Der Drahtzieher - Sarah Pines - E-Book

Der Drahtzieher E-Book

Sarah Pines

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Beschreibung

Theodor Hugo Hasselt hat Haltung, Wutanfälle und fluktuierende Finanzen. Der Fabrikant aus dem Sauerland soll das eingeschlafene deutsch-britische Eisenbahnprojekt »Vom Kap nach Kairo« wiederbeleben. In Südafrika verliebt er sich rettungslos in seine Cousine Alba und führt sie heim auf sein Landgut in Iserlohn. Doch dort angekommen, will Alba plötzlich Theodors besten Freund Albert, der wiederum mit Marthe verlobt ist, Theodors Jugendliebe und Langzeitgeliebter. Ein Hohelied und ein Abgesang auf die unvergleichlichen Zwanzigerjahre.

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Seitenzahl: 368

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sarah Pines

Der Drahtzieher

Roman

Diogenes

Für meine Großeltern. Und für meine Tochter, die große, gute Sonne in meinem Leben.

Wenn ich einfach nur für mich bin und tief in mich hineinschaue, dann habe ich das zu sagen. Ich erwarte es nicht, aber ich wünsche mir, ich erträume es mir, dass du zu mir kommst, irgendwann, und sagst, es tut mir leid, ich habe das alles nicht so gemeint. Lass uns noch mal beginnen.

 

Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut.

Georg Büchner, Woyzeck.

Das Patriarchat ist, so beschreibt es Max Weber, der Glaube an die Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen, das im Bewusstsein der Unterworfenen allem anderen vorausgeht.

Sauerland, 1926.

 

Theodor saß unter dem Blatt des Essigbaums. Es war kein Essigbaum, es war die Tapete, an der er lehnte. Dunkel und hell melierte Blätter wie die, die in seinem Herzen wuchsen. Weiber, dachte er. Das klang nach Hüftkurve, Badewanne und schlecht gezupf‌ter Augenbraue. Verdammte Weiber. Theodor stand auf. Er stand gerade. Unten im Garten saß die Frau, um die es jetzt gerade in seinem Leben ging und wahrscheinlich immer gehen würde. Kurz flackerte ein Weh in ihm, diffus, klein, gleich hinter dem Brustbein. Er setzte sich wieder, dieses Mal auf einen Stuhl.

Theodor war groß und stark, elegant und gerade, vor allem wenn er aß, mit eng angelegten Ellbogen Fleisch tranchierte, die Gabel in der rechten Hand, zwischen Mittel- und Ringfinger stets eine Zigarette. Nur selten fiel etwas Asche auf seinen Teller, die er elegant wegpustete. Andere, wenige nannten ihn Ungeheuer. Das waren die, die seine Wut erlebt hatten. Ganz tief fühlte er es ständig, das zornige Weh, das er hinter dem Brustbein verortete und das in passenden, immer ähnlichen Momenten aus ihm herausbrach. Der süße Saft des Zorns, dessen Opfer er war, dessen Täter er war, abenteuerlich und korrupt. In Theodor lagerte der Zorn der Wälder, der Höhenkämme und der Luft der Blätter.

Theodor redete oft zu laut, seine Augen waren blau und seekalt. Alba, die Frau, die er liebte, sprach von Meermannaugen. Die, die ihn hoffentlich bald heiraten würde, fast heiraten würde, das würde schon werden. Alba nannte ihn Löwe, Lowa, mit dem leichten, fast jiddischen Singsang, der ihn an Bacharach denken ließ, an das Knochengerüst der Wernerkapelle, duster wie die Birnbäume unten im Garten, dunkle Rinde, rußig und feindlich, die Blätter knotig. Nichts an Birnbäumen war je schön.

Manchmal nannte sie ihn auch Theodor, und es klang weich. Sie sprach das O offener aus als andere Frauen, runder, er wollte darin eindringen, in den Klang, als würde sie sorgsam mit einem kleinen Pinsel Goldstaub auf den Rand eines Gemäldes auf‌tragen. »Hemden sind wie Tapeten, wenn sie gut sitzen, füllen sie den ganzen Raum aus«, sagte sie und schaute ihn dabei so an. Mit wohlgeformten Augenbrauen allerdings, Venusbrauen, Botticellibrauen, und wenn er ihre Augenbrauen musterte, feine beige Kurven, kam ihm auch ihre Haut am Bauch in den Sinn. Eierschalenfarben und sanft. Sie war schöner als der Tag, so schön wie seine Nacht.

Ihre Mutter aus Südafrika erwähnte in langen, lamentierenden Briefen an sie seine »provinziellen Schuhe«, doch es waren dieselben, die sein bester Freund trug, der Stahlfabrikantensohn Albert. Theodor hatte von Anfang an und haargenau bemerkt, dass Albert nicht allzu lange nach ihrer Ankunft aus Südafrika begonnen hatte, Alba anzuschauen, tief und schelmisch zuerst, über den Tisch hinweg, seinen, Theodors Tisch, den er eindeckte, den niemand sonst eindecken durf‌te. Es war sein Tisch, verdammt, und Alba gehörte auch ihm, mehr noch als das Porzellan, als die dicken, wulstigen Stoffservietten, mehr noch als jede vermaledeite goldumrandete Vase und Servierplatte war sie seins und sie würde es bleiben.

Bereits auf der Rückreise hatte sich herausgestellt, dass Alba nicht von ihm, Theodor, schwanger war, sondern überhaupt nicht. Am liebsten würde er sie wieder und wieder dafür schlagen.

 

Alba, seine Cousine, war vor zwei Monaten mit ihm aus Südafrika ins Sauerland, auf die Hochfläche zwischen Lenne und Volme gekommen, weil ihr Bauch noch flach genug war, die Schwangerschaft zu verbergen, so behauptete sie, schluchzend, an seinen Ärmel geklammert, sich dann laut schnäuzend. Mit herrlicher Geschmacklosigkeit hatte sie gesagt: »Mein großer, mein starker Theodor, du wirst in mir weiterleben, dabei wollte ich doch Nonne werden.«

Ein paar Wochen später hatten sie an Deck des Frachters gesessen, der sie nach Hause, an die Küste Deutschlands brachte. Tief durchatmend, hatte sie ihn angeschaut und ihm zitternd eine Tasse Tee gereicht.

»Möchtest du etwas Mucker?«

Er hatte gelacht, das Leben war gut. Langsam glättete Alba den Stoff gleich unterhalb ihres Ausschnitts, ihre Hand verharrte knapp über dem Bauchnabel.

»Theo, ich lag falsch, ich bin nicht …«

Mit eleganter, ausholender Geste schlug sie die Hände vors Gesicht, musste niesen, die Tränen erschütterten ihren illustren Körper, ihre Brüste wogten, ihr Kopf senkte sich in Erwartung des Fallbeils. Doch Theodor schwieg. Stand auf und ging unter Deck. Nutte. Schwitzend lag er auf dem Bett der Doppelkajüte, knipste die Nachttischlampe an und aus, stand auf, ging an den Schrank und roch an seinem Mantel. Hülse eines soeben Gestorbenen. Niemand liebte ihn, er hatte also das Recht, sich durch das Bullauge zu drücken und in den Atlantik zu stürzen. Mit zusammengebissenen Zähnen zerrte er an dem verschlossenen Fenster, dann ging es auf. Luft strömte herein. Theodor steckte den Kopf durch die Öffnung. In der Gischt und der blendenden Sonne konnte er die Augen kaum öffnen, versuchte aber trotzdem, erst den einen, dann den anderen Arm in die enge Lücke zwischen Hals und Bullaugenrahmen zu pressen. Bis aufs Äußerste erniedrigt, blieb er stecken. Eine gefühlte Ewigkeit verharrte er so, Kopf und halbe Unterarme draußen, der Rest drinnen, ausgestoßen und gefangen zugleich. Dann gab es Wellen, und im Inneren wurde sein Körper hin und her geschleudert, was dazu führte, dass sich die Unterarme in dem Bullauge lösen konnten, und Theodor kam frei. Im vollen Gefühle seiner Nichtsnutzigkeit legte er sich zurück aufs Bett. Oh, er wollte nicht sagen, er habe nichts geahnt, den Weibern war nie abschließend zu trauen. Und hatten sie nicht vor ihrer Abreise aus Transvaal über seltsame Gelüste geredet? Nun, streng genommen nicht über Körperliches, aber über ihre Hingezogenheit zu wilden Tieren. Obwohl sie Löwen hasste, wolle sie einmal einen streicheln, keinen kleinen, sondern einen ausgewachsenen. Angst habe sie keine, nein. Ihre Anbetung des Wilden war ihm als eine indirekte Herausforderung all dessen erschienen, was ihn körperlich ausmachte. Aber nun war es so. Kein Kind. Kein runder Bauch. Sie blieb Göttin, für ihn ganz allein.

Nachdem er ein Stück Wurst gegessen hatte, ging Theodor wieder an Deck, gen Wonne. Alba saß in derselben Pose, in der er sie verlassen hatte. Ihr Rücken gerade und die Hände im Schoß gefaltet. Oh, du.

Warum sie die Schwangerschaft behauptet hatte, ob es eine Behauptung war oder ob ihr wirklich ein Irrtum unterlaufen war, hatte Theodor bis heute nicht erfahren. Er hätte sie ohnehin gebeten zu kommen. Weil er es so wollte.

»Ein Besuch, bei mir und Mutter, deiner Tante Adelheid mit den großen Kleidern, weißt du noch? Im Sauerland, Westfalen. Ein langer Besuch.«

Er stand ganz gerade, als er das sagte, und sie antwortete, vage und festlich, wie sie es immer tat. Sie freue sich auf Deutschland, sie habe es ja zuletzt als Kind gesehen, und dann lachte sie leise und zupf‌te ihn am Ärmel. Sie zupf‌te ihn gern am Ärmel, sagte sie, weil er immer so abwesend war, über Pläne, Papiere, Karten gebeugt saß, und sie wolle seine ganze Aufmerksamkeit eben genau dann, wenn er sie nicht geben konnte. Das war noch in Südafrika, wo das englisch-deutsche Vorhaben, Eisenbahnschienen vom Kap hoch nach Kairo zu verlegen, angelaufen und Theodor Leiter des Planungsstabs war. Er wusste auch damals schon – damals ist hier relativ, streng genommen waren erst zweieinhalb Monate vergangen, aber Theodor, der Afrika hassliebte, doch dazu später, schien es Jahre her –, Theodor wusste also, dass sie sich nicht nur auf ihn, sondern auch auf seinen Reichtum freute und auf den Status, vielleicht gar Ehefrau der zweitreichsten Familie des Hochsauerlandes zu werden.

 

Theodor hatte sehr viel Geld, das er gern für edle Dinge und weniger edle Körper ausgab. Und obwohl oder gerade, weil die Konten platzten, nagte an Theodor die Angst vor dem Pleitegeier. Wie ein Hypochonder, der aus Kratzern Abszesse und aus Blasen an den Fersen Pestbeulen macht und in jedem Bauchschmerz mit Bestimmtheit Organauf‌lösungen erkennt, war Theodor überzeugt, es sei bald so weit. Leere Konten, ausbleibende Auf‌träge. Wenn er es sich genau überlegte, hatte er schon immer Angst vor dem Absturz in die Armut gehabt, vielleicht, weil Vater diese Angst gehabt hatte und vor ihm Großvater, dabei war das Drahtziehen, was Produktion und Abnahme anging, mindestens so verlässlich wie Stahl. Und bestand nicht die ganze Welt aus dem feinen, harten Garn? Autos, Flugzeuge und Maschinen brauchten Draht, die Geräte beim Zahnarzt, Telefone und Kabel, Tee-Eier, Brillengestelle, Maschen und Motoren, Gürtel und Haarnadeln. Wenn er genau darüber nachdachte, war die Drahtzieherei so etwas wie die Gebärmutter der Welt, gar Beginn und Zukunft der menschlichen Zivilisation, und dennoch … Ein gutes Gefühl bedeutet nicht, dass etwas gut ist. Alles andere als pleite zu sein hieß nicht, dass es nicht jeden Moment so weit sein würde.

All das erahnte Alba noch nicht. Was sie wusste, war, dass er Kontraktor ostdeutscher Ländereien war, in die er nie fuhr. Noch im Schlafzimmer des Farmhauses in Transvaal hatte er ihr sein Buch Der internationale Steinkohlehandel auf den Nachttisch gelegt, von dem er immer ein Exemplar dabeihatte, eingequetscht in eine jagdgrüne Mappe. Es war morgens ganz früh, und sie hatte die Augen wieder geschlossen. Sonne fiel auf ihre Mundwinkel. Er hatte gerade das vierte Mal mit ihr geschlafen, und sie sah wieder wie neu aus, neu und weitläufig. Die Zukunft, die er mit ihr eröffnen wollte, entrollte sich in seinem tiefsten, von Theodor nur selten betretenen Inneren wie die Drahtschnüre seiner Fabrik, reduziert und unzerreißbar, mit gleichem Anfang, gleicher Mitte und gleichem Ende. Theodor hatte Alba heiraten wollen, noch bevor der Bauch zunahm. Jetzt saß sie hier bei ihm in Iserlohn, unter dem Birnbaum im Garten seines Anwesens, und ihr Bauch würde flach bleiben.

 

Zeit aufzustehen.

Draußen stand Nebel vor dem Fenster, stumpf und hell. Das Licht der gesichtslosen Sonne, das in das Zimmer voller Bücher und Aktenstöße kroch. Dazu Hitze, staubige Luft, vermischt mit dem Geruch gerösteter Kastanien und Tauben. Theodor nahm einen Schluck Schnaps aus dem Hornglas. Er stieg mit nacktem Oberkörper vom Stuhl, wie er überhaupt von jedem Möbelstück stieg, als sei es ein Pferd, warf sein Hemd über und einen Blick in den Spiegel. Strenges Antlitz, glatt rasierte Haut, schmale Hüften, lange Beine. Und all diese Pracht sollte bald in einem Sarg liegen, dachte er.

Denn Theodor wollte sich zu gegebener Zeit erhängen, so würde sein Körper für den Tod intakt bleiben. Den lang gehegten Plan, sich einen Schuss in die Schläfe zu setzen, hatte er aufgegeben, da eine Kugel ihm nur den Kopf zerfetzt und ihn, falls fehlgeleitet, schlimmstenfalls ohne Verstand am Leben gelassen hätte. Dennoch betrachtete er die Pistole in der oberen Schublade seines Schreibtischs als seine wohl verlässlichste Gefährtin.

Bald.

Theodor ging die mit Teppich belegte Treppe hinunter, an der Zirrsonn vorbei, an den Leuchtern, dem fragenden Blick von Mutter, immer Mutter mit dem Bauschekleid, gefolgt von den beiden Bluthunden, denen er im Vorbeigehen, eigentlich ein Vorbeigleiten wie das sanfte Gleiten großer Nordseeschiffe, die Leine anlegte, rasch und zupackend.

Im Eingangsportal der Villa stehend, betrachtete Theodor die Bäume, den Kiesweg. Laut stieß er das Gartentor auf und trat unter den Baumkronen ein. Es war wie Tauchen. Er ging vorbei an den Nussbäumen, hin zu den Birnen und lächelte, seltsam, fürstlich und siegessicher. Wenn er sich Alba näherte, kam ihm die Welt in den Sinn. Er vermied das laute Knirschen des Kieses und sprang in die Rhododendren. In den Blättern verborgen, warf er einen Blick zurück auf das Haus und zu dem großen Baum gleich an der Seite, neben den hohen, dünnen Blumen, deren Namen nur Bauschekleidmutter kannte. Noch einmal: bald.

Alba hatte ihn nicht gehört, denn sie war aufgestanden und etwas weiter weg zum Gartenteich gegangen, wo sie mal lauter, mal leiser sprach, dann begann sie das Schreien.

»Lass mich. Ich weiß, dass du da bist. Lass mich. Komm in mich.« Ihr Brustkorb würde sich nun schwer heben und senken. Sie würde gegen einen der Baumstämme sinken, die Fäuste ballen und in die Krone hinaufschauen, dann Blätter pflücken. Erst die untersten, feinen, noch hellgrünen, dann die dickeren, adrigen. Den Blatthaufen würde sie fest an ihr Gesicht drücken und dann reinbeißen, kauen, ausspucken, dann wieder von vorn.

Die ausgespuckten Blätter sammelte sie in einem Taschentuch, das sie unter ihr Kopfkissen legte und das die Haushaltshilfe später heimlich mit spitzen Fingern nahm und wegschmiss. Zumindest war es an besonders schlimmen Tagen so. Heute schien kein schlimmer Tag zu sein, denn Albas Schreien hatte sich auf einen kurz ausgestoßenen Ruf beschränkt, und sie lächelte schon wieder dem Gärtner entgegen. Alba war nicht irre, sie hatte nur »Momente«, hatten Onkel Reingard und Tante Heide in Südafrika gewarnt. Momente, in denen sie meinte, für einen Maler Modell zu stehen, der Arcimboldo hieß und der Obstgesichter malte. Mehr wüssten sie nicht, sie hatten es nie ganz verstanden. Das hatte angefangen, als sie noch ganz klein war. Doch Theodor hörte gar nicht richtig hin.

 

An diesem südafrikanischen Tag, der wie aus einem anderen Leben zu ihm herüberleuchtete, hatte er trotz Großwildjagd und dem feudalen Gehabe der »afrikanischen« Verwandtschaft, genauer, Vaters ausgewandertem Bruder, dessen Frau Heide und ihrer Tochter Alba, besonderes Heimweh nach Iserlohn gehabt, nach Hohenlimburg und Hagen, nach den Wolkenbildungen des westfälischen Himmels, nach Burg Altena, den kargen Ufern der Lenne, Orte, die nach feuchtem Backstein und Drahtwinden klangen, nach fallendem Laub auch im Sommer und nach von Salpeter zerfressenen Tapeten. Selbst die falbe Farbe des Himmels in Transvaal erinnerte ihn an diesem Morgen, da es um den Maler Arcimboldo ging, an die Holzwickeder Aragonit-Funde, gelblich blau meliert. Insbesondere die farbloseren unter den Aragonit-Stufen, die Theodor im Steinbruch – auch ein Steinbruch gehörte ihm, neben der Drahtseilfabrik, neben kontraktierten Ländereien – meist wegwerfen oder den mumifiziert dreinschauenden Wanderarbeiterinnen schenken ließ, die sich so freuten, dass sie kurz zu glühen schienen, bis ihre Männer mit den Gesichtern von Hasendieben sie ihnen wieder abnahmen.

Der Steinbruch also, an dessen oberem Ende dürre Fichten wuchsen, die kurz vor seiner Reise nach Afrika der Borkenkäfer befallen hatte. Nach seiner Heimkehr aus Transvaal waren sie noch dürrer geworden. Bei Sonnenuntergang schluckten die dunklen Nadeln früher das Licht, und das braune, verdorrte Holz strahlte wie Feuer. Er stand gern dort oben an der Schlucht, oberhalb von Kiesel und Schotter, vor allem früh am Morgen, bevor die Maschinen angingen und alles noch still und ohne Staub in der Luft war. Geruch von Stein und Gras. Kalte Luft brannte in der Nase, machte den Augen Tränen, die manchmal in seine Tränen übergingen.

 

Nun kamen ihm die Tränen beinahe hier, im Garten, erniedrigt zwischen Rhododendren stehend. Seit gestern war Vater zehn Jahre tot. Und nichts hatte sich geändert. Theodor hatte bis auf eine afrikanische Konkubine keine Frau, keinen Nachwuchs. Seine Familie war weiterhin die zweitreichste des Sauerlandes und nicht die reichste. Das waren die Essenbecks, die besten Freunde, die die Hasselts je gekannt haben. Theodor und Albert junior waren Schulfreunde, Studienfreunde, Fabrikantenfreunde. Ins Bordell gingen sie auch zusammen, bis Alba kam. Im selben Monat Mai unter dem Zeichen des Taurus geboren, waren sie Freunde, ohne je einen Gedanken daran verschwendet zu haben, ob es diese Freundschaft gegeben hätte, wären sie nur Schulkameraden gewesen und nicht reiche Nachbarsjungen, deren Väter ähnliche und regelmäßig miteinander verwickelte Berufe ausübten und zudem dieselben, von Härte geprägten Erziehungsvorstellungen an ihren Söhnen auslebten, die unter keinen Umständen durch weibische Allüren verwässert werden sollten. Obwohl beiden Männern das edle Leben in die Wiege gelegt worden war, bedeutete dieses ihren Vätern Kampf, nimmermüde geführter und hochgeachteter Kampf, solange es auf der Welt noch Stahl zu gießen oder Draht zu ziehen gab. Zur Schule mussten Theodor und Albert trotz aller Erhabenheit über die niederen Stände bis zur Matura zu Fuß gehen, und zwar gemeinsam und bei Wind und Wetter. Tränen, Klatsch und Tratsch, ein flehender Tonfall, die Beine überschlagen waren auf alle Zeit verboten; später durf‌te Tanzveranstaltungen höchstens mit selbstbeherrschter Distanz zu den Tanzenden beigewohnt werden. Gegessen wurde deutsch; auswärts galt das Restaurant »Neuhaus« als oberstes Prinzip kulinarischer Solidität, die Gerichte waren gut gewürzt, nahrhaft, schlicht.

Der Drill der Kindheit verband Theodor und Albert bis weit über die Jugend hinaus, ihre Universen waren das Stahlwerk für den einen, die Drahtzieherei für den anderen. Und obwohl Alberts Welt aus Albas Sicht verwunschen anders als Theodors dalag, weil sie nach Grünspan riechen musste und nicht nach Basalt und weil es Arbeiter gab, die auf dem weitläufigen Gelände der Essenbecks lebten und sich nicht morgens müde von außerhalb heranschleppten, teilten die beiden Freunde neben dem Studium der Ökonomie und kalten Knien im Winter auch den Glauben, dass es für nichts auch nichts gab und für drei Pfennig entsprechend wenig. Schund blieb Schund, es sei denn, er lässt sich verkaufen.

Entgegen den Vorstellungen der Väter zwang das stetig wachsende Einkommen beider Familien Theodor und Albert ein modernes Leben auf. Sie hatten keine Angst vor Skandalen, trieben neuartigen Sport, Theodor versuchte sich in sogenannten side strokes beim Schwimmen, Albert in Golf und Polo, hatten Sinn für den Verspeis von Schalentieren und Cologne für Herren. Auf Tanzveranstaltungen blieben sie zwar weiterhin am Rand stehen, die Hände hinter den straffen Rücken verschränkt, doch warfen sie den tanzenden Damen ihrer Wahl vielsagende Blicke zu, die den bedeutendsten Junggesellen des Sauerlandes allzu gern erwidert wurden.

Unzertrennlich waren Albert und Theodor nie gewesen; sie waren aber durch Besitz, die sicheren Instinkte ihrer Kaste und ein gesundes Misstrauen dem Wort »amüsant« gegenüber verbunden und kannten sich nun mal ein Leben lang, gefangen im Zyklus unvermeidlicher Anlässe, Vorstandstreffen, Treibjagden, Hausfeste. Sie respektierten des anderen Besitz nur bedingt, je nachdem, welche Interessen es zu wahren galt, die geschäftlichen Belange der Familienbetriebe gingen selbstverständlich vor; Frauen wurden nicht geteilt, außer sie waren käuf‌lich. Beide sprachen direkt und manchmal grob miteinander, modellierten im Lauf der Jahre sachte Unterschiede heraus. Albert wurde mildtätiger und geckenhaft, Theodor schloss Zuwendungen an Witwen verstorbener Arbeiter kategorisch aus und wohnte jeder Hauptversammlung der Aktionäre höchstpersönlich bei. Theodor zog es vorübergehend fort, er investierte in den Bau größerer Fabrikanlagen im Osten, Albert blieb. Und wie er blieb.

Das Agglomerat derjenigen Häuser, in denen die ältesten Arbeiter und der Verwalter der Stahlwerke lebten, lag der Essenbeck’schen Villa Luft am nächsten, die einfachen Arbeiter lebten in den Baracken dahinter. Jede Woche war das Stahlwerk vom alten Essenbeck besichtigt worden, wozu er in einer Droschke vom Haupthaus aus losfuhr, »die Luft runter«, bei kaltem Wetter den Kopf von einem hohen Zylinder bedeckt und bei warmem von einem Hut aus Stroh, der beim leichtesten Hubbel von dem unnachgiebigen Haupt abschnackte.

Der alte Essenbeck lebte auch nicht mehr, hatte allerdings vier Jahre länger durchgehalten als der alte Hasselt. Theodors Vater hingegen hatte in den Menschen des Sauerlandes keine Erinnerung hinterlassen. Schon seit Langem war er unter einem prunkvollen Mausoleum begraben, ganz am Ende des parkartigen Gartens, der das Haus umgab. Ein wirklich prunkvolles Mausoleum, nicht aus roastbeef‌farbenem Porphyr, sondern aus zerfressenem Stein, von Schlingpflanzen umwuchert, mit so vielen darein gemeißelten Namen, dass kaum mehr Platz war für neue, höchstens noch ganz unten am Sockel, dort, wo schon Moos wuchs, umgeben von einem Gatter und Eichenbäumen.

Vater war der farblosere, mildere der beiden Männer, der eine Stahlfabrikant Essenbeck, der andere Nadel- und Drahtseilfabrikant Hasselt. Essenbeck breitschultrig, mit gewinnendem Lächeln und immer leicht geröteten Wangen, Vater blässlich und schmalschultrig, mit verzagtem Lächeln, das klüger und verständiger war, als viele dachten, und mit dunklen Nächten. Die Hasselts hatten dem Sauerland nebst Nadel- und Drahtseilfabrik einen Steinbruch geschenkt, außerdem einen zig Hektar umfassenden Jagdgrund zur allgemeinen Verlustierung des Volkes, das nie kam. Doch war Albert Essenbecks Haus mit über dreihundert Zimmern immer das größte gewesen, selbst heute noch, obwohl Theodor das Haus der Hasselts ausgebaut hatte. Die Villa Luft war aufgeschichtet und ausladend wie eine helle Torte, sein Haus war im Vergleich eher dunkler Herrenkuchen. Blutkuchen. Cousine Alba, die nicht seine Cousine ersten Grades war, sondern der Spross aus Mutter Heides erster Ehe, Alba also, da war er sich sicher, wollte dort leben, bei Albert und nicht hier bei ihm. Wenn er daran dachte, wollte er sie erst recht zerhauen und umso mehr haben.

Es war die Magie hinter Theodor, die die Menschen an ihn zwang, ob sie nun wollten oder nicht. Als habe er die Pforten des Sauerlandes geöffnet, und herein wehte die Brise von etwas anderem, Wildem. Theodor war gelernter Drahtzieher und studierter Ökonom der Abendschule. Er hatte in größere Bauprojekte im Osten investiert und brüstete sich mit der Afrika-Sache. Seine Stimme war scharf, die Rhetorik gewandt. Er gruppierte seine Erfahrungen um die Drahtzieherei und die Überzeugung, dass das Geschäft das Leben beherrscht und die Romantik der Todfeind desselben ist.

*

Als Alba bei Theodor ankam, brachte sie einen für ein Frauenzimmer überraschend kleinen Schiffskoffer mit. Es war der Beginn des deutschen Sommers gewesen und Winterbeginn in Südafrika. Alba hatte auf dem Bettrand im Gästezimmer gesessen, das er für sie neu hatte tapezieren lassen, und fröstelte in ihrem zu leichten, zu afrikanischen Kleid. Sie trug etwas Gelbes, daran erinnerte er sich noch. Unter dem dünn gewordenen Stoff oben auf den Schultern schimmerten ihre Haut und die breiten schwarzen Träger des Büstenhalters. Zögerlich schob sie den Daumen der linken Hand unter einen und schaute vom Bett aus zu ihm auf. Im Untergeschoss kamen die Gäste für das Abendessen an.

Theodor hatte geladen. Es sollte ein modernes Verlobungsfest sein, aber das hatte er ihr nicht gesagt, nur ganz innen in ihm drin stellte er es sich vor. Er, in dunklem Anzug, größer und schlanker denn je, sie im Spitzenkleid zu ihm aufschauend. Kommt Zeit, kommt Rat.

Alba war so klamm im Sauerland, dass sie anfangs kaum Lust hatte zu reden, und auch an diesem Abend war ihre Zunge fast zu schwer, um Theodor zu bitten, ihr doch die Strickjacke aus dem Schrank zu reichen. In letzter Minute hatte ihre Mutter sie noch eingepackt, und in Alba wurde es dunkel bei dem Gedanken an Heides Duft. Heideduft. Nur dass sie nicht, wie die deutsche Heidelandschaft, nach wässrigem Gras und zertretenen blauen Blättern roch, sondern nach warmem Sand und Avocado.

Am Abend ihres Willkommensfestes blickte Theodor Alba oben im Gästezimmer im Spiegel an und lächelte ihr zu, und sie erzitterte leicht. Er stand gerade, wie er schon in Afrika und trotz der Hitze gerade gestanden hatte, den schweren Spazierstock mit dem Messingknauf in der Hand, überaus zufrieden mit den von unten heraufwehenden Essensgerüchen. Er konnte darin Ente ausmachen und den Kakao, der auch in seinem Magen schwappte – Theodor ließ das Pulver in Wasser anrühren, bis das Getränk so dick war, dass der Löffel fast in der Mitte der Tasse stecken blieb –, und befand sich außerdem in vollem Bewusstsein seiner Körpergröße, seiner Rockschöße und langen, schmalen Beine. Reiterbeine. Alba war tatsächlich hier.

Theodor, der Mann mit dem auf Taille gearbeiteten Mantel, von dem Alba bisher gedacht hatte, er sei untrennbar mit seinem Aktenkoffer verbunden oder dem misstrauisch über seine flache Brille hinweg kniependen Blick, den er in Transvaal den Eingeborenen zugeworfen hatte und hier im Sauerland den Hausangestellten – Theodor schaute Alba, die so viele heimliche und schnell wieder verdrängte mittelmäßige Verse in ihm angeregt hatte, lange und tief an, und sie schaute dankbar zurück.

»Theodor, meine Jacke, könnte ich …?«

Und natürlich konnte Theodor, der sich besonders mochte, seitdem Alba im Sauerland war. Neuerdings auf seine Gesundheit bedacht, machte er jeden Morgen am Fenster die Atemgymnastik, die er sich von einem seiner Arbeiter abgeschaut und rasch vervollkommnet hatte, und so riss er mit einem tiefen, eingeatmeten und dann ausgestoßenen »Hier, Gnädigste!« anstatt der Strickjacke Albas Biberfellmantel schwungvoll vom Hänger, der klappernd zu Boden fiel.

Unten beim Souper für die »Cousine aus Afrika« hielten die wenigen geladenen Gäste und wichtigsten Familien des Hochsauerlandes beschlagene Gläser in der Hand. Manche ließen ihr Glas kreisen, damit sich die Eisstückchen im mit Orangensirup versetzten Schnaps schneller auf‌lösten. Die Horstens und die Falbens, die Kleinens und die Wetterspechte standen mit leerem Blick herum und taten so, als hörten sie Theodors Mutter mit dem Bauschekleid zu, die zwischen Small Talk und herrischen Anweisungen hektisch von Gast zu Gast lief und hinter vorgehaltener Hand die Haushälterin Frau Zirrsonn ankeif‌te, sie möge doch bitte endlich die überbackenen Weinbergschnecken herumreichen. Als Alba am oberen Treppenaufgang erschien, verstummte das ohnehin schon karge Höf‌lichkeitsgeplänkel unter den Gästen – man war vernachbart und sah sich fast jedes Wochenende –, und man schaute zu der, die man bisher noch nicht einmal aus Erzählungen vernommen hatte, war Theodor doch ganz unerwartet mit diesem prachtvollen, busigen Wesen zurückgekehrt.

Alba lächelte von der Treppe herab, die in einer Rechtskurve geschwungen und mit einem roten Teppich ausgelegt war, der sich wie eine Blutlache vom oberen Absatz bis hinunter auf die schwarz-weißen Fliesen der Eingangshalle ergoss, wo er dann breiter werdend, gen Perser floss und erst kurz vor dem himmelblauen Saum zur fransigen Borte gerann.

»Ausgezeichnet«, raunte Herr Kleinen. Bei Tisch übernahm Theodor es, afrikanische Geschichten zu erzählen, und Alba, deren Dominanz über ihren Cousin sich erst in ein oder zwei Wochen zeigen sollte, schwieg und lächelte mehrgründig, was niemandem sonst auf‌fiel außer Mutter mit dem Bauschekleid. Mit ruhigem Keramik-Blick sprach Theodor von Albas Land, in dem Büffel badeten, von den Strohhütten der Eingeborenen »mit Gesichtern wie Nagetiere, sage ich euch, wie dürres Holz und faserige Arme, die nur so seitlich runterhängen! Haben sie eine Wunde, lassen sie die einfach trocknen, wie Kerben an der Baumrinde. Gott sei Dank haben wir hier alles Essen der Welt.« Theodor prostete sich zu, und, als hätte er es mit dem Küchenpersonal einstudiert, öffneten sich just in diesem Moment die Klappen der Anrichte mit einem festlichen Knirschen.

Die Kastaniensuppe und die Entenkeulen, die sodann serviert wurden, erschienen Alba neu, wundersam glänzend und vertraut zugleich. Zu Hause in Transvaal bestand Mutter Heide auf westfälischer Küche, wenn auch mit eingeborenem twang, sagte Vater, ein Wort, das er sich von den britischen Eukalyptuspflanzern der Nachbarfarm abgeschaut hatte, die Filet Wellington mit Antilopenfleisch zubereiteten, und das er als »twäng« aussprach.

»Herzoginnenkartoffeln«, sagte Theodor, als die zu kleinen Hauben gespritzten Kartoffeln kamen. »Warte ab, bis du meine französischen Geschäftspartner kennenlernst, die können dir allerhand –« Theodor stutzte, als hätte ihm jemand auf die Schulter getippt. »Oder die von Essenbecks.« Bei den ersten zwei Konsonanten des bereits in Afrika so oft vernommenen Namens schaute Alba von ihrem Teller auf, den Suppenlöffel schwebend über der Kastaniencreme. Bald.

Der Abend endete gesellig. Theodor brachte die froh leuchtende Alba zu Bett, indem er gleich mehrmals hintereinander mit ihr schlief. Draußen fiel Regen dick auf die Blätter, drinnen bei ihm war Alba. Wer brauchte schon die Ehe bei so viel Herrlichkeit.

*

Oh, ihr Anfänge und ihr wunden Körper. Oh, erste Küsse, oh, Kuss, den er nicht mehr gibt. Alba schaut sich an, ihr eigenes Antlitz schimmert ihr aus der Fensterscheibe entgegen. Nur ein Kuss, ein einziger, sachte auf die glatte Fläche des Glases gesetzt; der feuchte Abdruck ihrer Lippen bleibt zurück. Wie schön sie ist.

*

Afrika, Winter 1925.

 

Afrika. Theodor kniepte die Augen. Komm her, Baby. Bei dem Gedanken an das für einen Sauerländer ungewöhnliche Wort zuckte er leicht zusammen. Neben ihm roch sie gut, und er wollte seine Hand in das Fleisch ihres Armes drücken. Wie es sich zwischen seinen Fingern wölben würde. Siehst du, siehst du das hier? Wer braucht es schon, all das Blut, all den Staub? Stattdessen aber hielt er still. Drei Elefanten standen um ein Wasserloch, weiter hinten nahte ein vierter, außerdem etwas, das wie ein wilder Hund aussah, dann noch einer, ein weiterer. Die Hunde zogen einen Ring um die Elefanten, vergeblich, dümmlich, nie würde es ihnen gelingen, einen von ihnen zu reißen.

*

Theodor und Afrika passte so wenig wie Sardelle an Schokolade. Das Projekt »Wiederaufnahme vom Kap nach Kairo«, das noch einmal versuchen wollte, den schwarzen Kontinent von Südafrika bis in die Sahara mit einer Eisenbahnlinie zu durchziehen, sollte mit einer informellen Begehung verschiedener Umgebungen und möglicher Strecken beginnen, dazu hatte General von Spitzig-Weißhausen den Besuch eines Herrn Heesterberg in Transvaal angekündigt. Theodor, den die Hochkonjunkturphasen und Niedergänge des internationalen Steinkohlehandels interessierten, der Morgentau und Laubgeruch liebte, der sich mit Strecken, Entfernungen und damit zusammenhängenden klimatischen Bedingungen höchstens in Form der Ost-West-Achse Essen–Brandenburg beschäftigt hatte, befand sich seit etwa einer Woche im Reich der Tsetsefliege.

Genauer, auf der Farm der Verwandtschaft, deren Haus er schnell abschätzig »Karens Kabause« nannte, in Anspielung auf die dänische Frau und ihre langatmigen Tagebucheinträge, die ihm Großwildjäger Hans-Horst Waldau, von seinem Onkel angestellt, geboren und aufgewachsen in Berlin, in ein kleines Ledertuch eingeschlagen überreichte – als Willkommenslektüre, zwinkerte er, und Theodor vergaß ganz zu fragen, wo zum Teufel Waldau diese Aufzeichnungen herhatte, die etwas über zehn Jahre später einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen sollten. Immer noch seekrank und dankbar, dass die Überfahrt gen Kapstadt endlich ein Ende gefunden hatte, las er, dass Blixen – deren Farm nicht im Transvaal lag, sondern »am Fuße der Ngong-Berge«, äff‌te er innerlich und das den ganzen Tag schon, und damit ganz im Osten von dort, wo er, Theodor, war und sich den Schweiß von der Stirne wischte –, dass die Blixen also Perlhühner mit einem 256er-Elefantengewehr erlegen konnte, und es regte sich so etwas wie Unwohlsein in ihm.

*

Es war kein Dampfer, es war ein Frachtschiff, das Theodor nach Swakopmund in Deutsch-Südwest brachte, mit karg ausgestatteter Kajüte und erniedrigenden Waschgelegenheiten. Beim Ausbau der Kapspurstrecke dabei zu sein, ihn quasi von einer südafrikanischen Farm aus zu dirigieren hatte in Westfalen verheißungsvoll geklungen. Draußen waren der übliche Matsch und der Geruch von Rost in der Luft und dann diese Vorstellung von ewiger Sonne, Luft und Fellrascheln.

Begierig brach Theodor auf, mit guten Mänteln und großen Ideen. Und dann das. Es ging in die Tsavo-Ebene, in den kleinen, obskuren Ort Sonnenstadt, was kindisch klang, als wäre er gekommen, um Purzelbäume zu schlagen. Als das Flugzeug auf einem namenlosen Flugplatz nahe des Flusses Vaal landete, regnete es in langsamen Tropfen und Theodor war, als rönne ihm Blut die Wange hinunter. Die Luft roch feucht, warm und anzüglich. An der Annahmestelle für Gepäck und Papiere herrschte Durcheinander. Ein paar Weiße schrien viele Schwarze an, diese wiederum schrien andere Schwarze an. Ein verloren wirkender dunkler Mensch, der ganz klar kein Afrikaner war, verkauf‌te Mangos von einem Karren mit Drahtkorb obenauf. Eine Mango kullerte vor die Füße eines Afrikaners, der, aus Europa kommend und bisher erste Klasse reisend, majestätischen Schritts den Platz überquerte, umgeben von Lakaien und, unbegreif‌licherweise, zwei Postbeamten. Die Mango ließ er unbeachtet.

Theodor, lang, gerade und trotz Frachterfahrt und zahlreichen Seekrankheiten gepflegt und passabel, fiel allen möglichen Leuten auf, darunter auch einem mageren Taschendieb, der sich mehrere Hundert Rand aus dem Außenfach seines Reisekoffers schnappte und im Zickzack davonlief. Theodor machte sich an seine Verfolgung, wobei er wahllos burische Parolen ausrief: »Asseblief!«, »Wirklik!« Als er den Dieb einholte, schlug er ihn mit dem Ellbogen in die Milz. Er trat noch einmal nach. Der Mann regte sich nicht.

Für die Dauer des Schienen-Projektes würde Theodor bei Onkel Reingard wohnen und bei Tante Heide, die, so hatte er vernommen, mit jedem Monat vergesslicher wurde, was sich auch auf die Gesichtszüge der unvorstellbarerweise in Wien geborenen, dann im Sauerland aufgewachsenen, feinen und einst pausbäckigen Frau auswirkte, die immer kleiner und dünner wurde, wie zu oft gefaltetes und dann wieder glatt gestrichenes Papier. Von der Farm hatte Onkel Reingard Hans-Horst Waldau geschickt, um Theodor abzuholen. Staubiges Buschland ging in grüne Wälder über. Auf der breiten Auf‌fahrt wurde ihr Wagen von einem Nashorn angegriffen, das Hans-Horst stante pede erschoss.

Onkel Reingard und Tante Heide, er Dickwanst, sie inzwischen dürre Schrapnelle, aber mit lautem, innigem Lachen und viel Bildung. Von den beiden Brüdern Hasselt war Reingard der draufgängerische, sportliche, rohe, mit fetten Wangen und dicken Händen, Theodors Vater um einen halben Kopf überragend. Er las viel, dachte noch mehr, werkelte, baute und hatte einen feinen Geschäftssinn. Seine einzige Schwäche, wie er es nannte, war seine ausgeprägte Großzügigkeit und dass er bei Kopfschmerzen mehr als nur gerne an der Riechsalzflasche roch.

In Transvaal betrieben Reingard und Heide einen Macadamianussexport und züchteten Straußenvögel, deren Federn sie nach Amerika und Europa exportierten.

»Für die Mode«, sagte Tante Heide, »Hüte, Röcke, Fächer. In New York und Paris sind sie ganz verrückt danach.«

Trotz Savanne und Affenbrotbaum, trotz der Wildnis und dem abgelegenen Elternhaus wuchs Alba exquisit auf. Auf der Farm gab es Privatlehrer, und man hörte Radio, spielte Tennis und Minigolf, beides mehr schlecht als recht, bestellte Kunstbände und Bücher, unterstützte die ansässigen Missionen nicht nur finanziell, sondern, je nachdem, um welche Geistlichen mit welchen politischen Einstellungen es sich handelte, auch moralisch. Heide, in Wien geboren, dann mit den Eltern nach Transvaal ausgewandert, von wo aus Reingard sie »abgegriffen und auf die Farm verschleppt hatte«, wie sie gerne und nach all den Jahren immer noch mit geröteten Wangen berichtete, abonnierte Zeitschriften aus England, Berlin und ihrer Heimatstadt, die Alba heimlich las, darin wundersame Reklamen für Kleider und Kosmetik, Frauen mit elegant angewinkelten Armen und langen Schenkeln.

Aus Wien kam auch Herr Specht, Albas Musiklehrer, der zeitweise auf der Farm lebte und Alba Mozart und Bach auf Violine und Klavier beibrachte. Jeden Mittag wurde geübt. Dazu ließ Herr Specht das Klavier mit den Elfenbeintasten und die schweren Notenständer auf den Vorplatz des Farmhauses zum Garten hin unter den Schatten mehrerer Akazien tragen.

»Nirgendwo verwehen Töne besser als in Luft und Blatt«, sagte der gütige Herr Specht mit den nervösen, dünnen Beinen und dem pickligen Kinn.

Und Alba spielte. Sie konnte sich an keinen Tag erinnern, an dem sie nicht Musik gemacht hatte, laut, tosend unter den Akazienblättern, barfuß und feinfingrig Menuette und Sonaten oder Mascagnis Cavalleria Rusticana in die grelle Sonne jenseits des Baumschattens ausgießend. Der Götterfunke tobte in ihrem Geist wie ein Stigma, und irgendwann begannen die Söhne benachbarter Farmer, dann die Farmer selbst, der jungen Frau mit dem bedeutenden Haar Blumen zu schicken, rote, zackige Zuckerbüsche oder lange, kühne Ananaslilien, die Heide unbekümmert im Foyer des Farmhauses aufstellte. Und Alba nahm die Blumen und nur manchmal, später immer öfter und heimlicher die Verehrung entgegen. Bis Theodor kam, trieb sie, »die schönste und seltsamste Frau, die Swakopmund je gesehen hatte«, unter dem transvaalischen, immer gleichen Himmel hin, irgendwo jenseits der Zäune und Gatter, nicht allzu weit weg, ihr zukünftiger Farmer-Gatte, burisch grobschlächtig, vernarrt in Steigbügel und Stallungen, bücherfremd, diese aber duldend. Und dann kam der herrlichste, verschwitzteste Mann, ehrgeizig und freizügig, göttlicher noch als ihre Musik, eine ihr neue, elegante und neblige Wildheit verkörpernd, so ganz anders als alles, einfach alles – hier versagten ihr die Worte.

*

Kurz nach Ankunft – Theodor stieg aus dem Wagen, wankend wie ein Aktenstoß, und beging den Schnitzer, den Schiffskoffer selbst von der Ladefläche zu wuchten, anstatt dies den ihm johlend entgegenlaufenden Hausangestellten zu überlassen, wies also binnen Sekunden seine mangelhafte Kenntnis der afrikanischen Hierarchieverhältnisse aus – organisierten Tante Heide und Onkel Reingard eine »Willkommensjagd« unter Aufsicht des knotigen Hans-Horst, ein paar eingeborenen Netz- und Schlingenträgern und dem im Buschland eindrücklich weiß-rötlich leuchtenden Herrn van Blök von der Nachbarfarm. Außerdem war Heides Tochter gekommen, um Theodor zu amüsieren, das ganze Trara zu begleiten, doch sie stand lieber abseits der Gruppe mit Blick ins Nichts oder gen Gnuherde weiter weg.

Das also war seine Cousine. Name Alba, Alter unbekannt, beachtliche Schulterhöhe, Bildung: wahrscheinlich keine. Wenn es um das Faktische am Menschen ging, konnte Theodor es nur in den Koordinaten vergilbter Aktenberge wahrnehmen, in einer Kladde, mit Büroklammer und Erledigt-Stempel, nicht aber als »anstehend«, geschweige denn »nicht erledigt«. Sie fiel definitiv in die letzte Kategorie. Woher kam dieses Haar, ähnlicher dem der Einheimischen als dem glatten, sonnenausgedünnten Frissel von Onkel und Tante. Ihre Büste, sanfte Mondlandschaft, ihre Seele, die er sich barfüßig und voller Demut vorstellte, die hellen Hände, geschaffen für das Gebet, das zu beten ihm nie einfallen würde. In Theodor tobte die stupide Litanei früherer Fast-Liebe, aufregend nur für die, die sie fühlen, unbegreif‌lich für den Rest der Welt.

Hans-Horst riss ihn aus seinen Gedanken. Dünn und trocken wie eine Totenmaske starrte der Wildhüter Theodor ins Gesicht. Er beugte sich so weit hinunter zum Safarihocker, dass Theodor Lavendel und Motte riechen konnte. »Na, willste dit auch mal?«, und hielt ihm eine Flinte hin, ein Elefantengewehr, für Gnus würde es mehr als taugen.

*

Als Kind hatte sein Vater Theodor auf die Jagd mitgenommen. Sie saßen bis zum Morgengrauen auf dem Hochsitz, eine Decke um ihre Knie.

»Jagen ist ernst«, sagte Vater immer, und er hatte recht. Wenn ein Reh auf das Feld kam, ein Fuchs oder Wildschwein, legte Vater betont kurz an und schoss. Die Tiere fielen so schnell um, als seien sie geschubst worden. An einem Morgen rannte Theodor über das Gras zum Reh hin. Ein Stück Zunge schaute aus dem Maul heraus und ein Grashalm. Die Augen waren milchig. Das tote und noch warme Reh war für den jungen Theodor der fesselndste Anblick. Nachts hatte er Albträume.

Im Park hinter dem Haus bei Iserlohn und weit hinter dem Mausoleum der Familie Hasselt stand immer noch das Schlachthaus, in das Vater die geschossenen Tiere gebracht hatte. Draußen an den Wänden wuchs Pfeifenwinde bis weit auf das Dach, und der Türknauf war rostig. Aber innen war der Schuppen ganz weiß und hell gefliest, wie in einem Labor. Vater legte die Tiere auf einen Metalltisch und schnitt ihnen den Bauch auf, durch Haare, Haut und Fett hindurch. Es knackte sachte beim Schneiden, und der Duft von Haut füllte den Raum.

*

Als der Wildhüter nun Theodor das Gewehr quasi ins Gesicht hielt und Albas Blick, der ihn unter schweren Wimpern und von hinten vom Baobab aus genau musterte, trüb wurde, rehtrüb, war es aus. Theodor fühlte sich übertölpelt, kurz nach seiner Ankunft zum Touristen degradiert. Wortlos stand er auf und griff die Flinte. Der Elefant war nach dem ersten Schuss erledigt. Heischend schaute Theodor sich nach Alba um.

Wie sich ihr nähern? Die Muse geht der Liebe voran. Sie roch nach Tier, dessen war er sich sicher. Es begann zu regnen, und sie lehnte sich an den Baobab, der doch kein wirkliches Blätterdach hatte.

Jetzt oder nie.

»Verehrte, darf ich …?«

Theodor bot ihr den Arm, genauer, den Ellbogen, und er fühlte etwas, das er beim Schießen keines Tiers je gefühlt hatte. Es war Mitleid oder Weichheit, und es kam aus seinem Knie. Aus dem rechten. Alba schaute von der Rinde des Baobabs weg und ihn an. Es schmolz alles zusammen, das wabernde diffuse Sonnenlicht hinter den weißlichen Wolken, das ihm noch unbekannte Afrika, ihr Gesicht, als würde es dämmern und man habe es gar nicht erwartet.

Erst später merkte Theodor, dass er in diesem Moment nichts Besonderes sagte, dass sie es war, die sprach, die schon immer alles sagte. Sie konnte nicht anders als mit ihm reden, es kam einfach aus ihr heraus. Sie hatte Tränen in den Augen, oder war es der Regen? Etwa der tote Elefant? Ihr feuchtes, traurig-frohes Gesicht gab ihr ein seltsames helles Aussehen. Auf ihren Wangen, längs unter den Augen verliefen feine Linien. Lebhafte Farben, Sommersprossen, das Lächeln angestrengt und michelangeloesk, gekrönt von einem dichten Schopf löwenblonder Haare. Dann noch der lange weiße Hals, dem Musculus sternocleidomastoideus nach zu urteilen mittleren Puls. »Denn so schön sie auch ist, man zweifelt doch an ihrer Güte«, kamen Theodor die Worte Henry James’ über Lucrezia Panciatichi in den Sinn. Der Gedanke gefiel ihm. Herrisch, seelisch verwahrlost. Es war ihr egal, dass er ihre Tränen sah.

»Regenhäuptlinge und Leoparden, das ist, glaube ich, alles, worüber man mit ihm reden kann.«

Sie wischte sich die Augen und wies mit dem Kinn gen Hans-Horst, der ein paar Eingeborenen schreiend Anweisungen gab.

»Er geht auf Berge und in Höhlen, sucht dort Steine, mit denen man Regen machen kann. Die Eingeborenen lachen ihn aus. Sie wissen genau, wo die Wasserflecken sind. Auch in der Trockenzeit. Wenn ein Dorfweiser stirbt, dann, so glauben sie, verwandelt er sich in einen Leoparden, der das Regengeheimnis kennt.«

Sie lachte leise und fuhr sich über die Augen.

»Wo sind denn alle? Zeit, in die Wagen zu steigen. Die Nilpferde kommen bald.«

Sie rutschte unruhig an der Rinde entlang, ergriff dann seinen Arm fester.

»Wie lange bleiben Sie hier?«

Auf ihrer Nase tanzte eine Sommersprosse, die dunkler war als die anderen.

»Für immer«, wollte er ihr zurufen. Wer war sie überhaupt?

»Ich mag die Jagd nur manchmal«, sagte sie und schaute ihn an. »Wenn sie Löwen jagen. Ich hasse Löwen, die gelben Augen, dieser tote Blick. Als Kind folgte mir einmal einer.«

Von nun an, Theodor wusste es genau, würde er sie vor sich selbst beschützen, pragmatisch, aufmerksam.

»Sie sehen aus wie eine Tanne«, sagte sie und schaute ihn weiter an, diesmal lachend.

*

Nicht zuletzt wegen Alba wurde Theodor in Afrika zum Späher. Er sprach wenig. Eine ruhige Ergebenheit hatte ihn ergriffen. Er saß viel und rauchte, sah Onkel Reingard bei seinen Verrichtungen zu und Tante Heide, wie sie die Hausangestellten antrieb und die Arbeiter beim Pflücken von Maulbeeren unten am Wasser anwies. Er war müde, es war heiß. Man wartete auf Eisenlieferungen aus dem Norden, um mit dem Bau der Bahnstrecke beginnen zu können, und man wartete auf Arbeiter. Spazieren gehen ging nicht, sagte man ihm, ab siebzehn Uhr kamen die Nilpferde aus der Talsperre, um für die Nacht das Terrain zu wechseln. Unlängst hatte ein Nilpferd einen Arbeiter aus dem Avocadohain in zwei Teile gerissen.

Eingeborene trugen Lasten auf ihren Köpfen und lebten in Behausungen, die umgedrehten Körben glichen.

»Karens Kabause« vorgelagert lebte Wildhüter Hans-Horst in einem Zelt mit Grasdach. Punkt fünf Uhr nachmittags, an jedem einzelnen Tag, wie Theodor bald ermüdet feststellen musste, setzte Hans-Horst sich vor den Zelteingang, den knotigen Körper in stets denselben Sarong gewickelt, der ausgerechnet an der Stelle aufklaff‌te, an der er nicht sollte, und seine »Freundinnen« kamen zu Besuch. Es waren junge Eingeborene, erst eine, dann zwei, dann drei, vier, fünf verschwanden im Zeltinneren. Wenn sie alle drin waren und die Eingangsplanen wieder glatt runterhingen, stellte Hans-Horst seinen Passionsfruchtsaft resolut auf den Horntisch, trat die Hanfzigarette aus und gesellte sich federnden Schritts zu den auf‌fallend still im Zelt wartenden Frauen. Hans-Horst war eine Flasche, die Theodor gerne mit Schläue gefüllt hätte.

Unglücklicherweise sah Theodor von seinem Arbeitstisch im nach zwei Seiten offenen Schuppen, den man ihm auf dem Vorplatz der Farm errichtet hatte, genau zum Wildhüterzelt.

Vor Hans-Horsts Etablissement lernte Theodor daher auch bald Frau Na-da-za-le kennen. Eines Nachmittages, drüben bei Hans-Horst war die Zeltparty bereits in vollem Gange, wurde Theodor über den Kostenvoranschlägen verschiedener Lastenträger von einem dürren Kratzen an der Schuppenwand gestört. Herein kam eine einheimische Frau, deren Gesicht ihn entfernt an Dr. Mabuse erinnerte.

»Zigarett?«, fragte sie und rieb Mittelfinger und Daumen gegeneinander.

Wortlos, denn was hätte er auch sagen sollen, schob Theodor ihr seine Schatulle mit den Zigaretten hin. Sie lächelte breit und begann dann unaufgefordert, ihre voluminöse Gestalt von dem Wickelkleid zu befreien, Theodors wüste Gegenrede ignorierend. Just in diesem Moment kam Alba von der anderen Seite an den Schuppen heran, zog sich dann unverzüglich und die Situation bis ins Kleinste missdeutend unter betretenem Gemurmel zurück.

»Ich möchte Sie keinesfalls länger aufhalten«, rief Theodor, dem der Schweiß ausbrach, noch einmal und wies zum Horizont, ergriff dann kurzerhand Frau Na-da-za-les Arm und geleitete diese behände zum Farmhausvorplatz, wo sie dann noch eine Weile herumstreunte und »Zigarett« murmelte.

Die Lage im Farmhaus selbst erschien Theodor einigermaßen normal. Im Garten des Haupthauses wuchsen Pflanzen in schrillen Farben, drinnen erschien die Welt deutsch, bis auf das »Sawubona, baba«, das den Tag lang in verschiedenen Tonlagen gewienerte Korridore herunterhallte. Theodors Familie hatte es im Laufe der Jahre irgendwie geschaff‌t, trotz der Wildnis um sie herum eine perfekte Imitation westfälischen Großbürgerlebens in Szene zu setzen, mit den erforderlichen Grillabenden, Schnitzeljagden rund ums Haus und Kammerkonzerten, »selbstverständlich ohne schwarze Musiker«, sagte Tante Heide und dann noch mal und dann stirngerunzelt noch mal, während sie schürfend in der Teetasse rührte und von draußen Affenrufe ins Halbdunkle hereindrangen.



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