Beginenfeuer - Marie Cristen - E-Book

Beginenfeuer E-Book

Marie Cristen

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Beschreibung

Als Ysée zu einer schönen jungen Frau heranwächst, werben drei Männer um sie: ein reicher Tuchhändler, ein junger Zisterziensermönch und der Ritter Mathieu, der im Auftrag des Königs unterwegs ist, um den Handelsstreit zwischen Beginen und Zünften zu beobachten. Mutig versucht Ysée, Klarheit in ihr Leben zu bringen und ihrem Herzen zu folgen – da brechen dunkle Zeiten für die Beginen an. Unter den geballten Anfeindungen von Kirche, Hof und Bürgertum wird die selbstbewusste Frauengemeinschaft zerschlagen, und für Ysée geht es plötzlich nicht mehr nur um Liebe, sondern um Leben und Tod – und darum, sich dem Geheimnis ihrer Herkunft zu stellen ...

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Marie Cristen

Beginenfeuer

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungPrologBurgundBrüggeErstes KapitelIm Auftrag Seiner MajestätIm Auftrag Seiner HeiligkeitIm Auftrag der MagistraZweites KapitelMathieu von AndrieuYséeBruder SimonDrittes KapitelGehorsamHingabeDemutViertes KapitelMathieu von AndrieuYséeBruder SimonFünftes KapitelYséeMathieu von AndrieuBruder SimonSechstes KapitelYséeMathieu von AndrieuBruder SimonSiebtes KapitelYséeBruder SimonMathieu von AndrieuAchtes KapitelYséeMathieuBruder SimonNeuntes KapitelDie MaestraDer KaufmannYséeParisZehntes KapitelYséeMathieu von AndrieuBruder SimonElftes KapitelDer falsche JünglingDer Freund der TemplerDer falsche GoldschmiedZwölftes KapitelMathieu von AndrieuYséeBruder SimonDreizehntes KapitelYséeMathieu von AndrieuBruder SimonVierzehntes KapitelMathieu von AndrieuBruder SimonViolante von CourtenayFünfzehntes KapitelBruder SimonViolante von CourtenayMathieu von AndrieuSechzehntes KapitelViolante von CourtenayBruder SimonMathieu von AndrieuVienneSiebzehntes KapitelBruder SimonViolante von CourtenayMathieu von AndrieuAchtzehntes KapitelViolante von CourtenayMathieu von AndrieuBruder SimonNeunzehntes KapitelViolante von CourtenayMathieu von AndrieuBruder SimonZwanzigstes KapitelViolante von CourtenayBruder SimonMathieu von AndrieuEinundzwanzigstes KapitelBruder SimonViolante von CourtenayMathieu von AndrieuZweiundzwanzigstes KapitelViolante von CourtenayBruder SimonMathieu von AndrieuDreiundzwanzigstes KapitelMathieu von AndrieuViolante von CourtenayEpilogViolante von AndrieuMathieu von AndrieuAnmerkungenDank

Für Gerd,weil er immer daran geglaubt hat,dass dieses Buch geschrieben wird.

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Prolog

Burgund

Im August 1299

Das Kind war ein Knabe. Es kam mit den Füßen voraus, und das bedeutungsvolle Geschlecht entlockte Berthe einen Laut der Überraschung. Erst das Seufzen der Gebärenden lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Besorgnis erregenden Umstand, dass die Geburt stockte. Durfte sie es wagen, den Vorgang zu beschleunigen? Wieso ging es nicht weiter? Sie war keine Wehfrau, aber die Herrin schien am Ende ihrer Kräfte. Sie quälte sich seit den frühen Morgenstunden. Das Haar haftete schweißfeucht an ihren Schläfen, und die ohnehin blasse Haut wurde zunehmend fahler.

Berthe murmelte ein Stoßgebet, bekreuzigte sich hastig und umfasste die zerbrechlichen Beine des Kindes, um ihm auf die Welt zu helfen. Sie spürte anfänglich Widerstand, dann ging alles so unerwartet schnell, dass der kleine Körper fast aus ihren Händen glitt. Die unmittelbare Erleichterung, der sie sich hingab, nachdem das Kind den Mutterleib verlassen hatte, währte jedoch nur, bis sie begriff, dass jede Hilfe für den Erben von Courtenay zu spät kam. Stumm starrte sie auf den leblosen Körper.

Die jähe Stille beunruhigte die beiden Mädchen. Eng aneinander geschmiegt und so reglos, als könnten sie auf diese Weise das Unheil hinter den Vorhängen des Alkovens ausschließen, kauerten sie in der Fensternische. Ihre Blicke hingen an der Wand aus Stoff, hinter der Dienerin und Herrin keinen Laut von sich gaben.

»Was ist es, Berthe? So sag doch …«

»Ein Knabe, Herrin.«

Ein toter Knabe. Trug sie die Schuld – hatte ihre Unbeholfenheit das traurige Ende dieser Geburt bewirkt? Hatte sie den Tod des Erben von Courtenay zu verantworten?, fragte sich Berthe.

Margarete von Courtenay, seit acht Jahren Gemahlin des Lehnsherrn, wusste nach fünf Kindbetten, die ihr eine einzige Tochter gelassen hatten, Blick und Schweigen zu deuten.

»Er lebt nicht?«

»Ein entsetzliches Unglück, Herrin. Ein Erbe, der keinen Atemzug tut. Was wird der Seigneur nur dazu sagen? Der Himmel sei uns gnädig.«

»Der Himmel ist uns gnädig, Berthe.«

»Wie könnt Ihr das sagen, liebe Dame? Das Unglück verwirrt Euch die Sinne.«

Berthe schlug den toten Säugling eilig in ein Tuch. Am liebsten hätte sie auch ihre Ängste und Zweifel in das Leinen gehüllt.

»Das arme Seelchen. Man muss es taufen, damit es trotz allem in geweihter Erde liegen kann. Lauf, Ysée, hol den Priester!«

»Nein!« Margarete von Courtenay legte alle Kraft in ihre Stimme, um das Mädchen, das bereits den ersten Schritt zur Tür getan hatte, zurückzuhalten. »Der Priester wird auf den Wällen sein, das ist kein Ort für ein Kind.«

Seit die Bewohner von Courtenay im Morgengrauen des Laurentiustages vom Waffenlärm geweckt worden waren, tobte der Kampf. Niemand hatte mit diesem Überfall der Andrieus gerechnet, obwohl seit acht Jahren erbitterte Feindschaft zwischen den Familien Courtenay und Andrieu herrschte. Courtenay hatte sich nach dem Tode des Grafen von Andrieu sogar vollends in Sicherheit geglaubt, doch seine Erben bewiesen ihm, dass er einer Illusion erlegen war. Sie mochten halbe Kinder sein, aber sie hatten ein Heer vor die Mauern von Courtenay geführt, das über Rammböcke, Sturmleitern, Katapulte und erfahrene Kämpfer verfügte.

Die Angst, die in den vergangenen Stunden in den Hintergrund gerückt war, erreichte die abgeschlossene Welt des Herrengemaches von Neuem.

»Gib mir meinen Sohn.«

Berthe bekreuzigte sich, ehe sie ihrer Herrin das tote Kind in den Arm legte. Hinter den Bogenfenstern, vom steinernen Maßwerk der Mauern gerahmt, verdunkelte Rauch Blick und Himmel. Die Ställe standen in Flammen. Das grässliche Gebrüll von Pferden, Kühen und Schweinen, die bei lebendigem Leibe verbrannten, gellte über das Dröhnen der Rammböcke und die Schreie der Kämpfer. Der Lärm schien immer näher zu kommen.

»Heilige Mutter Gottes steh uns bei.« Die Magd suchte Zuflucht bei einer himmlischen Macht.

»Damit rechne besser nicht«, sagte Margarete von Courtenay nüchtern. Sie schlug das Leinen zurück und betrachtete ihren Sohn, ehe sie seine Wangen küsste, die ebenso blutleer wie seine Haut waren.

Berthe sah sie entsetzt an. Sie verstand weder, was hinter der bleichen Stirn ihrer Herrin vorging, noch, warum sie solche Dinge sagte. Sie kannte sie nicht besser als vor acht Jahren, als Thomas von Courtenay seine junge Gemahlin nach Hause gebracht hatte. Eine eingeschüchterte schöne Flämin, anstelle der einzigen Tochter des Grafen von Andrieu, der Thomas von Courtenay die Ehe versprochen hatte.

Niemand wusste Genaues darüber, was sich in Dôle ereignet und weshalb der Ritter eine Fremde zur Frau genommen hatte. Eines wurde jedoch schnell klar, er hasste Margarete, und er verabscheute die Tochter, die sie ihm sieben Monate nach der Eheschließung geboren hatte. Sein Verlangen nach einem Sohn und Erben hatte seine Frau dennoch regelmäßig ins Kindbett gebracht. Nur die achtjährige Violante hatte die Kraft besessen, über das erste gefährliche Säuglingsjahr hinaus am Leben zu bleiben.

Die Herrin liebte ihr einziges Kind ebenso sehr, wie sie ihren jähzornigen Gemahl fürchtete. Thomas von Courtenay würde außer sich sein und ihnen allen die Schuld am Tode seines Sohnes geben, das wusste auch Berthe. Beim Gedanken an diesen Zorn erschauerte sie, nicht einmal ihre eigene Tochter Ysée würde mit seiner Nachsicht rechnen können. Was kümmerte es den Herrn von Courtenay, dass er der Vater auch dieses Mädchens war. Die Tochter einer Magd bedeutete ihm noch weniger als Violante. Frauen, egal welchen Alters, bereiteten ihm nur Verdruss.

Courtenay war eine Burg der Männer. Ritter, Bewaffnete, Wehrknechte, Jäger, Handwerker und Burggesinde summierten sich zu einer stattlichen Gefolgschaft. Bis auf die Herrin und die wenigen Mägde in Küche und Badehaus gab es jedoch keine Frauen in ihren Mauern. So verwunderte es auch niemanden, dass sich die beiden Kinder des Herrn über alle Standesgrenzen hinweg einander angeschlossen hatten. Die kleine Magd und das Edelfräulein waren zwei einsame Mädchen, die ihrem Vater nach besten Kräften aus dem Wege gingen, weil sie seine Wutanfälle fürchteten.

Margarete von Courtenay fühlte ihre zunehmende Schwäche. Sosehr sie sich danach sehnte, die Augen zu schließen, eine Aufgabe wartete noch. Violante. Sie durfte nicht zulassen, dass die Tochter für die Torheit der Mutter büßte.

»Berthe, du musst mir helfen.«

»Uns kann niemand mehr helfen. Heiliger Vater im Himmel, beschütze uns. Ich will nicht sterben.«

»Du wirst nicht sterben.« Margarete von Courtenay, fast so aschfahl wie ihr tot geborener Sohn, legte ihre ganze Überzeugungskraft in diese Worte.

»Wie wollt Ihr das verhindern? Wenn die jungen Herren von Andrieu siegen, werden sie uns töten, und wenn der Seigneur uns erfolgreich verteidigt, zieht er mich für den Tod seines Sohnes zur Rechenschaft.«

»Keiner wird dir ein Haar krümmen. Du musst dich mit Violante und Ysée in Sicherheit bringen.«

Die Magd starrte ihre Herrin mit offenem Mund an. Sprach sie im Fieber?

»Ich will, dass du mit den Kindern nach Brügge gehst.« Margarete von Courtenay winkte die Magd näher, denn ihre Stimme wurde zunehmend schwächer. »Mein Vater lebt in Flandern. Piet Cornelis, merk dir den Namen. Er handelt mit Wolle und Tuch, jedermann kennt ihn in Brügge. Es wird dein Schaden nicht sein, wenn du ihm seine Enkelin zuführst.«

»Aber …«

»Nein, lass mich sprechen. Ich hab nicht mehr viel Zeit.«

Die Herrin spürte, dass ihr Ende nahte. Wäre da nicht Violante gewesen, sie hätte es freudig begrüßt. Violante, das unschuldige Andenken an einen schlimmen Fehler. Noch heute wusste sie nicht, weshalb sie den hochfahrenden Ritter damals in Dôle angelächelt hatte. Vielleicht, weil er sich in seinem glänzenden Harnisch so gewaltig von den jungen Händlern und Färbern unterschied, die ihr in Brügge den Hof machten? Wie hatte sie denn ahnen können, dass er dieses Lächeln für eine Aufforderung hielt? Dass er Stadtfrieden und Gastfreundschaft missachten und sie aus der Herberge ihres Vaters einfach entführen würde? Damals hatte der Albtraum begonnen.

Thomas von Courtenay war sich der Reichweite seines Fehltrittes ebenfalls nicht bewusst gewesen. Meister Cornelis und seine schöne Tochter standen unter dem Schutz des Pfalzgrafen von Burgund. Gewinn bringende Geschäfte verbanden den burgundischen Hof und das Handelshaus in Brügge. Nachdem Pfalzgraf Ottenin von der Entehrung der Jungfer Cornelis erfahren hatte, befahl er Courtenay, sein Opfer zu heiraten. Nur die Ehe mit dem Edelmann konnte in den Augen des entrüsteten Vaters die Schande tilgen, die seiner Tochter angetan worden war. Dass der Bräutigam Mabelle von Andrieu sein Wort gegeben hatte, berücksichtigte der Pfalzgraf dabei ebenso wenig wie den empfindlichen Stolz des Grafen von Andrieu. Damals war der Grundstock für die Fehde gelegt worden, die mit dem heutigen Überfall ihren Höhepunkt fand.

»Nach Brügge?« Berthe lachte freudlos auf und unterbrach die Erinnerungen ihrer Herrin. »Wie stellt Ihr Euch das vor? So wie es aussieht, können wir nicht einmal die Burg verlassen.«

»Es gibt einen Weg.«

Es dauerte eine Weile, bis Berthes schwerfälliger Geist diese ungeheuerliche Nachricht verarbeitet hatte. »Einen Weg aus dieser Burg?«

»Schwöre, dass ihr euch nach Brügge rettet. Schwör es mir bei deiner Seligkeit, dann sage ich dir, wo du den Geheimgang zur alten Mühle findest.«

Die ungleichen Frauen maßen einander mit misstrauischen Blicken. Berthe entdeckte in den bläulichen Schatten unter den tief eingesunkenen Augen ihrer Herrin die ersten Anzeichen des Todes. Margarete von Courtenay sah eine Frau, die ihre Jugend und ihre Träume hinter sich hatte. Ihre Augen waren glanzlos, dennoch glomm in der Ergebenheit ihres Blickes ein Funke Hoffnung auf.

»Ein Geheimgang?« Berthe runzelte die Stirn. »Wo soll der sein?«

»Violante wird dich führen. Deinen Schwur, Berthe.«

»Ich würd es ja gern tun, aber wie sollen wir nach Brügge kommen?« Berthe wusste kaum, wovor sie mehr Angst hatte, vor dem Tod in der brennenden Burg oder vor einem solchen Abenteuer.

»Es ist Sommer, du brauchst nur den Handelsstraßen zu folgen.« Margarete von Courtenay streckte ihr eine zitternde Hand entgegen. »Hinter der Pforte des Geheimgangs ist eine Nische, dort habe ich für diesen Fall einen Beutel mit Kleidern und Münzen versteckt. Es ist nicht viel, aber es wird euch helfen. Dein Wort darauf, dass du es tust, Berthe.«

Etwas im Blick ihrer Herrin zwang Berthe, die Hand zu ergreifen und stumm zu nicken. Dann löste sie die Verbindung so hastig, als habe sie sich daran verbrannt.

»Der Himmel wird es dir danken«, flüsterte die Sterbende und hob die Stimme. »Violante, Ysée, kommt näher.«

Die Kinder sahen vorsichtig aus ihrem Versteck am Fenster. Zögernd kamen sie heraus und traten gemeinsam an das Kopfende des Bettes, die Finger miteinander verschränkt. Es schien, als gäbe ihnen die Berührung Kraft, all die verstörenden Ereignisse dieses Tages zu erdulden. Violantes Lippen bebten, Tränen standen in ihren weit aufgerissenen Augen.

»Was ist mit meinem Bruder?«

»Gott wird sich um ihn kümmern, mein Kind. Du musst jetzt tapfer und klug sein. Du musst mit Berthe und Ysée gehen.« Margarete von Courtenay sammelte die letzten Atemzüge für diesen Abschied. Für Erklärungen war keine Zeit, nur das Nötigste konnte sie noch sagen. »Zeig Berthe den Geheimgang hinter der Wandtafel der Mutter Gottes. Du weißt, welchen Stein du drehen musst, um ihn zu öffnen. Und nun geh, der Himmel behüte dich, meine geliebte Tochter.«

»Ich will bei dir bleiben, Mutter …« Violante, sonst ein Muster an Gehorsam und Fügsamkeit, erwachte unerwartet zu trotzigem Widerspruch.

»Das ist nicht möglich, mein Herz. Geht, sonst ist es zu spät.«

Berthe packte Violantes Arm und zerrte das Mädchen gewaltsam aus der Kammer. Da Violante ihrerseits Ysée nicht freigab, musste sie ihre ganze Kraft aufbieten, die widerstrebenden Freundinnen von der Sterbenden zu trennen. Sie warf noch einen letzten Blick auf ihre Herrin und sah voll Erstaunen, dass ein Lächeln um ihren Mund spielte. Das farblose Antlitz trug einen Abglanz jener Schönheit, die in Dôle das Begehren Thomas von Courtenays geweckt hatte. Margarete sah dem Tod ins Auge, und sie tat es glücklich.

»Still, keinen Laut!« Berthes Angst übertrug sich auf die Mädchen. Ysée legte beschützend den Arm um die jüngere Violante und nickte für beide.

Die Magd huschte mit den Kindern zur Treppe und von dort in die große Halle hinab. Wo es sonst nach Küchendünsten, Hunden, Bier und Waffenfett gerochen hatte, lag jetzt ein Übelkeit erregender Gestank in der Luft. Der metallisch ätzende Geruch von geronnenem Blut mischte sich mit dem von siedendem Öl und menschlichen Ausscheidungen. Anfangs hatte man die Verwundeten von den Wällen noch in die große Halle gebracht. Inzwischen fand niemand mehr Zeit, sich um die Männer zu kümmern, die stöhnend und schreiend auf dem Stroh lagen, das die Steinquadrate des Bodens bedeckte. Berthe spürte Ysées und Violantes Entsetzen, aber sie zog sie mit aller Kraft in Richtung Küche weiter.

In dem Gewölbe mit der mächtigen Feuerstelle, das sonst vor Menschen und Leben nur so wimmelte, trafen sie lediglich auf eine Katze, die sich an dem Gerstenbrei gütlich tat, der von der Morgenmahlzeit des Gesindes noch auf dem Tisch stand. Ein Kessel mit Öl blubberte vergessen über dem Feuer. Berthes Magen knurrte, aber ihre Furcht besiegte den Hunger. Sie lief mit den Kindern zur Seitenpforte, von dort waren es nur wenige Schritte zum großen Ziehbrunnen im Innenhof. Ob es möglich sein würde, die Burgkapelle, die sich nahe dem Torturm, unterhalb der Wehrgänge, befand, zu erreichen, würde sich erst dort zeigen.

Rauchschwaden trieben ihnen entgegen, und die Mädchen begannen zu husten. Die hölzernen Wehrgänge, die Ställe und der Heuschober brannten, aus dem Zwinger gellte das panische Kläffen der Jagdmeute. Der Lärm des Kampfes klang beunruhigend nahe, und Berthe hastete mit den Kindern durch Qualm und Hitze. Sie hatten eben die Pforte der schützenden Kapelle erreicht, als brüllende Männer in den Innenhof drängten.

Würden sie das Gotteshaus respektieren? Sie zog eilends die Tür hinter sich zu und packte Violante an der Schulter. Sie wies mit dem Kinn zum Altar. »Dort ist die Wandtafel. Welchen Stein muss man bewegen?«

Violante schluchzte in harten, abgehackten Stößen und gab keine Antwort. Sie machte Anstalten, wieder hinauszulaufen. »Wo ist Pucelle? Wir müssen ihn suchen.«

Ysée teilte ihr Entsetzen. »Violante kann doch nicht ohne ihren Hund fortgehen, Mutter!«

»Süßer Jesus, was ist das für ein Unsinn?« Berthe wagte nicht, Violante mit einem kräftigen Schlag zur Vernunft zu bringen, wie sie es bei Ysée getan hätte. Sie umfasste die Kinderschulter lediglich fester. »Die Tafel. Vorwärts.«

Violante stemmte sich eigensinnig gegen den Griff und riss sich mit einem Ruck los. Sie rannte zur Tür, und Ysée folgte ihr augenblicklich. Sie wusste, dass Violante nichts auf Erden so liebte wie den kleinen Welpen Pucelle. Er war das einzige Hündchen, das die Kinder gerettet hatten, als ihr Vater den Wurf einer Jagdhündin ertränkt hatte, weil die Meute zu groß wurde.

»Ysée!« Berthe fasste eben noch ein Stück des groben Wollkittels, den Ysée über einem Untergewand aus schlichtem Leinen trug. Der mürbe, oft gewaschene Stoff riss unter ihren Fingern. Ysée stürmte ihrer Gefährtin nach. Berthe stieß einen unterdrückten Fluch aus und eilte den Kindern hinterher. Draußen herrschte bereits ein solches Getümmel, dass sie entsetzt unter dem Türstock der Kapelle verharrte.

»Courtenaaay!«

Ein Ritter im schwarzen Harnisch, das Helmvisier der besseren Sicht wegen weit geöffnet, bahnte sich mit einem schwer bewaffneten Kriegertrupp seinen Weg durch den Hof. Vor Berthes Augen fielen die Männer von Courtenay unter ihren Schwertern. Sie hörte das metallische Dröhnen der Waffen, das Klirren der Rüstungen und die Schreie der verwundeten Männer, dann erspähte sie den Schimmer hellen Leinens zwischen Beinschienen und Reiterstiefeln.

Violante kauerte weinend an der Mauer des Ziehbrunnens. Berthe verbot sich, sie zu rufen. Solange sie sich nicht rührte, war sie vielleicht in Sicherheit.

»Stell dich, Courtenay«, brüllte der Ritter mit dem offenen Visier. Die Magd musste hilflos mit ansehen, wie die Kämpfenden für Thomas von Courtenay eine Gasse bildeten, bis sich die beiden Widersacher genau in Höhe des Ziehbrunnens gegenüberstanden.

Der Herausforderer war jung. Kaum ein erwachsener Mann und kein Gegner für einen erfahrenen Ritter wie Thomas von Courtenay. Er spielte mit dem Jüngling, lockte ihn und trieb ihn dann mit mächtigen Hieben immer weiter auf den Brunnenrand zu. Schon rann Blut aus einem Riss im Kettenhemd seines Herausforderers, und der Brustpanzer hing zerbeult an den letzten Lederschlaufen.

Erst jetzt entdeckte Berthe ihr einziges Kind. Unter Missachtung aller Gefahr versuchte Ysée zwischen den Männern, welche das tödliche Duell abschirmten, hindurchzuschlüpfen. In ihrem Übereifer rutschte sie jedoch im Schlamm vor dem Brunnen aus und prallte gegen einen der Ritter. Der erkannte, dass es sich nur um ein Kind handelte, und stieß Ysée mit einem mächtigen Fausthieb seiner eisenbewehrten Hand aus dem Weg. Der Schlag schleuderte sie gleich einer Lumpenpuppe exakt in die Bahn des Schwertes, das Thomas von Courtenay eben auf seinen strauchelnden Gegner niedersausen lassen wollte. Die Waffe traf Ysée statt des Jungen. Ihr Blut strömte über seine Beinschienen, als er sich zur Seite warf.

Ein anderer Ritter nahm augenblicklich seinen Platz ein. Er nutzte im Bruchteil eines Herzschlages seine Chance, denn Thomas von Courtenay starrte abgelenkt auf die Bastardtochter, die zu seinen Füßen starb.

»Für Andrieu und unseren Vater!«, brüllte er mit heller Knabenstimme.

Ein Schwert blitzte auf und durchschnitt den gepolsterten Halsschutz des Ritters genau an der kritischen Stelle zwischen Helmkante und Brustwehr. Thomas von Courtenay war bereits tot, als er neben Ysée in die Knie sank. Das Blut von Vater und Tochter vermischte sich zu einem Rinnsal und versickerte in der Erde. Der Jubelschrei des Siegers schrillte in Berthes Ohren, das Entsetzen raubte ihr den Atem.

Zu spät, schoss es ihr durch den Kopf, ehe die Beine unter ihr nachgaben, für meinesgleichen gibt es eben doch keine Hoffnung.

»He du, steh auf. Kannst du dich um das Kind kümmern?«

Ein Tritt in ihre Rippen brachte Berthe in die Wirklichkeit zurück.

»Bist du verletzt?« Der Ritter klang ungeduldig. Berthe schüttelte stumm den Kopf.

»Gut. Sieh nach dem Kind. Dort. Es ist nicht bei sich. Ich begreife nicht, warum Gott so etwas zulässt.«

Hoch aufgeschossen, mit bartlosem Jünglingsgesicht, blickte er aus brennenden Augen auf sie herab. Ein zorniger Engel mit Schwert.

»Habt Erbarmen«, murmelte Berthe voller Panik und wich vor der blutbesudelten Waffe zurück.

»Es ist wahrhaftig genügend getötet worden.« Er ließ das Schwert sinken und deutete auf eine kleine Gestalt, aus deren Kleidersäumen das Blut tropfte. »Kümmere dich um das Kind. Es ist unverletzt. Es ist nur so blutbefleckt, weil es seine Spielgefährtin nicht loslassen wollte. Der Himmel wird uns dafür strafen, dass wir Kinder töten.«

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Brügge

Erstes Kapitel

Missionen

Im Auftrag Seiner Majestät

Paris im Oktober 1309

Er roch die Stadt, aber er konnte sie nicht sehen. Die nächtlichen Regenwolken hüllten Paris in Dunkelheit. Dennoch starrte er über den Fluss hinüber, der die Insel der Cité mit seinen beiden Läufen umarmte, schützte und vom restlichen Paris trennte.

Welchen Dienst würde König Philipp von ihm fordern? Er konnte nicht ausschließen, dass ihm eine heikle Mission bevorstand. Die Tatsache, dass er so lange warten musste, weil sich Guillaume von Nogaret beim König befand, mahnte zur Vorsicht. Er hielt den Siegelbewahrer für die treibende Kraft im Konflikt zwischen Krone und Kirche. Ein diplomatisches Schlachtfeld, das Mathieu gerne gemieden hätte.

Die Machtprobe zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Frankreich dauerte nun schon vier Jahre, aber ein Ende war nicht abzusehen.

Bertrand von Got, vor fast sechzig Jahren in Vilandraut an der Gironde geboren und zuletzt Erzbischof von Bordeaux, versuchte sich als Papst Clemens V. zunehmend dem Einfluss seines Monarchen zu entziehen. Im vergangenen März hatte er Poitiers verlassen und die päpstliche Residenz in den Süden, in das Kloster der Dominikaner von Avignon, verlegt. Damit hatte er die italienischen Kardinäle tief enttäuscht, die eine Rückkehr nach Rom wünschten.

Bonifaz VIII. hatte mit der Bulle unum sanctum den Machtkampf ausgelöst. Er hatte mit diesem Edikt festgelegt, dass sich die weltliche Macht der Kirche zu unterwerfen hatte und gegebenenfalls dem Papst sogar das Recht zustand, den König zu verurteilen.

Philipp IV. dachte nicht daran, diese Bulle zu akzeptieren. Der Papst reagierte darauf mit der Exkommunikation des Königs. Bonifaz’ plötzlicher Tod verhinderte weitere Eskalationen.

Der König nutzte die Gunst der Stunde und zwang die Kardinäle zur Wahl eines französischen Papstes. Clemens V. erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen und hob die Bulle umgehend auf. Damit allein gab sich der französische Herrscher aber nicht zufrieden. Es war ihm wichtig, dem Klerus seine absolute Macht zu demonstrieren.

In den Beratungen mit Nogaret kam diesem die Idee, sich dafür der Templer zu bedienen. Die Vernichtung dieses Ordens erfüllte dem König viele Wünsche auf einmal. Er konnte sich ihres sagenhaften Schatzes bemächtigen, eine Wunde heilen, die die Templer vor Jahren seinem Stolz zugefügt hatten, und die Kirche in ihre Schranken verweisen.

Es war weniger ein Laut als ein Gefühl, das den Wartenden veranlasste, der unsichtbaren Stadt den Rücken zu kehren. Guillaume von Nogaret stand unter der Tür. Obwohl schmucklos gekleidet und von wenig beeindruckender Gestalt, umgab den engsten Ratgeber Seiner Majestät eine Aura von kalter, gefährlicher Effektivität. Er kannte keine Skrupel, wenn es um die Interessen seines Königs ging.

Mathieu, Graf von Andrieu und Ritter Seiner Majestät des Königs von Frankreich, zählte zu den wenigen Menschen, die ihn nicht fürchteten. Nogaret konnte ihn weder bedrohen noch einschüchtern. Die Pariser hingegen nannten den Siegelbewahrer hinter vorgehaltener Hand le terrible, den Schrecklichen. Andrieu deutete einen stummen Gruß an und wartete darauf, dass Nogaret das Wort ergriff.

Der spitzfindige Doktor der Rechte aus Montpellier registrierte seine Gelassenheit mit einem kaum angedeuteten Heben der Brauen, ehe er endlich »Seine Majestät erwartet Euch, Graf« sagte.

Mit jedem anderen hätte Andrieu ein paar Sätze gewechselt, aber nicht mit Nogaret. Bei diesem unbeugsamen, oft brutalen Mann musste man die Worte zu sorgsam bedenken. Daher beschränkte er sich auf eine schweigende Verbeugung und stellte sich innerlich auf die Begegnung mit dem König ein.

Mathieu von Andrieu diente dem König von Frankreich in absoluter Treue und unerschütterlicher Loyalität, aber er ließ nicht zu, dass Gefühle sein Handeln bestimmten. Die Jahre hatten ihn zu einem Mann gemacht, der auf seinen Verstand und nicht auf sein Herz hörte.

»Mathieu«, empfing ihn der König mit jenem seltenen Lächeln, das ihm schon in jungen Jahren den Beinamen le bel, der Schöne, eingetragen hatte.

Inzwischen hatte der Monarch sein viertes Lebensjahrzehnt erreicht, und in den kinnlangen, braunen Locken zeigten sich die ersten grauen Haare. Zwei tiefe Falten zogen sich von den Nasenflügeln abwärts zu den Mundwinkeln, und seine Gestalt verriet, dass er gerne trank und tafelte. Insgesamt jedoch waren die Jahre ihm wohlgesinnt gewesen. Sie hatten dem 17-jährigen Prinzen, der im Jahre 1285 seinem Vater Philipp dem Kühnen auf dem Thron gefolgt war, Würde und Autorität geschenkt.

»Mein König«, erwiderte der Graf und beugte das Knie vor seinem Souverän.

»Ihr fragt Euch sicher, warum ich Euch in dieser Kammer so lange warten ließ«, begann der König und wandte sich dem großen Tisch zu. Auf der Platte befand sich ein solches Durcheinander von Dokumenten, Tintenfässern und den Resten einer späten Mahlzeit, dass man nur ahnen konnte, wie kunstvoll das eingelegte Elfenbeinmuster im schwarzen Ebenholz wirkte.

»Ich glaube, Ihr habt einen Auftrag für mich, den Ihr erst noch mit Eurem Siegelbewahrer besprechen wolltet.«

»In der Tat«, nickte der König zufrieden. »Da es schon spät ist, werde ich es kurz machen. Ihr müsst für mich nach Flandern reisen. Seid meine Augen und Ohren in Brügge.«

»Um was zu hören und zu sehen, Sire?«

Der König lachte kurz auf. Das war es, was er an Mathieu von Andrieu so schätzte. Die Fähigkeit, sofort zur Sache zu kommen und überflüssige Worte zu meiden.

»Ihr sollt mir Klarheit über die weltlichen Verstrickungen verschaffen, die dem Beginenhof vom Weingarten immer häufiger zur Last gelegt werden. Magistrat, Kaufleute und Zünfte von Brügge führen in seltener Einigkeit Klage gegen die Gemeinschaft.«

»Seit wann erregen Nächstenliebe und Frömmigkeit dermaßen Anstoß?«

»Es geht weniger um diese löblichen Eigenschaften als um die Geschäftstüchtigkeit der Beginen. Sie färben ihre Wolle selbst, sie spinnen, weben und walken Tuche, die zum Besten gehören, was Brügge in den Handel bringt. Man wiegt ihre Waren in Gold auf«, erwiderte der König.

»Das trifft nahezu auf alle Handelsgüter zu, die aus Flandern kommen. Die Pfeffersäcke wissen, was ihre Dienste wert sind.«

»Mit dem feinen Unterschied, dass diese Herren für ihre Geschäfte Steuern an die Krone abführen müssen. Die Beginen hingegen genießen seit vielen Jahren das Privileg der Steuerfreiheit.«

Die Verärgerung darüber war der Stimme des Königs anzumerken, obwohl er selbst diese Vergünstigung in der Vergangenheit gewährt hatte. Nicht ahnend, dass er in seiner Großzügigkeit auf eine sprudelnde Geldquelle verzichtete. Dabei hatte er seit seinem Regierungsantritt ein dichtes Netz von Steuern, Zöllen und Abgaben geschaffen, das auch auf Flandern ausgedehnt worden war. Die Sporenschlacht von Kortrijk mochten die Ritter Seiner Majestät verloren haben, der königliche Rechnungshof gewann seine Scharmützel zwischen Gent und Brügge. Er hatte die reichen Städte in festem Würgegriff und den Handel unter Kontrolle. Ein jedes Fuhrwerk, das Straßen, Brücken, Städte und Märkte passierte, musste Zoll entrichten, und bis zur gabelle, der Salzsteuer, rann ein steter Strom des Goldes in die unersättliche königliche Schatulle.

»Man fragt sich in Brügge verständlicherweise, ob es rechtens ist, dass die Krone die Geschäftigkeit der Beginen so großzügig unterstützt«, fügte der König eine Spur säuerlich hinzu.

»Wollt Ihr es bei einer Untersuchung belassen, Sire?«

»Vorerst schon. Die Beginen vom Weingarten unterstehen seit dem Jahre 1299 der Gerichtsbarkeit der französischen Krone. Weder der Magistrat von Brügge noch die geistlichen Herren der Stadt können sie zur Rechenschaft ziehen oder ihnen Handwerk und Handelsgeschäfte verbieten. Diese Tatsache macht es freilich nötig, dass ein Mann meines Vertrauens die Angelegenheiten in Brügge für mich prüft, ehe ich Entscheidungen treffe.«

Wunderbar, schoss es dem Grafen durch den Kopf. Das heißt, ich darf auf glühenden Kohlen zwischen Zünften, Magistrat und Kirche tanzen. Was habe ich mit frommen Frauen zu schaffen?

»Wem gilt Euer besonderes Augenmerk, Sire?«, erkundigte er sich bedächtig. »Der Zunft der Wollhändler? Dem Magistrat von Brügge? Oder den frommen Frauen im Weingarten?«

»Ihr habt in Eurer Aufzählung Seine Heiligkeit vergessen, Andrieu«, erwiderte der König knapp. »Wie man aus seiner Umgebung vernimmt, begegnet die Kirche den Beginen mit steigendem Misstrauen. Der Franziskanerpater Simon von Tournai hat bereits anlässlich des Konzils von Lyon im Jahre 1274 von der Gefahr einer Irrlehre gesprochen. Es missfällt den frommen Männern, dass die Beginen nach eigenen Regeln leben. Ihre Selbstständigkeit ist den Kirchenfürsten ein immer größerer Dorn im Auge. Man hätte sie gerne gehorsamer und abhängiger. Die Tatsache, dass so viele von ihnen des Lesens und Schreibens mächtig sind und dieses Wissen auch noch an andere Weibsleute weitergeben, rückt sie gar in die Nähe der Ketzerei. Ganz davon zu schweigen, dass sie mit ihrem Fleiß Summen erwirtschaften, die Seine Heiligkeit zu gerne in die kirchlichen Truhen fließen lassen würde.«

Andrieu versuchte aus dieser reinen Information die persönliche Einstellung des Königs herauszuhören. Wenn es um Geld ging, war das Verhältnis zwischen Papst und Krone noch vertrackter als sonst.

Ersterer verdankte dem Einfluss des Königs seine Wahl in das höchste Amt der Christenheit. Frankreich hatte sich erfolgreich gegen die weltlichen Ambitionen der Kurie behauptet und an Macht gewonnen. Es garantierte dem Heiligen Stuhl innerhalb seiner Grenzen zudem eine Sicherheit, die er in Rom oder Perugia, im unmittelbaren Einflussbereich der mächtigen Colonnas, vergeblich gesucht hätte. Allerdings musste Seine Heiligkeit teuer dafür bezahlen. So durfte die Krone den Klerus fünf Jahre lang besteuern. Ob sie dieses Recht nach der Frist so einfach dahingeben würde, bezweifelte der Heilige Vater sicher selbst. Als Papst von Philipps Gnaden war er in den letzten Jahren in zunehmende Abhängigkeit geraten. Seine Reise, wenn nicht gar seine Flucht nach Avignon, bestätigte, dass er inzwischen offen gegen diese Fesseln aufbegehrte.

In einer solchen Situation galt es mit besonderer Vorsicht zu handeln. Die Abgaben an die Krone rissen ein großes Loch in die Kirchenkassen. Sicher suchte der Papst nach Quellen, dieses Loch zu stopfen. Vielleicht zog er in Betracht, die wohlhabenden Beginenkonvente unter Kirchengewalt zu stellen und die Ordensregeln zu ändern? Wenn er den Beginen ihre Unabhängigkeit nahm, erhielt er Zugriff auf ihr Vermögen. Obwohl die frommen Frauen in geistlichen Belangen einem Bischof, einer Pfarre oder einem Orden unterstanden, besagten ihre Statuten, dass sie für ihr eigenes Auskommen zu sorgen hatten und der Kirche nicht zur Last fallen durften. Dass sie durch Fleiß und geschicktes Wirtschaften nun gar Reichtum schafften und mehrten, erregte allerseits Neid.

»Auch als Abgesandter meines Königs bin ich ein Mann und habe keinen Zutritt zu einem Beginenhof«, erinnerte der Graf an eine weitere Beginenregel.

»In der Tat.« Der König wandte sich zum Tisch. »Aber Robert von Bethune, der Graf von Flandern, ist erst in diesem Sommer aus Paris wieder in seine Residenz nach Brügge zurückgekehrt. Er ist mehr als froh, dass ich der Stadt endlich offiziell verziehen und ihn und seine Familie wieder unter meinen königlichen Schutz genommen habe. Er wird Euch in allen Ehren im Prinzenhof willkommen heißen. Ladet die Magistra der Beginen zum Gespräch dorthin und hört Euch an, was sie von den Vorwürfen hält.«

»Und wenn die Dame einen Rat von mir möchte?«

»Wird sie ihn von mir bekommen, sobald ich mich mit den Umständen vertraut gemacht habe, die Ihr mir berichten werdet. Dies …«, Philipp griff nach einem versiegelten Pergament, »… ist Eure Legitimation für die Ratsherren von Brügge und die Beginen.«

Der Graf nahm das Dokument entgegen und beugte gehorsam den Nacken. »Das sind alle Eure Befehle, Sire?«

Zu gerne hätte er auch gefragt, welchen Grund der König hatte, ausgerechnet ihn nach Brügge zu senden. Irgendwie war ihm nicht ganz wohl bei diesem Auftrag. Aber er wusste auch, dass er auf eine solche Frage keine Antwort erhalten hätte. Er musste sich mit einem knappen Gruß begnügen.

»Das sind sie. Geht mit Gott.«

Im Auftrag Seiner Heiligkeit

Avignon im Oktober 1309

Die bescheidene Kutte des Zisterziensermönchs schob sich wie eine graue Wolke durch das Rot und Violett der Soutanen. Sie streifte florentinische Brokate, pelzgefütterte Umhänge und Schleierstoffe aus den Ländern der Ungläubigen. Das Dominikanerkloster von Avignon war mit dem Einzug des Papstes von einer Welle des Luxus und der Verschwendung überschwemmt worden. Kirchliche Würdenträger, Edelmänner und deren Gefolge, Künstler, Handwerker, Büßer und vor allen Dingen Frauen strömten nach Avignon, um den Segen des Heiligen Vaters zu erhalten und bei dieser Gelegenheit ein paar Worte in eigener Sache mit ihm zu wechseln.

Bruder Simon hatte die Hände in den Ärmeln seiner Kutte verschränkt und die Kapuze des Habits über den Kopf gezogen. Die Augen zu Boden gesenkt, eilte er durch die Menge. Wie alle anderen wusste er, dass Seine Heiligkeit sich für Avignon entschieden hatte, weil die Stadt nicht dem König von Frankreich, sondern seinem Bruder Karl von Valois gehörte. Karl, Graf der Provence und durch seine Heirat mit Margarete von Anjou und Sizilien auch König von Sizilien, war in dieser letzten Eigenschaft ein Vasall des Heiligen Stuhles. Ein kleiner, aber feiner Unterschied, den der Heilige Vater schätzte. Die Erlebnisse seines Vorgängers Bonifaz, der im Zuge des Zwistes mit der französischen Krone 1303 in Anagni, vor den Toren Roms, von Guillaume de Nogaret gefangen gesetzt und von den Truppen der Colonnas bedroht worden war, mahnten ihn zur Vorsicht.

Clemens V. gedachte sich am Ufer der Rhône für längere Zeit einzurichten, aber er hatte es abgelehnt, im Palast des Bischofs von Avignon Wohnung zu nehmen. Das Dominikanerkloster schien ihm für seine Bedürfnisse besser geeignet. Er hatte es binnen kurzer Zeit in eine Mischung aus Residenz, Baustelle und ständig wachsender Machtzentrale verwandelt.

Den Mönch erinnerte dieser Zufluchtsort mittlerweile an den biblischen Tempel von Jerusalem. Überall wurden wichtige Aufträge vergeben und Gewinn bringende Ämter verkauft. Die Anwärter auf beides drängten sich in Gängen und Vorzimmern wie Bienen in ihrem Stock. An manchen Tagen hatte er das Bedürfnis, all die Händler, Schacherer und Blender hinauszuwerfen. Dann bereute er es, den Frieden des Klosters von Fontenay in seinem versteckten Tal aufgegeben zu haben, um einer der Sekretäre Seiner Heiligkeit zu werden. Er war nur einer von vielen. Emsig, aber bedeutungslos.

Die Gebete, das Schweigen und die Besinnung, die den Tag eines Zisterziensermönchs ausfüllten, hatten ihn nicht auf den weltlichen Trubel im Haushalt des obersten Kirchenhirten vorbereitet. Seit sie im August des vergangenen Jahres Poitiers verlassen hatten, entsann er sich zahlloser Städte, Klöster und Burgen. Lusignan und St-Émilion waren darunter, Saint-Macaire, Toulouse, Comminges, Montpellier und Orange. Überall hatten sie Wohnung genommen, Hochämter gefeiert und Empfänge gegeben. Als sie am 9. März 1309 endlich in Avignon eingetroffen waren, hatte er gehofft, es würde Ruhe einkehren. Das Gegenteil war der Fall gewesen.

Auch heute herrschte ein babylonisches Sprachengewirr aus Latein, Französisch und Italienisch, sogar die melodiösen Laute des Provenzalischen, die er kaum verstand, waren darunter. Den Stoßseufzer des italienischen Kardinals neben ihm konnte er sowohl begreifen wie nachfühlen. »Ich hoffe nur, wir bleiben nicht so lange in Avignon wie die Kinder Israels während ihrer siebzigjährigen Gefangenschaft in Babylon. Seine Heiligkeit hat bei seiner Weihe in Lyon versprochen, dass wir nach Rom zurückkehren werden. Avignon mag einem seiner Vasallen gehören, aber der Einfluss des Königs reicht sehr wohl bis in den Süden.«

»Rechnet nicht damit, dass er tatsächlich nach Rom geht«, erwiderte sein Gesprächspartner. »Er mag der Heilige Vater sein, aber er ist in erster Linie Franzose. Wenn Ihr einen Beweis dafür wollt, dann betrachtet die schöne Brunissende von Périgord. Glaubt Ihr, Rom würde die Französin tolerieren, nur weil sie die Mätresse des Papstes ist?«

Bruder Simon beschleunigte seinen Schritt. Er wollte keine Silbe dieses bösartigen Getuschels glauben. Der Himmel würde die Lästermäuler für ihre Respektlosigkeit strafen. Dennoch fiel es ihm in Avignon schwerer als in Fontenay, der göttlichen Gerechtigkeit das Handeln zu überlassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte auch er gehandelt und nicht gebetet. Er hatte getötet! Eine schreckliche Erinnerung und die langen Jahre der Reue und Buße schenkten keinem Toten, den er auf dem Gewissen hatte, das Leben zurück.

»Da seid Ihr ja.«

Kardinal Arnaud von Pellegrue, Erzdiakon der Diözese Chartres und Neffe Seiner Heiligkeit, trat Bruder Simon in den Weg. Er winkte ihn zum Ärger der Wartenden aus der Menge im Vorzimmer des Papstes und gab ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung zu verstehen, dass er keine weitere Zeit verlieren solle.

»Tretet ein, der Heilige Vater bedarf Eurer Dienste.«

Seine Heiligkeit Papst Clemens V. thronte im prächtig möblierten Studienzimmer des Abtes in einem Stuhl mit hoher geschnitzter Lehne, auf Lagen von Kissen. Das Ebenholzkreuz an der Stirnwand des Raumes stellte zwischen Wandbehängen, Schauschränken und Kunstgegenständen die einzige Mahnung zu Buße und Einkehr dar. Bruder Simon trat vor, strich die Kapuze vom Kopf und sank barhäuptig auf ein Knie, ehe er den Rubinring an der ausgestreckten Hand des Heiligen Vaters küsste.

Er blickte auf den Goldsaum des päpstlichen Ornates und verharrte mit gesenktem Haupt. Geduldig wartete er darauf, dass Seine Heiligkeit das Wort an ihn richtete. Mit der ganzen Kraft seines Willens versuchte er seinen Geist zum Schweigen zu zwingen, der sich von Äußerlichkeiten viel zu leicht zu Kritik verleiten ließ. Die Prachtentfaltung um ihn herum mochte weltlich und übersteigert sein, aber der Mann, der diese Art von Luxus liebte, war der Stellvertreter Gottes auf Erden. Er schuldete ihm Demut und Ergebenheit:

»Steht auf, mein Sohn«, brach der Papst das Schweigen. »Ich sehe dem Menschen gerne ins Gesicht, wenn ich mit ihm rede.«

Bruder Simon folgte der Anweisung. Er begegnete seinem Oberhirten zum ersten Male von Auge zu Auge. Seine Berufung in den Haushalt des Heiligen Vaters war über den Erzdiakon erfolgt, und bislang hatte er seine Befehle nur von ihm erhalten.

Aus unmittelbarer Nähe betrachtet, blieben Person und Würde des Amtes jede Ausstrahlung schuldig. Die zeremoniellen Gewänder bedeckten einen Mann, dessen Gestalt längst aus den Fugen geraten war und der die Blüte seiner Jahre überschritten hatte. Wohl genährt, kurzatmig und mit hängenden Schultern, verbreitete er eher gereizte Ungeduld denn fromme Güte.

Bruder Simon erschrak augenblicklich über seine Betrachtungen. Woher nahm er das Recht, den Heiligen Vater mit solch kleinlichen Maßstäben zu messen? Er hatte Gehorsam und Hingabe geschworen, als er den Ritterstand aufgab und das Kloster wählte. Wo blieb sein guter Wille? Sein ehrliches Bemühen, jeden Hochmut für immer fahren zu lassen und nur noch zu dienen?

Papst Clemens V. hingegen blickte in das Antlitz eines jungen Mannes von sechsundzwanzig Jahren. Das Gesicht eines Erzengels, hager, von Askese gezeichnet, in dem Augen von so dunklem Blau standen, dass sie auf den ersten Blick schwarz erschienen. Die Brauen und das Haar, bis auf die Tonsur, waren tatsächlich schwarz. Düstere Bartschatten lagen auf Wangen und Kinn. Ein Büßer. Seine Heiligkeit kannte die Zeichen leidenschaftlicher Frömmigkeit und wusste sie für seine Zwecke zu nutzen.

Pellegrue hatte Recht gehabt. Dies war der richtige Mann. Tief gläubig, gehorsam und unbekannt genug, um nicht auf Anhieb mit den Plänen des Heiligen Stuhles in Verbindung gebracht zu werden. Auf seinen Neffen konnte er sich verlassen.

»Man hat Euch für eine Mission von höchster Verschwiegenheit empfohlen, mein Sohn«, brach der Papst nun die Stille. Er legte die molligen, weißen Hände mit den Fingerspitzen gegeneinander und machte eine bedeutungsvolle Pause.

Bruder Simon versagte sich die Frage, die so erkennbar provoziert wurde. Der Heilige Vater gab einen undefinierbaren Laut von sich, der ebenso Anerkennung wie Überdruss bedeuten konnte. Er verzichtete auf weitere Schmeicheleien und kam sogleich zum Kern der Sache.

»In den letzten Monaten haben sich die Beschwerden über die Gemeinschaften der Beginen gehäuft. Die heilige Kirche sieht sich zum Handeln gezwungen. Es geht nicht an, dass diese Frauen denken, sie könnten sich dem ordnenden Einfluss unserer Bischöfe entziehen. Es ist sündig, dass sie für weltliche Geschäfte ihre Gebete vernachlässigen und sich anmaßen, eigene Entscheidungen treffen zu wollen. Ehe Wir indes zu einer endgültigen Verurteilung ihrer Lebensweise kommen, benötigen Wir genaues Wissen über die Art ihrer einzelnen Verfehlungen.«

Bruder Simon hatte als päpstlicher Schreiber auf viele dieser Beschwerden geantwortet. Er begriff sehr wohl, was Seiner Heiligkeit an den religiösen Frauenvereinigungen missfiel, deren Mitglieder meist allein stehende Frauen und Witwen waren. Sie verpflichteten sich zwar zu einem religiösen Leben, aber sie waren keine Ordensgemeinschaft. Sie pflegten Kranke und nahmen sich der Armen an, doch sie arbeiteten auch für ihren Lebensunterhalt, indem sie Tuche, Bänder, Spitzen, Kerzen, Seife und vieles andere fertigten und verkauften. Jede Frau, die sich einem Beginenkonvent anschloss, brachte ihr persönliches Vermögen in die Gemeinschaft ein, wo es unter anderem dazu diente, ihren Lebensunterhalt und die Kosten für ihre Wohnstatt zu bestreiten sowie die Rohstoffe für die Handwerkerinnen anzuschaffen. Verließ sie die Beginen, um wieder ein bürgerliches Leben zu führen oder gar zu heiraten, konnte sie dieses Vermögen nach genauer Aufrechnung wieder mit sich nehmen. In den meisten Fällen hatte es sich vermehrt, denn die Geschäftstüchtigkeit der Beginen erregte mittlerweile sogar den Neid von Handwerkern und Händlern.

»Ihr werdet nach Brügge reisen, um Euch für Uns ein Bild von der dortigen Lage der Beginen zu machen. Der prinzliche Beginenhof vom Weingarten ist der passende Ort, ein Exempel zu statuieren. Er untersteht in weltlichen Fragen Seiner Majestät dem König von Frankreich, in geistlichen Dingen dem Bischof von Cambrai.« Seine Heiligkeit hielt kurz inne und gab Bruder Simon Zeit, sich daran zu erinnern, dass der Bischof von Cambrai niemand anderer als der Bruder von Enguerran de Marigny war, einem der engsten Ratgeber Philipps des Schönen. Kein Wunder, dass der Papst die Loyalität Seiner Eminenz nicht auf die Probe stellen wollte.

»Uns sind zudem Anschuldigungen zu Ohren gekommen, dass die Beginen das Wort Gottes predigen und häretische Schriften verbreiten«, sprach er jetzt weiter. »Wir vertrauen auf Euch, Bruder, dass Ihr in Verschwiegenheit und Klugheit die nötigen Beweise sammelt, damit Wir das leidige Beginenproblem im Sinne der heiligen Mutter Kirche lösen können. Je eher sich diese Frauen einer gestrengen Ordensregel unterwerfen, umso besser ist es für ihr Seelenheil. Ihr seid ab sofort ein Wanderprediger. Ein frommer Mann auf der Suche nach der göttlichen Wahrheit. Seht es als Pilgerfahrt an.«

Im Sinne der heiligen Mutter Kirche hieß vermutlich, dass die Beginen ein Ordensgelübde ablegen sollten, damit ihre Höfe und Konvente in Kirchenbesitz übergingen. Alles in Bruder Simon sträubte sich dagegen, der Handlanger eines solchen Planes zu sein. Es sah zu sehr danach aus, als würde das Seelenheil der Beginen nur vorgeschoben, damit die Kurie freie Hand über ihr Vermögen erhielt.

»Verzeiht, Heiliger Vater, aber selbst wenn ich in Brügge Beweise für solche Anschuldigungen finde, bedeutet das doch nicht, dass in allen beginischen Gemeinschaften gesündigt wird.«

»Das soll nicht Eure Sorge sein, mein Sohn. Gehorcht und geht nach Flandern. Der Erzdiakon hält Euch für klug. Der Brügger Beginenhof ist ein eigener Pfarrbezirk, und der dortige Priester wird einem wandernden Prediger mit Sicherheit Herberge bieten. Wir erwarten Euren Bericht. Ihr geht mit dem Segen Eures himmlischen Vaters.«

Eine unmissverständliche Verabschiedung. Bruder Simon musste sich ehrerbietig verneigen und das Gemach verlassen. Weitere Einsprüche waren nicht erwünscht. Wie komme ich zu diesem unerfreulichen Auftrag?, fragte er sich verblüfft und erhielt die Antwort von Kardinal Pellegrue:

»Seht Ihr vielleicht Bruder Étienne nach Flandern reiten? Er fiele schon auf der Brücke über die Rhône vom Pferd, und das Gleiche lässt sich von ein paar anderen sagen, die in Frage kämen. Für eine solche Mission seid Ihr als Ritter erzogen worden, mein Freund. Ihr könnt ein Pferd reiten, Euch notfalls verteidigen, und Eure Ergebenheit für den Heiligen Vater ist ohne Tadel. Betrachtet es als Auszeichnung. Wenn Ihr diesen Auftrag zu seiner Zufriedenheit ausführt, werdet Ihr sicher nicht unter die namenlosen Brüder in die Schreibstube Seiner Heiligkeit zurückkehren.«

Im Kloster hatte Simon von Andrieu gelernt, wann er schweigen musste, auch wenn alles in ihm danach drängte, zu protestieren. Er würde weder Seiner Heiligkeit noch dem Kardinal begreiflich machen können, dass er nicht den Aufstieg in der heiligen Mutter Kirche anstrebte, sondern Frieden für die eigene Seele suchte. Absolution für Hochmut und Mord. Bei dieser Mission würde er weder das eine noch das andere finden.

Tatsache war, die Kurie benötigte dringend Geld. Fernab von Rom war man in erster Linie auf die Einkünfte aus kirchlichen Pfründen in Frankreich angewiesen und Darlehen, wie sie beispielsweise der Orden der Templer großzügig gewährt hatte. König Philipp hatte mit seinem überraschenden Vorgehen gegen die Tempelritter diese Quelle zum Versiegen gebracht und die Reichtümer des Ordens kurzerhand im Namen der Krone beschlagnahmt. Es war nicht abzusehen, ob und wann er sich bereit fand, die Güter zurückzugeben, die Clemens V. im Namen der Kirche von ihm forderte.

Offiziell prüfte augenblicklich eine päpstliche Kommission die Vorwürfe gegen den Orden als Ganzes und eine bischöfliche Kommission jene gegen die einzelnen Tempelritter, aber bis zum Abschluss dieser Untersuchungen blieben die Templer im Verlies. Ihr Vermögen stand unter königlicher Verwaltung, was schlicht bedeutete, dass Seine Majestät sich munter davon bediente. Dass die Kirche dies im umgekehrten Fall ebenfalls getan hätte, änderte nichts daran, dass Papst und Kardinäle voller Empörung und Selbstgerechtigkeit von Diebstahl sprachen.

Bruder Simon schmeckten weder sein Auftrag noch die Schlüsse, die sich ihm aufdrängten. Es ging nicht um Glauben, sondern allein um Macht und Geld. Willst du dich für solche Winkelzüge hergeben?, fragte er sich entsetzt. Allein, blieb ihm eine Wahl? Er hatte Gott als Buße für seine Sünden Gehorsam und Demut geschworen. Seine Heiligkeit war der Vertreter Gottes auf Erden.

Gehorche! Das war genau jene Ordensregel, die ihm am häufigsten Schwierigkeiten bereitete. Es bereitete ihm weder Probleme zu schweigen noch zu fasten, zu beten oder seinen Körper zu kasteien. Aber seit er zum Haushalt des Heiligen Vaters gehörte, fiel es ihm von Tag zu Tag schwerer zu gehorchen. Bei allem Respekt für seinen Oberhirten blieb ihm nicht verborgen, dass Clemens V. dem französischen König nicht mit jenem Nachdruck begegnete, den Zeit und Situation erfordert hätten. Die Templer, die in ihren Kerkern bislang vergeblich darauf warteten, dass er sich energischer für sie einsetzte, waren der traurige Beweis dafür. Würden die Beginen das nächste Opfer werden, weil der Heilige Vater wenigstens auf ihrem Rücken geistliche Macht demonstrieren wollte?

Im Auftrag der Magistra

Brügge am 28. Oktober 1309

»Ysée? Ysée, wo steckst du?«

Die Backsteinmauer sah kalt und schmutzig aus, dennoch presste Ysée die Stirn mit aller Macht dagegen. Die Berührung hinterließ Spuren auf dem hellen Leinen der Haube und ihrer Haut. Sie verschwendete keinen Gedanken daran. Kälte, Schmutz und Härte zeigten ihr, dass sie lebendig war. Sie konnte atmen, spüren, zittern und, wenn sie wollte, sogar zornig mit den Fäusten gegen die rote Wand schlagen.

Die Mauer musste es stumm dulden. Sie sagte weder »bezähme deine Launen« noch »sei gehorsam« oder »tu deine Arbeit«, »lass die törichten Gedanken«, »geh fort«. Solche Belehrungen kamen nur von dummen Gänsen wie Schwester Josepha oder Eigennützigen wie ihrer Mutter oder von Herzlosen wie der zweiten Meisterin Alaina. Sie alle behandelten Ysée wie einen nützlichen Gegenstand. Wie ein Ding, das zu tun hatte, was sie ihm sagten, und dem sie keine Gefühle erlaubten.

Der kühle Gegendruck milderte nach und nach den Schmerz hinter Ysées Schläfen. Langsam drang der Morgen in ihr Bewusstsein. Der Tag begann feucht und windig. Stürmische Böen fuhren durch die Baumwipfel am Reieufer und rauschten in die Stille des Beginenhofes vom Weingarten hinein. Nun, da das Hämmern ihres Herzens nachließ, drangen die Geräusche vom Kai des nahen Minnewaterhafens in ihr Bewusstsein. Das Quietschen der großen, hölzernen Kräne, die schwere Lasten von den Schiffen hoben, die dort ankerten. Das Poltern der Fässer und Kisten, die Flüche der Männer, die sie schleppten. Masten und Tauwerk ächzten im Wind, und darüber wurde das Kreischen der Möwen verweht. Vertraute Töne, die sie seit langem begleiteten.

Hinter der Mauer lag Brügge, das dem Zwin Reichtum und Bedeutung verdankte. Dieser Meeresarm, kaum breiter als ein Fluss, von der großen Sturmflut des Jahres 1134 als Bresche tief ins Landesinnere geschlagen, machte die Stadt zusammen mit der gemächlich dahinfließenden Reie zum bedeutenden Hafen. Beide speisten das verzweigte System der Kanäle und Grachten, die es wie lichte Bänder durchzogen. Tausende von Bürgern hatten ihre Häuser entlang dieser Wasserstraßen gebaut, deren Ufer man ganz allgemein ebenfalls Reie nannte, und sie nutzten sie ebenso für ihre Geschäfte wie zum schnellen Vorwärtskommen. Ysée wünschte sich brennend, all dies nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Seit sie vor vielen Jahren in den Beginenhof gekommen war, hatte sie ihn kein einziges Mal mehr verlassen.

»Warum antwortest du nicht, Ysée?«

Seraphinas Stimme klang schrill vor Aufregung. Sicher war sie zu behäbig, ihre Suche bis zu den Wollschuppen an der Mauer auszudehnen. Dennoch straffte Ysée die Schultern und nahm die Stirn von den Steinen. Gerade noch rechtzeitig, denn dieses Mal stand Seraphina tatsächlich hinter ihr.

»Ysée, du Nichtsnutz, was treibst du hier? Ich habe dich bei den Spannrahmen gesucht. Du solltest dort bei Mariana sein. Warum lässt du sie deine Arbeit tun?«

Ysée wischte sich die Hände an ihrem Rock ab. Sie gab keine Antwort. Es hörte ohnehin niemand zu, wenn sie etwas sagte.

»Du hast Schmutz an der Stirn.« Seraphina schüttelte den Kopf über so viel Nachlässigkeit. »Und das ausgerechnet jetzt. Die oberste Meisterin möchte dich sehen. Es gehört sich nicht, die Magistra warten zu lassen. Wenn du an deinem Platz gewesen wärest, hättest du noch Zeit gehabt, dich zu säubern. Jetzt wirst du eben ihren Tadel ertragen müssen. Husch, eil dich und komm mit.«

Seraphina hastete voraus. Trockene Gräser raschelten unter ihren Schritten, und der dunkelblaue Beginenumhang wehte die Blätter vom Weg, die über Nacht gefallen waren. Ysée lief hinterher und lauschte der Tirade, die Seraphina trotz ihrer Atemlosigkeit keinen Herzschlag lang unterbrach.

»Dein Müßiggang wird dich noch einmal in Teufels Küche bringen, Schwester. Du weißt, dass ich deinen Ungehorsam der Meisterin melden muss. Warum träumst du, statt wie alle anderen zu arbeiten?«

Ysée verzog stumm den Mund. Sie tat wahrhaftig ihren Teil der Pflichten für die Gemeinschaft, aber niemand wollte es wahrhaben. Nicht einmal ihre Mutter, deren Aufgaben sie ebenfalls erledigte.

Die oberste Meisterin der Beginen vom Weingarten, Dame Methildis van Ennen, wohnte im Kapitelhaus am Rande des großen Kirchenplatzes. Sie war seit vielen Wochen krank, und ihr Leiden verschlimmerte sich mit jedem Tag. Es schien, als verzehre sie ein böser Dämon, und keine Arznei linderte ihre Schmerzen. Weshalb sie trotz ihres schweren Leidens das Gespräch mit einer Magd suchte, hätte nicht nur Seraphina gerne gewusst. Auch Ysée fragte sich, was ihr zur Last gelegt wurde.

»Hinein mit dir«, kommandierte Seraphina, als sie ihr Ziel erreichten, und gab Ysée zur Sicherheit einen energischen Schubs zwischen die Schulterblätter. »Man wartet schon viel zu lange auf dich.«

Ysée trat befangen über die Schwelle in einen Vorraum, der mit schwarz-weißen Steinquadraten ausgelegt war. Genau gegenüber führte eine polierte Holztreppe nach oben, und linker Hand trat eben die zweite Magistra Alaina aus der Küche des Kapitelhauses. Sie trug ein Tablett mit einem dampfenden Krug und glänzenden Zinnbechern, dem der frische Geruch nach pfeffriger Minze und Rosmarin nachwehte.

Bei Ysées Anblick hob sie tadelnd die Brauen. »Du kommst spät«, rügte sie. »Und wie siehst du aus? Deine Haube ist schmutzig, deine Stirn beschmiert. Wahrhaftig, aus dir wird nie eine ordentliche Schwester.«

»Soll ich etwa gehen, die Haube wechseln? Dann muss die Magistra noch länger auf mich warten.« Ysée reagierte an diesem Morgen besonders empfindlich auf Vorwürfe, obwohl ihr das Herz bis in den Hals hinaufschlug. Sie mochte Schwester Alaina nicht, und sie hatte das sichere Gefühl, dass die zweite Meisterin diese Abneigung erwiderte.

»Du bist aufsässig«, zischte die Ältere mit einem Mund so schmal wie ein Strich.

»Verzeiht.« Ysée brachte die erwartete Entschuldigung mit so viel unterschwelligem Groll vor, dass sie nur noch mehr Ärger erntete.

»Hinauf mit dir!« Alaina wies mit ausgestreckter Hand auf die Treppe, die zum Schlafgemach der obersten Begine führte. »Und keinen Ungehorsam der ehrwürdigen Mutter gegenüber. Sonst wirst du die nächsten Wochen ausschließlich beim Wollewaschen verbringen.«

Ysée nahm die Drohung ernst und senkte schweigend den Blick. Alaina wusste, dass sie diese Arbeit hasste, und sie würde nicht zögern, eine solche Strafe auszusprechen. Alles daran war ihr schrecklich. Die Eintönigkeit der sich wiederholenden Handgriffe, der ranzige Gestank des Wollfettes und die Feuchtigkeit, die am Ende auch in Kleidern und Haaren hing. Beim Wollewaschen half es nicht einmal, von schönen Dingen zu träumen. Das Säubern und Brühen der angelieferten Schafschur war eine der schwersten und hässlichsten Arbeiten, die es im Beginenhof zu tun gab.

Ehe sie die Kammer im ersten Stock betrat, versuchte Ysée mit aller Kraft die seltsame Stimmung dieses Tages zu überwinden. Es widerstrebte ihr, Methildis von Ennen zu begegnen, wenn sie vor Aufbegehren kochte und am liebsten etwas Ungeheuerliches getan hätte, um etwas zu erreichen, das sie nicht einmal beim Namen nennen konnte. Die Magistra war die Seele des Beginenhofes, gütig, gerecht und warmherzig. Alle Schwestern liebten sie, und Ysée hätte freudig ihre Seligkeit dafür hingegeben, dass sie wieder gesund wurde.

»Komm näher, Kind, und steh nicht in der Tür, als würdest du am liebsten gleich wieder davonstürmen.« Methildis van Ennen lag, von mehreren Kissen gestützt, in ihrem Alkoven, als Ysée endlich eintrat. Sie unterdrückte ein Hüsteln und winkte sie mit einer Geste näher.

»Ihr habt nach mir rufen lassen, ehrwürdige Mutter und Maestra«, begrüßte das junge Mädchen die Kranke respektvoll.

Sie gebrauchte wie viele der anderen Schwestern den alten Titel für die Meisterin, den die Vorsteherinnen des Beginenhofes trugen, seit die Gemeinschaft im Jahre 1245 zur eigenständigen Pfarrgemeinde der Stadt Brügge geworden war. Gräfin Margareta von Flandern war dies zu verdanken. Sie hatte sich damals der Vermittlung des Bischofs von Tournai bedient. Seine Eminenz hatte unter einer Bedingung zugestimmt: Die Beginen mussten ein eigenes Gotteshaus besitzen.

Methildis van Ennen hatte Ysée vor vielen Jahren erzählt, wie die Gemeinschaft der Beginen dieser Forderung entsprochen hatte. Noch heute konnte sie nicht an der Beginenkirche vorbeigehen, ohne sich daran zu erinnern. Im Zentrum der Stadt hatte zu Gräfin Margaretas Zeit ein kleines Kirchlein gestanden, das nach dem Bau eines großen Gotteshauses nicht mehr benötigt wurde. Die Beginen hatten jeden einzelnen Stein dieser Kapelle aus den Mauern gelöst und in den Weingarten geschleppt. Es hatte fast ein halbes Jahr gedauert, die Kirche dort wieder aufzubauen, aber im Januar 1245 war das Werk vollbracht. Der Heiligen Mutter geweiht, bildete die Pfarrkirche bis zum heutigen Tag den Mittelpunkt der frommen Gemeinde vom Weingarten. Pater Felix, der Priester, der ihr im Augenblick vorstand, lebte in einem Steinhaus draußen vor der Mauer, am anderen Ende der Brücke zum Weingartenplatz.

»Lass dich anschauen«, sagte die Magistra jetzt. »Dreh den Kopf zum Fenster, ja so … gütiger Himmel, wie ähnlich du ihr siehst.«

Ysée schwieg. Was konnte die Meisterin wohl meinen? Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wem sie ähnlich sah. Nur eines war kaum zu leugnen, zwischen ihr und Berthe gab es keine äußerliche Verwandtschaft. Sie wusste, warum, Berthe war gar nicht ihre Mutter. Kannte die oberste Begine dieses streng gehütete Geheimnis ebenfalls?

»Es ist an der Zeit, dass wir über deine Zukunft sprechen, Kind«, fuhr sie zu Ysées Verblüffung fort. »Es geht nicht an, dass du weiter deine Tage als Magd vertust. Nachdem deine Mutter keinen Versuch unternommen hat, eine Ehe für dich zu arrangieren, musst du nach den Regeln des Weingartens als selbstständige Begine aufgenommen werden. Das bedeutet, du bist Novizin, bis dich der Rat der Schwestern billigt und willkommen heißt. Da du keine Mitgift einbringst und kein eigenes Vermögen besitzt, kannst du der Gemeinschaft nur mit deinem Fleiß und deiner Frömmigkeit dienen.«

Sie hob abwehrend die Hand, als das Mädchen den Mund öffnete. »Lass mich zu Ende kommen. Ich denke, dass du unter den Schwestern, die im Hospital der Beginen ihren Dienst tun, deine Aufgabe finden solltest. Das nötige Wissen vermittelt dir eine ältere Schwester, deren Helferin und Schülerin du ab heute bist. Wenn sie mit dir zufrieden ist, wird sie im Rat der Schwestern für dich sprechen und deine Aufnahme empfehlen. Bis dahin musst du lernen, dich zu zügeln und deine Zunge besser zu hüten.«

Nie wieder Wolle waschen, spinnen, walken oder spannen! Ohne dass es ihr bewusst wurde, breitete sich ein solches Strahlen auf Ysées Gesicht aus, dass die Magistra mit einem Seufzer den Kopf schüttelte. Wahrhaftig, es fiel schwer, dem besonderen Liebreiz dieses Kindes zu widerstehen. Aber sie war nicht umsonst seit mehr als einem Jahrzehnt die oberste Dame der Beginengemeinde. Sie verstand es, persönliche Gefühle zu verbergen. Ganz besonders vor einem Mädchen, dessen Schicksal sie so sehr berührte.

»Wie soll ich Euch nur danken, ehrwürdige Mutter?«, murmelte Ysée schließlich befangen. Ob die Meisterin ahnte, wie sehr sie sich danach sehnte, anerkannt und geachtet zu werden? Geschätzt und geliebt?

»Ach Kind …«

Die Kranke hustete, und Ysée reichte ihr den bereitstehenden Becher mit Honigwasser. Sie musste sie beim Trinken stützen, denn die Maestra war mittlerweile so schwach, dass sie für jede körperliche Bewegung Hilfe benötigte. Ysée wusste, dass sich die Gebete der Beginen für ihre Gesundheit bereits mit dem Getuschel über ihre mögliche Nachfolgerin abwechselten.

»Ihr dürft Euch nicht anstrengen«, riet sie ihr besorgt und glättete die Decke des Bettes, obwohl keine Falten zu sehen waren. »Ich weiß, dass ich noch viel zu lernen habe. Auch, dass es mir beklagenswert an Selbstbeherrschung fehlt, aber ich werde mich bessern. Ich verspreche es Euch.«

Die Magistra lächelte über so viel Eifer. Sie griff nach Ysées Hand. »Ich weiß, dass du ein gutes Herz hast und dass du mich nicht enttäuschen wirst. Ich muss dir dennoch sagen, dass …«

Ein leises Kratzen an der Tür unterbrach sie, und Alaina trat nach der Aufforderung der obersten Begine ein. Sie neigte gemessen den Kopf mit der großen, weißen Leinenhaube der Beginen, die nicht nur den Scheitel bedeckte, sondern auch die Schultern. Ysée hatte ihre Haare nicht unter der Faille versteckt, wie man die kompliziert plissierte Haube wegen ihrer vielen Falten nannte, sondern unter einem einfachen Kopftuch, wie es den Mägden zustand. Sie sehnte sich seit Jahren danach, diesen einzigen und elegantesten Schmuck der Beginen zu tragen – hatte sie nun das Recht dazu?

»Am Tor ist eine Magd aus dem Hause Cornelis«, begründete Alaina währenddessen die unwillkommene Unterbrechung. »Die Gemahlin des Tuchhändlers hat vor der Zeit eine Totgeburt gehabt. Man fürchtet, dass sie die kommende Nacht nicht überleben wird. Sie schickt nach Euch, ehrwürdige Mutter, und wünscht in ihrer schweren Stunde den Trost der Beginen.«

Die Meisterin bekreuzigte sich erschrocken. »Arme Mareike. Es war ihr so sehr daran gelegen, Meister Cornelis endlich den ersehnten Erben zu schenken.«

»Wer soll an Eurer Stelle zu Mareike Cornelis gehen, ehrwürdige Mutter?«

Die oberste Dame der Beginen seufzte bedrückt. »Wie gerne würde ich meiner Nichte auf diesem letzten Weg beistehen. Bitte vertretet mich bei ihr, Schwester Alaina. Nehmt Ysée mit. Je eher sie ihre Ausbildung an Eurer Seite beginnt, umso besser ist es. Es kommt mir vor, als gäbe uns der Himmel ein Zeichen.«

Ysées Augen weiteten sich vor Schreck. Ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle. Mit jeder anderen Schwester, stand in ihrem Gesicht, nur nicht mit Alaina!

»Hast du mir nicht eben versprochen, dich zu bessern? Sei gehorsam, Ysée.« Die Magistra rügte ihren wortlosen Widerspruch. »Du wirst künftig Alainas Gehilfin und Schülerin sein. Ich erwarte, dass du dir Mühe gibst und ihr in allen Dingen folgst.«

Die hinfällige Gestalt im Alkoven verschwamm vor Ysées Augen. In ihrer ersten Freude hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wer ihre Lehrerin sein würde. Unter den kühl beobachtenden Augen Schwester Alainas erlosch ihre Freude jedoch wie eine Kerze im Zugwind. Sie hatte die zweite Meisterin noch nie zufrieden stellen können. Warum, dachte sie, warum ausgerechnet Alaina?

Alaina verbarg ihre Genugtuung hinter einer ausdruckslosen Miene. Die Meisterin sandte ein stummes Gebet zum Himmel. Sie wusste, was sie tat. Es war an der Zeit, dass Ysée sich zu behaupten lernte, und wenn sie all jene Fähigkeiten besaß, die sie in ihr vermutete, dann würde es ihr auch gelingen.

»Geht«, sagte sie schroffer, als es sonst ihre Art war. »Tut eure Pflichten, wie es frommen Frauen geziemt. Der Herr behüte euch.«

Nur Methildis van Ennen wusste, dass sie ihrer Nichte auch eine lebendige Mahnung ins Haus schickte. Vielleicht würden jetzt endlich die Fragen beantwortet werden, die sie vor zehn Jahren zu stellen versäumt hatte. Die Entscheidung lag bei Mareike Cornelis.

»Gelobt sei Jesus Christus«, hauchte Ysée und huschte hinter Alaina nach draußen. Sie musste nicht lange auf die erste Zurechtweisung warten.

»Du wirst dich augenblicklich säubern und eine geziemende Haube aufsetzen. Zur Terz erwarte ich dich pünktlich an der Pforte.«

Zur Terz um neun Uhr! Die kurze Spanne Zeit bis dahin genügte kaum, die kleine Behausung zu erreichen, die sie mit ihrer Mutter bewohnte. Nur besonders angesehene und einflussreiche Beginen lebten in den weißen Fachwerkhäusern rund um den mit Bäumen bestandenen Platz vor der Kirche oder in den größeren Konventsgebäuden. Das Privileg war jenen vorbehalten, die ihr zum Teil beträchtliches Vermögen mit in den Weingarten gebracht hatten. Mittellose Schwestern, wie Ysée und ihre Mutter, wohnten bescheidener.