Der Drachenteich - S. S. Van Dine - E-Book

Der Drachenteich E-Book

S. S. Van Dine

3,9

Beschreibung

Eine feuchtfröhliche Party in Inwood - einem ländlich geprägten Stadtteil im Norden von Manhattan: Der Schauspieler Sanford Montague springt zum Baden in den "Drachenteich" der gastgebenden Familie Stamm - und taucht nicht wieder auf. Dafür werden nach Ablassen des Wassers auf dem Teichgrund Spuren entdeckt, die denen eines Drachen ähneln. Stimmt die alte Indianer-Legende, nach der ein Seeungeheuer die Familie Stamm von ihren Feinden beschützt? Philo Vance ermittelt - und stößt auf eine in Eifersucht, Hass, Intrigen und Aberglauben verstrickte Gesellschaft, in der jeder verdächtig scheint … Der Krimi aus der Philo Vance-Reihe wurde 1934 erfolgreich verfilmt. Mit dieser Ausgabe bei krimischaetze.de ist die deutsche Erstübersetzung erstmals als E-Book verfügbar. In Zukunft werden bei krimischaetze.de regelmäßig weitere Titel erscheinen - überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen. krimischaetze.de 1. Auflage (Vollständig, überarbeitet, kommentiert) Umfang: 227 Buchseiten bzw. 206 Normseiten Null Papier Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 250

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,9 (12 Bewertungen)
3
6
2
1
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



S. S. van Dine

Der Drachenteich

Ein Fall für Philo Vance.Kriminalroman aus New York.

S. S. van Dine

Der Drachenteich

Ein Fall für Philo Vance.Kriminalroman aus New York.

(The Dragon Murder Case)

Original: Goldmann, Leipzig 1935

Übersetzung: Hans Herdegen

Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-527-6

Umfang: 206 Normseiten bzw. 227 Buchseiten

www.krimischaetze.de

 

Über krimischaetze.de

Kriminalromane sind heutzutage erfolgreich wie nie. Krimi-Klassiker? Da denken die meisten sofort an Agatha Christie (1890-1976) oder Edgar Wallace (1875-1932). Tatsächlich gehörten die britischen Autoren zu den ersten, die in den »wilden« 1920er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden. Krimi-Fans kennen oft auch den Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938), den Namensgeber des Glauser-Preises – eine der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Krimi-Autoren. Wie vielfältig die Krimi-Szene in der Weimarer Republik war, ist in der breiten Öffentlichkeit jedoch vollkommen in Vergessenheit geraten. Für krimischaetze.de haben sich Jürgen Schulze, Verleger des Null Papier-Verlages, und Sebastian Brück, Autor und Journalist, zusammengetan, um alte Krimi-Bestseller neu zu entdecken und als E-Book verfügbar zu machen – überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen.

Das krimischaetze.de-Programm startet zunächst mit sechs Titeln – sowohl Übersetzungen aus dem Englischen (S.S. Van Dine) und Schwedischen (Julius Regis), als auch deutschsprachige Originale: In je zwei Fällen ermitteln Philo Vance, der »amerikanische Sherlock Holmes«, und Maurice Wallion, der »Detektivreporter« und »Urvater« von Stieg Larssons »Millenium«-Protagonist Mikael Blomqvist. Ebenfalls vertreten sind die vergessenen Werke zweier jüdischer Autoren: Die in Budapest, Paris und San Sebastián spielende Krimikomödie »Fräulein Bandit« des Österreichers Joseph Delmont sowie der humorvolle Kriminalroman »Das verschwundene Haus – oder: Der Maharadscha von Breckendorf« des Frankfurters Karl Ettlinger.

In Zukunft werden bei www.krimischaetze.de regelmäßig weitere Titel erscheinen.

Über den Autor

Noch heute wird S.S. Van Dine immer wieder gemeinsam mit Autoren wie Agatha Christie oder Dorothy L. Sayers als Mitbegründer des goldenen Zeitalters des Kriminalromans genannt. William Huntington Wright – so lautet der echte Name des US-Autors – wählte für seine Kriminalromane ein fiktives Ich-Erzähler-Pseudonym: »Van« ist sein dritter Vorname und nicht mit dem niederländischen Adelsprädikat zu verwechseln, »S.S.« steht für »steamship« (Deutsch: »Dampfschimpf«).

Wright wurde 1888 in Virginia geboren, wo seine Eltern ein Hotel führten. Er studierte mit mäßigem Erfolg an drei Colleges, unter anderem in Harvard. Danach ging er für ein Kunststudium nach München und Paris. Zurück in den USA machte er sich in den 1910er Jahren einen Namen als Literatur- und Kunstkritiker für die Los Angeles Times sowie als Redakteur eines Literaturmagazins. Außerdem veröffentlichte er ein Fachbuch über Friedrich Nietzsche (»What Nietzsche Taught«, 1915) – ein kommentierter Überblick über alle Werke des deutschen Philosophen – sowie mehrere Kurzgeschichten.

Seine Karriere als Krimi-Autor begann in New York, als er von seinem Arzt eine zweijährige Bettruhe verordnet bekam – offiziell aufgrund von Herzproblemen, tatsächlich in Folge seiner heimlichen Kokainsucht. In dieser Zeit, ab 1923, wühlte er sich intensiv durch das Genre der Kriminal- und Detektivliteratur, die damals in literarischen Zirkeln einen schlechten Ruf hatte. Wright erschuf als Gegenpol seinen aus der reichen und eleganten Gesellschaft stammenden Protagonisten Philo Vance, der schnell zum erfolgreichsten Krimi-Ermittler seiner Zeit avancierte, bis er ab 1939 – dem Jahr in dem Wright verstarb – allmählich von Raymond Chandlers Detektiv Philip Marlowe abgelöst wurde.

Über den Romanhelden Philo Vance

Ein amerikanischer Sherlock Holmes der 1920er und 1930er – bis heute ist Philo Vance immer wieder mit diesem Etikett versehen worden. In der Tat erinnert schon die Erzählweise an Arthur Conan Doyle: In diesem Fall heißt der Chronist nicht Dr. Watson, sondern S.S. Van Dine (siehe: Über den Autor) – ein guter Freund von Philo Vance und dessen Berater und Privatsekretär.

Philo Vance ist Mitte dreißig, groß und kräftig, scharf geschnittene Gesichtszüge, graue Augen – ein durchaus attraktiver Mann, aber kein Schönling. Zuweilen wirkt er etwas snobistisch und distanziert. Dazu passen auch die stets tadellose Kleidung, seine private Kunstsammlung sowie exklusive Interessen wie Polo, Hundezucht oder Bogenschießen. Dieser Typ New Yorker kann nur aus der oberen Gesellschaftsschicht der Metropole stammen.

Vance hat im britischen Oxford studiert, ist durch eine Erbschaft finanziell unabhängig und wohnt mit seinem Butler Currie in der 38. Straße Ost in einem luxuriösen Stadthaus – ein sogenanntes Brownstone mit Dachgarten. Durch seine langjährige Freundschaft mit dem Generalstaatsanwalt John Markham wird Philo Vance immer wieder in spannende Kriminalfälle hineingezogen. Auch Sergeant Heath, Leiter der Mordkommission des New York Police Department (NYPD), greift gerne auf den Scharfsinn und die hohe Bildung des Amateur-Detektivs zurück. Kriminalfälle als intellektuelle Herausforderung: Indizien sammeln, Fakten analysieren – darin ist Philo Vance ähnlich gut wie einige Jahrzehnte vor ihm Sherlock Holmes.

Nach dem durchschlagenden Erfolg der Krimi-Reihe wurden von 1929 bis 1947 insgesamt fünfzehn Filme mit wechselnden Philo Vance-Darstellern gedreht. Einmal (1930) übernahm auch der Amerikaner Basil Rathbone die Rolle, der ein paar Jahre später als Sherlock Holmes-Darsteller weltberühmt werden sollte. Auch für das Radio wurden die Philo Vance-Krimis adaptiert, NBC brachte in den 1940er Jahren drei Hörspielserien.

Einige Jahrzehnte später gab es das erste Revival: 1974 wagte das italienische Fernsehen eine filmische Neuauflage und drehte eine dreiteilige Mini-Serie, 2002 entstand ein tschechischer TV-Film.

Über dieses Buch

Eine feuchtfröhliche Party in Inwood – einem ländlich geprägten Stadtteil im Norden von Manhattan: Der Schauspieler Sanford Montague springt zum Baden in den »Drachenteich« der gastgebenden Familie Stamm – und taucht nicht wieder auf. Dafür werden nach Ablassen des Wassers auf dem Teichgrund Spuren entdeckt, die denen eines Drachen ähneln. Stimmt die alte Indianer-Legende, nach der ein Seeungeheuer die Familie Stamm von ihren Feinden beschützt? Philo Vance ermittelt – und stößt auf eine in Eifersucht, Hass, Intrigen und Aberglauben verstrickte Gesellschaft, in der jeder verdächtig scheint …

Der Krimi aus der Philo Vance-Reihe wurde 1934 erfolgreich verfilmt. Mit dieser Ausgabe bei krimischaetze.de ist die deutsche Erstübersetzung erstmals als E-Book verfügbar.

Handelnde Personen

Philo Vance: Privater Ermittler in New York.

S.S. Van Dine: Privatsekretär von Philo Vance und im Hintergrund bleibender Ich-Erzähler. Wird von Philo Vance mit seinem dritten Vornamen »Van« angesprochen.

John Markham: Bezirksstaatsanwalt von New York.

Sergeant Heath: Leiter der Mordkommission des New York Police Department (NYPD)

Sanford Montague: Ein gutaussehender Schauspieler, der beim Baden im Drachenteich verschwunden ist.

Rudolph Stamm: Oberhaupt einer reichen New Yorker Familie

Mathilda Stamm: Seine Mutter

Bernice Stamm: Seine Schwester und Verlobte von Montague

Leland: Guter Freund des Hauses Stamm, hat die Polizei informiert.

Alex Greeff: Bekannter Börsenmakler und Finanzberater der Familie Stamm

Kirwin Tatum: Lebenskünstler mit schlechtem Ruf, ist in Bernice Stamm verliebt

»Teeny« McAdam: Vergnügungssüchtige Witwe. Hat ein Auge auf Rudolph Stamm geworfen.

Ruby Steele: Exzentrische Künstlerin

Trainor: Butler im Hause Stamm

Dr. Holliday: Hausarzt der Stamms

Hennessey, Burke, Snitkin: Detectives des NYPD

Dr. Emanuel Doremus: New Yorker Polizeiarzt und Leichenbeschauer

Currie: Englischer Butler und Hausmeister von Philo Vance

1. Die Tragödie

(Sonnabend, 11. August, 23.45 Uhr)

Philo Vance hatte eine Ferienreise nach Norwegen geplant, aber eine wissenschaftliche Arbeit über Ägypten nahm ihn so in Anspruch, dass er in Amerika blieb. Auf diese Weise wurde er in die Untersuchung eines der seltsamsten Mordfälle der Kriminalgeschichte hineingezogen.

Kurz nach seiner Studentenzeit auf der Harvard-Universität hatte er mich gebeten, als Rechtsanwalt und Vermögensverwalter für ihn tätig zu sein, und ich fühlte eine so große Zuneigung und Bewunderung für ihn, dass ich darauf einging und aus der Firma meines Vaters Van Dine, Davis & Van Dine austrat. Diesen Entschluss habe ich niemals bereut, denn der Umgang mit Philo Vance ermöglichte es mir, authentisch über die verschiedenen Verbrechen zu berichten, die er ganz allein aufklärte.

Mit diesem besonderen Fall brachten ihn seine freundschaftlichen Beziehungen zu John Markham in Berührung, dem Bezirksstaatsanwalt von New York.

Es war am 11. August, und es ging auf Mitternacht zu. Markham hatte mit meinem Freund und mir zusammen im Dachgarten von Vances Wohnung zu Abend gegessen, und wir drei hatten uns zwanglos über die verschiedensten Dinge unterhalten. Wir waren alle etwas müde und abgespannt, und allmählich entstanden immer größere Pausen im Gespräch. Draußen war es schwül und drückend. Stundenlang hatte es geregnet, und erst gegen zehn Uhr abends hatte das Unwetter aufgehört. Vance hatte gerade einen kühlen Drink für uns gemischt, als Currie, sein Butler, in der Tür zum Dachgarten erschien.

»Mr. Markham wird dringend am Telefon gewünscht«, meldete er. »Ich habe mir erlaubt, den Apparat gleich mitzubringen. Es ist Sergeant Heath.«

Markham sah ärgerlich und überrascht auf, nickte aber. Seine Unterredung mit dem Sergeant dauerte nicht lange, und als er den Hörer zurücklegte, runzelte er die Stirn.

»Sonderbare Geschichte«, brummte er. »Das sieht Heath gar nicht ähnlich. Er macht sich Gedanken über eine Sache und will mich unbedingt sehen. Um was es sich handelt, hat er nicht gesagt, und ich habe auch nicht darauf gedrungen. Er hat bei mir zu Hause erfahren, dass ich hier bin. Der merkwürdige Ton, in dem er mit mir sprach, gefiel mir nicht, deshalb sagte ich Heath, er solle herkommen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, Vance.«

»Im Gegenteil«, erwiderte mein Freund und setzte sich bequemer in den Lehnstuhl. »Ich habe den tüchtigen Sergeant schon monatelang nicht mehr gesehen … Currie«, rief er, »bringen Sie Whisky und Soda. Sergeant Heath kommt.« Dann wandte er sich wieder zu Markham. »Ich hoffe, es ist kein Unglück geschehen. Vielleicht hat ihn die Hitze zu sehr mitgenommen.«

Markham schüttelte besorgt den Kopf.

»Es gehört mehr als diese Hitze dazu, um Heath aus dem Gleichgewicht zu bringen.« Er zuckte die Schultern. »Nun, wir werden ja bald hören, was los ist.« Ungefähr zwanzig Minuten später kam der Sergeant. Als er auf den Dachgarten hinaustrat, wischte er sich die Stirn mit einem großen Taschentuch, und nachdem er uns alle etwas geistesabwesend begrüßt hatte, ließ er sich in einen Sessel sinken und griff nach dem Glas Whisky-Soda, das Vance ihm zuschob.

»Ich war eben in Inwood«1, erklärte er seinem Vorgesetzten. »Es ist jemand verschwunden, und die Sache kommt mir verdächtig vor.«

Markham sah ihn düster an. »Weshalb?«

»Heute Abend um zehn Uhr fünfundvierzig ruft ein gewisser Leland die Mordkommission an und sagt, dass sich auf dem alten Landsitz der Familie Stamm in Inwood eine Tragödie abgespielt hätte, und dass ich sofort hinkommen solle …«

»Das ist allerdings der gegebene Platz für ein Verbrechen«, unterbrach ihn Vance. »Die Stamms haben eine der ältesten Parkvillen der Stadt. Vor ungefähr hundert Jahren wurde sie gebaut, und man erzählt sich viele sonderbare Geschichten darüber.«

Heath sah ihn erleichtert an. »Ja, ganz recht. Dasselbe Gefühl hatte ich auch, als ich hinkam. Natürlich habe ich Leland gefragt, was passiert ist. Darauf erfuhr ich, dass der Schauspieler Montague dort beim Baden in das Schwimmbassin getaucht und nicht mehr zum Vorschein gekommen war.«

»Handelt es sich vielleicht um den alten Drachenteich?«, fragte Vance, richtete sich auf und langte nach einer Zigarette.

»Ja. Ich habe den Namen allerdings heute Abend zum ersten Mal gehört. Ich sagte Leland, dass ich mich nicht damit befassen könnte, aber er bestand darauf und erklärte, dass sich die Polizei sofort um die Angelegenheit kümmern müsse. Er sprach so eindringlich, dass es Eindruck auf mich machte. Sein Englisch hatte keinen ausländischen Akzent, trotzdem glaube ich nicht, dass er Amerikaner ist. Ich fragte ihn, warum gerade er anriefe, wenn sich bei den Stamms etwas ereignet hätte. Darauf erwiderte er, dass er ein alter Freund der Familie sei und die Tragödie miterlebt hätte. Stamm wäre außerdem nicht in der Lage, selbst zu telefonieren, deshalb hätte er sich im Augenblick der Sache angenommen. Mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen.«

»Und daraufhin sind Sie hinausgefahren?«, fragte Markham.

»Ja.« Heath nickte verlegen. »Ich nahm Hennessey, Burke und Snitkin mit, und wir fuhren in einem Dienstauto hin.«

»Und was fanden Sie?«

»Nichts!«, entgegnete Heath nervös. »Ich fand nur bestätigt, was ich am Telefon gehört hatte. Zum Wochenende hatte Stamm einige Damen und Herren eingeladen. Montague gehörte auch zu den Gästen und hatte zur Erholung ein Bad im Drachenteich vorgeschlagen. Vorher hatten die Leute anscheinend etwas zu viel getrunken. Sie gingen zum Wasser hinunter und zogen sich aus …«

»Einen Augenblick, Sergeant«, unterbrach ihn Vance. »War Leland auch betrunken?«

»Nein. Er hatte einen klaren Kopf bewahrt, aber er machte trotzdem einen etwas merkwürdigen Eindruck. Es schien ihn sehr zu beruhigen, dass ich kam. Er nahm mich beiseite und sagte mir, ich solle die Augen offenhalten. Natürlich fragte ich ihn, was er damit meine, aber nun tat er plötzlich gleichgültig und erwiderte nur, dass sich früher seltsame Vorgänge in dieser Gegend abgespielt hätten und heute Abend etwas Besonderes passiert wäre.«

»Ich glaube, ich weiß, was er meint«, entgegnete Vance. »Dieser Stadtteil ist von vielen Legenden umsponnen — Altweibermärchen und abergläubische Geschichten, die von Indianern überliefert wurden.«

»Nun gut«, nahm der Sergeant seinen Bericht wieder auf. »Nachdem alle an den Teich gegangen waren, trat Montague auf das Sprungbrett und machte einen Kopfsprung, aber er kam nicht mehr zum Vorschein.« »Woher wussten denn die anderen so bestimmt, dass er nicht wieder an die Oberfläche kam?«, fragte Markham. »Es muss doch nach dem Regen sehr dunkel gewesen sein. Jetzt ist es ja noch bewölkt.«

»Der Teich war hell erleuchtet«, erklärte Heath. »Sie haben mindestens ein Dutzend Lampen am Wasser.«

»Gut, fahren Sie fort!« Markham griff ungeduldig nach seinem Glas. »Was ereignete sich dann?«

»Nicht viel. Die anderen Herren tauchten nach ihm und versuchten, ihn im Wasser zu finden, aber nach ungefähr zwanzig Minuten gaben sie es auf. Leland sagte ihnen, es wäre besser, wenn sie wieder ins Haus gingen. Er würde die Behörden verständigen.«

»Seltsam, dass er das getan hat, die Sache sieht nicht nach einem Kriminalfall aus«, meinte Markham nachdenklich.

»Gewiss ist das seltsam«, stimmte Heath eifrig zu. »Aber was ich fand, war noch viel seltsamer.«

Vance blies eine Rauchwolke zur Decke. »Diese romantische Gegend von New York macht also schließlich doch noch ihrem Ruf Ehre. Was haben Sie denn gefunden, Sergeant?«

»Zunächst war Stamm schwer betrunken, und ein Doktor aus der Nachbarschaft bemühte sich, ihn wieder zu sich zu bringen. Stamms jüngere Schwester ein hübsches Mädchen von ungefähr fünfundzwanzig Jahren – hatte einen Weinkrampf und fiel von einer Ohnmacht in die andere. Die vier oder fünf übrigen Gäste machten Ausflüchte und Entschuldigungen, statt sofort offen Auskunft zu geben. Und während der ganzen Zeit ging Leland hin und her, zog die Augenbrauen hoch und machte ein Gesicht, als ob er viel mehr wüsste, als er mir gesagt hatte. Dann haben sie dort draußen einen sonderbaren Butler, der umherschleicht wie auf Filzsohlen.«

»Ja, ja.« Vance nickte ernst. »Alles sehr geheimnisvoll … wie in einem Schauerroman. Der Wind fuhr stöhnend durch die Fichten, und eine Eule schrie in der Ferne. Vom Dachgeschoss her kamen raschelnde Laute, eine Tür knarrte, und dann klopfte es, nicht wahr, Sergeant? Hier, trinken Sie noch einen Whisky-Soda, Sie zittern ja an allen Gliedern.« Seine Stimme klang belustigt, aber unter halbgeschlossenen Augen sah er Heath scharf an, und der Ton seiner Stimme verriet, dass er den Bericht viel ernster nahm, als man nach seinen Worten hätte vermuten können. Ich erwartete, dass sich Heath verletzt fühlen würde, aber ich täuschte mich.

»Sie schildern die Situation ganz richtig, Mr. Vance«, sagte er.

Markham wurde ärgerlich. »Ich finde wirklich nichts Besonderes an dem Fall«, widersprach er. »Ein Mann springt in ein Schwimmbassin, stößt mit dem Kopf auf den Grund und ertrinkt. Und was Sie sonst berichtet haben, lässt sich auch auf ganz natürliche Weise erklären. Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand betrunken ist, und dass eine Frau nach einem solchen Unglück hysterische Zustände bekommt, hat man doch schon oft genug erlebt. Selbstverständlich wollten sich die anderen Gäste nach dem traurigen Vorfall empfehlen. Leland hat die einfache Geschichte eben aufgebauscht. Außerdem haben Sie ja schon immer eine Abneigung gegen den Butler gehabt. Die Mordabteilung hat nichts mit diesem Fall zu tun, denn ein Mordverdacht ist schon dadurch ausgeschlossen, dass Montague selbst das Bad im Teich vorschlug. Das war an einem so heißen Abend ein sehr vernünftiger Einfall. Dass er nicht wieder auftauchte, muss doch nicht ein Verbrechen voraussetzen.«

Heath zuckte die Schultern und steckte sich eine Zigarre an. »Das habe ich mir auch gesagt«, erwiderte er hartnäckig. »Aber die Geschichte hat bestimmt einen Haken.«

Markham verzog den Mund und sah den Sergeant nachdenklich an. »Haben Sie noch einen anderen Grund für diese Annahme?«, fragte er nach einer Pause.

Heath antwortete nicht sofort. Offenbar wusste er noch mehr, überlegte aber, ob er davon erzählen sollte. Schließlich richtete er sich auf und nahm die Zigarre aus dem Mund. »Die Fische gefallen mir nicht!«, sagte er plötzlich.

»Fische?«, wiederholte Markham erstaunt. »Was für Fische?«

Der Sergeant zögerte wieder.

»Ich glaube, ich kann Ihnen das erklären, Markham«, warf Vance ein. »Rudolph Stamm ist einer der bedeutendsten Aquarienbesitzer in Amerika und hat eine hervorragende Sammlung von Tropenfischen. Vor allem ist es ihm gelungen, seltene, wenig bekannte Arten zu züchten. Seit zwanzig Jahren ist das seine Liebhaberei, und er macht dauernd Expeditionen – an den Amazonas, nach Siam, Indien, Paraguay, Brasilien und auf die Bermudas. Er hat auch schon Reisen nach China und den Orinoco hinauf unternommen. Erst vor einem Jahr waren die Zeitungen voll von Berichten über seine Reise nach Liberia und den Kongo.«

»Es sind sonderbare Geschöpfe«, sagte Heath. »Einige sehen aus wie Seeungeheuer, die nicht ausgewachsen sind.«

»Trotzdem sind sie in Form und Farbe sehr schön«, meinte Vance lächelnd.

»Aber das war noch nicht alles«, fuhr Heath fort, ohne auf die letzte Bemerkung zu achten. »Dieser Stamm hat auch Eidechsen und kleine Krokodile …«

»Wahrscheinlich auch Schildkröten, Frösche und Schlangen?«

»Natürlich hat er Schlangen!« Der Sergeant schnitt eine verächtliche Grimasse. »Eine ganze Menge! Sie kriechen aus flachen Wassertanks heraus …«

»Ja.« Vance nickte. »Stamm besitzt auch ein Terrarium neben seinen Fischen. Man findet ja häufig beides zusammen.«

Markham brummte. »Vielleicht hat sich Montague nur einen Scherz mit den anderen Gästen erlaubt«, sagte er schließlich. »Woher wissen Sie denn, dass er nicht unter Wasser zur anderen Seite des Teiches geschwommen und am jenseitigen Ufer verschwunden ist? Es war doch dunkel genug, dass die anderen ihn nicht sehen konnten.«

»Gewiss, das Licht der Lampen reicht nicht ganz über das Wasser, aber diese Erklärung scheidet aus. Ich dachte zunächst auch, dass sich die Sache so verhalten könnte, nachdem die Gesellschaft so viel getrunken hatte, aber das jenseitige Ufer des Teiches wird von einer steilen Felsenklippe gebildet. Sie dürfte etwa dreißig Meter hoch sein. Am oberen Ende des Teichs, wo der Zufluss einmündet, befindet sich ein großer Filter. Es würde einem Mann schwer fallen, hinaufzuklettern, außerdem liegt der Filter noch im Bereich der Lampen, so dass alle Gäste Montague hätten sehen müssen. Das untere Ende des Teichs ist durch eine hohe Zementmauer abgedämmt, die jenseits etwa sechs Meter auf felsigen Grund abfällt. Niemand wird es riskieren, dort hinunterzuspringen, nur um sich einen Scherz zu erlauben. An der dem Haus zugekehrten Seite, wo sich das Sprungbrett befindet, ist eine Stützmauer aus Beton gezogen, die ein Schwimmer erklettern kann, aber dann gerät er auch in das helle Licht der Uferlampen.«

»Und Montague hätte den Teich auf keinem anderen Weg ungesehen verlassen können?«

»Doch, es gibt noch einen, aber den hat er nicht gewählt. Zwischen dem Filter und der Felsenklippe jenseits des Teiches liegt nämlich eine freie Stelle von ungefähr fünf Metern, die zu dem niedriger gelegenen Teil des Parks führt. Dort ist es sehr dunkel, und man kann von drüben aus nicht hinübersehen.«

»Dann klärt sich der Fall wahrscheinlich auf diese Weise auf.«

»Nein, Mr. Markham«, versicherte Heath nachdrücklich. »Sobald ich die Lage des Teichs und des Geländes übersehen konnte, nahm ich Hennessey mit, und wir suchten an dem fünf Meter breiten Uferstreifen nach Fußspuren. Sie wissen, dass es den ganzen Abend geregnet hat. Fußabdrücke irgendwelcher Art wären deutlich zu sehen gewesen, aber der ganze Boden war eben. Wir gingen sogar weiter bis zu der kleinen Rasenfläche, weil wir dachten, Montague wäre vielleicht auf einen Felsvorsprung geklettert und von dort auf den Rasen gesprungen. Aber wir entdeckten nichts.«

»Dann wird man ihn wahrscheinlich finden, wenn der Teich abgesucht wird«, sagte Markham. »Haben Sie veranlasst, dass das geschieht?«

»Das hat heute Nacht keinen Zweck mehr. Es würde zwei oder drei Stunden dauern, bis wir ein Boot und lange Haken an Ort und Stelle hätten, und im Dunkeln kann man sowieso nicht viel erreichen. Aber morgen in aller Frühe machen sich die Leute sofort daran.«

»Nun, dann wüsste ich nicht, was wir heute Abend noch tun sollten«, erwiderte Markham ungeduldig. »Sobald der Tote gefunden ist, wird der Polizeiarzt gerufen, und der wird Ihnen wahrscheinlich erklären, dass der Mann sich den Schädel gebrochen hat und dass es sich um einen Unglücksfall handelt.«

Diese Worte bedeuteten eigentlich eine Verabschiedung, aber Heath ließ sich nicht fortschicken. Ich hatte den Sergeant noch niemals so zäh und hartnäckig gesehen.

»Sie mögen recht haben«, entgegnete er zögernd, »aber ich bin anderer Ansicht und vor allem hergekommen, um Sie zu bitten, nach Inwood hinauszufahren und sich selbst einmal dort umzusehen.«

Ein gewisser Unterton in der Stimme des Beamten ließ Markham aufhorchen. »Was haben Sie denn eigentlich bis jetzt unternommen?«, fragte der Staatsanwalt nach einer Pause.

»Noch nicht viel«, gestand der Sergeant. »Ich hatte ja kaum Zeit dazu. Natürlich schrieb ich die Namen und Adressen aller Anwesenden auf und befragte sie in der üblichen Weise. Stamm konnte ich nicht sprechen, weil der Arzt sich noch um ihn bemühte. Die meiste Zeit habe ich damit verbracht, mich am Teich umzuschauen, weil ich hoffte, dabei etwas herauszubekommen, aber ich hatte keinen Erfolg. Schließlich ging ich ins Haus und rief Sie an. Ich ließ die drei Beamten dort zurück und sagte den anderen, dass sie nicht fortgehen dürften, bis ich zurückkäme. Und dann fuhr ich zu Ihnen.«

»Sie sind also davon überzeugt, dass ein Verbrechen vorliegt?«, fragte Markham.

»So weit will ich nicht gehen, aber die Geschichte gefällt mir nicht. Die Beziehungen der Leute untereinander sind auch sehr merkwürdig, jeder scheint auf jeden eifersüchtig zu sein. Mehrere der Männer sind verliebt in dasselbe Mädchen, und niemand – mit Ausnahme von Stamms Schwester – schien sich etwas daraus zu machen, dass Montague nicht mehr auftauchte. Ich glaube, es schien ihnen sogar entgegenzukommen, und das konnte ich nicht verstehen. Auch Miss Stamm trauerte offenbar nicht so sehr um Montague. Ich kann es nur schwer erklären, aber ich meine, dass sie sich über etwas ganz anderes aufregte, das mit seinem Verschwinden zusammenhängt.«

»Trotzdem halte ich es für richtig, bis morgen zu warten«, erwiderte Markham.

Während sich der Staatsanwalt und Heath unterhielten, lehnte sich Vance bequem in seinem Sessel zurück und rauchte. Er wirkte abwesend, aber ich wusste, dass er sich stark für alles interessierte, was gesprochen wurde. Plötzlich drückte er seine Zigarette aus und erhob sich. »Markham, alter Junge, wir sollten wirklich mit dem Sergeant hinausfahren. Es kann nicht im Geringsten schaden, und die Nacht ist sowieso zu heiß zum Schlafen. Ein wenig Ablenkung hilft uns über die Hitze weg.«

Markham sah ihn überrascht an. »Warum wollen Sie denn mitkommen?«

»Weil ich mich ungeheuer für Stamms Fische interessiere«, entgegnete Vance und unterdrückte ein Gähnen. »Ich habe mich nämlich selbst früher einmal mit der Zucht siamesischer Kampffische und ähnlicher Tiere abgegeben.«

Markham schaute ihn einige Sekunden an, ohne etwas zu erwidern. Er kannte Vance gut und wusste, dass ganz andere Gründe für ihn maßgebend waren. Schließlich stand er auch auf und sah auf seine Uhr. »Es ist schon nach Mitternacht«, sagte er widerwillig. »Natürlich ist das die passendste Zeit, ein Aquarium zu besuchen! Wollen wir im Dienstauto fahren, oder nehmen wir Ihren Wagen?«

»Selbstverständlich nehmen wir meinen.«

Vance klingelte Currie und ließ sich Hut und Stock bringen.

2. Eine verblüffende Beschuldigung

(Sonntag, 12. August, 0.30 Uhr)

Sergeant Heath fuhr voraus, Markham, Vance und ich folgten in dem Wagen meines Freundes. Von der Dyckman Street wandten wir uns westlich zur Payson Avenue und von dort zu der sich steil nach oben windenden Bolton Road. Als wir den höchsten Punkt erreicht hatten, bogen wir in einen breiten Privatweg ein und fuhren bis zur Höhe des Hügels, auf dem das bekannte Haus der Familie Stamm stand. Das Grundstück lag zwischen Zedern, Eichen und Fichten, ruhigen Rasenflächen und Felspartien. Und obwohl man fast zu jeder Seite einen Ausblick auf das moderne New York hatte, überkam mich doch ein Gefühl von Abgeschiedenheit in dieser Gegend. Plötzlich schien ich weit entfernt zu sein von all dem geschäftigen Treiben der Weltstadt und erkannte, wie wenig Inwood in die jetzige Zeit passte. Das Gelände mit seinen großen Bäumen, seinen alten Häusern, seiner Wildnis und seiner ländlichen Stille gehörte wohl zu Manhattan, aber es schien weit weg in einem anderen Land zu liegen.

Als wir auf einen kleinen Parkplatz am Ende des Privatweges einbogen, sahen wir einen alten Ford ungefähr fünfzig Meter vor der Haustür stehen.

»Er gehört dem Arzt«, bemerkte Heath, als er ausstieg. »Die Garage liegt weiter unten östlich vom Haus.«

Er führte uns zu der Bronzetür hinauf. Wir trafen Detective Snitkin in der kleinen Vorhalle, deren Wände mit dunklem Eichenholz verkleidet waren. »Ich bin froh, dass Sie wieder hier sind, Sergeant«, sagte der Beamte, nachdem er uns begrüßt hatte.

»Ihnen gefällt es hier wohl auch nicht?«, fragte Vance.

»Es ist hier unheimlich«, erwiderte Snitkin und ging auf die innere Tür zu.

»Ist noch etwas passiert?«, fragte Heath.

»Nein. Aber Stamm ist wieder zu sich gekommen.« Snitkin klopfte dreimal an die Tür.

Gleich darauf öffnete der Butler, der uns misstrauisch betrachtete. »Ist es wirklich notwendig, dass so viele Beamte ins Haus kommen?«, fragte er den Sergeant höflich, während er die Tür zögernd aufhielt. »Sie müssen wissen, dass Mr. Stamm …«

»Ich habe hier zu bestimmen«, schnitt ihm Heath kurz das Wort ab, »und Sie haben meine Aufträge auszuführen und keine Fragen zu stellen.«

Der Butler verneigte sich und schloss die Tür hinter uns. »Was befehlen Sie?«

»Sie bleiben hier an der Haustür«, entgegnete Heath schroff, »und lassen niemand herein.« Dann wandte er sich an Snitkin, der uns in die geräumige Halle gefolgt war. »Wo sind die Stamms und die Gäste, und was machen sie?«

»Stamm ist mit dem Doktor drüben in der Bibliothek.« Snitkin deutete mit dem Daumen auf einen schweren Türvorhang im Hintergrund der Halle. »Die anderen habe ich auf ihre Zimmer geschickt, wie Sie mir sagten. Burke bewacht die Hintertür, und Hennessey ist unten beim Teich.«

Heath brummte. »Was soll nun zuerst geschehen?«, wandte er sich an Markham. »Soll ich Ihnen die Lage des Geländes erklären und Ihnen den Teich zeigen, oder wollen Sie zuerst jemand vernehmen?«

»Ich bin dafür, dass wir erst ein paar Fragen an die Leute richten«, sagte Vance. »Vor allem möchte ich erfahren, was sich vorher zugetragen hat und die Ansichten der einzelnen Gäste hören. Der Teich kann bis später warten. Wir müssen erst einmal die Hintergründe dieses merkwürdigen Vorfalls kennen.«

»Mir ist es gleich, was wir zuerst unternehmen«, erwiderte Markham skeptisch. »Je eher wir wissen, was hier los ist, desto besser.«

*

Vance sah sich flüchtig in der Halle um. Große, verblichene Ölgemälde hingen an den Wänden, an der Tür schwere Faltenvorhänge. Der Raum machte einen düsteren Eindruck. Die Luft war muffig.

»Wir wollen ins Wohnzimmer gehen«, sagte Markham ärgerlich. »Wo ist es, Sergeant?«

Heath zeigte auf einen schweren Vorhang zur Rechten, und wir setzten uns gerade in Bewegung, als jemand leise die Treppe herunterkam und aus dem Schatten zu uns sprach: »Kann ich irgendwie behilflich sein, meine Herren?« Ein großer Mann kam auf uns zu. Als er in den Lichtschein eines altertümlichen Kristallkronleuchters trat, sahen wir eine ungewöhnliche und – wie mir schien – düstere Gestalt.

Er war über einen Meter achtzig groß, dabei schlank und elastisch. In seinem dunklen Gesicht leuchteten kühne, ruhige schwarze Augen. Seine Lippen waren dünn und gerade, und das Haar hatte er aus der niedrigen, breiten Stirn gekämmt, in dem gedämpften Licht der Halle erschien es schwarz. Er war tadellos und elegant gekleidet, aber es lag eine gewisse Nachlässigkeit in seiner Art. »Mein Name ist Leland«, erklärte er, als er vor uns stand. »Ich bin seit Jahren ein Freund dieses Hauses und war auch heute Abend hier zu Gast, als sich dieser traurige Unglücksfall ereignete.«

Er sprach mit peinlicher Korrektheit, aber mit eigenartigem Tonfall, so dass ich gut verstand, warum der Sergeant am Telefon so merkwürdig von dieser Stimme berührt worden war.

Vance betrachtete ihn kritisch. »Wohnen Sie in Inwood, Mr. Leland?«, fragte er scheinbar gleichgültig.

Der andere nickte leicht. »Ja. In einem Haus des alten Indianerdorfes auf der Hügelseite, von wo man den Spuyten Duyvil Creek1 überschauen kann.«

»Kennen Sie Mr. Stamm schon lange?«

»Seit fünfzehn Jahren«, entgegnete Leland zögernd. »Ich habe ihn auf vielen seiner Expeditionen begleitet, wenn er Tropenfische sammelte.«

Vance blickte den seltsamen Mann unverwandt an. »Vielleicht haben Sie Mr. Stamm auch in die Karibik begleitet, als er nach dem verlorenen Schatz suchte?«, fragte er kühl. »Ich meine mich erinnern zu können, dass in der Presse Ihr Name in Zusammenhang mit diesem romantischen Abenteuer erwähnt worden ist.«

»Sie haben recht«, gab Leland zu, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck änderte.

Vance wandte sich ab. »Dann können Sie uns wahrscheinlich bei der Lösung dieses merkwürdigen Falls helfen. Ich schlage vor, wir sprechen im Wohnzimmer miteinander.« Er zog die schweren Vorhänge beiseite, und der Butler kam, um das elektrische Licht einzuschalten. Wir befanden uns in einem großen Raum von mindestens sechs Metern Höhe. Ein Aubusson-Teppich lag auf dem Boden, und die Ausstattung bestand aus massiv geschnitzten Louis XV.-Möbeln. Auch dieses Zimmer wirkte altmodisch und ungemütlich. Als Vance sich umschaute, überlief ihn ein leichter Schauder.

»Offenbar kein besonders behaglicher Aufenthaltsraum«, meinte er.

Leland beäugte ihn abschätzend. »Nein. Das Zimmer wird nur selten gebraucht. Seit dem Tod Robert Stamms benutzt die Familie vor allem die Räume im hinteren Teil des Hauses, besonders die Bibliothek und das Vivarium, das Stamm vor zehn Jahren anbaute. Er verbringt die meiste Zeit dort.«

»Natürlich bei den Fischen«, erwiderte Vance.

»Die sind seine große Leidenschaft«, entgegnete Leland gleichgültig.

Vance nickte abwesend, setzte sich und zündete eine Zigarette an. »Da Sie so freundlich waren, uns Ihre Unterstützung anzubieten, Mr. Leland«, sagte er dann, »erzählen Sie uns vielleicht einmal, was an diesem Abend vor der Tragödie im Haus vorging. Von Sergeant Heath hörte ich, dass Sie auf einer behördlichen Untersuchung bestanden – stimmt das?«