Maria Theresia - Marie Cristen - E-Book

Maria Theresia E-Book

Marie Cristen

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Maria Theresia im November 1780 stirbt, findet man in ihrem Nachlass eine erstaunliche Liste. Zu lesen ist, dass ihr glücklicher Ehestand mit dem Kaiser 29 Jahre gedauert habe - »macht also Monat' 335, Wochen 1540, Tage 10781, Stunden 258774«. Ihr Leben nach seinem Tod war fünfzehn Jahre lang von der Sehnsucht getragen, wieder mit ihm vereint zu sein ...Gabriele Marie Cristen zeichnet in ihrer Romanbiographie der großen Habsburgerin nicht nur ein pralles Gemälde der Zeit, sondern vor allem das sehr private Bild einer turbulenten Regentenfamilie. Sie lässt Maria Theresia wenige Tage vor ihrem Tod von den großen Ereignissen der zurückliegenden Jahrzehnte erzählen - von erster Verliebtheit, von 16 Kindern, vom Regieren, Verhandeln, Kriegführen und Reformieren. Und von einer arrangierten Ehe, die doch zum Glück ihres Lebens wurde.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 582

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriele Marie Cristen

Maria Theresia

Zwischen Thron und Liebe

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

PrologWien, 2. November 1780Wien, am Allerseelentag des Jahres 1780Wien, März 1729 – Dezember 1735Wiener Hofburg, 31. Januar 1736 – Herbst 1736Wien, Februar 1737 – 20. Oktober 1740Wien, 20. Oktober 1740 – April 1741Wien, Mai 1741 – Januar 1743Wien, Februar 1743 – Februar 1744Wien, März 1744 – Frankfurt, Oktober 1745Wien, 27. Oktober 1745 – Schönbrunn, Mai 1746Wien, Fasching 1747 – Februar 1749Wien, März 1749 – Schönbrunn, Sommer 1755Wien, September 1755 – Dezember 1756Wien, Januar 1757 – Oktober 1758Wien, Januar 1759 – Dezember 1761Wien, Januar 1762 – November 1763Wien, Januar 1764 – Innsbruck, 18. August 1765Innsbruck, 19. August 1765 – Wien, Dezember 1770Wien, Januar 1771 – Dezember 1778Wien, Januar 1778 – 2. November 1780EpilogWien, am Allerseelentag des Jahres 1780Berichtder Erzherzogin Maria Anna von Habsburgüber den Tod ihrer Mutter,der Kaiserin-Königin Maria Theresiaam 29. November 1780,festgehalten in ihrem Tagebuch.Inschriftentafelauf dem Doppelsarkophag derKaiserin Maria Theresiain der Kapuzinergruft zu Wien
[home]

Prolog

Wien, 2. November 1780

»Die Gruft will mich nicht mehr hergeben.«

Sie will mit ihm reden? Sie redet mit einem Toten?«

»Still! Sie sieht nicht mehr gut, aber ihre Ohren sind so scharf wie eh und je. Sie wird ungnädig, wenn man hinter ihrem Rücken tuschelt.«

Die beiden Damen in den pelzbesetzten Samtumhängen drängten sich, im Windschatten der Kutsche Schutz suchend, aneinander. Obwohl der Nachmittag erst begonnen hatte, hingen die grauen Wolken des Allerseelentages über dem Mehlmarkt, als ginge es bereits auf den Abend zu. Der scharfe Wind versprach neuerlichen Regen, er trieb Unrat und trockene Blätter vor sich her. Der Bezirk vor dem Kapuzinerkloster, normalerweise ein buntes Gewimmel aus Marktleuten, Geschrei und Leben, lag heute verlassen und kahl, so weit das Auge reichte. Das Kaiserreich gedachte seiner verstorbenen Seelen.

Nur das leise Plätschern des Donner-Brunnens, dessen nackte Putten die Kaiserin, entrüstet über so viel Blöße, hatte entfernen lassen, mischte sich mit dem Schnauben des Pferdegespanns, dem Klirren und Klingeln des Zaumzeuges und dem Ächzen der Kutsche, die vor dem Eingang zum Kapuzinerkloster stand und in den Ledergurten ihrer Federung schwankte. Zwei kräftige junge Männer in der Uniform der kaiserlichen Garde halfen soeben respektvoll einer unförmigen Gestalt aus dem Wagen. Die Matrone, von den raschelnden Rocksäumen bis zur Witwenhaube in tiefstes Schwarz gekleidet, keuchte vor Anstrengung.

Kaum auf eigenen Beinen stehend, klopfte sie indes gereizt mit einem schwarzen Stock, der ihr ebenso Gehhilfe wie Drohmittel zu sein schien, auf das Pflaster. Ohne die vereinzelten Gaffer zu beachten, die jetzt von ihrer Ankunft Notiz nahmen, wandte sie sich mit schroffer Stimme an ihre Begleiterinnen. »Nun, was ist? Möchte vielleicht eine von Ihnen dafür sorgen, dass wir eingelassen werden, oder sollen wir hier Maulaffen feilhalten?«

»Selbstverständlich Majestät, sofort Majestät.«

Die Jüngere, die erst seit wenigen Tagen das Privileg genoss, der Kaiserin zu dienen, eilte so schnell zum Tor, dass sie fast mit einem Leibgardisten zusammengestoßen wäre. In der kurzen Zeit ihres Dienstes hatte sie bereits gelernt, dass es nicht ratsam war, Ihre Apostolische Majestät, Maria Theresia von Habsburg-Lothringen, Kaiserin-Witwe des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn und Böhmen, warten zu lassen.

Das Tor öffnete sich, ehe der letzte, blecherne Ton des Glöckchens verklungen war. Ein Kapuzinerpater, die Hände fröstelnd in den Ärmeln seiner Kutte vergraben, senkte in feierlichem Respekt das Haupt und ließ die Gruppe mit einem gemurmelten Gruß eintreten. Auch die frommen Brüder hatten ihre Erfahrung mit der Ungeduld der hohen Frau gemacht.

Mit einem dumpfen Laut schloss das Tor jedes weitere Geräusch von draußen ab. In der jähen Stille klangen das monotone Pochen des Stockes und die Schritte der Fürstin ungewohnt laut. Sie ging langsam, ihre Kraft sorgsam einteilend.

»Warum tut sie sich das an?«, hauchte die junge Komtesse Starhemberg trotz der zuvor erhaltenen Warnung an das Ohr ihrer Begleiterin. Die Neugier siegte über ihre Befangenheit. Ungeachtet der erlauchten Ahnenreihe, die ihr das begehrte Amt einer Hofdame verschafft hatte, besaß sie die vorwitzige Wissbegier einer Vorstadt-Wäscherin.

»Es ist Allerseelen, meine Liebe. Außerdem tröstet es sie, in seiner Gruft zu beten«, wisperte die Gräfin Bräuner leise zurück. »Vielleicht stellt sie sich auch vor, dass er sie in seinem Sarg hört.«

Die Komtesse riss in affektiertem Schreck die Augen auf. »Was soll eine Leiche schon hören? Noch dazu eine, die man aufgeschnitten und in den verschiedensten Kirchen beigesetzt hat. Das Herz liegt in der Augustinerkirche, die Eingeweide im Stephansdom. Schlecht könnte es einem werden, wenn man daran denkt, was sie aus einem toten Kaiser machen. Ihr wird einmal das Gleiche blühen.«

Die Gräfin zuckte mit den Achseln und schwieg. Mittlerweile hatte man jenen Aufzug erreicht, der es der 63-jährigen Herrscherin ermöglichte, die kaiserliche Gruft zu betreten, ohne die enge ausgetretene Steintreppe benutzen zu müssen. Die simple Balkenkonstruktion aus einem Flaschenzug und einem gepolsterten Lehnstuhl sah wenig Vertrauen erweckend aus. Gemeinsam mit der kleinen Starhemberg half sie der Kaiserin dennoch, sich in diesem Stuhl niederzulassen, und nahm den Gehstock entgegen, der nicht mehr gebraucht wurde.

»Nun lass’ Sie schon das Gezupfe«, beschwerte sich die Monarchin ungnädig über den Versuch der nervösen Komtesse, auch noch die Brokatröcke des kaiserlichen Witwengewandes in gefällige Falten zu legen, damit alles seine Ordnung hatte.

»Allez, meine Herren, an die Arbeit!«

Letzteres galt den Gardisten, die sich an der Konstruktion zu schaffen machten, während der kaiserliche Obersthofmeister, Graf Paar, mit eigener Hand die Gurte festzurrte, die die Fürstin in ihrem Aufzugstuhl fixierten. Dann gab er den Männern an den Seilen ein Zeichen. Das Konstrukt hob sich schwankend und wurde vorsichtig mit Hilfe eines drehbaren Balkens über die große Öffnung in der Kuppelwölbung platziert, ehe es sich langsam in die vom Fackellicht erhellte Tiefe senkte.

Die Komtesse suchte einstweilen in dem starren Antlitz unter der Witwenhaube nach einer Spur von Furcht, einem Zeichen von Leben, einem Hauch von Gefühl, das verriet, was die Kaiserin bei diesem haarsträubenden Abstieg empfand. Allein, sie entdeckte nicht einmal Hinweise auf die vergangene Schönheit, von der so viele Gemälde in der Hofburg und in Schönbrunn kündeten.

Dies waren die Züge einer verdrießlichen, fülligen Witwe, mit fleischigen Wangen und tief eingegrabenen Furchen auf der Stirn und in den Mundwinkeln. Die Augen lagen trüb, gerötet und klein zwischen all den Falten. Sie zeugten von zu wenig Schlaf und zu vielen Stunden Arbeit bei Kerzenlicht. Die schlaffe, fahle Haut erzählte von Krankheit und Müdigkeit. Für einen Herzschlag sah die Kaiserin auf und entdeckte den prüfenden Blick. Es kam der jungen Hofdame vor, als könne sie jeden despektierlichen Gedanken hinter ihrer Stirn lesen. Abergläubisch bekreuzigte sie sich.

»Sie braucht nicht um mich zu fürchten.« Die Kaiserin hielt die fromme Geste für Sorge, und ihre befehlsgewohnte Stimme wurde leiser, je tiefer sie nach unten sank. »Ich befinde mich bei meinen lieben Toten in bester Gesellschaft.«

Bestürzt bekreuzigte sich die Hofdame ein zweites Mal. Sie trat von der Öffnung im Gewölbe zurück, als fürchte sie, mit nach unten gezogen zu werden. »Gütiger Himmel, ich …«

»Still, kleine Närrin«, fiel ihr die Gräfin ins Wort, ehe sie weitersprechen konnte. »Es steht uns nicht an, die Handlungen der hohen Frau zu mess …«

Ein scharfer, peitschenartiger Knall, ein dumpfer Aufschrei und ein fürchterliches Krachen unterbrachen auch sie.

»Meiner Treu, was war das?«

»Das Seil ist gerissen!« Graf Paar stürzte besorgt nach vorne, streckte den Kopf in die Öffnung. »Majestät! Um Gottes willen, Majestät?«

Die Gräfin indessen packte die Komtesse am Arm und zerrte sie augenblicklich zur Treppe. »Schnell, wir müssen nach der Kaiserin sehen!«

Der jungen Hofdame blieb kaum Zeit zur Furcht. Im Zwielicht der fürstlichen Grabgewölbe, das nur etwas weiter vorne in der neuen kaiserlichen Gruft von Fackeln erhellt wurde, stolperte sie über die unebenen Steinquadrate vergangener Jahrhunderte hinter ihrer Gefährtin her. Der Lehnstuhl mit der reglosen Monarchin stand glücklicherweise unversehrt genau vor dem Doppelsarkophag, in dem der verstorbene Kaiser auf den Tag wartete, da man seine Gemahlin neben ihn legen würde.

Ein dumpfes Stöhnen drang durch die Stille. Im letzten Moment unterdrückte die Komtesse einen hysterischen Aufschrei, weil ihr klar wurde, dass der Laut von ihrer Herrscherin kam, und nicht aus einem der Särge.

»Was ist geschehen?«, hörte sie die Kaiserin verwirrt fragen und die Gräfin Bräuner besänftigend antworten: »Das Seil scheint gerissen, Majestät. Sie sind mitsamt dem Stuhl in die Tiefe gestürzt, haben Sie sich verletzt?«

»Ich bin unsanft gelandet und arg durchgeschüttelt«, schnaufte die Fürstin, prüfte bedächtig ihre Gliedmaßen und rückte die verrutschte Haube zurecht. »Aber ich glaub, es ist alles da, wo es hingehört.«

»Majestät? Kaiserliche Hoheit? Um Himmels willen, welch ein Unglück! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll?« Graf Paar eilte mit fliegenden Rockschößen herbei.

»Dann seien Sie still und belästigen Sie den Himmel nicht mit Dummheiten«, entgegnete die Kaiserin unwirsch. Sie hatte ihren Schock bereits überwunden und wieder zu ihrer gewohnten Autorität zurückgefunden. »Muss man einen solchen Jahrmarkt um ein gerissenes Seil machen? Lassen Sie mich bitte mit meinem Gemahl allein. In der Zeit können sich die Herren da oben ja darum kümmern, die Konstruktion wieder in Stand zu setzen.«

»Aber das dauert, Majestät. Die Winde ist ebenfalls gebrochen …«

»Nun, besser die Winde als mein Hals. Man könnte fast den Eindruck bekommen, die Gruft will mich nicht mehr hergeben.«

»Majestät belieben zu scherzen«, entsetzte sich der Obersthofmeister indigniert. »Freilich kann es sehr wohl ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, das neue Material herbeizuschaffen.«

»Dann beginne Er endlich damit. Es ficht mich nicht an, hier zu warten. Ich bin von Toten umgeben, die ich liebe und die mich geliebt haben. Ich wünsche mit ihnen allein zu bleiben.«

Die beiden Hofdamen wechselten einen fragenden Blick, welcher der Kaiserin prompt auffiel. »Das gilt auch für Sie, meine Damen.«

Es hätte der auffordernden Handbewegung des Obersthofmeisters gar nicht mehr bedurft. Keine von ihnen legte Wert darauf, ihrer Herrin bei diesem unheimlichen Besuch Gesellschaft zu leisten. Sie zogen sich so hastig zurück, dass es fast einer Flucht gleichkam. Die lackierten Holzabsätze ihrer modisch bestickten Pantoffeln klapperten eilig über die schmale Treppe, die für ihre schwerfällige Monarchin inzwischen ein unüberwindliches Hindernis darstellte.

Krank an Leib und Seele musste die kaiserliche Witwe seit geraumer Zeit sogar auf die Hilfe von Sänften und Aufzügen zurückgreifen, wenn sie ihre Räume im zweiten Stock der Hofburg verlassen wollte. Um ihr auch dort das Stiegensteigen zu ersparen, führte eine Rampe vom Vorplatz der Hofburg auf die Krone des Burgwalls hinauf. Auf ihr erreichte die kaiserliche Kutsche die Bellaria, einen hohen Vorbau an der Westseite des Leopoldinischen Trakts, sodass Maria Theresia genau vor ihren Appartements im zweiten Stock aussteigen konnte. Auf diese Weise erreichte sie ebenerdig ihre grau ausgeschlagenen Gemächer, die sie nach dem Tode des Kaisers in dieser Etage bezogen hatte.

»Sie warten am besten hier, damit Sie Ihrer Majestät zu Hilfe eilen können, wenn es nötig ist«, wies Graf Paar die beiden Damen an, die sich vergeblich nach einer Bank oder einem Stuhl im Gewölbegang umsahen.

Während die Gräfin Bräuner die Unbequemlichkeit stumm hinnahm und sich gegen die gekalkte Wand lehnte, seufzte die Komtesse Starhemberg bedrückt auf und schlang trotz ihres warmen Umhangs fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Es war kalt, unbequem und viel zu still in diesem Vorraum zum Tod. Sie mühte sich vergeblich, ihre Furcht zu überwinden.

So hatte sie sich das glanzvolle Leben einer kaiserlichen Hofdame wahrhaftig nicht vorgestellt.

[home]

Wien, am Allerseelentag des Jahres 1780

»Es ist Zeit zu gehen.«

Wie verdrießlich sie mir doch sind, diese blanken reinen Mädchengesichter, in die das Leben noch nichts hineingeschrieben hat.

Allen gemeinsam sind die fragenden Augen, die mich zu einer sonderlichen Alten machen, die besser zu Hause in ihrem Betstuhl bliebe, als die Welt mit ihren Wünschen und Forderungen zu belästigen.

Ich weiß schon, warum ich mir am liebsten von älteren Frauen aufwarten lasse. Die unreifen Jungfern bringen mir nur zu Bewusstsein, dass es Zeit ist zu gehen. Zeit, Platz zu machen. Eine wie die kleine Starhemberg kann sich nicht einmal mehr vorstellen, dass sie vor mehr als vier Jahrzehnten neben mir verblasst wäre.

Die Maria Theresia von damals besaß die unbeschwerte Anmut einer Tänzerin, den straffen Körper einer Prinzessin, die nichts von den Mühen des Kindbetts wusste, und den selbstbewussten Stolz eines geliebten Kindes, das bereits auf der Bühne mit Opernarien glänzte und keine anderen Sünden zu beichten hatte als die der Ungeduld und des Leichtsinns.

Sie war ein verwöhntes Geschöpf, das annahm, ihm würde die ganze Welt zu Füßen liegen, nur weil ihm der väterliche Hof schmeichelte. Ein verliebtes Mädchen, das nicht begreifen wollte, warum der Märchenprinz, von dem es fest angenommen hatte, er würde für immer bei ihr bleiben, plötzlich abreiste.

[home]

Wien, März 1729 – Dezember 1735

»Kein Verzicht auf Lothringen – keine Erzherzogin!«

Man schrieb den Frühling des Jahres 1729, und ich war lächerliche zwölf Jahre alt, als wir zum ersten Male voneinander Abschied nehmen mussten. Entsinnst du dich an den Tag, Franz? Du hattest meinem kaiserlichen Vater gerade deine Aufwartung gemacht und seine Erlaubnis zur Abreise erhalten.

 

»Sie reisen ab?«

Meinen ganzen Mut zusammennehmend, trat ich Franz Stephan von Lothringen in den Weg, als er aus dem privaten Audienzzimmer des Kaisers kam.

»Kaiserliche Hoheit …« Er warf einen Blick auf die beiden Leibgardisten, die rechts und links der Tür Löcher in die Luft starrten, aber mit Sicherheit jedes Wort hörten. »Sind Sie der Gräfin Fuchs entwischt?«

Mein Achselzucken war Antwort genug. Dies war ein Notfall, und in Notfällen zählte keine Etikette.

»Sie haben sich vom Kaiser verabschiedet?«, vermutete ich, während wir in die Ungestörtheit einer Fensternische schlüpften, die sowohl die Gardisten wie auch alle anderen vorbeikommenden Bewohner der Hofburg nicht einsehen konnten.

»Ja. Man erwartet mich zu Hause in Lothringen.«

»Oh …«

Dein Zuhause ist doch hier in Wien, bei uns, bei mir, wollte ich protestieren, aber die Worte blieben mir im Halse stecken. Eine Erbtochter und Erzherzogin hatte Haltung zu bewahren, mit zwölf schon eine Dame zu sein. Aber alle Erziehung half nichts gegen die Angst, allein zurückzubleiben. Zum ersten Male bemerkte ich, dass der vertraute Jüngling in den letzten Monaten den Schritt zum Manne gemacht hatte. Groß war er schon immer gewesen, ein wenig schlaksig, mit ungezwungenen Bewegungen. Inzwischen jedoch füllten breite Schultern den bestickten Rock, und in der Stimme schwang neues Selbstbewusstsein.

Franz Stephan von Lothringen hatte im vergangenen Dezember das zwanzigste Lebensjahr erreicht, und er sah aus so strahlend blauen Augen auf mich herab, dass mir ganz wirr im Kopf davon wurde. Mein Herz raste unter der engen Schnürbrust meines rosenbestickten Seidenkleides. Bemerkte er die Bewegung unter dem Stoff?

»Was soll ich tun, wenn Sie mich verlassen?«, flüsterte ich in das Schweigen hinein und verschlang meine unruhigen Finger zwischen den Rockfalten.

»Sie werden gar keine Zeit haben, an mich zu denken, Therese«, erwiderte er heiter. »Ihr Tag ist voller Lektionen. Neben den Musik- und den Gesangsstunden, dem Unterricht im Pastellmalen und all den anderen Dingen, die eine Erbtochter zu lernen hat, bleibt kein Raum für müßige Gedanken an einen Lothringer. Sicher haben Sie mich schon vergessen, ehe meine Kutsche über die Wiener Vorstädte hinaus ist.«

»Ich vergesse meine Freunde nicht«, widersprach ich aufbrausend. »Wir sind doch Freunde?«, fügte ich nach einer winzigen Pause argwöhnisch an und streckte ihm zögernd die Hände entgegen.

Er griff danach. »Wie können Sie daran zweifeln, Therese?«

Welche Frage! Weil ich in diesem zwölften Lebensjahr an allem zu zweifeln lernte. Hatte nicht der ganze Hof darauf gewartet, dass man uns als Verlobte zusammengab? Wusste nicht der dümmste Rauchfangkehrer, dass der lothringische Prinz in Wien erzogen worden war, um die Erbtochter zu heiraten? Allein, weshalb war Franz Stephans achtzehnter Geburtstag vorbeigegangen, ohne dass mein kaiserlicher Vater die Entscheidung traf, auf die alle warteten? Weil ich damals noch zu jung war?

Inzwischen war ich zwei Jahre älter, und er hatte ihm stattdessen die Erlaubnis erteilt, nach Hause zu reisen und das Erbe seines verstorbenen Vaters anzutreten. War dies das Ende einer Politik, die Lothringen an Österreich binden sollte? Das Ende meiner Träume? Denn niemand wollte ich lieber zum Manne nehmen als den liebenswürdigen Prinzen mit den lachenden Augen.

Damals hatte ich keine Ahnung vom gefährdeten Gleichgewicht der europäischen Mächte. Davon, dass der Kaiser sich verpflichtet hatte, im Austausch für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion meine Ehe mit einem Prinzen zu arrangieren, dessen Interessen sich gegen Frankreich richteten und der deswegen keine Gefahr für die Seemächte Spanien und England darstellen würde. Erst war dies Clemens von Lothringen gewesen und nach seinem Tod der nächstältere Sohn Franz Stephan.

Frankreich hingegen hatte schon immer ein begehrliches Auge auf Lothringen geworfen. Franz Stephans Mutter, die Tochter jener Lieselotte von der Pfalz, die den Bruder des Sonnenkönigs geheiratet hatte, sollte die erste Bresche in die Festung Lothringen schlagen. Der König von Frankreich hatte Herzog Leopold, dem er die hochgeborene Braut zuführte, jedoch unterschätzt. Der Lothringer verbündete sich lieber mit seinem Freund und Cousin, meinem kaiserlichen Vater, dem sechsten Karl von Habsburg. Die Allianz sollte mit der Hochzeit ihrer Kinder gekrönt werden, wobei der Kaiser in diesem Fall sogar hinnahm, dass die Mutter meines künftigen Gemahls aus dem französischen Königshaus stammte. Habsburger und Bourbonen lagen seit dem Spanischen Erbfolgekrieg miteinander in Fehde.

Für mich zählte freilich nur, dass der liebste Freund, den ich bei Hofe besaß, jetzt der regierende Herzog von Lothringen geworden war und dieses Amt in seiner Residenz in Lunéville antreten sollte. Seine Mutter erwartete ihn dort bereits ungeduldig.

»Wir werden auch immer Freunde bleiben, Reserl«, bestätigte Franz nun sanft und benutzte den vertrauten Kindernamen, den nur meine engste Familie und meine liebsten Spielgefährtinnen aus den ersten Familien des Landes im Munde führten.

Zum ersten Male wagte ich nicht, ihm zu glauben. Lag die Entscheidung für oder gegen diese Freundschaft denn wirklich bei uns beiden, oder hatte die Politik das letzte Wort?

Bisher hatte ich mir kaum Gedanken darüber gemacht, was es bedeutete, die Erbtochter des Kaisers zu sein. Ich lernte brav, was man von mir verlangte, aber die größere Freude bereiteten mir der Musikunterricht und das Malen. In diesem Augenblick wurde mir allerdings mit Schrecken klar, dass ich künftig den Ausführungen des Herrn Hofbibliothekars Spannagel mehr Aufmerksamkeit schenken musste.

Franz Stephans Abreise wurde ausschließlich von der Staatskunst diktiert. Ich wusste sehr genau, dass mein Vater sich ebenfalls schwer von ihm trennte. Er war für ihn nicht nur Neffe, sondern der Sohn, den ihm das Schicksal hartnäckig versagt hatte. Wenn sich schon der Kaiser den diplomatischen Umständen beugen musste, dann war diese Staatskunst für mein Leben wichtiger, als ich bisher vermutet hatte.

»Sie müssen mir schreiben«, beschwor ich den Prinzen und akzeptierte zum ersten Male die Tatsache seiner Abreise. »So oft wie möglich, damit ich weiß, wie es Ihnen geht. Und ich werde Ihnen antworten.«

»Das ist unmöglich, Therese.«

»Bezweifeln Sie meine Fähigkeit, einen Brief zu schreiben«, brauste ich in jenem verhängnisvollen Temperament auf, das meine Kinderfrau seit Jahren zu zähmen versuchte.

»Keinesfalls, Kaiserliche Hoheit«, hielt er freundlich stand. »Aber die Hofetikette erlaubt es nicht, dass eine Erzherzogin des Hauses Habsburg Briefe an einen Mann schreibt, der weder ihr Verlobter noch ihr enger Verwandter ist, das wissen wir beide. Wir dürfen uns keine Illusionen machen.«

Die Zähne in meine Unterlippe grabend, runzelte ich die Stirn. Er hatte Recht. Mein kaiserlicher Vater legte großen Wert darauf, dass die Regeln der spanischen Hofetikette im offiziellen Umgang miteinander genau befolgt wurden. Nicht umsonst hatte er Franz Stephan mit Graf Cobenzl, Baron Pfütschner und dem Appellationsrat Langer gleich drei Männer zur Seite gegeben, die in den vergangenen fünf Jahren dafür gesorgt hatten, dass seine Erziehung und sein Benehmen den Regeln des Kaiserhofes entsprachen.

Über die Schulter warf ich einen besorgten Blick aus unserem Versteck. Ich erwartete jeden Augenblick die Gräfin Fuchs zu sehen, die das Amt meiner Aja, wie man die Kinderfrauen bei Hofe nannte, seit einem Jahr ausübte. Inzwischen hatte ich sie so lieb gewonnen, dass ich sie »Mami« nannte und ihr die meisten Geheimnisse meines zwölfjährigen Lebens anvertraute. Dass ich sie wie heute hinterging, hatte es noch nie gegeben. Vermutlich blieben mir nur noch wenige ungestörte Augenblicke mit Franz Stephan.

»Sie haben von den Plänen gehört, die für den Kurprinzen Maximilian Joseph von Bayern und meine Person geschmiedet werden«, platzte ich ungestüm mit einer weiteren Sorge heraus.

Der neue Herzog von Lothringen machte eine jener typisch französischen Bewegungen, die mir so an ihm gefielen. Eine Mischung aus Achselzucken, Grimasse und respektvoll angedeuteter Reverenz.

»Kaiserliche Hoheit sind eine Braut, die jedem Herrscherhaus in Europa gut ansteht«, erwiderte er betont zurückhaltend. »Diese hübschen Locken sind wie geschaffen für eine Krone.«

»Was reden Sie nur für einen Unsinn«, widersprach ich heftig. »Ich würde nie … ich kann nie … ich will nie …« Irgendwie brachte ich es nicht fertig, einen höflichen Dank für das schöne Kompliment zu formulieren, das er mir eben gemacht hatte. Das Stillsitzen zum Frisieren und Haarepudern bekam plötzlich im Nachhinein einen Sinn. Am Ende brachte ich nur ein lahmes »Kommen Sie wieder?« über die Lippen.

»Wenn Sie das wünschen, Therese.«

»Mehr, als ich sagen kann«, wisperte ich. Meine Wangen glühten, und mein Herz raste. »Ich werde darauf warten und niemandem erlauben, Ihren Platz einzunehmen. Ich werde auch Ihre Briefe beantworten, wenn Sie mir welche schicken.«

Mehr wagte ich nicht zu sagen. Mehr konnte ich auch nicht sagen, denn in mir war ein einziges fürchterliches Durcheinander.

»Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte«, seufzte er.

»Es ist ganz einfach.« Die Lösung fiel mir aus heiterem Himmel ein. »Sie müssen Ihre Briefe nur an die Gräfin Fuchs richten, und ich gebe ihr die meinen zur Weiterbeförderung. Sie tut es für uns, das weiß ich.«

Und wenn sie sich sträubte, würde ich sie so lange bearbeiten, bis sie nachgab. Es gab kein Familienmitglied und keine andere Person bei Hofe, die meiner Hartnäckigkeit gewachsen waren, wenn ich mir ernsthaft etwas in den Kopf gesetzt hatte.

Unsere Blicke trafen sich. Wir hatten uns schon tausende Male angesehen, miteinander gelacht, geredet und gesungen, getanzt und gejagt, aber in diesem Augenblick schien alles ganz anders zu sein. Neu. Fremd und gleichzeitig so wundervoll, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment in Tränen ausbrechen zu müssen.

»Sie müssen mir schreiben, versprechen Sie es mir«, beschwor ich ihn eindringlich.

»Wie kann jemand mit zwölf Jahren schon so eigensinnig und standhaft sein«, raunte er mit einem ganz wundervollen Lächeln.

»Kaisertöchter sind so«, entgegnete ich keck. »Und man muss ihnen gehorchen. Geben Sie mir Ihr Wort, Königliche Hoheit!«

Der neue Titel gebührte dem Herzog von Lothringen, so wie mir die Reverenz gebührte, mit der er vor mir das Knie beugte. »Ihr gehorsamster Diener für immer, Kaiserliche Hoheit.«

Für einen Augenblick vergaß ich meinen Kummer und kicherte entzückt. Ich war zwölf Jahre alt, und es war das erste Mal, dass ich in aller Klarheit begriff, wie sehr sich meine Gefühle für dich, mein lieber Franz, von der Liebe zu meinen Eltern, zu meiner Schwester oder zu meinen Freundinnen unterschieden. Sie war mehr. Größer. Wichtiger. Ein Schatz, den ich ein Leben lang besitzen und bewahren wollte.

 

»Ich will aber keinen Bayern und schon erst recht keinen Bourbonen heiraten«, gestand ich meiner Aja, die diesen weiteren einer Reihe von Trotzausbrüchen nur mit einem milden Kopfschütteln tadelte.

»Das ist keine Frage des Willens, Therese, sondern eine Frage der politischen Notwendigkeit«, rügte sie sanft. »Ihr Papa, der Kaiser, entscheidet darüber, welcher Gemahl der Richtige für Sie ist, wenn es einmal so weit sein wird. Heute wäre es besser, wenn Sie die Lateinübersetzung beginnen würden, die Ihnen der Herr Hofbibliothekar Spannagel aufgegeben hat. Schließlich ist Latein die Amtssprache in Ungarn, und diese sollten die Mitglieder der kaiserlichen Familie auf das Beste beherrschen.«

Die Gräfin Fuchs beherrschte meisterlich die Kunst, mich vom Thema abzubringen. Dieses Mal indes hatte sie keinen Erfolg. Dazu lag mir das Problem zu sehr am Herzen.

»Der ganze Hof redet darüber, wen ich einmal heiraten soll, warum darf ich selbst nicht auch darüber sprechen?«

»Es bringt Sie auf dumme Gedanken, Therese.«

In der Tat. Gedanken, die nach Lothringen wanderten. Sie wusste es sicher, denn sie hatte mir erst neulich eine Predigt darüber gehalten, dass es sich nicht gehörte, ständig den Namen des jungen Herzogs im Munde zu führen.

»Die Leute sagen, der Papa sieht in Franz Stephan den Sohn, den ihm die Mama nicht schenken konnte,« wiederholte ich hartnäckig den erlauschten Hoftratsch. »Wenn Franz mich heiratet, kann er Papas Sohn und der nächste Kaiser werden. Deswegen muss er endlich wieder nach Wien kommen. Er ist schon viel zu lange fort. Das Reich braucht seinen Erben.«

»Das Kaiserreich hat eine Erbin«, erwiderte die Gräfin ungerührt. »Schließlich gibt es seit 1713 die Pragmatische Sanktion. Wenn der Kaiser ohne Sohn stirbt, was der Himmel verhüten möge, dann folgt ihm seine älteste Tochter auf den Thron. Wie das allerdings möglich sein soll, wenn die immer nur dumme Träume im Kopf hat, statt ihre Lektionen zu studieren, wie es einer Erbtochter geziemt …«

»Ich bin doch schon fertig damit, Mami Fuchs.« Ich deutete auf die Blätter, die kreuz und quer auf dem kleinen Sekretär lagen, weil ich beim Hin- und Hergehen mit meinen weiten Röcken so viel Wind gemacht hatte, dass sie immer wieder aufflogen. »Das habe ich heute früh geschrieben, weil ich nicht mehr schlafen konnte. Und als ich fertig war, habe ich noch diesen Brief …«

Das vielfach gefaltete, versiegelte Papier, das ich aus den Falten meines Rockes zum Vorschein brachte, entlockte der Gräfin ein Seufzen.

»Wenn Sie es dem Lothringer Gesandten, Monsieur Jacquemin, für den Herzog anvertrauen würden, liebste Fuchsin?«

»Ich weiß nicht, ob das gut ist«, entgegnete meine Aja zweifelnd, aber sie griff nach dem Schreiben.

»Es ist gut, denn er kommt wieder«, entgegnete ich trotzig. »Er hat es mir versprochen, und der Papa hat ihn doch extra für mich ausgesucht.«

»Vielleicht sieht der Kaiser das inzwischen anders, Therese. Ich würde …«

»Maestro Wagenseil ist zur Musikstunde eingetroffen.« Ihre Kaiserliche Hoheit, Erzherzogin Maria Anna, kam ins Zimmer gehüpft und unterbrach das Gespräch, das sich ohnehin nur im Kreise drehte. Sie war ein Jahr jünger als ich und nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin. »Wenn du deine Arie bis zu Papas Namenstag kunstfertig vortragen willst, dann solltest du ihn nicht warten lassen, Therese. Gestern hast du im Mittelteil noch gepatzt«, mahnte sie.

Für den 4. November 1730 war eine Aufführung der Kantate »Germania il di che spende sagro all Augusto nome« angesetzt, und ich sollte meine erste große Arie darin singen. Ich versicherte mich mit einem schnellen Blick, dass meine Aja den Brief vor Maria Annas neugierigen Augen versteckt hielt, und folgte meiner Schwester eilig ins Musikzimmer. Die italienischen Lieder und Arien, die augenblicklich so modern waren, gaben mir Gelegenheit, meine verborgenen Gefühle auszuleben, und schon deswegen wollte ich keine Minute des Unterrichts versäumen.

Dennoch kam mir dieses babylonische Durcheinander der vielen Sprachen, das unseren Alltag bestimmte, oft ein wenig seltsam vor. Die offizielle Sprache des Hofes war Französisch. Das Hofzeremoniell bediente sich des Spanischen. Musik, Dichtung und Lieder kamen fast ausschließlich auf Italienisch zu uns, und das gemütliche Wiener Deutsch blieb dem engsten Familienkreis vorbehalten. Nur hier nannte mich der Kaiser Reserl und meine Mutter, die Kaiserin Elisabeth Christine, Liesl. Wenn er ganz lieb zu ihr sein wollte und annahm, dass es niemand von uns hörte, sagte er sogar »meine weiße Liesl«. Vielleicht, weil das ungepuderte Haar meiner Mutter in schönstem Silberblond glänzte und ihre Haut, besonders ihre Hände, wunderbar hell, geradezu alabasterweiß schimmerte.

Wie alle Welt bewunderte auch ich die Kaiserin. In meinen Augen war sie sogar die einzig richtige Kaiserin, denn zurzeit gab es noch zwei Frauen, denen dieser Titel zustand: meine Tante Wilhelmine, die Witwe Kaiser Josephs, dem Bruder meines Vaters, der an Blattern verstorben war, und meine Großmutter, Kaiserin Eleonore, die Mutter der beiden Brüder. Tante Wilhelmine hatte sich jedoch, zu unserer heimlichen Erleichterung, im vergangenen Jahr in ein Kloster zurückgezogen. Niemand trauerte ihr nach, denn sie war sogar für einen christlich frommen Hof ein wenig zu fromm gewesen.

Mama war der Stern dieses Hofes, der die Kaiserschwestern, die Ehrendamen und die Aristokratinnen des Hochadels überstrahlte. Sie brachte zudem das Kunststück zuwege, die verzwickte Etikette der Rangfolge all dieser Damen ebenso elegant zu meistern wie die düsteren Stimmungen meines Vaters. An der Kaiserin, die auch Mami Fuchs als meine Aja bestimmt hatte, führte kein Weg vorbei. Sie beherrschte den Wiener Hof und das Leben ihrer Töchter.

»Konzentration, Kaiserliche Hoheit«, mahnte Maestro Wagenseil, dem nicht entging, dass ich mit meinen Gedanken überall, nur nicht bei meinem Vortrag war. »Auch ein vortreffliches Talent wie das Ihre bedarf der Disziplin und der Schulung.«

Beschämt senkte ich den Kopf. Er hatte zwar »Kaiserliche Hoheit« gesagt, aber vermutlich »dummes Ding« gemeint. Dabei strengte ich mich im Musikunterricht mehr an als in den Geschichtslektionen, beim Sprachunterricht oder bei den Vorträgen über Kirchengeschichte. Sogar mehr als in den Tanz- und Zeichenstunden, die ich gleich danach am meisten schätzte. Ich hatte in der Tat sehr wenig Zeit, mich mit der Sehnsucht nach einem jungen Herzog zu beschäftigen.

Glücklicherweise hatte ich infolgedessen auch kaum Gelegenheit, über die Gerüchte nachzugrübeln, die mich wahlweise mit einem spanischen Bourbonen, einem Bayern oder einem Sachsen verheirateten. Die Sorge lauerte gleichwohl ständig am Rande meines Bewusstseins, und ich vertraute mich meiner Mutter an, als ganz Wien darüber sprach, dass der hochverehrte Prinz Eugen, der große österreichische Feldherr, in aller Öffentlichkeit gegen eine mögliche Verbindung mit Lothringen gewettert hatte.

»Stimmt es, dass er verlangt, dass ich einen deutschen Fürsten heirate, Mama?«, erkundigte ich mich nervös. »Die in Frage kommen, sind doch alle so viel jünger als ich. Richtige Kinder.«

»Du bist auch ein Kind«, entgegnete die Kaiserin sanft und zauste an der sorgsam gedrehten Locke, die aus den aufgesteckten Haaren über meine Schulter fiel. »Du bist unsere Tochter und nicht die von Prinz Eugen. Wenn es einmal so weit sein sollte, dass die Frage deiner Ehe ansteht, werden der Kaiser und ich darüber entscheiden, wer der richtige Mann für dich ist, und nicht ein alter Feldherr, auch wenn er noch so viele Verdienste hat.«

»Was gibt’s da noch zu entscheiden? Hat er nicht den Lothringer …«

»Scht! Schluss damit jetzt«, mahnte die Kaiserin und kehrte zu dem Brief zurück, an dem sie geschrieben hatte, als ich so stürmisch in ihr Kabinett platzte. Sie warf mir einen ebenso schelmischen wie viel sagenden Blick zu, ehe sie die Schreibfeder in das Tintenfass tauchte. »Soll ich einen Gruß von dir anfügen? Ich schreibe gerade an Franz Stephan, um ihm zu seinem Namenstag zu gratulieren.«

Ich spürte, dass es mir erst kalt und dann ganz heiß vor Freude wurde. Mutter war auf meiner Seite! Sie hatte es ohne Worte bestätigt. Ich schluckte. »Sagen Sie ihm, schreiben Sie ihm …« Plötzlich fand ich keine Worte.

»Ich schreibe ihm, dass du ihm ebenfalls gratulierst und dass niemand bei Hofe mehr Anteil an seinem Wohlbefinden nimmt als du. Gefällt dir das?«

Mein heftiges Kopfnicken löste einen weiteren Lockenstrang aus der kunstvollen Frisur, und ein paar Haarnadeln klapperten auf den glänzenden Boden des kaiserlichen Salons in der Hofburg. »Ich danke Ihnen, liebste Mutter«, erinnerte ich mich an meine guten Manieren und sank in eine besonders tiefe Reverenz vor der Kaiserin.

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie einen lächelnden Blick mit Mami Fuchs wechselte, die wie üblich im Hintergrund wartete. Wenigstens lächelte sie wieder. Seit im vergangenen Jahr unsere Schwester Maria Amalia verstorben war, hatte sie viel geweint und dem Himmel in endlosen Rosenkränzen und Sterbemessen ihr Leid geklagt. Obwohl wir alle um die Kleine getrauert hatten, schien ihr Kummer endlos zu sein. Dass ihre jüngste Tochter nur fünf Jahre alt geworden war, hatte sie tief betrübt.

Es machte mich glücklich, dass sie ihre Trauer endlich überwunden hatte und wieder Pläne schmiedete. Pläne, die das Glück ihrer ältesten Tochter sichern sollten? Ein stummes Gebet flog aus meinem Herzen zum Himmel. Gebete konnten schließlich nie schaden.

 

»Meinst du, dass ich ihm gefalle?«

Während ich mich langsam einmal um die eigene Achse drehte, verengte Maria Anna die Augen und ließ sich mit ihrem schwesterlichen Urteil Zeit. Die Feier zu meinem fünfzehnten Geburtstag hatte auch ihr ein wunderbares neues Kleid aus aprikosenfarbenem Zindeltaft beschert. Aber so hübsch es auch war und so üppig sich der blumenbestickte Rock auch wölbte, es konnte sich nicht mit meinem Gewand messen.

Der dunkle metallisch blaue Ton der schweren Seide betonte meine zarte Haut und die hochgesteckten Haare. Auf dem Mieder glänzten gestickte Arabesken aus Goldfäden, und leuchtend weiße Brabanter Spitzen säumten den rechteckigen Ausschnitt und die Ärmel. Das enge Oberteil endete in einer spitzen Taille, und eine Schnur cremig weißer Perlen zierte diese steife Kante, unter der sich der üppig weite Rock bis auf meine Zehenspitzen in den neuen Pantöffelchen bauschte. Weitere Perlenschnüre rafften die Ärmel in Höhe des Ellbogens, sodass die Spitzenmanschetten gleich einem hellen Wasserfall auf die Handgelenke herabrieselten.

Der Spiegel zeigte das zufriedenstellende Bild einer Prinzessin, an der es nicht das kleinste bisschen auszusetzen gab. Oder fand meine Schwester Grund zur Kritik? Sie sagte nichts, sie hatte stumm die Hände vor der Brust gefaltet und betrachtete mich noch immer.

»Ist es zu überladen? Zu pompös?«, erkundigte ich mich zunehmend besorgt, weil mich ihr Schweigen ganz nervös machte.

»Wenn er nicht blind geworden ist bei sich daheim, dann muss er sich einfach in dich verlieben, Reserl«, hauchte Maria Anna endlich bewundernd. »Du siehst wunderhübsch aus.«

Es war das erste, aber nicht das letzte Kompliment dieses Maitages 1732, der mich im Mittelpunkt einer fröhlichen Feier im Jagdschloss von Schönbrunn sah. Erst am Nachmittag freilich ergab sich die Möglichkeit, mit dem einen besonderen Gast zu sprechen, den ich so ersehnt hatte. Der Hof erging sich in den bescheidenen Gärten des Schlosses, die von den Wäldern begrenzt wurden, in denen mein kaiserlicher Vater so gerne jagte. Sein Vorgänger hatte damit begonnen, das alte Jagdhaus in ein repräsentatives Sommerschloss umzuwandeln, und seine Witwe, Kaiserin Wilhelmine, hatte es dem Kaiser überlassen. Jetzt nutzte er es für Jagdausflüge und um den fünfzehnten Geburtstag seiner ältesten Tochter zu feiern, die eine Vorliebe für Schönbrunn gefasst hatte.

Das lang gestreckte ebenerdige Gebäude mit dem schnurgeraden Dach, das Fischer von Erlach für meinen verstorbenen Onkel entworfen hatte, gefiel mir viel besser als die muffige Hofburg oder das biedere Schloss Favorita. Tief in den Anblick der Fassade versunken, traf mich die ersehnte Stimme dann doch so unerwartet, dass ich mit offenem Mund herumfuhr.

»Ist es erlaubt, meine ganz persönlichen Glückwünsche zu überbringen, Kaiserliche Hoheit?«

»Franz!«

Mit einem schnellen Blick in die Runde registrierte ich, dass sowohl die Gräfin Fuchs wie auch meine anderen Begleiter zurückgeblieben waren. Nur ein kaiserlicher Befehl konnte das bewirken. Obwohl mir das Herz bis hinauf zu den Spitzenrüschen an meinem Ausschnitt flog, versuchte ich mich würdevoll und erwachsen zu geben. Das Kind, das Franz Stephan damals verlassen hatte, war ich nicht mehr. Inzwischen war ich daran gewöhnt, dass man mir schmeichelte. Dummerweise machte er keinen Versuch, ebendas zu tun.

Vor drei Jahren hatten wir uns zum letzten Mal gesehen. Fiel ihm der Unterschied nicht auf? Ich sah sehr wohl, dass der regierende Herzog eines Landes vor mir stand. Ein Kavalier mit der ganzen weltmännischen und diplomatischen Erfahrung, die ihm seine Besuche in Paris, in Berlin und vielen anderen europäischen Residenzen verschafft hatten. Zu meiner ersten Enttäuschung gesellte sich Schüchternheit. Vielleicht gefiel ich ihm gar nicht mehr nach all den Damen, die er an anderen Höfen gesehen hatte? An dieser Stelle meldete sich endlich mein Stolz. Die Erbtochter des Reiches würde nicht um seine Komplimente betteln.

»Erzählen Sie mir von Ihren Reisen, François«, forderte ich ihn mit einem Lächeln auf, das in meinen Mundwinkeln schmerzte, weil ich mich so darum bemühen musste. »Stimmt es, dass Sie den preußischen Kronprinzen zum Freund gewonnen haben?«

»Pardon, Kaiserliche Hoheit?« Franz Stephan blickte drein, als hätte er kein Wort verstanden.

Wie war das möglich? Meine Sprachkenntnisse wurden von allen gerühmt, und ich konnte mich in Französisch sogar flüssiger ausdrücken als die meisten anderen Damen des Kaiserhofes.

»Ich bitte um Nachsicht, Kaiserliche Hoheit«, setzte er endlich mit einem tiefen Atemzug hinzu. »Ich kann nicht glauben, dass dies meine Therese sein soll, von der ich Abschied genommen habe. Wo ist das kleine Mädchen geblieben, das sein Herz auf der Zunge getragen hat? Das mit gerafften Röcken über Wege und Gänge stürmte und dem der Schabernack in den blauen Augen stand?«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie mich nicht mehr erkennen?«, fragte ich, und in meiner Erleichterung schwang bereits eine gehörige Portion Koketterie. Die Fuchsin hätte mich für diesen Mutwillen gerügt, aber sie hörte mich ja nicht. Sie war irgendwo dort hinten in der Gruppe von Höflingen, die uns mit neugierigen Blicken folgte, aber weit genug entfernt blieb, damit wir nicht belauscht werden konnten.

»Ich habe eine kleine Freundin mit dem Versprechen künftiger Schönheit verlassen und finde beim Heimkommen eine hinreißende Prinzessin«, erwiderte er mit diesem verhängnisvollen Charme, dem ich zeit meines Lebens nie widerstehen konnte.

Was sollte ich antworten? Mit heißen Wangen starrte ich auf die geschnittene Buchsbaumhecke neben ihm und roch das würzige Aroma der grünen Blätter, die sich der Maisonne entgegenreckten. Es war leichter, mit seinem Miniaturbildnis zu plaudern, das ich mit Erlaubnis meines Herrn Vaters seit kurzem in meinen Gemächern aufbewahren durfte. Das Bild blieb stumm, was immer ich zu ihm sagte. Das Original hingegen entpuppte sich als dermaßen aufregend, dass ich Angst hatte, dummes Zeug zu schwatzen.

»Ist es denn ein Heimkommen, Königliche Hoheit? Wissen Sie überhaupt noch, wo Sie daheim sind, bei all Ihren Reisen?«, flüsterte ich endlich, meinen ganzen Mut zusammennehmend.

»Wie können Sie das fragen, Therese?«, forschte er.

»Ich habe wenig von Ihnen gehört, solange Sie in Berlin und in Schlesien waren und mit Friedrich von Preußen konferiert haben«, rutschte es mir vorwurfsvoller heraus, als ich es beabsichtigt hatte. »Ich vernehme auch, dass Sie mit Prinz Eugen ausführlicher korrespondieren als mit einer dummen Prinzessin, die begierig auf ein Lebenszeichen von Ihnen wartet.«

Der greise Feldherr des Kaisers hatte dem Lothringer jede Menge politischer Ratschläge mit nach Preußen auf den Weg gegeben. Bei Hof tuschelte man darüber, dass es Franz gelungen sei, Friedrich auf die Sache des Kaisers einzuschwören. Mein Vater suchte Verbündete gegen das immer mächtiger werdende Frankreich, und sein Ziehsohn hatte den Botschafter für ihn gespielt. Nach meinem Geburtstagsfest sollte er schon wieder davonreisen. Dieses Mal nach Pressburg, um das ehrenvolle Amt eines Statthalters in Ungarn anzutreten, während in Lothringen seine Mutter, die verwitwete Herzogin Elisabeth Charlotte, eine geborene Prinzessin von Orléans, für ihn regierte. Davon, dass er irgendwann auch der Schwiegersohn des Kaisers werden sollte, war indes nicht mehr die Rede.

»Seien Sie versichert, dass es nicht an mir liegt, Therese«, bestätigte der Herzog meine schlimmen Befürchtungen. »Ginge es nach meinem Herzen, Sie würden jeden Tag eine wahre Epistel von mir bekommen. Aber Sie wissen, dass ich es nicht wagen kann, den Kaiser zu verärgern. Er hat mich um Geduld gebeten, und ich habe ihn meines Gehorsams versichert.«

»Und was versichern Sie mir?«

Ich beherrschte sie nicht, jene gewundene Sprache der Diplomatie, die er so geschickt verwendete. Ich konnte nur klare Fragen stellen. Ich war auch noch zu ahnungslos, um an diesem Tage zu begreifen, dass die schwindende Hoffnung des Kaisers auf einen Thronfolger mein eigenes Schicksal bestimmte. All die Kuren, deren sich Mama unterzogen hatte, um einen Sohn zu gebären, hatten mittlerweile ihre Gesundheit unterhöhlt. Inzwischen rechnete kaum jemand damit, dass sie je wieder ein Kind zur Welt bringen würde.

Ich selbst dachte nicht an solche Dinge. Mein Papa würde noch viele Jahre leben und regieren. Er war mir viel zu lieb, als dass ich einen Gedanken an seinen Tod oder gar an das Erbe verschwendet hätte, das nach diesem Tod auf mich wartete.

Für mich zählte in diesem Moment ausschließlich, dass ich in den sommerblauen Augen des jungen Herzogs ein Feuer entdeckte, das die Luft um mich herum mit Magie auflud. Dass er mich zum ersten Mal als Frau wahrnahm und nicht als kleines Mädchen.

»Ich träume von dem Tag, an dem ich Ihnen alles sagen darf, was ich fühle«, raunte er in ungewohnter Eindringlichkeit. »Ich habe mein Wort gegeben, Sie nicht zu bedrängen, Therese. Aber Sie sollen wissen, dass es keinen Menschen auf dieser Welt gibt, dessen Glück mir mehr am Herzen liegt als das Ihre.«

Ich schwankte zwischen verlegener Scheu und Wonne, zwischen Ungeduld und Zuversicht. Ich akzeptierte, dass er nicht mehr sagen konnte, dennoch hätte ich zu gerne mehr gehört. Im Angesicht des Hofes und der Etikette blieben uns nur Blicke, ein scheuer Händedruck und sehr viel Hoffnung.

In der folgenden Zeit musste ich oft an diese eine kostbare Begegnung denken. Schon im nächsten Jahr brach der Krieg um die Erbfolge in Polen aus. Nach dem Tod des zweiten August machten sich Österreich und Russland für August den III. von Sachsen als neuen polnischen König stark, während sich Frankreich und Spanien verbündeten, um den polnischen Adeligen Stanislaus Leszczynski auf den Thron zu bringen, der auch die Mehrheit des polnischen Adels hinter sich vereinen konnte. Die Polen wollten keinen sächsischen König, aber das Volk hatte am wenigsten zu bestimmen.

»Es geht nicht allein um Polen, Prinzessin«, erklärte mir der Hofbibliothekar Spannagel geduldig die komplizierten Zusammenhänge. »Frankreich würde sich zu gerne weiter nach Osten ausbreiten, und Spanien hofft auf mehr Macht und Einfluss in Italien. Ihr kaiserlicher Vater hingegen muss unbedingt seinen Einfluss im Osten erhalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass Frankreich nicht seine gierigen Finger nach Lothringen ausstreckt.«

Das Stichwort Lothringen sorgte dafür, dass ich meinen Lektionen erheblich aufmerksamer als sonst folgte. Franz Stephan war noch immer in Ungarn und mühte sich in Pressburg, die wirren Gegebenheiten eines Königreiches zu regeln, dessen Amtssprache Latein war, weil kaum ein Mensch in Wien das seltsame unverständliche Ungarisch sprach.

Im Vertrauen hatte er mir allerdings lachend gestanden, dass sein Latein ebenfalls zu wünschen übrig ließ. Er hatte viele seiner Unterrichtsstunden versäumt, weil er lieber mit dem Kaiser zur Jagd geritten war. Ich konnte es ihm nicht verdenken, auch ich sehnte mich nach frischer Luft und Bewegung, während Spannagel über die Pragmatische Sanktion sprach, die meinen Erbanspruch auf das Kaiserreich regelte. Die meisten unserer Nachbarn und Verbündeten hatten sie anerkannt, wenn auch zu den unterschiedlichsten Bedingungen.

Die Ereignisse bestätigten die Befürchtungen meines Lehrers. Frankreich marschierte in Lothringen ein und zwang Franz Stephans Mutter zur Flucht. Gleichzeitig brachten die Spanier Sizilien und Neapel unter ihre Gewalt, sodass sich mein Vater 1735 zu Friedensverhandlungen gezwungen sah. Das Ergebnis dieser Beratungen beeinflusste auch mein Leben. Der König von Frankreich stimmte zwar zu, dass der Sachse die polnische Krone bekam, aber als Ausgleich für sein Entgegenkommen forderte er das Herzogtum Lothringen.

Die Schacherei um Länder und Kronen endete damit, dass Leszczynski Polen aufgab und dafür das Herzogtum Lothringen bis zu seinem Tode erhielt. Danach würde es an den fünfzehnten Ludwig von Frankreich fallen, der klugerweise die Tochter des Herrn Leszczynski geheiratet hatte. Franz Stephan von Lothringen hingegen wurde mit dem Titel eines Großherzogs der Toskana entschädigt. Dort regierte augenblicklich Gian Gastone, der letzte Medici, ein kranker Fürst, dessen Leben sich dem Ende zuneigte. Wie konnten sie nur glauben, dass Franz seine Heimat so einfach für die Toskana aufgeben würde?

»Nie und nimmer«, wagte ich meiner Mutter zu widersprechen, als sie mir von diesem Kuhhandel berichtete, denn anders konnte ich ihn kaum bezeichnen. »Er ist mit Leib und Seele Lothringer, das wissen Sie, Mama. Man kann ihn doch nicht einfach in einen Italiener verwandeln. Das darf der Kaiser nicht zulassen.«

»Der Kaiser hat keine andere Wahl, Therese«, erklärte sie gelassen. »Die spanischen Bourbonen sind jetzt die Herren in Neapel und Sizilien. Wir müssen froh sein, dass sie sich damit zufrieden geben und wir Mailand behalten können. Die neuen Herzogtümer Parma und Piacenza sind kein sonderlicher Gewinn, aber Frankreich hat in diesem Friedensvertrag endlich zugesagt, die Pragmatische Sanktion zu billigen. Es geht um die Zukunft des Reiches, und nicht um unsere Wünsche.«

»Und François, was sagt er dazu?«, forschte ich bang.

»Der Sekretär der Geheimen Österreichischen Staatskonferenz, der Freiherr von Bartenstein, spricht mit ihm. Ich nehme an, dass er ihm die Dinge so darlegen kann, dass er die Verzichtserklärung für Lothringen in Kürze unterschreibt«, erwiderte die Kaiserin.

Aber sie täuschte sich. Der Hof summte von Gerüchten. Franz Stephan, der aus Pressburg nach Wien zitiert worden war, weigere sich, auf sein Herzogtum zu verzichten, raunte man allenthalben. Seine Mutter bestürme ihn in leidenschaftlichen Briefen, sich und seiner Familie nicht selbst die Kehle durchzuschneiden. Meine Schwester Maria Anna trug mir den Hofklatsch zu, denn sie scheute sich im Gegensatz zu mir nicht, neugierige Fragen zu stellen.

»Der Herr von Bartenstein hat den Franz Stephan angeblich unter Druck gesetzt und seine Entscheidung mit deiner Person verbunden«, berichtete sie mir entrüstet. »›Kein Verzicht auf Lothringen – keine Erzherzogin!‹, soll er gesagt haben. Aber trotzdem hat der Franz immer noch nicht unterschrieben.«

Wie sollte ich meinem liebsten Lothringer das übel nehmen? Wie konnte man ihn vor eine so schreckliche Wahl stellen? Liebe oder Heimat? Heirat oder Verrat? Kein Mensch sollte eine solche Entscheidung treffen müssen.

»Die Herzogin ist aus Lunéville nach Frankreich geflohen und schickt täglich neue Eilkuriere«, tuschelte Maria Anna weiter, ohne mein Entsetzen zu beachten. »Sie beschwört ihn, sein Erbe nicht aufzugeben, weil er sonst zum Kostgänger Österreichs wird. Keinen Fußbreit lothringischen Bodens soll er abtreten, sondern standhaft bleiben, sonst ist er nicht mehr ihr Sohn, sondern ein Verräter.«

»Woher weißt du nur all diese Dinge?«

Meine Schwester zuckte mit den Achseln. »In der Hofburg gibt es keine Geheimnisse.«

»Und was meinst du, was wird er tun?«, fragte ich heiser.

Maria Anna war meine einzige wahre Vertraute in dieser wichtigen Angelegenheit, denn auch meine Mama und die Gräfin Fuchs verdächtigte ich, dass sie mir nicht alles erzählten, was sie wussten. Sicher aus dem verständlichen Wunsch heraus, mich nicht aufzuregen, aber sie begriffen leider nicht, dass mir jede begründete Sorge lieber gewesen wäre als dieses schreckliche Gefühl, dass alles über meinen Kopf hinweg entschieden wurde.

»Du musst keine Angst haben.« Meine Schwester las meine Gedanken. »Der Franz lässt dich nicht im Stich. Er mag dich, er entscheidet sich gewiss für dich.«

Mit ganzem Herzen hoffte ich, dass sie Recht behalten würde. Allerdings wünschte ich mir auch, dass Franz seine Entscheidung aus freiem Willen treffen konnte und nicht, weil ihn der Herr von Bartenstein aus politischen Gründen unter Druck setzte.

»Ich bin kein Handelsobjekt!«, beschwerte ich mich bei der Gräfin Fuchs.

»Aber eine Habsburger Erbtochter«, erinnerte meine Aja gelassen.

»Es ist demütigend, was sie mit ihm machen«, murmelte ich schon wesentlich weniger streitsüchtig. »Wenn er auf Lothringen verzichtet, werden alle sagen, er hat’s verkauft, um mich zu bekommen. Wenn er nicht verzichtet …, du lieber Himmel, dann weiß ich nicht, was ich tun soll! Ich habe ihn so schrecklich lieb! Aber ich kann nicht verlangen, dass er seine Heimat gegen eine Erzherzogin eintauscht! Das ist unwürdig und falsch.«

»Das ist Politik, Therese«, erwiderte meine Kinderfrau, und dass sie Recht hatte, machte die Sache nicht besser.

Ich suchte den Rat des Himmels, aber alle meine Gebete schienen nichts zu nützen. Der Herr von Bartenstein, der mir schon damals uralt vorkam, trug unter seiner Perücke eine Miene so finster wie ein Sommergewitter mit sich herum. Der Kaiser ging auf die Jagd, damit er keine Fragen beantworten musste. Schon gar nicht die seiner Tochter. Meine Gefährtinnen, die sich aus den ersten Familien des Kaiserreiches zusammensetzten, verbargen ihr Mitleid hinter aufgesetzter Fröhlichkeit.

Das Ärgste war jedoch ein Gespräch, das ich zufällig aufschnappte, als ich an der offenen Tür des Spielzimmers vorbeiging. Meine Mutter und ihre Hofdamen debattierten natürlich auch diese wichtige Unterschrift.

»Er hat ein gutes Herz«, hörte ich die Kaiserin sagen. »Am Ende wird er unterschreiben. Heimatliebe hin oder her, er wird die Therese nicht aufgeben. Er weiß, wie zärtlich sie ihm ergeben ist. Sie hat ihn vom ersten Sehen an ins Herz geschlossen. Sie ist immerhin die Erbtochter und die begehrenswerteste Partie in ganz Europa, eine solche Prinzessin schlägt man nicht aus närrischer Sentimentalität aus.«

Das ging zu weit! Mein Stolz ließ nicht zu, dass sie wie Krämer mit meinen Gefühlen handelten. Ich sehnte mich nach der Liebe des Lothringers, nicht nach seiner Nächstenliebe. Entrüstet eilte ich zur Gräfin Fuchs.

»Ich muss ihn sehen!«, beschwor ich sie. »Auch wenn es gegen alle höfischen Sitten ist. «

»Ist das klug?«, wandte sie ein, ohne mir in der Sache zu widersprechen. Sie kannte mich. Sie wusste, wann ich einen Entschluss gefasst hatte, den ich nicht aufgeben würde.

»Es ist wichtig! Und das, was ich ihm sagen muss, kann ich nur unter vier Augen tun. Es muss schnell geschehen, noch ehe er etwas unterschreibt, das er danach bereut.«

Meine Kinderfrau seufzte, und ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Sosehr ich Mami Fuchs schätzte und respektierte, in den vergangenen Jahren hatte ich gelernt, auch bei ihr meinen Kopf durchzusetzen, wenn es nötig war.

Ob sie wusste, wie viel Angst ich vor diesem Gespräch hatte, das mir gleichzeitig so am Herzen lag? Als ich Franz Stephan von Lothringen im herbstlich leeren Schlosspark der Favorita gegenüberstand, fiel es mir schwer, den heldenhaften Plan auszuführen, der mich hierher getrieben hatte. Der kühle Novemberwind trieb ein paar raschelnde Blätter an uns vorbei, und die Umrisse der Meierhöfe hinter den Wiesen, die das Sommerschloss des Kaisers umgaben, verschwammen im aufsteigenden Nebel.

Wir achteten nicht darauf. Jeder suchte im Blick des anderen nach einer Antwort auf die eigenen Fragen. Wir waren ernst und uns darüber bewusst, dass dieses Treffen gefährlich war. Beide wollten wir den Skandal vermeiden, der unweigerlich ausbrach, wenn bekannt werden sollte, dass wir uns heimlich hinter dem Rücken des Kaisers getroffen hatten.

»Ich wollte Ihnen sagen, dass Sie mir nichts schulden, François, was immer der Hof auch behauptet«, stürzte ich mich ohne jede Vorbereitung in meine Ankündigung. Ich wählte das offizielle Französisch und nicht das weiche Wienerisch, das er so gut verstand und selbst mit so hinreißendem Akzent sprach. »Sie müssen nicht wegen mir auf Ihre Heimat verzichten. Es ist schrecklich, was man von Ihnen verlangt, und ich will nicht, dass Sie glauben …«

»Durchlauchtigste Erzherzogin«, unterbrach er meinen Wortschwall mit meinem offiziellen Titel und fasste nach meinen Händen. »Liebste Therese«, fügte er sehr viel zärtlicher hinzu. »Wie wunderschön Sie aussehen. Ich brauche keine Sonne, wenn ich in diese strahlenden Augen blicken kann.«

»Ich bin nicht gekommen, um nach Komplimenten zu heischen«, widersprach ich, obwohl meine Stimme ein wenig zitterte. Wenn er mich so ansah, fiel es mir schwer zu denken und zu sprechen. Mein beherzter Vorsatz, meine Liebe zu opfern, geriet in Gefahr. »Es geht um diese Verzichtserklärung, die man Sie unterschreiben heißt. Um Lothringen …«

»Mein armes Lothringen«, entgegnete er ernst. »Ein kleines Land als Puffer zwischen machtgierigen Großmächten. Es ist auf jeden Fall verloren, wie auch immer ich mich entscheide. Ich kann es nicht halten, wenn der König von Frankreich seine Macht daransetzt, es zu bekommen. Und er wird es auch nicht aufgrund einer Verwandtschaft wieder freigeben, die nur meine Mutter achtet.«

»So werden Sie unterschreiben?«, fragte ich tonlos.

»Dem Realisten in mir wird am Ende nichts anderes übrig bleiben«, gestand er ein. »Ich wusste es von Anfang an. Allerdings missfällt mir die Selbstverständlichkeit, mit der alle erwarten, dass ich leichten Herzens meine Heimat gegen ein Stück Toskana eintausche.«

Ich sah auf unsere verschlungenen Hände hinab. Die meinen weiß und zart, die seinen kräftig vom Gebrauch des Zügels und des Degens. Er war ein Meister sowohl im Reiten wie auch im Tanzen und Fechten, ganz zu schweigen von der Jagd, die er unter der Ägide des Kaisers erlernt hatte. Alle Damen des Hofes schwärmten für ihn, und manchmal bekam ich es mit der Angst zu tun, denn viele dieser Damen waren ebenso jung wie ich und manche sogar schöner. Was hatte er für einen Grund, ausgerechnet mich zu wählen?

»Sie müssen nicht meinethalben zustimmen«, sagte ich. »Ich kann verstehen, dass Ihr Stolz unter dem Bartenstein und seinen Forderungen leidet.«

»Der Herr von Bartenstein tut nur, was der Kaiser ihm befiehlt, Therese. Und dem wiederum bleibt ebenfalls keine Wahl. Der Kaiser kann den Krieg nicht weiterführen. Es fehlt ihm nicht nur an tüchtigen Soldaten und Generälen, es mangelt auch an den nötigen Finanzen, sie zu bezahlen. Der sechste Karl von Habsburg muss darauf achten, dass er nicht noch wichtigere Pfeiler seiner Macht verliert als nur ein paar italienische Provinzen oder seinen Einfluss in Lothringen. Das ganze Reich ist in Gefahr und braucht dringend Frieden. Ich schulde ihm Gehorsam und Loyalität, es geht nicht an, ihm in den Rücken zu fallen.«

Den Gehorsam eines Sohnes? Die Frage drängte sich auf meine Lippen, aber ich schluckte sie tapfer hinunter. »Dann werden Sie also in Wien bleiben? Für immer? Schließlich lebt der Medici noch …«, wagte ich stattdessen zu erkunden.

»Wünschen Sie das denn, Therese?«

»Wie können Sie das fragen?«, protestierte ich temperamentvoll. »Sie wissen, dass ich nichts sehnlicher wünsche, seit Sie auf Reisen gegangen sind und uns verlassen haben.«

»Damals habe ich von einem bezaubernden Kind Abschied genommen«, sagte er leise und zog mich nahe zu sich heran. »Inzwischen ist das kleine Mädchen erwachsen geworden. Es ist eine wichtige Schachfigur im Spiel der Mächte und eine junge Frau, die das Recht hat, selbst über ihr Herz zu bestimmen, egal, was die Politik auch sagt.«

»Sie wissen, was mein Herz will, François«, erwiderte ich mit heiserer Stimme.

»Und die anderen Kandidaten? Der spanische Thronfolger? Der bayerische Kurprinz oder gar einer von den Sachsen?«, zählte er so gewissenhaft auf, als habe ihn Prinz Eugen von Savoyen persönlich instruiert, die kaiserliche Erbtochter an ihre Pflichten zu erinnern.

»Mein Herz gehört dem Lothringer«, machte ich dem Spiel kurz und knapp ein Ende.

»Und meines der durchlauchtigsten Erzherzogin«, erwiderte er ruhig. Im ersten Augenblick begriff ich gar nicht, dass er die Worte gesagt hatte, die ich seit undenklichen Zeiten von ihm hören wollte. Bis mein Kopf und mein Herz das Wunder verarbeitet hatten, lag ich schon in seinen Armen.

Inzwischen waren wir fast gleich groß, und er musste sich gar nicht so weit hinunterbeugen, um mich zu küssen. Die Hälfte des Wegs kam ich ihm entgegen, ungeschickt und eifrig darauf bedacht, nur ja keinen Herzschlag dieses Augenblicks zu verpassen. Was zur Folge hatte, dass wir mit den Nasen unsanft zusammenstießen und wieder auseinander fuhren. Das gemeinsame Lachen vertrieb meine Befangenheit.

»Meine stürmische Therèse«, scherzte er. Dann vernahm ich nur noch das Wallen meines Blutes, das er mit einem Kuss in Brand setzte.

»Schwör mir, dass du immer nur mich lieben wirst«, verlangte ich, als ich endlich wieder atmen konnte. »Dass du auf mich warten wirst, egal, wie lang es dauert, bis der Kaiser endlich unserer Heirat zustimmt!«

»Mon dieu, du kannst genauso gut befehlen, wie du küssen kannst«, lachte Franz Stephan. Dann jedoch nahm er meine Rechte und legte sie in Höhe seines Herzens auf den elegant geschnittenen Justeaucorps, den er gegen die Unbilden der Witterung über der bestickten Weste geknöpft trug. »Spürst du, wie es schlägt?«, fragte er eindringlich. »Es schlägt nur für dich. Es gehört der Erzherzogin Maria Theresia von Österreich.«

Da es mich zugleich heiß und kalt überlief, entging mir, dass dies nicht der Treueschwur für alle Zeiten war, den ich von ihm gefordert hatte. Erst viel später sollte ich daran denken. Aber auch das Wissen um die Probleme der Zukunft hätte damals nichts an meinem Entschluss geändert.

 

»Warum geschieht nichts?«

Ich bekam keine Antwort. Weder die Gräfin Fuchs noch meine kaiserliche Mutter machten sich inzwischen die Mühe, auf meine ständig wiederholte Frage zu reagieren. Sie waren ganz mit den Einzelheiten der großen Hofgesellschaft beschäftigt, die zur Feier des bevorstehenden Weihnachtsfestes stattfinden würde und die anlässlich des neuen Friedens besonders prächtig ausfallen sollte. Ein Fest wie dazu geschaffen, meine Verlobung zu verkünden, aber niemand außer mir schien diese Gelegenheit zu sehen.

Wochen der quälendsten Unsicherheit lagen hinter mir. Der Herzog von Lothringen war nach Pressburg zu seinen Ungarn zurückgekehrt, und wenn ich von ihm hörte, dann nur über andere. Das winzige Billett, das mir Mami Fuchs erst vor ein paar Tagen von ihm überreicht hatte, war so förmlich gehalten gewesen, dass ich in enttäuschte Tränen ausbrach. Meine Aja musste mich energisch darauf hinweisen, dass es von höchstem Charakter zeugte, dass er mich nicht zu kompromittieren versuchte.

Bekümmert starrte ich aus dem Fenster. Die schneebestäubten Dächer der Stadt Wien und die Befestigungen der Burg verschwanden im Zwielicht des Rauchs aus zahllosen Kaminen. Auch die Feuerstellen der Hofburg trugen das Ihre dazu bei, denn die kaiserlichen Ofenheizer hatten in diesen Tagen eine Menge zu tun, all die Kachelöfen unserer Gemächer vom Heizgang aus mit Buchenscheiten zu befeuern. Die Kaiserin wollte es warm haben, denn sie fröstelte ständig. Nur ich hätte am liebsten die Fenster aufgerissen und mein Gesicht hinaus in die kühle Dezemberluft gehalten. Die Mischung aus überheizten Räumen und eisig zugigen Gängen irritierte mich mehr denn je zuvor.

Die Scheibe beschlug unter meinem Atem, als hinter mir eine Tür geöffnet wurde und ich den raschelnden Röcken entnahm, dass der Kaiser persönlich seiner Gemahlin und ihren Damen die Ehre gab. Das spanische Hofzeremoniell, auf das mein Vater nicht verzichten wollte, schrieb für jedes Mitglied der kaiserlichen Familie eine feierliche Reverenz mit Kniefall vor. Im Privaten verzichteten wir darauf, aber Mami Fuchs musste sich natürlich dieser Höflichkeit ebenso unterziehen wie die Obersthofmeisterin und die Hofdamen meiner Mutter. Auch ich knickste vor meinem Vater, denn er kam mit feierlichem Ernst so schnurstracks auf mich zu, als gelte dieser Besuch allein mir.

»Also blasen wir wieder Trübsal, mein Fräulein«, sagte der Kaiser tadelnd, nachdem er meine Miene begutachtet und seine Schlüsse daraus gezogen hatte.

Halb trotzig, halb schuldbewusst drückte ich die Schultern durch und schwieg. Lag es denn an mir, dass mir das Lachen in diesen Wochen so schwer fiel? Dass mir der Appetit verging und ich nachts nicht schlafen konnte, weil mir viel zu vieles durch den Kopf schoss? Und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es keineswegs die Dinge waren, die in der Geheimen Ratskonferenz debattiert wurden, an der ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr teilnehmen durfte.

Wenngleich mein Vater nie über Themen, die dort beredet wurden, mit mir sprach oder mir gar erlaubte, Fragen zu stellen, war ich mir bewusst, dass es auf der Geheimen Ratskonferenz um Entscheidungen von höchster Wichtigkeit ging. Die ehrwürdigen Herren, die mit dem Kaiser tagten, nahmen meine Anwesenheit kaum zur Kenntnis. Für sie war ich eine Puppe, eine Schachfigur, die davon kündete, dass es eine Zukunft für das Reich gab. Dummerweise raubte mir nicht die Zukunft des Kaiserreiches, sondern meine eigene den Schlaf.

»Lassen Sie uns allein, meine Damen«, befahl der Kaiser nach langem bedeutungsvollen Schweigen. Er wanderte mit im Rücken aufeinander gelegten Handflächen im Zimmer auf und ab, bis sich auch die letzte Hofdame verabschiedet hatte und nur noch meine kaiserliche Mutter zu meiner Unterstützung übrig blieb.

Unter halb gesenkten Lidern beobachtete ich besorgt meinen Vater. Er trug das spanische Mantelgewand, auf dessen schwerem schwarzen Stoff goldene Tressen blitzten. Das Kostüm verlieh seiner mittelgroßen Gestalt einschüchternde Majestät. Da stand nicht mein Papa, sondern Kaiser Karl VI. Ohnehin waren seine Züge mit der langen Nase, der ausgeprägten Unterlippe und dem melancholischen Blick nicht dazu angetan, ihn anzulächeln. Wenn er jedoch so gramgebeugt dreinschaute wie in diesem Augenblick, war es angesagt, das eigene Sündenregister einer genauen Prüfung zu unterziehen.

Es gab nur eine große Sünde, mit der ich gegen jede Kindespflicht und jede kaiserliche Vorschrift verstieß. Ich hatte mein Herz heimlich verpfändet, ohne in töchterlichem Gehorsam auf seine Entscheidung zu warten. Konnte er davon erfahren haben? War er gekommen, mich zur Rechenschaft zu ziehen?

Unwillkürlich faltete ich die Hände, halb im Stoßgebet um himmlische Hilfe, halb im Versuch, meine Nervosität zu verbergen. Ich liebte meinen Vater, aber in diesem Augenblick fürchtete ich ihn.

»Nun, Reserl«, begann er jedoch völlig unerwartet im breitesten Wienerisch, sobald wir unter sechs Augen waren. »Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass ich mich entschieden habe. Du wirst im nächsten Jahr heiraten. Aber zuvor musst du unterschreiben, dass du auf alle Erbrechte verzichtest, falls die Kaiserin und ich doch noch einen männlichen Thronfolger bekommen sollten.«

Meine Augen flogen zu meiner Mutter, die es auch nach so vielen Jahren Ehe fertig brachte, bei dieser Anspielung auf eheliche Intimitäten mädchenhaft zu erröten. Ein einziges Mal hatte sie vor vielen Jahren einen Knaben zur Welt gebracht, aber mein Bruder Leopold war schon nach wenigen Monaten gestorben. Inzwischen war sie vierundvierzig und der Gedanke, dass sie noch einmal ein Kind bekommen würde, sicher mehr Wunsch als Wirklichkeit. Ganz davon abgesehen, dass es um ihre Gesundheit nicht zum Besten stand und sie in den letzten Jahren sehr dick geworden war.