Der Dattelkern - Simone Vajda - E-Book

Der Dattelkern E-Book

Simone Vajda

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Beschreibung

Juli reist nach Tunesien, um ihre Nichte zu suchen, die vom eigenen Vater aus Deutschland entführt wurde. Kurz nach ihrer Ankunft trifft sie den faszinierenden Kasim, der ihr seine Hilfe anbietet. Julis abenteuerliche Reise durch ein exotisches Land beginnt. Sie taucht ein in die fremde Welt des Orients, doch unvermittelt geht es nicht mehr nur um die Suche nach ihrer Nichte, sondern auch um die Liebe.

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Für meine Cousine

Diana

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Prolog

Sein Hass spiegelte sich in seinen Augen.

Carola fühlte eine Angst in sich emporsteigen, sie war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Nur das Schluchzen der zweijährigen Lina im Zimmer nebenan ließ sie nicht hysterisch werden. Ihr Atem ging stoßweise, sie wollte zu ihrer Tochter, doch Nourdin stand wie ein Fels vor der Zimmertür – unverrückbar und bedrohlich.

Lange genug hatte sie gekämpft, jetzt verließen sie ihre Kräfte und damit die Hoffnung, Lina jemals zurückzubekommen.

„Bitte lass mich Lina noch einmal in den Arm nehmen!“, flehte sie. Ein letztes Mal wollte Carola den kindlichen Duft ihrer Tochter einatmen und die zarten Arme um ihren Hals spüren.

Doch in Nourdin war nur eisige Kälte. Sein aggressives Verhalten war abstoßend, von seinem guten Aussehen blieb nicht mehr übrig als eine verzerrte Grimasse. Wie konnte ein Mensch sich so verändern?

Nachgeben wollte sie nicht, fluchend versetzte er ihr einen kräftigen Stoß an die Schultern, so dass sie rücklings gegen die grobe Wand stieß. Carola legte den Kopf zwischen ihre Hände und weinte. Leise, damit Lina sie nicht hörte, das arme Kind hatte schon zu viel mitbekommen. Wie konnte ein Vater nur so herzlos sein? Er war brutal und voller Hass – was hatte sie nur getan – außer ihn zu lieben?

Ihr gemeinsamer Urlaub hatte ein Neuanfang sein sollen nach den vielen Streitereien in letzter Zeit. Niemals hätte sie damit gerechnet, dabei ihr Kind zu verlieren. Carola war froh, als die vier Wochen Urlaub vorbei waren, denn sie hatte sich nicht wohlgefühlt in Tunesien.

Am Rückreisetag hatte ihr Nourdin Pass und Ticket zurückgegeben. Alleine sollte sie nach Deutschland fliegen, dort alles verkaufen und mit dem Geld zurückkommen, denn ab jetzt würden sie in Tunesien leben! Ach ja, und wenn sie das nicht wolle, könne sie ja in Deutschland bleiben und ihm regelmäßig das Kindergeld für Lina schicken.

Es hätte doch einen Weg aus diesem Wahnsinn geben müssen! Doch sie passte nicht mehr in sein Leben.

Wie sollte sie Lina nur alleine zurücklassen? Ein absurder Gedanke! Alles war ihr dort fremd, sogar die Sprache. Und vor ihrem Vater hatte sie mehr Respekt, als es für ein Kind gut war. Um seine Tochter hatte er sich nie sonderlich gekümmert, außer wenn sie etwas nicht richtig machte. Dann hatte er sie beschimpft und gedemütigt.

„Verschwinde endlich, Lina gehört zu mir, es ist mein Kind!“ Nourdin hatte in einem Ton gesprochen, der keinen Widerspruch duldete.

„Wieso tust du uns das an? Wir waren doch einmal glücklich zusammen“, flehte Carola.

Genervt lachte er auf. „Vielleicht warst du glücklich, aber mit dem Kind hast du alles zerstört.“

„Wenn du sie nicht willst, dann lass sie mir.“

„Damit sie wie du ein billiges Flittchen wird? Niemals!“

Grob packte er sie am Arm, zerrte sie Richtung Haustür und stieß sie hinaus, all ihr Flehen und Bitten half nicht.

Carola hörte ein letztes, verzweifeltes „Mama!“, dann fiel die schwere Holztür krachend hinter ihr ins Schloss.

1. Kapitel

Warme, feuchte Luft kam Juli entgegen, als sie das Flugzeug über die Gangway verließ. Diese angenehme Temperatur bereits am frühen Morgen traf sie völlig unvorbereitet. Juli hatte sich nicht damit auseinandergesetzt, wie das Wetter sein würde. Einzig und alleine der Gedanke, ihre Nichte Lina aus dem Land zu bringen, zählte für sie.

Unsanft wurde sie in die Realität zurückgeholt, als Carola, ihre ältere Schwester, sie am Ärmel zog. „Warte, bis alle in den Flughafenbus eingestiegen sind, damit wir an der Tür stehen, so können wir gleich als Erste aussteigen und kommen sofort bei der Zollabfertigung dran. Dann müssen wir dort nicht ewig anstehen.“

„Ob wir jetzt hier oder im Reisebus warten, wird doch egal sein?“

Carola seufzte gereizt. „Ich muss zur Toilette!“ Kurz streifte sie Juli mit ihren Fingern am Arm.

„Caro, du bist ja eiskalt, gehts dir nicht gut?“ Besorgt sah sie in das blasse Gesicht ihrer Schwester.

„Wenn ich die Luft hier rieche, wird mir kotzübel.“

Die Türen des Shuttlebusses schlossen sich, Juli zog Carola ein Stück zurück, damit sie nicht eingeklemmt wurde. Caro schwankte und Juli überlegte, was sie mit ihr machen sollte, falls sie kollabierte. Am besten weiterreden: „So übel riecht es hier nicht. Ich finde, die Luft ist sogar etwas salzig, ist das Meer in der Nähe?“

„Hier riecht nichts gut! Ich hasse das Land, verstehst du!“ Wie häufig in den letzten Tagen war Carola wieder den Tränen nahe.

„Ja, ich versteh dich. Wir bekommen Lina bestimmt zurück“, versuchte Juli sie zu beruhigen.

„Da kennst du Nourdin schlecht. Ihm ist Lina völlig gleichgültig, Hauptsache, er kann mich damit quälen.“

Die Türen öffneten sich und die beiden hetzten zum Zoll.

„Oh, welch schöner Anblick! Machen Sie Urlaub in Monastir?“, wurden sie von einem Zollbeamten begrüßt, der ihre Pässe entgegennahm und eingehend studierte.

„Lassen Sie uns bloß in Ruhe!“, motzte Carola ihn an.

„Caro, sei bitte nicht so unfreundlich, nachher lässt er uns noch die Koffer aufmachen“, flüsterte Juli nah an ihrem Ohr.

Mit einer Hand massierte Carola ihre Schläfen und versuchte ein schiefes Lächeln, dabei sah sie so strahlend aus wie schon lange nicht mehr. „Der Flug war so turbulent, ich bin nur froh, wenn wir endlich in Hammamet ankommen“, sagte sie zu dem Zollbeamten.

„Ihr seid Schwestern?“

„Ja, auch wenn sie …“, Juli zeigte auf Caro, „… blond und blauäugig ist und ich nur dunkelblond und braune Augen habe, sind wir doch Schwestern.“ Es war immer und überall das Gleiche, weil Carola so auffallend hübsch war. Sie lächelte gequält.

„Man sieht es, ihr habt beide dasselbe bezaubernde Lächeln. Ich wünsche euch einen schönen Urlaub!“ Mit einem Augenzwinkern winkte der Zollbeamte Juli und Carola durch.

„Sehen hier alle so gut aus? Ich dachte, Nourdin sei eine Ausnahme.“ Juli drehte sich nach dem Beamten um und wurde unsanft von Carola in die Rippen geboxt. „Aua!“ Sie rieb sich ihre linke Seite.

„Mach das nie wieder, du wirst die sonst nicht mehr los! Die sind lästiger als jede Schmeißfliege! Hast du schon vergessen, was uns Marianne erzählt hat und was wir im Internet gelesen haben?“

Schuldbewusst zuckte Juli mit der Schulter, Marianne war Nourdins Nochfrau und hatte Schreckliches wegen ihm durchgemacht. Als Carola Nourdin vor vier Jahren kennenlernte, hatte er ihr erzählt, dass er in Scheidung lebe, was aber nicht stimmte. Er wollte erst die Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland bekommen und sich dann scheiden lassen. Und als Carola schwanger wurde, wollte Nourdin das Kind zuerst nicht und jetzt nahm er ihr Lina einfach weg. Juli seufzte bei dem Gedanken, wie abgrundtief schlecht Nourdin war. „Du hast ja recht, kommt nicht wieder vor.“

Ihre Koffer kamen ausnahmsweise mal nicht als letzte und die Suche nach dem Bus zum Hotel verlief ohne Probleme. Obwohl die Saison vorbei war, füllte sich der Bus nach und nach mit Urlaubern. Zuletzt stieg die Reiseleiterin ein, gab überfreundliche Hinweise, wie die Fahrt verlaufen würde, und am Schluss wünschte sie allen einen schönen Urlaub und stieg wieder aus, bevor der Bus losfuhr.

Carola setzte sich Kopfhörer auf und schloss ihre Augen. Die Musik war so laut, dass Juli sie hören konnte.

Der Bus verließ das Flughafengelände. Tunesien war nur zweieinhalb Flugstunden von Deutschland entfernt, jedoch war Juli jetzt in einer komplett anderen Welt. Der strahlend blaue Himmel, das sanfte Wiegen der Palmen und dann sah sie das Meer. Ein Anblick, der sie in ihrer Kindheit schon in Entzücken versetzt hatte und sie jetzt magisch anzog, hineinzuspringen. Am liebsten hätte sie Caro angestupst und ihr gezeigt, wie schön die Landschaft sei. Doch Caro zuliebe verbarg sie ihre Aufregung. Auch ihr selbst tat es ja von Herzen weh, wenn sie daran dachte, dass Lina hier irgendwo fern von ihrer Mutter festgehalten wurde. Sie konnte zu gut nachvollziehen, warum Carola das Land so hasste.

Der Bus fuhr rasant an primitiven Dörfern vorbei, die in Kontrast zu den vielen Luxushotels standen. Ihre Schwester hatte ihr Tunesien in den tristesten Farben geschildert, so dass Juli nun von dem Gedanken überrascht wurde, mehr von dem Land entdecken zu wollen.

Im Hotel wurden sie mit einem frisch gepressten Orangensaft begrüßt. Die beiden bekamen ein gemütliches Zimmer mit Meerblick im dritten Stock. Der Garten war voller Palmen und Blumen. Links von ihnen sah man die alten Gemäuer der Medina, dorthin wollte Juli unbedingt mal gehen.

Carola interessierte der Ausblick null, sie versuchte Nourdin zu erreichen, der natürlich nicht an sein Handy ging. „Juli, bleibst du hier, ich gehe zu Nourdins Wohnung, hoffentlich ist er dort.“

„Hm, ich würde lieber an den Strand gehen.“

Kurz überlegte Carola. „Also gut! Entweder treffen wir uns wieder hier im Zimmer oder ich komme kurz an den Strand und sag dir Bescheid, dass ich wieder zurück bin.“ Carola winkte und war am Gehen.

„Viel Glück, Caro, und bring am besten gleich Lina mit!“, rief ihr Juli noch hinterher.

„Das kann ich gebrauchen!“ Schon schloss sich hinter Carola die Tür.

Unschlüssig stand Juli im Zimmer, einerseits war ihre Sehnsucht nach dem Meer verflogen, wenn sie an Lina und das, was ihrer Schwester bevorstand, dachte. Sie mochte nicht in Carolas Haut stecken und jetzt Nourdin gegenübertreten müssen.

Zunächst wollte sie sich aufs Bett legen, um dort abzuwarten, bis ihre Schwester wiederkam, doch das Rauschen der Wellen zog sie magisch an. Wenn sie schon mal hier war, warum sollte sie nur im Zimmer rumsitzen?

-

Die Hitze war unerträglich und ließ den Staub an Kasims schweißnasser Haut kleben. Mit dem Gefühl zu verdursten kam er zu sich. Grelles Sonnenlicht blendete ihn, er kniff seine Augen zu einem Spalt zusammen und versuchte sich zu orientieren. Jeder einzelne Knochen tat ihm weh, jeder Muskel schmerzte, er lag auf einem Geröllhaufen in einer Bauruine. In der Ferne hörte er das sanfte Rauschen des Meeres. Nur wenige Meter vor der Ruine begann der Strand, am liebsten hätte er sich gleich in die Fluten gestürzt. Doch seine schmerzenden Glieder hielten ihn davon ab.

Der linke Ärmel seines einstmals weißen T-Shirts war blutdurchtränkt. Leise fluchte er, seine Stimme klang rau und heiser. Wie war er nur hierhergekommen?

Mit zitternden Fingern zog er aus der hinteren Tasche seiner Jeans eine stark zerbeulte Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug hervor. Bevor er sich überlegen konnte, was er als Nächstes tun sollte, musste er erst einmal eine rauchen.

Gierig zog Kasim an der Zigarette und versuchte dabei vergeblich den Kloß in seinem Hals wegzuräuspern. Nein, die Zigarette schmeckte ihm heute nicht. Doch qualmte er sie zu Ende und sah sich dabei nachdenklich um, als könne er in den alten Mauern die Antwort auf seine Fragen finden. Die Unvollkommenheit der Ruine spiegelte den Zustand seiner Seele wider, denn er empfand sich als genauso zerrüttet wie dieses Gemäuer.

Wie lange hatte er auf diesem Schutthaufen gelegen? Da er nie eine Uhr trug, orientierte er sich am Stand der Sonne. Mit der rechten Hand schützte er seine Augen und sah zum Himmel. Es musste Mittag sein, die Sonne befand sich am höchsten Punkt.

In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Stöhnend fuhr er sich über die Stirn und hätte sich dabei fast seine langen schwarzen Haare mit dem letzten Rest seiner Zigarette angesengt. Ermattet ließ er seinen Arm über den Augen liegen.

Diese Hitze! Warum war es jetzt, Anfang November, noch so heiß? Dringend sollte er in den Schatten, aber sein Körper schmerzte, jede Bewegung tat ihm weh. Vorsichtig setzte er sich auf, ihm wurde schwarz vor Augen, ein Gefühl, als weiche alles Blut aus seinem Körper.

Kasim zog die Beine an, atmete zweimal tief durch und legte den Kopf, geschützt durch die Arme, auf seine Knie. Der Zigarettenstummel fing zwischen seinen Fingern an zu zittern, ärgerlich schnippte er ihn weg. Dann erblickte er die fast leere Boukha-Flasche neben sich. Hatte er den Feigenschnaps etwa alleine getrunken? Dann wunderte ihn nichts mehr!

Als ob die Flasche an seinem Zustand schuld gewesen wäre, wollte er sie mit voller Wucht gegen die Wand schleudern. Doch er ließ sie wieder sinken, schließlich konnte er den restlichen Inhalt noch gebrauchen. Als er sie öffnen wollte, machte sich die Wunde am linken Arm bemerkbar, das T-Shirt klebte daran fest.

Hastig nahm er einen Schluck. Das Zeug war ekelhaft, angewidert schüttelte er den Kopf, er gurgelte und spuckte aus, so war wenigstens der trockene, üble Geschmack in seinem Mund weg. Den Rest leerte er mutig über seinen verletzten Arm aus. Das höllische Brennen der Wunde ließ ihn aufschreien. Bevor der Schmerz nachließ, riss er mit einem Ruck den verklebten Ärmelstoff weg.

Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Oberlippe, er fröstelte in der Mittagshitze. Ihm war übel, er musste sich in den Schatten setzen. Es kostete ihn seine ganze Willenskraft, sich auf den Beinen zu halten. Schwankend näherte er sich dem Teil der Ruine, der im Schatten lag. Schließlich lehnte er sich erschöpft mit dem Rücken gegen die kühle Mauer und ließ sich zu Boden gleiten.

Beim Hinabsinken sah er das Messer, Blut klebte daran. Es kehrte ein Teil seiner Erinnerung zurück … Kasim sah die Narben auf seinem schmerzenden Oberarm. Immer wenn er völlig verzweifelt war und diese ohnmächtige Hoffnungslosigkeit spürte, setzte er das Messer an und zog es gleichmäßig und rasch durch, ohne mit der Wimper zu zucken. Erst war es eine weiße Linie, aus der das Blut zunächst in Tropfen heraussickerte und dann langsam und dunkelrot nach unten lief. Es war wie ein Ventil, um diesen inneren Spannungszustand abzubauen. Seine Narben waren unübersehbare Hilferufe – die niemand verstand. Nicht mal er selbst; übrig blieben immer nur die bohrenden Schuldgefühle und die hässlichen Narben.

Mit beiden Händen fuhr er sich durch die zerzausten Haare und blickte Richtung Himmel, um die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln. Wo sollte er nur hin, so, wie er jetzt aussah?

Leise vor sich hin fluchend, zog er erneut die Zigarettenschachtel hervor, schob sich seine letzte Kippe zwischen die rissigen Lippen und zündete sie an.

„Kasim, bist du das?“, ertönte eine sanfte Frauenstimme. Oh nein, das war Zarah! Was tat sie hier in diesem heruntergekommenen Gemäuer? Hastig ließ er die Zigarette zwischen den Steinen verschwinden.

Zarah stand vor ihm und sah ihn mit einem besorgten mütterlichen Blick an. „Geht es dir nicht gut?“

So unendlich schämte Kasim sich vor seiner Großmutter, dass er kaum fähig war, ein Wort herauszubekommen. Wie jedes Jahr am sechsten November war sie von Tunis nach Hammamet gekommen. Trotz ihres Alters war sie gut zu Fuß und in dem dunklen Sommerkleid und mit dem Strohhut wirkte sie deutlich jünger als fünfundachtzig. Wenn auch ihr Gesicht von tiefen Falten durchzogen war, sah sie freundlich und gütig aus.

„Was ist mit dir passiert? Du blutest ja!“ Ihre Stimme drückte tiefe Besorgnis aus und Kasim hätte am liebsten wie ein kleiner Junge geweint.

„Ach, Großmutter, geh lieber wieder; ich möchte nicht, dass du mich so siehst, und helfen kannst du mir auch nicht.“

Seinen Kopf legte er auf die herangezogenen Knie. Er versuchte, ihr seinen erbärmlichen Anblick zu ersparen, doch Kasim wusste genau, dass sie ihn jetzt nicht alleine lassen würde. Stattdessen kam sie näher und setzte sich auf den Stein, an den er sich anlehnte.

„Mein Junge, wer hat dir das angetan?“, vorsichtig strich sie über sein verschmutztes Haar.

Liebend gern hätte Kasim irgendeine Lügengeschichte erzählt, um ihr zu ersparen, was für einen missratenen Enkelsohn sie hatte – doch Zarah war der einzige Mensch, bei dem ihn Gewissensbisse plagten. Ihre braunen, schon etwas trüben Augen schienen ihm tief in die Seele zu blicken.

„Was soll ich sagen? Ich hasse es, dich so zu enttäuschen! Kümmere dich einfach nicht mehr um mich. Du hast noch andere, wohlgeratene Enkel.“

„Mein lieber Kasim, du kannst einer alten Frau wie mir nichts vormachen.“

Zarah griff in die Tasche ihres Kleids und reichte ihm eine Mandarine. „Iss, mein Junge, du siehst aus, als könntest du ein paar Vitamine gebrauchen. Und dann erzählst du mir, was mit dir los ist – und keine Ausreden. Ich sehe auch ohne Brille, dass mit dir etwas nicht stimmt.“

Noch nie in seinem Leben hatte ihm eine Mandarine so gut geschmeckt wie diese; er hatte das Gefühl, kurz vor dem Verdursten zu sein.

„Zum Glück habe ich auf dem Weg hierher all meine Taschen damit gefüllt. Iss nur, sie sind frisch gepflückt.“

„Was machst du hier in der Ruine?“, fragte Kasim mit vollem Mund.

Sie lächelte ihn an. „Weißt du, auch ich habe so meine Geheimnisse, und wenn du mir deins verrätst, dann verrate ich dir auch meins, einverstanden?“

„Du und ein Geheimnis?“, erstaunt sah er sie an. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich befürchte, dir nichts erklären zu können, weil ich selbst nicht mal weiß, was mit mir los ist. Seit das mit Anissa war, fühle ich mich in der eigenen Familie wie ein Aussätziger. Meinen Brüdern würde so etwas nicht passieren, die sind wirklich alle anders als ich.“

„Anissa war nicht die richtige Frau für dich!“ Sie machte eine kurze Pause, um nach passenden Worten zu suchen, und betrachtete sein Gesicht, als könne sie darin lesen. Sanftheit und Schmerz lagen in ihrem Blick.

Endlich fing sie zu sprechen an. „Schon als ich dich das erste Mal im Arm hielt, wusste ich, dass du etwas ganz Besonderes bist. Du hast mich schon damals neugierig und weise angeschaut. Im Laufe der Jahre hat es sich bestätigt: Du warst rebellisch und hast dir nichts gefallen lassen, aber immer warst du gerecht und äußerst sensibel. Und jetzt verrate ich dir noch etwas: Du hast den größten Platz in meinem Herzen!“ Sie legte ihm ihre von knotigen Adern durchzogene Hand auf die Brust. Dass seine Großmutter eine so gute Meinung von ihm hatte, machte Kasim betroffen.

„Und das ist jetzt dein Geheimnis?“ Seine Frage klang etwas enttäuschter als beabsichtigt.

„Hattest du dir mehr erhofft?“

Gerade hatte er sich wieder ein großes Stück Mandarine in den Mund geschoben, deshalb brummte er nur ein „Mhmm!“.

„Bist du denn oft hier?“

Kasim schluckte kurz, so dass er wieder sprechen konnte. „Ja, immer wenn ich mich schlecht fühle. Sogar als Kind habe ich oft hier gespielt. Ich mag diesen Ort. Am liebsten sitze ich da draußen auf der hölzernen Erhöhung.“ Und weil Zarah schon so offen ihre besondere Zuneigung zu ihm ausgesprochen hatte, fügte er, entgegen seiner sonstigen Art, hinzu: „Ich fühle hier einen großen inneren Frieden und kann neue Kräfte schöpfen.“

„Das höre ich gern. Das, worauf du so gern sitzt, hätte einmal eine Veranda werden sollen, mit Blick auf das Meer“, erklärte sie und wirkte mit einem Mal, als wäre sie in einer anderen Welt versunken.

„Eine Veranda, woher weißt du das?“

„Weil ich sie selber geplant hatte.“ Zarah lächelte vielwissend.

Kasim verschluckte sich. „Du?“, brachte er hustend hervor. Manchmal war sie ihm unheimlich.

„Da staunst du, nicht wahr! Bei den Désarvilles hing ein Bild des schwedischen Malers Carl Larsson mit einem Haus darauf. Genauso eine Veranda wollte ich haben!“ Sie machte eine lange Pause und blickte dabei so gedankenverloren durch die Tür hinaus, dass er sie nicht stören wollte. Seine gütige Großmutter hatte tatsächlich ein Geheimnis, das sie ihm anvertraute – ausgerechnet ihm!

Mit leiser und etwas belegter Stimme fuhr sie fort: „Genau hier hatten wir uns zum letzten Mal getroffen, am 6. November 1942. Er sah so verändert aus in seiner Uniform. Fünf Tage später erreichte der Krieg Tunesien und er kehrte nicht mehr zurück. In diesem Winter weinte der Himmel!“

Sie seufzte und Kasim legte seinen Kopf an ihre Schulter. „Du hast ihn geliebt, Großmutter?“

„Ja, über alles! Wir hatten ohne das Wissen meiner Familie geheiratet und dies wäre unser Haus geworden.“ Ihre Stimme klang sonderbar müde. „Er kehrte nicht zurück und die Erde drehte sich weiter, alles schien wie immer, doch er war nicht mehr da!“

Ein schwerer Seufzer hob ihre Brust und sie strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Kasim wusste nur, dass sein Großvater vor der Geburt seines Vaters im Krieg gefallen war. Doch darüber wurde in seiner Familie nie gesprochen.

Sie schwiegen lange, nur das ferne Rauschen des Meeres war zu hören. Schließlich sprach sie weiter: „Er war Franzose, sein Vater war Finanzminister in Tunis. Ich war in ihrem Haushalt beschäftigt. Nachdem mein Vater gestorben war, musste ich Geld verdienen. Am Anfang waren die Désarvilles gegen unsere Beziehung. Henri war ein ernster junger Mann, auch ein wenig rebellisch, genau wie du. Ich brachte mit meiner unbekümmerten Art Freude in sein Leben. Sie sahen dann schließlich ein, dass ich die richtige Frau für ihn war. Doch dann, als ich schwanger wurde, kam der Krieg und nahm ihn mir weg.“

Zarah schluckte und man konnte sehen, wie schwer ihr das Sprechen fiel.

„Die Désarvilles sind fast wahnsinnig geworden, als sie vom Tod ihres einzigen Sohnes erfuhren. Ich blieb bei ihnen, wie eine Tochter. 1956 kam unser früherer tunesischer Präsident Bourguiba aus dem Exil zurück und die französischen Kolonisten mussten gehen. Zum Glück ging alles unblutig vonstatten. Die Familie Désarville kehrte zurück nach Paris. Da sie nicht viel mitnehmen konnten, überließen sie alles mir und so wurde ich eine reiche Frau.“ Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie Kasim ansah. „Du hast so viel von deinem Großvater, besonders seine grünen Augen.“

„Aber das hier bestimmt nicht!“ Kasim blickte auf seine blutverkrustete Wunde.

„Du musstest in den letzten Jahren zu viel Schmerz ertragen; ich weiß, wie sich das anfühlt. Mit der Zeit werden deine Wunden heilen, bestrafe dich nicht selbst. Du musst etwas finden, das deinem Leben wieder Sinn gibt!“

Er schwieg nachdenklich, bis er fragte: „Großmutter, weißt du eigentlich, wem diese Ruine gehört?“

„Mir!“

„Dir?“ Verblüfft sah er sie an. „Dann könnte ich ja dieses Haus für dich fertigbauen!“

„Kasim, ich fühle mich in Tunis wohl, in meinem Alter will man sich an nichts Neues mehr gewöhnen. Aber dieses Grundstück soll für dich sein – und wenn es dir etwas bedeutet, kannst du dieses Haus fertigstellen und mit deiner Familie darin leben.“

Kasim war sprachlos, so viele Gedanken schossen ihm durch den Kopf.

„Du bist jung und kannst deine Träume noch verwirklichen – doch lass dich nicht von trüben Gedanken zerstören, dazu ist das Leben zu kurz.“

Kasim legte seine Arme um ihre Schultern. Wie zerbrechlich sie sich anfühlte. „Danke, Großmutter – und das meine ich nicht nur wegen des Grundstücks, sondern weil du mich verstehst!“

2. Kapitel

Am liebsten hätte Zarah Kasim gleich aus der Ruine am Strand mitgenommen, doch so, wie er jetzt aussah, konnte er nicht durch die Straßen laufen, zu viele kannten ihn. Er bereitete seiner Familie genügend Sorgen, weil in seinem Leben nichts nach ihren Vorstellungen lief. Ständig gab es deswegen Streitigkeiten. Vor allem seinen Vater störte es, dass er nicht arbeitete und nur in den Tag hineinlebte, ohne sich Gedanken um die Zukunft zu machen.

Die Großmutter nahm seine verschmutzten Kleider mit, er trug wie meistens Badeshorts darunter. Später wollten sie sich am Stadtstrand in der Nähe seines Zuhauses treffen und sie würde ihm ein T-Shirt mitbringen.

Sofort stürzte er sich in die Fluten, für Anfang November war das Wasser noch angenehm warm. Das Gefühl der Frische genoss er – wenn auch die Wunde am Arm höllisch brannte.

Kasim schwamm bis zum Stadtstrand, legte sich dort in den Sand und döste im Schatten eines aus Stroh gefertigten Sonnenschirms vor sich hin. In seiner Nähe lagen zwei deutsche Frauen, sie waren wohl Ende zwanzig und unterhielten sich über Belangloses. Kasim hörte den beiden eine Weile zu, dann schlief er ein.

Bis ihn jemand sanft an der Schulter rüttelte. „Wach auf, du blutest! Wenn du dich noch weiterdrehst, kriegst du Sand in deine Wunde.“

Zwei wunderschöne blaue Augen blickten ihn an.

„Verstehst du kein Deutsch?“

„Ich bin halb Deutscher“, antwortete er akzentfrei.

„Echt, das sieht man dir nicht an! Brauchst du einen Verband, du blutest am Arm?“

Sein Blick glitt verstohlen an ihrem Körper entlang und was er da sah, gefiel ihm.

„Nein danke, ist doch nur ein kleiner Kratzer.“ Kaum hatte er den Satz beendet, knurrte sein Magen. Langsam setzte er sich auf, und obwohl sich alles in seinem Kopf drehte, schenkte er der dunkelblonden Frau sein charmantestes Lächeln. „Ich habe mein Geld vergessen, würdest du mir ein Thunfischsandwich und eine Cola spendieren? Ich glaube, das könnte ich jetzt eher gebrauchen als einen Verband.“

Überlegen lächelte sie. „Sehe ich so aus, als würde ich jedem ein Sandwich spendieren?“

Kasim rieb sich den Sand von seinem durchtrainierten Körper. „Na ja, einen Versuch war es wert!“ Er sah ihr direkt in die Augen. Sie gefiel ihm, auch wenn sie wohl ein paar Jahre älter war als er. In diesem Moment knurrte sein Magen erneut.

„Du bist wohl kurz vorm Verhungern?! Okay – ich mach dir einen Vorschlag: Du holst Jenny und mir je ein Sandwich und eine Cola, dafür bekommst du auch was ab, okay? Ich heiß übrigens Vivien.“

„Gut. Wie die Ladys wünschen.“ Lächelnd stand er auf und reichte jeder die Hand. „Ich bin Kasim.“ Dann ließ er sich ein paar Dinar geben. Vivien setzte sich wieder auf die Sonnenliege und tuschelte mit ihrer blonden Freundin, die daraufhin kicherte.

An der Theke gab Kasim seine Bestellung auf und bemerkte, wie er argwöhnisch von einem Mädchen am Nebentisch beobachtet wurde. Sie sah süß aus in ihrer weißen Tunika und mit dem türkisfarbenen Haarband, doch sofort fielen ihm ihre traurigen Augen auf. Ihre langen und unbändigen dunkelblonden Locken waren zu einem Zopf gebunden. Sie kaute nervös am Ende eines Kugelschreibers. Vor ihr lag ein Buch, in das sie etwas schrieb. Kasim fuhr sich durch die sandigen Haare und überlegte, ob er sie gestern im Calypso angebaggert hatte und sich nur nicht mehr daran erinnern konnte. Denn sie machte durch die Art, wie sie ihn sah, den Eindruck, als würde sie ihn kennen.

„Wie einfach es doch ist, hier an Geld zu kommen!“, sprach sie ihn schnippisch an.

Für ihr unschuldiges Aussehen war sie ganz schön scharfzüngig. „Das überrascht mich auch jedes Mal!“

„Ist es hier nicht so, dass der Mann für die Frau bezahlt, außer er betreibt Bezness?“, gab sie ihm bissig zur Antwort.

Grinsend zuckte er mit den Schultern, die junge Frau kannte sich aus. Es stimmte, viele tunesische Männer versprachen die große Liebe, um an das Geld oder besser noch an eine Aufenthaltsgenehmigung in Europa zu kommen, und das nannte man Bezness. „Die beiden wollten mit mir reden und ich kann ihre Hilfe gerade gut gebrauchen.“

„Und bin ich die Nächste, weil ich auch mit dir rede?“, fragte sie zynisch.

„Das ist etwas anderes, du siehst nicht gerade aus, als würdest du mich am liebsten vernaschen.“ Dann bezahlte er die Sandwiches und zwinkerte ihr zu. „Vielleicht ein andermal!“ Damit ließ er sie mit offenem Mund zurück und ging wieder zu Vivien und Jenny.

Angeregt plaudernd aßen die drei kurz darauf ihre Sandwiches. Kasim verabredete sich mit den beiden für den Abend in der Bar seines besten Freundes Raoul. Mit dem hatte er sowieso noch etwas zu bereden. Kasim hatte schon öfters bei Raoul ausgeholfen und hätte dort auch eine Festanstellung bekommen können, aber seine Freiheit war ihm bis jetzt wichtiger gewesen; er wollte sich nicht festlegen. Doch dieses Mal würde es anders werden, das hatte er sich fest vorgenommen. Das war er seiner Großmutter schuldig.

3. Kapitel

Der nächste Morgen war stürmisch. Nachts hatte es geregnet, die grauen Wolken hingen tief über dem aufgewühlten Meer. Bei solchem Wetter verirrten sich nur wenige Touristen an den Strand. Kasim, der eben aus dem Hotelzimmer von Vivien kam und auf dem Weg nach Hause war, staunte nicht schlecht, als er das Mädchen mit dem türkisfarbenen Haarband von gestern wiedersah. Alleine saß sie auf einem der großen Felsen vor der Medina. Genau so, wie er selbst es gerne tat.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das machte ihn neugierig. Deshalb setzte er sich einfach neben sie und bot ihr eine Zigarette an. „Möchtest du eine?“

„Ich rauche nicht!“

Kasim steckte sie wieder ein. Aus den Augenwinkeln betrachtete er das Mädchen neben sich. Sie hatte ein ebenmäßiges Profil und blickte starr geradeaus auf die Weite des Meeres. So saßen sie schweigend nebeneinander.

„Bist du zum ersten Mal in Tunesien?“, fragte er, bevor das Schweigen unangenehm zu werden drohte.

„Ja!“ Scheinbar hatte sie keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten, und ließ es ihn deutlich spüren.

„Bist du traurig, weil das Wetter heute schlecht ist?“

Kopfschüttelnd verneinte sie. Deshalb fuhr er fort: „Ich liebe dieses Wetter, ich sitze dann oft hier, rauche eine Shisha und beobachte das stürmische Meer.“

„Ich habe gerade andere Probleme als das Wetter, es ist mir völlig egal, ob es regnet oder schneit.“

„Auf Schnee kannst du hier lange warten.“

Sichtlich genervt wollte sie aufstehen und gehen, doch Kasim hielt sie am Handgelenk zurück, er ließ jedoch gleich wieder los. „Entschuldige, es tut mir leid. Ich sehe, du hast keine Lust, dich mit mir zu unterhalten, ich werde gehen.“ Kasim sah sie an. In ihren bernsteinfarbenen Augen sammelten sich Tränen, die überzulaufen drohten. Von ihrem Anblick musste er sich losreißen, damit sie nicht dachte, er wolle sie anbaggern. Aber er hatte noch nie zuvor so schöne Augen gesehen, mit langen Wimpern und einem berührend aufrichtigen Blick. „Willst du mir nicht sagen, was los ist, vielleicht kann ich dir helfen.“

„Ach, ihr seid doch alle gleich, ich traue hier niemandem!“

Kasim sah Richtung Meer und lächelte ironisch vor sich hin. „Da hast du recht; es ist besser, wenn du hier niemandem traust – und ich kann auch nicht mal behaupten, dass du mir vertrauen könntest.“

Seine ungeschönte Ehrlichkeit ließ sie sichtbar aufhorchen. „Warum sprichst du so gut Deutsch?“

„Meine Mutter ist Deutsche. Das macht mich aber nicht besser als die anderen Männer hier.“ In seiner Stimme klang eine gewisse Verachtung seiner selbst mit.

Unsicher sah sie zu ihm und beobachtete, wie er erneut die Zigarettenschachtel aus der Tasche zog, um sich eine anzuzünden. Doch da fiel ihm wieder ein, dass das Mädchen neben ihm nicht rauchte, deshalb steckte er die Zigarette zurück.

„Meinetwegen kannst du ruhig rauchen, es macht mir nichts aus.“

„Nein, wenn du nicht rauchst, rauche ich auch nicht mehr.“ Mit kräftigem Schwung warf er entschlossen die fast volle Schachtel ins Meer, was ihm Julis missbilligenden Blick einbrachte.

Erneut sah er sie an. „Bist du eigentlich allein hier?“

„Nein, mit meiner Schwester. Ich bin nur ihretwegen hier.“

„Deine Schwester ist jetzt mit einem Tunesier zusammen und lässt dich allein?“

„Sie war mit einem zusammen“, sagte sie so leise, dass der Wind ihre Antwort beinahe übertönte.

„Und jetzt gibt es Probleme?“

Wieder nickte sie.

„Hat er sie betrogen?“, forschte Kasim weiter.

„Er hat ihre gemeinsame Tochter behalten, gegen ihren Willen!“ Nach diesen Worten liefen ihr die Tränen über die Wangen. Gerne hätte er ihr ein Taschentuch gegeben, aber so etwas hatte er nie bei sich.

„Und deine Schwester darf sie nicht mehr sehen?“

„Ja, er hat sie gestern aus dem Haus geworfen, sie soll Lina nie wiedersehen. Sie kam gegen ihn nicht an. Die ganze Nacht lang hat Carola geweint, erst vorhin ist sie endlich eingeschlafen. Ich habe so Angst um sie!“ Unauffällig versuchte sie, die Tränen wegzuwischen.

„Ich werde dir helfen, ich weiß zwar noch nicht wie, aber irgendwie bekomme ich das hin!“

Bitter lächelte sie. „Irgendwie! Wie willst du das denn anstellen?“

„Mir wird schon etwas einfallen. Gib mir mal deine Handynummer.“

„Das ist die billigste Anmache, die ich je erlebt habe!“ Sie sah ihn wütend an.

Kasim grinste. „Ich weiß, aber wir müssen irgendwie handeln. Hier nur rumzusitzen hilft dir auch nicht weiter. Übrigens, ich heiße Kasim.“

Widerstrebend gab sie ihm ihre Nummer und er tippte sie in sein Telefon ein. „Und zu welchem Namen gehört diese Nummer?“

„Juli!“ In diesem Moment klingelte ihr Handy.

„Du hast mir wirklich deine richtige Nummer gegeben!“

„Schlimmer kann es nun auch nicht mehr werden.“

„Wir werden’s sehen. Ich werde mich melden“, verabschiedete er sich.

4. Kapitel

Hammamet war eine Stadt, doch Klatsch und Tratsch verwandelten es gewissermaßen in ein Dorf. So hatte Kasim schon vorher von Julis Schwester gehört. Er kannte ihren Exfreund, Nourdin, sogar vom Sehen – sie wohnten im selben Viertel.

Zuerst sah er sich bei dem Haus um, wo Nourdin und Carola zuletzt gelebt hatten. Es sah unbewohnt aus, dort war offenbar niemand mehr.

Dann ging er in ein nahegelegenes Café, was ein beliebter Treffpunkt tunesischer Männer war. Hier hielt man sich stundenlang auf und tauschte Neuigkeiten aus. Wenn überhaupt, dann würde er hier etwas erfahren.

Am hintersten Tisch des kleinen Cafés saßen ein paar ältere Männer und spielten Karten. Kasim setzte sich zu ihnen und es dauerte nicht lange und er spielte mit.

Es war einfacher, als er dachte. Die Männer waren bestens informiert und erzählten Kasim alles, was er wissen wollte.

„Juli, komm sofort an die Louage-Station. Tu so, als ob du mich nicht kennst, aber bleib in meiner Nähe! Mach schnell!“ Schon ertönte das monotone Tuten in der Leitung. Kasim hatte aufgelegt. Einen Moment lang starrte sie ungläubig auf ihr Handy.

„Wer war das?“, fragte Carola mit dieser Mattigkeit in ihrer Stimme, die schon seit Tagen an ihr auffällig war.

Juli suchte aufgeregt in dem Chaos ihres Hotelzimmers nach Papier und Stift. Louage-Station? Was war das und warum konnte er ihr nicht genauer erklären, was los war?

„Weißt du, was eine Louage-Station ist?“

„Nein, was willst du dort?“

„Der Typ, mit dem ich vorher an der Medina geredet habe, will mich dort treffen.“

„Geh bitte nicht hin, diese Kerle sind alle gleich. Alle!“ Schluchzend griff Carola erneut nach einem Taschentuch. Ihr Bett war umringt von benutzten Papiertüchern; zu viele Tränen hatte sie in den letzten Stunden vergossen.

Endlich, unter dem Kleiderberg auf dem Stuhl, fand Juli etwas zum Schreiben. „Carola, ich muss was tun, ich kann nicht länger hier rumsitzen. Lina braucht uns und ich werde alles versuchen, um sie zu dir zurückzubringen.“

„Pass auf dich auf! Und vielleicht ziehst du dir besser was an, so würde ich nicht auf die Straße gehen.“ Carola brachte tatsächlich so etwas wie ein schiefes Lächeln zustande.

Als Juli an sich hinunterblicke, verstand sie, was Carola meinte: Fast wäre sie nur in Höschen und Trägertop aus dem Zimmer gestürzt. Rasch schlüpfte sie in das dunkelbraune Sommerkleid und zog einen leichten, dazu passenden Strickmantel darüber. Als sie am Spiegel vorbeihuschte, stellte sie mit Entsetzen fest, dass ihre Haare in alle Richtungen abstanden. Schnell band sie sie zu einem lockeren Zopf zusammen.