Drosselbart - Simone Vajda - E-Book

Drosselbart E-Book

Simone Vajda

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Beschreibung

Drosselbart Solange sie denken kann, ist Prinzessin Marrill in Prinz Wotan von Granegg verliebt. Doch Bischof Anselm ist die Verbindung mit dem heidnischen Prinzen nicht willkommen. Marrill soll sich auf einem Fest einen geeigneteren Gemahl aussuchen. Doch statt sich einen Verlobten zu erwählen, beleidigt Marrill die anwesenden Adligen. In seiner Verzweiflung droht der König seiner Tochter, sie mit dem erstbesten Spielmann zu vermählen, der an seine Tür klopft. Marrill glaubt nicht, dass ihr Vater so herzlos sein könnte, wird aber eines Besseren belehrt und muss einem Fremden in seine armselige Hütte folgen.

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Für meinen Opa, dem Wald am Leinberg und die vier Jahreszeiten

Die alte Religion,

der alte Glaube ist die Magie

der Erde selbst.

Sie ist die Essenz, die alles

zusammenhält. Sie wird lange

nach der Menschheit weiter verweilen.

Verfasser unbekannt

Inhaltsverzeichnis

Freyr

Odin

Ostera

Thor

Hugin & Munin

Baldur

Loki

Hel

Midgard

Irminsul

Asgard

Frigg

Beltane

Frau Holle

Dellingr

Vidar

Eikthyrnir

Nehalennia

Heidrun

Fáfnir

Hel

Felwa

Nornen

Freya

Nidhöggr

Runen

Jörmungandr

Alwis

Kvasir

Urd

Sunna

Sif

Fenriswolf

Thing

Gjallarbrú

Wali

Tyr

Skinfaxi & Hrimfaxi

Sleipnir

Iduna

Niflheim

Mumin

Helheim

Embla

Friggs Versprechen

Freyr

Andvaranaut

Epilog

Freyr

GOTT DES SONNENSCHEINS, DER FRUCHTBARKEIT UND DES WACHSTUMS

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten Marrills Nasenspitze. Tief atmete sie den erdigen Duft des erwachenden Frühlings ein. Allmählich durchdrang der Morgentau den Stoff ihres Kleides, sie fröstelte, doch darauf achtete sie nicht weiter.

Es war die Zeit der Tag-und-Nacht-Gleiche.

Über Marrill kreiste die dunkle Silhouette eines Falken, seine Schreie klangen einsam.

Erst als sie die Augen zusammenkniff, erkannte sie die flatternden Bänder. Es war ein Jagdfalke aus dem Reich der Graneggs.

Sehnsucht schnürte ihr Herz, es glich einem Gefängnis, wozu nur einer den Schlüssel hatte, um sie zu befreien.

»Wenn ich nur so fliegen könnte wie du, dann würde ich nachsehen, wie es Wotan geht,« wisperte sie dem Vogel zu. »Grüße ihn von mir!« Sie küsste ihre Fingerspitzen und pustete den Kuss dem Raubvogel zu.

Ein langgezogenes Kreischen kam als Antwort von dem Falken.

»Prinzessin Marrill, kommst du?«, trug der Wind die vertraute Stimme vom Burgtor zu ihr.

Wehmütig stand Marrill auf und sah in die Richtung, aus der ihre Amme nach ihr rief. »Ich komme!«

»Beim Holunder der heiligen Hel. Du liegst auf der Erde. Dein Kleid ist ganz feucht, und dann läufst du auch noch barfuß«, tadelte Maiva, doch ihre Augen leuchteten voller Freude und zärtlicher Besorgnis.

»Ach Maiva, die Sonne scheint, es ist Frühling. Das muss ich einfach fühlen.« Dabei wackelte sie mit den nicht mehr ganz sauberen Zehen und küsste ihre Amme versöhnlich auf die Wange, doch sofort wurde sie wieder ernst und deutete zum Himmel. »Siehst du den Falken? Der kommt von den Graneggs. Ob Wotan wieder gesund ist?«

Die tiefer werdenden Falten auf der Stirn verrieten, dass Maiva angestrengt nachdachte. »Ich weiß nur, dass der Prinz bei einer Schlacht schwer verwundet wurde und sich nur langsam erholt.« Nebenbei zupfte sie vertrocknetes Gras aus Marrills geflochtenem Zopf.

»Wotan war so viel netter als seine jüngeren Brüder, leider war er nicht oft beim Spielen dabei.« Jetzt säuberte Maiva ihr das einfache Gewand. Was ihr das Gefühl gab, immer noch das kleine Mädchen zu sein, nach dem die Amme schauen musste.

»Als er alt genug war, durfte er mit auf die Beizjagd, und du hast heftig protestiert, weil dein Vater dich nicht mitnahm«, erinnerte sich Maiva schmunzelnd.

»Wotan schien es nichts auszumachen. Er brachte mir nach der Jagd eine wunderschöne Fasanenfeder mit.« Sie dachte an die Feder, die sie noch immer aufbewahrte und hütete, als wäre es ein kostbarer Schatz.

»Der Prinz fühlte sich wohl eher geschmeichelt. Weil es zu offensichtlich war, dass du nur seinetwegen mit auf die Jagd wolltest.« Maiva kniff ihren Schützling in die Wange und lächelte sie liebevoll an.

»Ach je, hoffentlich hat er das vergessen!« Marrill zog die Nase kraus, zu gut erinnerte sie sich noch an den kleinen Aufstand, weil sie mit auf die Jagd wollte.

»Der Prinz mochte dich genauso gerne, wie du ihn. Doch die darauffolgenden Jahre sicherte er die Grenzen gegen die eindringenden Barbaren. Da hatte er bestimmt keine Zeit, an ein kleines Mädchen zu denken.« Sie zog bei dem Satz den letzten trockenen Grashalm aus ihrem Haar. »Jetzt bist du einigermaßen sauber, lass uns gehen.«

Eine Weile liefen sie schweigend den Hügel hinab, doch eine Frage brannte Marrill auf der Seele: »Meinst du, ich würde dem Prinzen noch gefallen?«

»Merkst du nicht, sobald du einen Raum betrittst, wie du die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf dich ziehst?«

»Das war früher, doch Bischof Anselm gibt mir das Gefühl, mein Anblick ist unzumutbar. Er mag mich nicht!«, stellte Marrill bedauernd fest.

»Der Bischof ist blind für alles Schöne! Er sieht nicht dein langes, lockiges Haar, das so hellglänzend ist wie gesponnenes Mondlicht. Deine Lippen haben die Farbe von voll erblühtem Rotklee. Deiner hübschen Nasenspitze sieht man die Neugier an, wie der Löwenzahnknospe, die die ersten Sonnenstrahlen nicht erwarten kann. Doch am beeindruckendsten sind deine wunderschönen Augen, die so grün sind wie der Efeu, der an den Burgtürmen emporklettert!« Liebevoll sah Maiva sie an.

»Nach deiner Beschreibung hab ich viele Gemeinsamkeiten mit einem Kräutergarten im Mondschein!«, schalkhaft lächelte Marrill ihre Amme an.

»Nicht nur, sondern mit der Schönheit der Natur! Schau nur, wie herrlich alles im Sonnenschein aussieht!«

Marrill ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen, mit den sanften Hügeln, wovon die meisten bewaldet waren. Sie warf einen Blick zurück zur Burg, die glänzend im Morgensonnenschein dastand. Bis hinunter in die Talsenke mit dem Kloster, wo unzählige Obstbäume wuchsen, zwischen denen sich, in ihrem Flussbett, sanft die Lein schlängelte. Über die Lein führte ein Steg, an einem alten Kirschbaum vorbei, der im Sommer die süßesten Kirschen trug. Doch so weit brauchten sie nicht zu gehen, denn zur rechten Seite der Burg wuchsen bereits die ersten Kräuter.

Von Weitem roch Marrill den schweren Duft des Bärlauchs. Dunkelgrün, matt glänzend stand er da und brauchte nur mit der Bronzesichel geerntet zu werden. Sie ließ sich auf die Knie in den weichen Waldboden fallen. »Mmh, endlich. Der erste Bote des Frühlings.« Ein paar Stängel schob sie sich genüsslich in den Mund. Mit ihrer Sichel schnitt sie die kühlen zarten Blätter. In solch einem Moment schien die Zeit stillzustehen. Sie fühlte sich wie in einer eigenen Welt, eingehüllt im Duft der Pflanzen mit dem Klang der Waldbewohner. Eine Zufriedenheit überkam sie, alle Sorgen wurden bedeutungslos und ein Lächeln lag auf ihren Lippen. »Maiva, wie war das mit den Bären?«

Immer noch wollte Marrill die alten Sagen hören, die ihr schon als Kind erzählt worden waren.

Gerührt lächelte Maiva sie an und begann zu erzählen: »Jedes Jahr nach dem langen, kalten Winter erwacht der Braunbär, wenn der Bärlauch aus der Erde sprießt. In den Blättern steckt die pure Lebenskraft, sodass es sogar einen riesigen Bären stärkt!«

Insgeheim sah sich Marrill jedes Mal um, ob nicht einer hinter ihnen stand und mit seinen mächtigen Tatzen drohte, weil die beiden sein Futter wegnahmen.

Nachdem sie genügend gesammelt hatten, pflückte Maiva am Waldrand die gerade sprießenden Brennnesseln, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Brennnessel ist das Kraut des schönen, sanften Sonnen- und Lichtgottes Heimdall,« erklärte sie währenddessen, »der Hüter der Regenbogenbrücke. Die Brücke die Welt der Menschen mit der Welt der Götter verbindet.«

In der Nähe wuchsen Schlüsselblumen. »Und das sind die Schlüssel der Freya?«, fragte Marrill, obwohl sie es genau wusste.

»Ja. Das ist die Blume unserer Göttin Freya. Sie hat die Schlüsselgewalt über das Gehöft und trägt den Schlüsselbund. Einmal ließ sie den Bund herunterfallen, und auf der Erde wuchs daraus ein Blümchen, das wie der Schlüsselbund aussah. Da Freya am Spinnrad mit den acht Speichen das Schicksal spinnt, schließt man damit verborgene Räume auf und erlangt an Weisheit.«

»Indem ich die Blume pflücke?«, fragte Marrill.

»Nicht alleine davon, der Schlüssel ist die Sprache der Pflanze. Wir erlernen sie im Kreislauf des Lebens, irgendwann wirst du es verstehen. Wenn die ersten Schlüsselblümchen aus der Erde kommen, ist es ein Zeichen, dass der Frühling beginnt. Nach dem harten Winter ist es jedes Jahr von neuem eine große Freude, sie zu sehen«, liebevoll strich Maiva über die gelbe Blüte und lächelte Marrill an. Trotz ihres Alters funkelten ihre Augen voller Lebensfreude. Marrill nickte anerkennend. Das Wissen ihrer Amme war für sie erstaunlich, jedes Mal lernte sie Neues dazu.

»Doch jetzt lass uns weitergehen. Schau, wie fleißig dort gearbeitet wird!« Maiva zeigte in die Waldlichtung. Die Strahlen der Frühlingssonne schienen durch die Bäume, genau auf einen Waldameisenhaufen am Fuß der Fichte.

Dort tummelten sich Tausende der kleinen Insekten. Maiva konnte nie an einem dieser Hügel vorbeigehen, ohne ihre Hände hineinzuhalten.

Während sich auf dem Arm der Amme zahllose Tierchen verbissen, nahm Marrill zwei auf ihren Zeigefinger. »Iehhh, die beißen mich! Wie erträgst du das nur?«

»Daran gewöhnst du dich! Die Ameisen helfen uns, keine Gelenkschmerzen zu bekommen.«

Solange Maiva sich noch piesacken ließ, setzte Marrill ihre beiden Ameisen zurück und beobachtete interessiert das Durcheinander auf dem Hügel. »Die scheinen alle ihren Weg zu kennen.«

»Das ist die göttliche Ordnung, die jedes Lebewesen in sich trägt!«, erklärte die Amme.

»Wir auch?«

»Ja! Leider versuchen einige, mit ihrer Überheblichkeit etwas Besseres zu sein, und dadurch geht die natürliche Ordnung verloren!«

Marrill sah Maiva fragend an. »Wie meinst du das?«

»Jeder Mensch sollte seinem Herzen folgen und dadurch die Welt ein kleines bisschen besser machen. Doch sobald der Verstand eingesetzt wird, kommt meist nichts Gutes dabei heraus.« Maiva streifte vorsichtig die Ameisen von ihrem Arm ab.

»So wie beim Bischof. Ich glaube, er besitzt kein Herz«, stellte Marrill bedauernd fest.

»Da könntest du recht haben. Sein Herz ist verborgen unter Vorschriften und Gesetzen, die die Kirche vorgibt. Sie versuchen, alles zu kontrollieren, sogar unsere Gedanken und das Zusammenleben von Mann und Frau. Sie wollen unsere Göttin verbannen und durch ein leidenschaftsloses Geschöpf ersetzen.« Langsam verließen sie den Wald, bis sie auf eine Wiese kamen.

»Der Bischof sagt, Leidenschaft sei eine frivole Sache. Eine Frau heiratet, um Kinder zu bekommen. Ansonsten sollte sie enthaltsam leben.« Fragend sah Marrill ihre Amme an.

Über solche Ansichten schüttelte Maiva verständnislos mit dem Kopf. »Enthaltsam leben? Die Liebe ist ein wichtiger Bestandteil eines erfüllten Lebens! Eine Frau darf sich nur nie von einem Mann benutzen lassen, sondern der Mann sollte sich hingeben. Aber davon versteht der Bischof nichts!«

»Und wie erreicht das eine Frau?«

Kurz überlegte Maiva. »Komm, lass uns hier auf den Baumstamm setzen!« Sie deutete auf einen Baum, der bei einem Sturm entwurzelt wurde und seit Jahren hier lag. Von ihrem Platz aus hatten sie einen weiten Ausblick über das Tal, weit über die Lein. Maiva lächelte Marrill vielwissend an und nahm ihre Hand. »Prinzessin, du bist jetzt im heiratsfähigen Alter, und was der Bischof über die Liebe gesagt hat: Vergiss es wieder! Denn so kann sich die Schönheit des Lebens nicht entfalten.« Sie sah Marrill an, die interessiert nickte. »Wir Frauen sind über unseren Zyklus mit dem Rhythmus der Erde und des Mondes verbunden. In der Zeit des Schwarzmondes ist die Kraft am stärksten, wenn wir bluten. Wenn du dich dieser Kraft nicht hingibst, erzeugst du innere Schmerzen, deshalb ist es wichtig, ganz und gar deinen Gefühlen zu trauen. Männern ist diese Verbundenheit nicht von Natur aus gegeben. Eine Möglichkeit ist für sie die körperliche Vereinigung mit einer Frau. Der Ursprung jedes menschlichen Lebens ist im Schoß der Frau.«

»Sie bekommt die Kinder«, ergänzte Marrill.

»Ja. Doch ist es auch das Geschenk, das die Frau für den Mann hat. Die Frau braucht die Liebe des Mannes, um ihre innere Schönheit ins Fließen zu bringen. Wenn die Magie der Liebe zwischen Mann und Frau fließt, dann ist das die Lebensenergie, die beide zum Glücklichsein brauchen. Das kann die Frau nur selbstbestimmt und freiwillig tun. Dazu ist sie nur bereit, wenn sie liebt und spürt, dass der Mann diese Liebe annehmen kann und zurückgibt. Die Frau ist der Schlüssel für diese Erfahrung, wenn sie sich öffnet. Deshalb sollte sich der Mann der Frau hingeben und sie nie zu irgendetwas zwingen. Denn eine verletzte Frau kann sich davon nur schwer oder gar nicht erholen.«

Marrill schaute ratlos Maiva an. »Und wie soll ich mir das alles merken?«

Maiva lächelte mild. »Höre auf dein Herz. Es ist unser uraltes Wissen. Nur wird gerade alles dafür getan, damit es in Vergessenheit gerät. Doch dieses Wissen ist in unserer Mutter Erde gespeichert und für jede Frau abrufbar. Es ist das Gefühl der Weiblichkeit.« Maiva verstummte und sah sorgenvoll in die Ferne, dann atmete sie schwer aus. »Jetzt lass uns weitersammeln! Für die Suppe fehlen immer noch einige Kräuter.« Anmutig erhob sie sich und zählte auf: »Gundelrebe, Vogelmiere, Löwenzahn, Sauerampfer, Gänseblümchen, Spitzwegerich und die Brunnenkresse finden wir hier auf der Wiese. Erst dann haben wir alle Zutaten für die Grüne Suppe!«

Solange Maiva sammelte, setzte sich Marrill neben die Gundelrebe, um einen Kranz zu flechten. Sie dachte darüber nach, was die Amme ihr gesagt hatte. Besonders über das Gefühl der Weiblichkeit. Sie saß auf Mutter Erde, und es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, aber Weiblichkeit? Davon merkte sie nichts. Sie war immer noch das Mädchen, der Sonnenschein der Burg, wie der Knecht Hakon sagte, um den sich alles drehte. Bis auf den Bischof wurde sie von allen gemocht.

Nachdenklich legte sie Stängel an Stängel, und es entstand ein dunkelgrüner Kranz mit kleinen lila Blümchen. Hatten ihre Sehnsucht und die ständigen Gedanken an den Prinzen etwas mit ihrer Weiblichkeit zu tun?

»Marrill, lass uns gehen, kommst du!«, rief Maiva, als sie genügend Zutaten für die Suppe gesammelt hatte.

»Ich wollte dir auch ein Kränzchen binden, können wir nicht noch bleiben?«, bettelte Marrill und setzte ihren fertigen Blumenkranz behutsam auf.

»Beim Holunder der heiligen Hel, mach nur keinen Kranz für mich. Sonst denkt der Bischof noch, ich reite an Beltane mit dem Besen auf den Blocksberg.«

Marrill lachte herzlich bei dem Gedanken.

Odin

GÖTTERVATER DER WEISHEIT UND DES WISSENSDURSTS

Aus dem Burgbrunnen zog Marrill einen Eimer mit Wasser. Die Sonne schien heiß auf ihren Rücken, die Vögel zwitscherten so lieblich in der alten Linde, die neben dem Brunnen seit ewigen Zeiten stand.

»Was macht Ihr hier?«, ertönte hinter ihr Bischof Anselms strenge Stimme.

Langsam drehte sich Marrill um und sah den Bischof mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich wasche meine Füße!«

»Das sehe ich!« Sein rundliches Gesicht nahm eine bedenklich rote Farbe an. »Wie ein Waschweib mitten im Burghof! – Und woher kommt dieser ganze Schmutz?«

Mit dem Kinn deutete sie Richtung Korb, der gefüllt mit Kräutern neben ihr stand. Nach dem erlebnisreichen Vormittag mit Maiva hatte sie nicht das Bedürfnis, sich die Vorwürfe des Bischofs anzuhören.

»Ihr habt es schon wieder getan!« Sein Ton wurde gereizter. »Nehmt das Gestrüpp vom Kopf! Ihr seid keine Heidin, und Ihr habt wertvollere Kronen als dieses Unkraut! Habe ich Euch nicht ausführlich erläutert, weshalb ich nicht wünsche, dass Ihr Kräuter sammelt?«

»Natürlich, Bischof Anselm, Ihr habt es mir oft erklärt, wie könnte ich das vergessen?«, sagte Marrill freundlich und legte gehorsam das Kränzchen zu den anderen Kräutern.

Grimmig zog er die buschigen Augenbrauen zusammen, die sein Gesicht dominierten. »Wenn Ihr es schon nicht unterlassen könnt, Eure Hände an dem Unkraut schmutzig zu machen, solltet Ihr wenigstens vor dem Pflücken ein Vaterunser sprechen und nicht irgendwelche heidnischen Zaubersprüche für diesen Odin. Es ist nicht dienlich, wenn Ihr mit der Alten Kräuter erntet!«

»Sie war schon die Amme meiner Mutter, und ich werde jetzt nicht aufhören, mit Maiva zusammen zu sein, nur weil Ihr sie nicht wertschätzt!« Marrill stellte sich auf eine längere Unterredung mit dem Bischof ein, doch heute schien ihn Maiva nicht sonderlich zu interessieren. Denn sein Gesicht nahm einen milderen Ausdruck an, was bei ihm nie vorkam, wenn er sich mit der Amme auseinandersetzte.

»Wascht Eure Füße nur recht gründlich! In einer Stunde kommt der Schneider!«

»Zu mir?« Marrill sah Bischof Anselm erstaunt an. Ein paarmal hatte sie erwähnt, dass sie dringend neue Kleider bräuchte, leider war alles andere wichtiger.

»Ja, zu Euch! Man kann Euch ja nicht mehr von der Magd unterscheiden.« Abfällig sah er auf ihr derbes Gewand.

Die Aussicht auf neue Kleider ließ sie lächeln, was er nicht erwiderte. Stattdessen führte er seine Hände zum Rücken und entfernte sich ein paar Schritte, drehte sogleich wieder um und kam zurück. So marschierte er zwei-, dreimal schweigend auf und ab.

Da ihre Füße inzwischen sauber waren, beobachtete sie seine kurze Wanderung. Bis er sich abrupt zu Marrill umdrehte und direkt vor ihr stand. Er war einen halben Kopf kleiner als sie.

»Ihr braucht drei Ballkleider und drei neue Tageskleider.« Um sich zu räuspern, legte er eine kurze Pause ein, und Marrill erwischte sich dabei, wie ihr die Aussicht, auf einen Ball zu gehen, gefiel.

»Und ein Brautkleid!«, fügte er, jede Silbe betonend, hinzu.

»Ein Brautkleid?« Fassungslos sah sie ihn an. »Ich habe keinen Bräutigam, wozu im Himmel brauche ich ein Brautkleid?« Beinahe hätte sie Maivas Spruch »Beim Holunder der heiligen Hel!« ausgerufen, doch das wäre gegenüber dem Bischof nicht ratsam gewesen. Von der guten alten Hel hielt Anselm nicht viel, wie auch von all den anderen Göttern, die seit erdenklichen Zeiten das Leben der Menschen prägten.

Neben dem Brunnen stellte er sich auf einen erhöhten Stein und war jetzt mit ihr auf Augenhöhe.

»Weil Euer Vater alle heiratsfähigen adligen Männer des ganzen Landes geladen hat, damit Ihr Euch einen Gemahl aussucht!«

Trotz des Schocks entrang sich ihr ein Lachen. »Natürlich mein Vater!« Seit Mutters Tod traf er keine Entscheidungen mehr ohne den Bischof. »Sind die von Graneggs auch eingeladen?«

»Was sollen die wilden, hünenhaften Heiden dort? Ihr braucht einen ehrbaren christlichen Mann. Der versteht Euch, nach Gottes Willen, zu führen!« Ein Mundwinkel des Bischofs zog sich nach oben und deutete fast ein Lächeln an. »Er wird es mit Euch Prinzessin nicht einfach haben. Trotz Taufe führt Ihr Euch auf wie eines der gottlosen Weiber. Doch der richtige Gemahl wird Euch das schon austreiben.«

»Die Graneggs sind mit unserer Familie seit jeher befreundet! Und sie haben ihr Reich direkt neben unserem. Das wäre die ideale Verbindung«, versuchte Marrill zu verhandeln.

»Schlagt Euch das aus dem Kopf! Ihr Reich ist nicht sicher, und der Papst wird bald dem heidnischen Treiben ein Ende setzen!« Die hellen Augen musterten Marrill geringschätzig unter buschigen Brauen.

»Dann werde ich nicht beim Fest erscheinen!« Marrill drehte sich um, nahm den Korb mit den Kräutern und ließ den Bischof stehen.

»Prinzessin!«, donnerte seine Stimme über den Hof. »Dies ist kein Scherz, Ihr werdet Euch einen Mann suchen!« Atemlos folgte er ihr. »Seid froh, dass Ihr die freie Wahl habt!«

Fast wäre Marrill mit Bischof Anselm zusammengestoßen, weil sie so plötzlich stehen blieb. Seine Mitra geriet ins Rutschen, die er hastig wieder zurechtrückte, um schnell seine kahle Stelle auf dem Kopf zu verdecken, die umringt war von zerzausten rotgrauen Haaren.

»Ich lasse mich nicht zu etwas zwingen, was ich nicht möchte«, erwiderte sie bestimmt, nachdem sie den bizarren Anblick verdaut hatte.

»Und ich lasse Euch die Wahl. Entweder Ihr sucht Euch selbst einen Gemahl aus oder ich übernehme das. Wenn Ihr nicht zustimmt, werde ich Euch gerne in mein Kloster aufnehmen, und die Alte werde ich wegen Hexerei von der Burg jagen. Sie hat Euch ja völlig den Kopf verdreht!« Sein Ton war so scharf, dass ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. »In einer Stunde kommt der Schneider, und Ihr werdet pünktlich sein!« Ein letztes Mal sah er Marrill bedrohlich an, dann ließ er sie stehen.

Ostera

GÖTTIN DES FRÜHLINGS UND DES ERWACHENDEN LEBENS

Benommen starrte Marrill dem Bischof hinterher. Mit Tränen in den Augen rannte sie zum Pferdestall, wo sie sich suchend nach dem alten Knecht umschaute. Das Sonnenlicht fiel in goldenen Strahlen durch die verschmutzten Fenster und gab dem Stall etwas Erhabenes, dazu kam der Duft von Pferden und Heu, der für Marrill etwas Tröstendes hatte. Die gewölbten Decken wurden von dicken dunklen Säulen gehalten. Sie verdeckten die freie Sicht auf die zehn Pferdeställe. In dem großen Stall standen die beiden Pferde der Familie und das des Bischofs. Bei der gutmütigen weißen Stute ihres Vaters entdeckte sie Hakon, der gerade am Ausmisten war.

»Marrill, ist Euch nicht gut?«, fragte der grauhaarige Stallknecht besorgt, als er aufblickte.

»Er hat mir gedroht, Maiva wegen Hexerei von der Burg zu verbannen!«, schluchzte Marrill.

»Wer?«

»Der Bischof. Wenn ich mir keinen Gemahl suche, dann wird er Maiva von der Burg jagen und mich ins Kloster bringen.«

Hakon stellte die Heugabel auf die Seite und kam aus dem Stall. Sein linkes Bein zog er seit einem Unfall bei Waldarbeiten etwas nach. Er legte einen Arm um Marrill und drückte sie tröstend an sich. »Maiva wird nichts geschehen! Ich werde sie beschützen, macht Euch keine Sorgen.«

Hakons ruhige Stimme war tröstend, sie vertraute dem Knecht. »Wo sollt Ihr Euch einen Gemahl suchen?«

Marrill sah zu ihm auf. »Es wird hier in der Burg ein Fest geben.«

»Ach, deshalb sagte der Bischof, dass ich bis in vierzehn Tagen alle Ställe gesäubert haben sollte. Wir brauchen Platz, um die Pferde der Gäste unterzubringen.«

»In zwei Wochen schon?« Marrill sah ihn entgeistert an.

Hinter ihnen wieherte und scharrte es ungeduldig. »Schau mal, Sleipnir macht sich Sorgen, wenn du so traurig bist.«

Marrill stellte den Korb mit Kräutern auf einen Tisch und streichelte die Mähne ihres Pferdes. »Na, mein Guter! Lass uns fliehen … dann entkomme ich der Brautschau.«

»Wo wollt Ihr hingehen?« Hakon fuhr über die breite Blesse des an sonst braunen Fells. »Ihr sucht Euch einfach den schönsten Prinzen aus.«

»Ich will aber nicht den schönsten«, antwortete sie fast trotzig.

»… sondern den ältesten Prinzen der Graneggs. Wobei der auch nicht die schlechteste Wahl ist«, brachte Hakon grinsend hervor.

Marrill vergrub ihren Kopf in der dunklen Mähne des Pferdes und atmete den vertrauten Duft ein. Sleipnir hatte einmal ihrer Mutter gehört, die vor zwei Jahren nach einem Ausritt nicht mehr zurückgekommen und für tot erklärt worden war. Erst hatte sie das Pferd dafür gehasst, bis Hakon sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es eine Verletzung am hinteren Bein hatte. Was wohl dazu geführt hatte, dass es die Königin abwarf. Jetzt war Sleipnir Marrills letzte vertrauliche Verbindung zu ihrer geliebten Mutter, und es hatte etwas Tröstliches, ihm so nahe zu sein.

»Die Graneggs sind nicht eingeladen«, murmelte sie bedrückt und drückte ihre Nase tiefer in Sleipnirs Fell.

»Das ist nicht gut.« Sorgenvoll fuhr sich Hakon über seinen grauen Bart.

»Hier bist du, Prinzessin! Wir wollten doch die Suppe kochen.« Maiva kam in den Stall und lächelte die beiden liebevoll an, dann wurde ihr Blick ernst. »Was ist geschehen?«

»Ach, nur das Übliche. Der Bischof ärgert mal wieder unsere Prinzessin.« Hakon streichelte tröstend über Marrills Haare, erzählte Maiva den Rest und endete mit den Worten an die Prinzessin: »Lasst Euch von dem Bischof nicht einschüchtern und redet mit Eurem Vater.«

»Das bringt leider nichts. Der Bischof ist bei ihm immer zuvorkommend und freundlich. Er wird mir nicht glauben, wenn ich ihm sage, dass er mir droht.«

»Der Bischof ist ein falscher Hund! Der sich darauf versteht, die Worte geschickt zu verdrehen«, brachte Hakon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Bischof Anselm hatte eine schwere Kindheit. Kinder brauchen Liebe und keine Klostermauern. Mit Mönchen, die alle drei Stunden beten«, erklärte Maiva.

»Er war schon in seiner Kindheit im Kloster?«, fragte Marrill entsetzt.

»Manche Leute meinen, sie müssten jeden Zehnten der Kirche opfern. Deshalb kam der Bischof als zehntes Kind seiner Eltern in ein Kloster«, erläuterte Hakon.

»Warum ein Gott so viele Opfer braucht, verstehe ich nicht«, wunderte sich Marrill.

»Das liegt nicht an einem Gott, sondern daran, was die Menschen daraus machen«, versuchte Maiva zu erklären.

»Das entschuldigt noch lange nicht Anselms Verhalten, nur weil seine Kindheit schlecht war. Der Bischof ist ein erwachsener Mann, er kann sich bemühen, es besser zu machen als die Mönche von damals.« Vertrauensvoll lächelte Hakon Maiva an. »Ich habe es schließlich auch hinbekommen.«

»Das ist was ganz anderes. Du hast dein Herz auf dem rechten Fleck, und nur durch deinen Unfall warst du unausstehlich. Nun gut, lasst uns an Erfreulicheres denken«, lenkte Maiva ab. »Unser Thor bekommt heute auch ein Opfer, die Grüne Suppe. Doch nicht um Thors Zorn zu besänftigen oder um dankbar zu sein. Sondern weil die Asen, unsere Götter, ein Teil von uns sind. Außerdem zieht Ostera über das Land, die Göttin des Lichtes und der Morgenröte, die Hühner haben wieder ihre ersten Eier gelegt! Prinzessin du weißt, was das heißt?«

»O schön, dann lass uns gleich die Eier rot färben und verstecken!« Marrills Freude keimte nur kurz auf, denn ihr fiel ein, dass jetzt der Schneider kam und für sie ein Brautkleid anfertigte.

Thor

GOTT DES DONNERS UND BESCHÜTZER MIDGARDS

Trotz des sonnigen Tages war der Abend kühl, ein Feuer knisterte im Kamin. Hinter König Baldwin an der Wand hing ein großes Gemälde von Königin Hella, seiner verstorbenen Gemahlin. Ihr Anblick rief jedes Mal bei dem König die Sehnsucht hervor, sie möge doch gleich mit einem entschuldigenden Lächeln zur Tür hereinkommen und sagen: »Es tut mir leid, meine Lieben, dass ich zu spät zum Essen komme, ich vergaß ganz die Zeit …« Sie würde Marrill, die zu seiner linken saß, liebevoll übers Haar streichen, ihn auf die Wange küssen und an seiner rechten Seite ihren Platz einnehmen, dort, wo jetzt Maiva saß. Baldwin nahm bei den beiden eine seltsam angespannte Stimmung wahr.

Am Ende der langen Tafel saß ihm der Bischof gegenüber, der mal nicht griesgrämig dreinblickte, sondern recht zufrieden aussah. Die drei waren wohl wieder einmal aneinandergeraten.

Der Diener schöpfte die Suppe in die Teller, danach sprach der Bischof ein Gebet und er konnte der Amme ansehen, dass sie gleich sagen würde, ‚Die Suppe wird kalt‘, doch zum Glück ertönte zuvor das erlösende »Amen.« Was alle am Tisch wiederholten.

Hungrig griff Baldwin nach dem Löffel, als sich Bischof Anselm räusperte und die Prinzessin ernst ansah. »Prinzessin Marrill. Ich hoffe, Ihr habt verstanden, dass wir hier nicht die Grüne Suppe zu Ehren Thors essen. Einen Gott mit einem Hammer, der den Donner macht, gab es niemals. Das sind Geschichten für das niedere Volk, meist erzählt von minderwertigen Weibern, die nicht nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind.« Dabei sah er Maiva strafend an. »Sondern heute ist Gründonnerstag, und es war das letzte Abendmahl unseres Herrn, der für unsere Sünden gestorben ist. Daran gedenken wir, indem wir schweigend die einfache Suppe speisen.«

Maiva verschluckte sich und hustete. »Verzeihung. Es geht schon wieder«, brachte sie gequält hervor und erhielt nun von dem Bischof einen vorwurfsvollen Blick.

»Jaja. Der liebe Gott straft alle kleinen Sünden!«, säuselte er spöttisch.

»Sein Werk mag gut sein, aber es ahnt mir, dass das, was folgen wird, nicht gut sein wird!«, murmelte Maiva prophezeiend vor sich hin. Ein Satz, den Baldwin in letzter Zeit allzu oft von ihr hörte. Sein Herz blutete dabei, die alte Amme nicht vor den Sticheleien des Bischofs schützen zu können. Stattdessen sagte er nur beschwichtigend: »Na ja. Er wird anderes zu tun haben, als uns beim Essen zu beobachten.«

»Mein König, dass Ihr Euch da nicht täuscht. Unser Gott ist nicht wie Odin, der Raben braucht, die ihm sagen, was die Menschheit so treibt. Unser Herr sieht und hört alles! Ihr solltet Euch hüten, seinen Zorn auf Euch zu ziehen.« Anselm ballte die Hand zur Faust und sah einen nach dem anderen bedrohlich an. »Und jetzt lasst uns schweigend essen.«

»Er sieht alles«, wiederholte Baldwin leise in einem ironischen Tonfall und schüttelte verständnislos den Kopf.

Kaum hatten sie ihre Löffel beiseitegelegt, fragte er Marrill: »Meine Tochter, ich sah, dass heute der Schneider bei dir war. Hast du dir ein paar schöne Stoffe ausgewählt für neue Kleider?«

»Ja, gewiss doch Vater«, antwortete Marrill wohlerzogen.

Inzwischen wurden die Teller abgetragen, und der Hauptgang wurde serviert.

Der Bischof wandte sich an ihn. »Für den Ball, Eure Hoheit. Da muss ja unsere Prinzessin eine Augenweide sein, um sich einen gottesfürchtigen Gemahl auszuwählen«, säuselte er.

»Ach ja, der Ball, das habt Ihr ja erwähnt.« Baldwin nahm die Hand seiner Tochter und drückte sie ergriffen. Der Gedanke behagte ihm nicht, sie bald auch noch zu verlieren.

»Vater, warum sind die Graneggs nicht eingeladen? König Konrad ist doch dein bester Freund, und wir waren, bis zu Mutters Reitunfall, jeden Sommer bei ihnen.«

»Die Graneggs sind nicht eingeladen?« Baldwin sah fragend den Bischof an.

»Ihr wisst doch, dass der älteste Königssohn im Gefecht schwer verwundet wurde. Er ist immer noch nicht genesen!«, erklärte der Bischof und sah ihn nur allzu bedauernd an.

»Eine Einladung sollte er aber bekommen, wie stehe ich sonst vor König Konrad da!« Erneut schüttelte Baldwin über den Bischof den Kopf. »Die Verbindung wäre ideal, denn sein Reich grenzt an unseres, und der Prinz wäre ein würdiger Nachfolger für mich.«

»Ja, natürlich. Da muss ich Euch recht geben, ich werde ihm eine Einladung mit dem schnellsten Boten schicken.«

»Ja, macht das, Bischof Anselm.« Laut überlegte Baldwin weiter. »Ich sollte König Konrad auch mal wieder schreiben. Ich hab mich viel zu lange nicht bei ihm gemeldet.«

»Ja, gewiss. Aber besser erst nach dem Ball, dann habt Ihr mehr Zeit dafür«, schlug ihm der Bischof vor.

Nachdenklich sah Baldwin den Bischof an und nickte. Er hatte schon bemerkt, dass Anselm nicht viel von den Graneggs hielt und er kannte auch den Grund. Konrad bewahrte bis jetzt ihren alten Glauben, was er bedauerlicherweise nicht geschafft hatte. Schuldbewusst sah er zu Marrill, sie ahnte nichts von seinen düsteren Gedanken und lächelte ihn dankbar an. Er musste sich wieder mehr um seine Tochter kümmern. Gerne würde er Marrill dieses Fest ersparen, nur waren andere Prinzessinnen in ihrem Alter längst verheiratet. Lange genug hatte er sie verschont.

Was er Marrill nicht sagte, war, dass der Bischof auch ihn drängte, wieder zu heiraten. Um sein Königreich zu vergrößern. Allerdings waren die geeigneten Prinzessinnen jünger als seine Tochter, und das behagte dem König ganz und gar nicht.

Lustlos stocherte er in dem Kohl, worin er vergeblich nach Fleisch suchte. Marrill war sein einziges Kind, er sollte sie davor bewahren, die drückende Last, die die Gesetze der Kirche ihnen auferlegten, zu erdulden.

Nur wie sollte ihm das gelingen? Der Bischof spielte seine ganze Macht aus. Deshalb sollte er unbedingt mit seinem Freund Konrad sprechen! Diese Freundschaft hatte er nach dem Tod seiner Gemahlin viel zu stark vernachlässigt.

Erst heute hatte er den Falken von König Konrad gesichtet. Früher hatten sie sich durch den Raubvogel Botschaften gesendet, er sollte mal nach seinem alten Lederhandschuh schauen, um den Falken zu sich zu rufen.

Hugin & Munin

ODINS RABEN

Nur den Stall noch ausfegen und den Pferden frisches Wasser bringen, dann war seine Arbeit für heute getan. Die Worte Marrills gingen Hakon nicht aus dem Kopf. Maiva eine Hexe! Das konnte er nicht dulden. Der neue Glaube behagte ihm so gar nicht. Ein Glaube, in dem behauptet wurde, dass alle Hexen brennen sollten. Seit jeher war die Meinung der Frauen wichtig. Sie hatten ein neunmal besseres Gespür als der Mann, und deshalb wurde vor wichtigen Entscheidungen stets das Weib um Rat gefragt.

Immer wieder sah er über den Burghof, ob nicht der Bischof vom Essen kam, um sein Pferd zu holen, damit er zurück ins Kloster reiten konnte.

Der Bischof war ihm nicht geheuer, er spielte ein falsches Spiel. In einer Waldlichtung hatte er Anselm dabei beobachtet, wie er mit einer Armbrust auf Raben schoss. Er war ein guter Schütze, und die Vögel fielen getroffen zu Boden.

Hakon dachte an die Raben Hugin und Munin. Alles, was einst heilig und geachtet war, wurde jetzt verfolgt und verteufelt, wenn es auch nur Raben oder Wölfe waren. Nur dass die Kirche mit den Frauen auch so umging, konnte Hakon beim besten Willen nicht verstehen. Der Kerl und das Weib waren eine Einheit, sie brauchten einander. Hakon wollte nicht weiter darüber nachdenken, doch so einfach ließen sich Gedanken nicht abstellen. Ihre Welt war eine andere geworden, seit es diesen neuen Gott gab. Erneut begann er zu fegen, doch der Vorfall ließ ihn nicht in Ruhe. Wie das Schicksal so spielte, waren er und Anselm beide von adligem Geschlecht. Der Bischof war der letzte Sohn eines Grafen und Hakon der erste, nur war er ein Bastard. Gebrandmarkt für etwas, wofür er nichts konnte; egal wie sehr er sich bemühte, er würde immer der Bastard bleiben. Der Bischof saß am königlichen Tisch und speiste dort zu Abend, und Hakon fegte den Stall aus. Seiner Rolle als Außenseiter war er sich nur allzu bewusst. Doch inzwischen wusste er, mit seiner Verbitterung umzugehen und für das Wenige, was er hatte, dankbar zu sein, und den Umstand hatte er nur einer Frau zu verdanken: Maiva.

Sleipnir wieherte. »Ja, mein Guter. Ich weiß, ich bin gerade undankbar, aber so ist das Leben auch! Wenn du mir doch nur erzählen könntest, was mit unserer Königin Hella geschehen ist, wäre ich nicht mehr im Ungewissen. Ich bin mir sicher, dass deine Verletzung mit so einer Schleuder verursacht wurde.« Als er damals den Bischof zufällig sah, wie er auf die Raben schoss, hatte er sich einen der toten Vögel genauer angeschaut, die der Bischof einfach so liegen gelassen hatte. Der tödliche Schuss war identisch mit der Wunde des verletzten Pferdes.

Hakon wuschelte durch seine Mähne. »Aber auf unsere Prinzessin musst du gut achten. Marrill und Maiva sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben.« Sleipnir nickte mit dem Kopf, als würde er Hakon verstehen. Doch plötzlich wurde er unruhig und scharrte nervös mit den Hufen.

»Was hast du?« Beruhigend strich Hakon über das Fell.

Das Pferd stand still und spitzte ängstlich die Ohren. Hakon horchte ebenso und hörte Schritte über den Hof eilen, direkt zu ihm in den Stall.

»Verdammt, der Bischof!« So schnell es sein Bein zuließ, lief er zu dem Stall des schwarzen Wallachs, der dem Bischof gehörte.

»Bischof Anselm, ich wollte mit Euch sprechen!«

»Ach, der Stallknecht! Was wollt Ihr?«, fragte er herablassend und führte sein Pferd aus dem Stall.

»Die Prinzessin leidet immer noch unter dem Tod ihrer Mutter! Maiva liebt das Kind, als wäre es ihr eigen Fleisch und Blut. Ich finde es herzlos, der Prinzessin zu drohen, Ihr würdet Maiva der Hexerei anklagen und Prinzessin Marrill ins Kloster bringen lassen.«

»Wenn die Amme sie nur mehr zu Gehorsam und Gottesfürchtigkeit erzogen hätte! Dann wäre sie schon längst vermählt, aber nein, darum muss ich mich jetzt kümmern!«

»Ihr wisst ganz genau, dass die Leinbergs und die Graneggs eine tiefe Freundschaft verbindet. Warum wolltet Ihr sie nicht einladen? Dies wäre die ideale Verbindung zweier Reiche.«

»Das fragt Ihr mich? Im Reich der Graneggs steht nicht einmal ein Gotteshaus, da wird noch der alten Eiche gehuldigt. Ein König wird allein durch Gottes Gnade eingesetzt und nicht durch einen alten Baum.« Er lachte verächtlich. »Wenn ich mal Papst bin, dann werde ich solche Gotteslästerungen nicht länger dulden!«

»Es ist unsere Tradition, dass Könige durch ihre Vorbildlichkeit regieren und nicht durch Befehlsgewalt. Bei uns kann kein Fürst unbegrenzte oder willkürliche Befehle erteilen. Doch seit Ihr Euch in alles einmischt, ist nichts, wie es einst war. Und unsere Prinzessin wäre bei den Graneggs gut aufgehoben.«

»Wenn die sich taufen lassen, ihre sündigen Quellen versiegeln, in denen sie nur Unzucht treiben, und eine Kirche bauen, wo jetzt die Eiche steht, der sie huldigen, dann jederzeit. Ansonsten werden sie einmal qualvoll im Höllenfeuer enden. Das wollt Ihr doch der Prinzessin ersparen?«

»Ihr wollt Papst werden?« Hakon lachte herablassend bei dem Gedanken. »Und wie habt Ihr vor, uns sogenannte Heiden zu bekehren? Durch mehr Hinweise auf Wunder, wo bis jetzt keins eingetroffen ist? Oder durch Euern vorbildlichen Wandel?« Er schüttelte den Kopf. »Der ist leider durch und durch verderbt! Oder durch die Liebe, von der Ihr nur allzu gerne predigt? Davon ist leider nirgends eine Spur zu entdecken. Euch bleibt nur, Angst zu verbreiten, und das ist wirklich erbärmlich!«

»Ihr werdet schon sehen, wenn Ihr in der Hölle schmort, weil Ihr Euch ohne Trauschein mit der Amme vergnügt. Jeder weiß es, und ich werde es, mit Gottes Gnade, nicht mehr länger dulden!«

»Ihr tut es schon wieder.« Hakon schüttelte mit dem Kopf, drehte sich um und lief zu Sleipnir, der während des ganzen Gespräches unruhig auf sich aufmerksam gemacht hatte. Auch Anselms Pferd riss ängstlich die Augen auf, doch es stand nicht in Hakons Macht, es zu besänftigen. Tagsüber schon, da schenkte er ihm manche Aufmerksamkeit. Ihm tat das Tier leid, genauso wie die Menschen, die unter seinem Herrn leiden mussten.

»Und ihr seid und bleibt ein bedauernswerter hinkender Stallknecht, der sich mit einer Hexe vergnügt.« Hämisch lachend stieg der Bischof auf seinen Wallach und ritt davon.

»Bist du noch hier, Hakon?«, fragte Maiva. Im Stall war es dunkel, und sie konnte Hakon nirgendwo finden.

»Ja, meine Liebe. Ich komme.«

Mit hängenden Schultern kam Hakon aus dem Stall, besorgt sah Maiva ihn an. »Beim Holunder der heiligen Hel, was ist geschehen?«

»Der Teufel in Person ist mir erschienen.«

»Loki?«

»Nein, Anselm.«

Maiva lachte herzlich. »Wenn der Bischof das jetzt hören könnte, dass du ihn Teufel nennst. Was wollte er von dir?«

Hakon erzählte ihr von seiner Unterredung mit ihm.

Tröstend fuhr sie über seinen Arm. »Wo andere ein Herz haben, hat er einen kalten Stein. Er ist verblendet. Vernarrt in den Gedanken, die ganze Welt bekehren zu wollen.«

»Ich fühle mich so machtlos! Es bringt mich um den Verstand, mit ansehen zu müssen, was er mit den Menschen macht, die mir am liebsten sind. Ich habe versagt, euch vor ihm zu beschützen, und König Baldwin genauso.« Hakon wirkte richtig verzweifelt.

»Komm mit in meine Kammer, ich weiß, was dir guttut und dich auf andere Gedanken bringt.« Sie nahm seine Hand und wollte gemeinsam mit ihm über den Hof laufen.

»Maiva, wenn uns jemand sieht, ist das Gerede wieder groß. Ich möchte nicht, dass sie schlecht über dich denken.«

»Ach, Hakon, wir sind alt. Den Großteil unseres Lebens haben wir hinter uns, es interessiert mich nicht mehr, was andere von mir oder uns denken. Aber ich möchte, dass Marrill noch ein schönes Leben vor sich hat. Ich wünsche mir, dass sie all das erleben darf, was wir in unserer Jugend erlebt haben und von unseren Ahnen lernen durften.«

»Maiva, die Zeiten ändern sich, nichts ist so, wie es einmal war. Damit müssen wir leben!«

Baldur

DER GOTT DER REINHEIT, SCHÖNHEIT UND DER GERECHTIGKEIT

Ihr schnitzt einen Pfeil aus der magischen Mistel? Besser solltet Ihr zu mir herunterkommen!« Ein Edelmann sah von seinem schwarzen Hengst aus amüsiert auf den alten Kirschbaum, wo jeder Windhauch die Blüten wie Schneeflocken durch die Luft tanzen ließ. Auf einem Ast neben der Mistel saß Marrill mit einem Messer.

»Warum sollte ich?«, fragte sie ihn belustigt.

»Wer sich unter einer Mistel befindet, ist wie die Mistel selbst, frei von jeder gesellschaftlichen Gepflogenheit, wo Unmögliches möglich werden kann.«

»Und was sollte möglich werden?« Herausfordernd sah sie den Fremden an.

»Wenn eine Maid und ein Kerl sich zufällig unter einem Mistelzweig begegnen, dürfen sie einander, egal wer sie sind, küssen und liebkosen.«

»Nur stehe ich nicht unter der Mistel, sondern sitze daneben«, erwiderte Marrill keck. »Außerdem kann der Zauber sieben Jahre anhalten, das ist mir zu riskant.«

»So, Ihr denkt, ich bin Eurer nicht würdig?« Er zog galant den Hut und Marrill musste sich eingestehen, dass er mit dem blonden Haar, das zu einem Zopf zusammengefasst war, recht gut aussah. »Möglich«, antwortete sie nur knapp.

»Und was wäre, wenn ich ein Prinz wäre?«

»Das imponiert mir nicht. Ich schnitze lieber weiter meinen Pfeil.«

»Was habt Ihr vor damit?«, fragte er lächelnd.

»Lokis Mistelpfeil traf Baldur und tötete ihn. Mit diesem hier darf Loki gerne auf den Bischof zielen.« Tippend prüfte sie mit dem Zeigefinger, ob der dünne Pfeil spitz genug war.

»Das beruhigt mich, dass Ihr nicht selbst schießen wollt. Nur solltet Ihr jede Menge davon anfertigen, denn der neue Glaube breitet sich schneller aus als der Samen des Löwenzahns.«

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Marrill hatte das Gefühl, in seinen blauen Augen zu versinken. Bedauernd zuckte sie mit den Schultern. »Da habt Ihr leider recht. Manchmal kommt mir der Verdacht, wie wenn Loki sich diebisch freut, dass unsere Götter in Vergessenheit geraten.« Marrill senkte ihren Blick und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Schnitzen, weil sie auf einmal verlegen war.

»Ja, so kommt es mir ebenfalls vor. Der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht!«

Zaghaft sah sie ihn nochmal an. »Oder naht Ragnarök, und es ist unser aller Untergang?«

»Sorgt Euch nicht. Es kamen und gingen im Laufe der Zeit viele Götter, und die Welt blieb bestehen. Die einzige wahre Göttin ist unsere Mutter Erde!« Mit seiner Hand beschrieb er einen ausladenden Bogen. »Und wie Ihr seht, entfaltet sie gerade ihre volle Pracht.« Erneut zog er seinen Hut zum Gruß. »Bedauerlicherweise muss ich weiterziehen! Gebt gut acht, damit Ihr Euch nicht in den Finger schneidet oder gar vom Baume fallt!«

»Wollt Ihr zur Burg?«

»Bin ich denn hier auf dem richtigen Wege?«

»Ja, gewiss, gleich hinter den Bäumen werdet Ihr die Burg erblicken.« Neugierig fragte sie: »Seid Ihr ein Freier der Prinzessin? Dann seid Ihr zu spät dran, die Brautschau hat schon begonnen.«

Sanft tätschelte er den Hals seines Hengstes, der langsam unruhig wurde und nervös wieherte. »Ich verachte jegliche Art von Brautschau. Mein Anliegen an den König betrifft unaufschiebbare Regierungsgeschäfte. Allerdings kam mir zu Ohren, dass des Königs Tochter über alle Maßen schön sein soll, aber stolz und übermütig.«

»Ihr fürchtet die spitze Zunge der Königstochter?«

»Nein!«, lachte er, wurde aber gleich wieder ernst. »Meiner Prinzessin müsste ich in die Augen schauen und fühlen, dass sie die einzig Richtige ist.« Nachdenklich betrachtete er das Mädchen. »Außer die Augen der Prinzessin wären so voller Lebensfreude wie Eure, und wenn sie noch so seidiges hellblondes Haar hätte und dieses hinreißend bezaubernde Lächeln, als ginge die Sonne auf, dann würde ich es mir noch einmal überlegen.« Er zwinkerte ihr zu.

Marrill zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ach, da braucht Ihr Euch keine Hoffnungen zu machen. Die Prinzessin mag so Bärte wie den einer Drossel nicht!«

Laut lachend fasste sich der Prinz an seinen Kinnbart. »Ihr gefallt mir! Ich hoffe, wir begegnen uns mal wieder, schöne Maid!«

Zum dritten Mal zog er seinen Hut zum Gruß und trieb sein Pferd an.

»Bestimmt schneller, als Euch lieb ist!«, sagte Marrill leise zu sich selbst.

Flink kletterte sie vom Kirschbaum und sah sich suchend um. Bis das Klappern der Hufe nicht mehr zu hören war, erst dann rief sie: »Maiva, wo bist du?« Sie horchte auf eine Antwort, die nicht kam.

Überschwänglich sprang sie den sanften Hügel hinab. Der Frühling war nicht mehr aufzuhalten, jeden Tag erwachte er in neuen Blüten und ließ die Kraft der jungen Göttin spüren, in der Marrill vor Lebensfreude übersprühte – oder waren es die geheimnisvollen blauen Augen des blonden Jünglings?

Am Bach entdeckte sie ihre Amme, wie sie Kräuter schnitt.

»Maiva!«, rief sie schon von der Ferne, »lasst uns schnell zur Burg gehen. Meinst du, du bekommst mich noch recht hübsch hin, damit ich ein Augenschmaus für die Freier sein werde?«

Maiva lachte überrascht auf. »Was ist mit dir geschehen, Marrill? Nachdem der Bischof sagte, dass der Prinz von Granegg noch zu geschwächt sei und nicht kommen könne, wolltest du doch nicht mehr zum Fest gehen?«

»Das wollte ich auch von ganzem Herzen nicht, glaub mir. Nur heute, denke ich, wird es recht amüsant werden! Besonders für den Bischof!«

»Was hast du vor, Prinzessin«, fragte die Amme wachsam.»Gerade bin ich dem Boten eines Königs begegnet, er ist auf dem Weg zu unserer Burg, wegen unaufschiebbaren Regierungsgeschäften. Wenn ich schon heiraten muss, dann ihn.« Marrill kicherte diebisch vor Vorfreude.

Loki

HALB GOTT HALB RIESE, GOTTHEIT DES FEUERS, DER LIST UND DES SCHABERNACKS

Das Fest zu Ehren von Prinzessin Marrill war im vollen Gange, sämtliche heiratsfähigen adligen Männer waren aus diesem Anlass gekommen. Wenn er nicht eine wichtige Botschaft überbringen müsste, würde er sich diese Menschenansammlung nicht antun. Er reihte sich in die Schar der Freier, denn es war unmöglich, zum jetzigen Zeitpunkt König Baldwin die Nachricht zu überbringen.

In seiner dunklen schlichten Kleidung fiel er auf, denn die restlichen hochwohlgeborenen Herren waren herausgeputzt wie Pfauen und schnatterten wie Waschweiber.

Ihm missfiel die Zurschaustellung, obwohl sein Herz schneller schlug, wenn er an die Prinzessin dachte. Vor Jahren war er ihr begegnet, und er hatte sich schon damals in sie verliebt. Er träumte sogar davon, sie zu heiraten, doch jetzt war er unwürdig, eine Prinzessin wie Marrill zu heiraten! Hoffentlich dauerte alles nicht allzu lange, denn nach dem langen Ritt taten ihm sämtliche Glieder weh.

Wie lange sollte er hier noch stehen?

Endlich donnerte der Zeremonienmeister mit seinem Stab dreimal auf den Boden. Fanfaren kündigten die Ankunft der Prinzessin an.

Die Männer gingen zur Seite und machten einen Gang frei, durch den stolz erhobenen Hauptes die Prinzessin schritt. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid mit weiten Ärmeln aus hauchfeinem weißem Gewebe. Das blonde gelockte Haar reichte bis zum Gesäß, und ihr Haupt schmückte eine Krone mit fünf großen Smaragden und schwarzen Turmalinen an den Spitzen.

Ein anerkennendes Raunen ging durch die Menge. Sie war das hübscheste und anmutigste Mädchen, das er jemals gesehen hatte.

Halt, das stimmte nicht! Ein Grinsen überkam ihn, als er den Wildfang vom Kirschbaum erkannte. Er hatte sich schon gewundert, warum ihn das einfache Mädchen so fasziniert hatte und er gerne länger mit ihr gesprochen hätte. Sein Herz schlug schneller bei ihrem Anblick. Seine Gefühle für Marrill waren nach all den Jahren unverändert.

Ohne nach links und rechts zu schauen, schritt sie auf den Königsthron zu. Ob sie seinetwegen hier war? Denn als er eben auf die Prinzessin getroffen war, hatte sie nicht den Eindruck gemacht, als wollte sie sich einen Gemahl suchen. Jetzt verstand er auch, warum sie einen Pfeil geschnitzt hatte. Es war bestimmt des Bischofs Werk, die Prinzessin so zur Vermählung zu zwingen. Doch sie sah nicht danach aus, als würde sie sich zu irgendetwas zwingen lassen. Schmunzelnd beobachtete er Marrill; es schien, der Tag würde noch einige Überraschungen mit sich bringen.

»Meine Tochter, warum lasst Ihr uns so lange warten!«, fragte der König gereizt.

»Mein geliebter Vater, ich war mit Maiva Kräuter sammeln. Da vergaß ich die Zeit!«, begrüßte sie den König und gab ihm einen Kuss auf die Wange, dass sein Ärger sichtbar verflog.

»Prinzessin, Ihr versündigt Euch, wenn Ihr ständig Kräuter sammeln geht«, tadelte Bischof Anselm herrisch. Trotz seiner geringen Körpergröße stand er gebieterisch neben dem Thron des Königs und sah missbilligend auf die Prinzessin, die sich durch seine drohende Stimme nicht beeindrucken ließ.

»Die Kräuter helfen den Menschen bei Krankheit und Einsicht! Ihr solltet auch öfters welche zu Euch nehmen!«, erwiderte sie selbstsicher.

»Heute sucht Ihr Euch einen passenden Gemahl aus, der wird Euch das Kräuterpflücken schon austreiben! Seht Euch um, Ihr habt die freie Wahl!« Der Bischof deutete in Richtung der Edelmänner.

Die adligen Männer standen in einer Reihe; zuerst kamen die Könige, dann die Herzöge, die Fürsten, Grafen und Freiherrn, zuletzt die Edelleute. Marrill wurde durch die Reihe der Könige geführt. Interessiert schaute sie sich um, als wäre sie auf einem Markt, um frisches Gemüse zu kaufen. Mit abschätzigem Blick blieb sie beim ersten König stehen. »Ihr seid dick wie ein Weinfass! Ihr solltet besser zwei Wochen der Völlerei entsagen und einen Sud von der Holunderrinde trinken, das reinigt Euch von innen! Und bei dünner werdendem Haar helfen der Saft der Birke und ein Sud aus Brennnesseln!«

Dann wandte sie sich an den Danebenstehenden, der lang und schlaksig war: »Lasst Euch von Eurem Knecht zeigen, wie man Holz spaltet, und esst viel Bärlauch! Dann bekommt Ihr Bärenkräfte!«