Nachtluft ist kühl. Du musst besser auf dich achten, Beatrix. Ich dachte, du schläfst schon. Du hast müde ausgesehen in der Halle.«

Wie lautlos er sich bewegen konnte, dachte sie, während sie sich umwandte nach Friedrich, der ohne anzuklopfen eingetreten war.

»Ich habe auf dich gewartet«, flüsterte sie leise und kreuzte die Arme vor der Brust. Sie trug nur ein Hemd.

»Vor dem offenen Fenster?«

Seine Stimme klang sanft, ruhig, nicht so bestimmend wie bei öffentlichen Gelegenheiten. Sie nahm es als ein gutes Omen und nutzte unverzüglich die Möglichkeit, die sich ihr bot. Er machte den Eindruck, als würde er ihr ernsthaft zuhören wollen.

»Es tut mir leid, dass ich deinen Erwartungen wohl nicht entspreche, aber du solltest wissen, dass ich schon lange kein Kind mehr bin. Ich kann meine Pflicht tun, als Königin und als deine Frau. Ich habe dir Treue und Gehorsam geschworen, und ich bin bereit, deine Söhne zu empfangen. Willst du heute das Bett mit mir teilen?«

Sie hatte einladend und herzlich klingen wollen, aber in ihren Ohren hörte sie sich eher steif und kühl an. Niemand hatte ihr beigebracht, sich einem Mann angenehm zu machen. Zaghaft sah sie auf und musste den Kopf weit in den Nacken legen, um seinem Blick zu begegnen. Erstaunen lag darin.

»Wenn es dein Wille ist, ganz meine Frau zu sein, so macht mich das glücklich«, sagte er lächelnd und ergriff ihre Hände, die in seinen einfach verschwanden. »Ich wollte dir nur Zeit lassen, nicht etwa dich abweisen.«

Sollte sie lächeln? Nicken? Ehe Beatrix sich entscheiden konnte, führte er sie zum Bett. Schweigend legte er seine Kleider ab.

Er nahm ihre Einladung an.

Erleichtert hob sie die Schleiervorhänge. Die Augen geschlossen, wartete sie auf dem Bett, dass er ihr zeigte, wie es weitergehen sollte. Solange sie ihm nicht ins Gesicht sehen musste, fiel es ihr leichter, ihre Beklommenheit zu verbergen. Sie spürte seinen Blick und unterdrückte mit aller Macht ein Zittern. Gerne hätte sie gewusst, was er dachte. Was er in diesem Augenblick empfand.

Eine von der Kirche annullierte Ehe und die üblichen Liebschaften eines lebenslustigen Mannes lagen hinter Friedrich, das hatte sie dem Klatsch entnommen. Seine Manneskraft und seine Erfahrung standen danach wohl außer Frage. Was ihm fehlte, war lediglich ein legitimer Erbe.

Nur mit dem Hemd bekleidet, das mehr enthüllte als verbarg, lag die Frau vor ihm, von der sich Friedrich den Sohn erhoffte. Fast nackt wirkte sie noch feingliedriger, geradezu zerbrechlich. Doch auch weiblich – weiblicher, als er vermutet hatte. Die steifen Gewänder, die sie trug, hatten ihre Reize gründlich verborgen. Ihr Anblick trieb ihm das Blut heißer durch die Adern.

»Ich will mich bemühen, dir nicht weh zu tun, meine Liebe«, versprach er mit plötzlich belegter Stimme. Geschickt streifte er ihr das Hemd ab.

Die Nachtluft berührte ihren Leib. Streichelnd lösten Friedrichs Hände ihr die ängstlich verkrampften Muskeln.

Erleichtert wagte sie ein Blinzeln, und als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, erwiderte sie zaghaft sein liebkosendes Streicheln.

Zuversichtlicher als zuvor tat sie, was seine Berührung an ihren Schenkeln forderte: Obwohl es ihr schwerfiel, sich auszuliefern, klammerte sie sich an sein Versprechen, er wolle ihr nicht weh tun.

Kein Laut drang aus ihrem Mund, als er es brach.

Die Gemahlin des Kaisers weinte nicht.

***

Rupert von Urach Würzburg, bischöfliche Residenz, 15. Juni 1156

In den Tiefen des bischöflichen Weinkellers lehnte Rupert von Urach, die Arme vor der Brust verschränkt, an einem Steinpfeiler. Moderhauch durchdrang das Gewölbe. Jeder Atemzug schmeckte in seiner Kehle nach Fäulnis. Ein grässlicher Ort. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine engsten Vertrauten ausgerechnet hier zusammenzurufen. Zwar milderten die Weinfässer und die Pechfackeln den Eindruck, aber doch herrschte eine Kerkeratmosphäre, hier unter den Steinmassen der bischöflichen Residenz von Würzburg, die sich über ihnen türmte.

Er hasste Keller, Kerker und Höhlen, je tiefer, umso mehr. Atemnot und irrationale Furcht überfielen ihn, sobald er in die Erde hinabsteigen musste. Nur mit allergrößter Beherrschung verbarg er seine Gefühle vor Berthold von Zähringen und den anderen Gefährten. Es hätte Berthold amüsiert zu wissen, dass er noch immer unter dem Streich litt, den er dem Knappen Rupert vor vielen Jahren gespielt hatte.