Der Duft von Raureif - Fritzi Teichert - E-Book
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Der Duft von Raureif E-Book

Fritzi Teichert

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Beschreibung

Ein Waldschloss für zwei Als sich die beiden Halbschwestern Isa und Bella bei der Testamentsvollstreckung ihres Vaters zum ersten Mal gegenüberstehen, ist die Überraschung groß. Denn außer dem Vornamen haben sie jetzt auch noch ein vererbtes Schloss gemein. Schnell wird deutlich, dass beide unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch während die ersten Schneeflocken vom Himmel fallen und der Raureif den umliegenden Wald zum Funkeln bringt, werden die beiden Schwestern nach und nach miteinander warm – auch dank dreier ganz eigenwilliger Weihnachtsengel: Isas widerspenstiger Teenagertochter, einer alten Dame mit aristokratischen Vorsätzen und dem attraktiven Gärtner. - Der neue Roman der ›Storchenherzen‹-Autorinnen - Drei Generationen, die viel voneinander lernen können: zwei Mittdreißigerinnen, deren kratzbürstige Großtante und eine Teenagertochter unter einem Dach, inklusive attraktivem Gärtner

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Seitenzahl: 657

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Bis dato wussten weder Isa noch Bella, dass sie Halbschwestern und noch dazu gemeinsame Besitzerinnen eines Waldschlosses sind. Ihr Vater hat es ihnen vererbt, zusammen mit ihrer Großtante Thea von Böhler, die darin lebenslanges Wohnrecht genießt. Bella ist sofort hellauf begeistert von dem Schlösschen – und von dem attraktiven Gärtner Philip. Sie beschließt, ihren Job an den Nagel zu hängen, um in ihrem neuen Zuhause als Künstlerin durchzustarten. Isa ist das Erbe zunächst nur eine Last, doch als sie ihren Mann beim Fremdgehen und ihre Tochter Liv mit Haschkeksen erwischt, will sie nur noch weg. Sie schnappt sich Liv und tritt einer WG bei, die so einige Höhen und Tiefen überwinden muss – und das ausgerechnet, während das Fest der Liebe immer näher rückt.

Fritzi Teichert

Der Duft von Raureif

Roman

Für Isabel

Ein Schloss macht noch keine Prinzessin

Bella

Der Tod ist eine seltsame Sache. Oft kommt er auf leisen Schwingen, unerwartet und mit grausigem Gesicht. Manchmal aber auch laut und angekündigt. Für den einen ist er eine Erlösung von langem Leiden, für den anderen ein gemeiner Dieb, der an sich nimmt, was ihm noch nicht gehört, und unbegreifbare Leere zurücklässt.

Ich weiß nicht genau, was ich mit dem, was uns allen auf die ein oder andere Art blüht, anfangen soll. Zu meinem Glück habe ich noch nie jemanden sterben sehen, keinen Menschen, der mir nahestand, verabschieden müssen, und doch sind mir der Tod und der Verlust, der mit ihm einhergeht, nicht unbekannt. Er ordnet die Welt auf seine eigene Weise und erschafft dabei klaffende Löcher, die man mit aller Kraft seiner Seele instinktiv versucht zu flicken. Es ist, als würde ein letztes Puzzlestück im Leben fehlen, dessen Lücke schmerzlich klar ins Auge sticht.

Ich kneife mir in die Nasenwurzel, versuche die quälenden Gedanken und den Anflug von Kopfschmerzen zu vertreiben und drücke aufs Gas. Mein Mini Cooper rauscht über die Landstraße, die sich durch einen dichten Wald windet. Die berechnete Ankunftszeit des Navis habe ich längst überschritten, und die Einsamkeit der Umgebung lässt mich immer mehr an der Route zweifeln. Bäume, nichts als Bäume mit grünen Nadeln und saftigem Blätterdach, das im Spätsommerlicht leuchtet. Nervös klopfe ich aufs Lenkrad, hoffe inständig, dass ich mich nicht verfahren habe.

Während der Wald dichter wird, mächtige Erlen und Eichen das Licht schlucken, Tannen ihre buschigen Arme über die Straße schwingen und alles in ein mystisches Grün tauchen, klingelt mein Handy, und ich freue mich über die willkommene Ablenkung von meinen morbiden Gedanken.

»Bella hier«, melde ich mich. Beiläufig überprüfe ich das Navi, ob es überhaupt noch navigiert oder sich bereits aufgehängt hat. Hübsche Redewendung übrigens für Technik, die einen Neustart wünscht.

»Bella«, tönt es aus dem Lautsprecher, und mein Mundwinkel hebt sich leicht. Es ist Mirko, Leiter des Museums, für das ich seit ein paar Monaten arbeite und eine Ausstellung zum Thema Landschaft und ihre Wirkung mit Werken von Paula Modersohn-Becker und anderen plane. Er ist ein bisschen wie ein Tiger auf Beutefang, umkreist mich mit Vorsicht, und ich frage mich bereits seit einer Weile, wann er zum Sprung ansetzen wird. Hoffentlich nicht gerade heute, denke ich, weil ich weiß, dass ich nicht bereit bin. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt und lasse mir in Gefühlsdingen für gewöhnlich viel Zeit.

»Mir ist aufgefallen, dass du heute gar nicht da bist«, sagt Mirko, und ich muss grinsen, werfe einen schnellen Blick in den Rückspiegel. Seit bestimmt einer halben Stunde habe ich kein anderes Fahrzeug hinter mir gesehen.

»Und deshalb rufst du mich an? Das ist ja lieb von dir«, vermute ich, dass er sich nach meinem Wohlbefinden erkundigen will, da ich mich artig mit den Worten »dringender privater Termin« für heute abgemeldet habe.

»Nachdem ich vorhatte, dich heute fürs Wochenende ins Theater einzuladen – wir sprachen doch über die Neuinterpretation von Romeo und Julia? –, dachte ich mir, ich ruf dich an.«

Ich stutze. Wenn ich mich richtig erinnere, erwähnte ich bei dem Gespräch bereits, dass ich für Tragisches zurzeit keinen Kopf habe. Vor allem, weil ich mich laut eines Notars mit einem plötzlichen Todesfall konfrontiert sehe, was ich, um Fragen zu vermeiden, getrost wegließ. Ich fürchte, Mirko ist nicht der aufmerksamste Typ Mann, was ihn in meiner Gunst automatisch sinken lässt. Und zwar sehr schnell.

Im Rückspiegel erhasche ich einen Blick auf mich selbst. Meine grauen Augen haben diesen ernsten Ausdruck, dem meine wilden dunkelblonden Locken Kontra geben, und ich nehme mir vor, Mirko nicht sofort abzuschreiben. Immerhin werde ich nicht jünger und will nicht einsam sterben. Meine letzte Beziehung ist sechs Jahre her. Und das, obwohl es durchaus Bewerber gab; leider mehr Frösche als Prinzen.

Plötzlich schießt ein Reh von links nach rechts über die Straße. Ich stoße einen Fluch aus, trete auf die Bremse. Die Reifen quietschen, und meine Tasche fliegt in den Fußraum. Das Reh springt davon, taucht ins grüne Meer, und mein Navi verkündet fröhlich, dass ich in einhundert Metern das Ziel erreicht habe. Es befindet sich auf der linken Seite.

»Verdammt«, knurre ich, was Mirko scheinbar aus dem Konzept bringt, denn er entschuldigt sich für irgendetwas und murmelt Unverständliches. Ich biege in einen Weg.

»Du hast es vergessen«, höre ich ihn irgendwann sagen, während mein Auto über Wurzelwerk und Überbleibsel von uraltem Kopfsteinpflaster holpert. In der Ferne blitzt etwas Helles und Großes aus dem Grün hervor.

»Ich weiß nicht, ob ich am Wochenende Zeit habe. Möglicherweise ist mein Vater gestorben«, rutscht es mir raus, und ich denke sofort wieder an das fehlende Puzzlestück.

»Hä?«, wundert sich Mirko. »Ich dachte, der ist ums Leben gekommen, als du noch ein Kind warst. Bei einem humanitären Einsatz, oder? In … wo noch mal?«

»Burkina Faso«, murmle ich und denke an die Geschichte, die ich zeit meines Lebens allen erzählt habe. Für die Organisation Ärzte mit Herz ist mein Vater Ende der Neunziger dort gewesen, um Opfer der gewalttätigen Auseinandersetzungen zu operieren. Bei einem Brand im Krankenhaus kam er ums Leben, als er versuchte, einen Jungen mit amputiertem Bein zu retten. Er ist sogar dort begraben, weil er das Land zu Lebzeiten so geliebt hat, dass meine Mutter es nicht übers Herz brachte, seinen Körper nach Deutschland zu überführen. Eine Tatsache, die es mir unmöglich machte, jemals sein Grab zu besuchen.

»Vor dreißig Jahren«, antworte ich Mirko und spüre dieses fiese Kratzen in meinem Hals. Zeit für ein Zitronenbonbon. Ich krame eines aus der Tasche, schiebe es mir zwischen die Zähne und beiße einmal kräftig zu. Es kracht. »So wie es aussieht, ist er ein zweites Mal von uns gegangen«, erkläre ich zögernd, weil sich das Ganze bescheuert anhört.

»Heftig.«

»So könnte man es nennen.« Es ist sieben Tage her, seit ich das Schreiben vom Notar in meinem Briefkasten fand, das mich über den Tod meines Vaters vor sechs Wochen und die damit einhergehende Testamentseröffnung informierte. Die Überraschung, den Unglauben, den Schock, die Verwirrung spüre ich noch immer, und nach wie vor wirbeln dieselben Fragen in meinem Kopf herum: Wie kann ein Mensch, der seit Jahrzehnten tot ist, ein zweites Mal sterben? Und what the fucking hell soll der Scheiß?!

Mein Vater starb als Held, als ich drei Jahre alt war, Punkt. Ich bin definitiv nicht bereit, das einfach so aufzugeben, bloß weil ein Notarzettel etwas anderes behauptet. Vielleicht gab es ja eine Verwechslung. Das muss es sein! Sie haben einen anderen Reinhard von Böhler beerdigt. Der zufällig auch eine Tochter namens Isabel hat. Klar. Ist ja quasi ein Allerweltsname.

Mein Magen rumort und meine Augen brennen, als ich daran denke, wie sehr ich meinen Heldenpapa vermisst habe, obwohl ich ihn gar nicht kannte. Immerhin hatten alle Kinder einen Vater, selbst die, deren Eltern getrennt lebten. Die hatten manchmal sogar Zusatzpapas.

»Dafür ist mein Papa ein Engel«, antwortete ich trotzig, wenn’s beim Kindergartenvesper um die coolen Berufe unserer Eltern ging. »Der hat schon ganz viele Menschen gerettet, und jetzt passt er auf mich auf.« Bis weit in die Grundschulzeit war ich überzeugt davon. Vielleicht sogar bis vor sechs Wochen.

Meine Mutter hat mir so viele Geschichten von meinem Vater erzählt, dass er in mir weiterlebte. Ich fand ihn in so vielen Dingen: in den Sonnenstrahlen eines heißen Sommertages, weil er die Wärme liebte. Oder in Gedichten, die es schafften, Worte in eine Melodie zu verwandeln, weil er Kindern, die Angst vor einer Operation hatten, deutsche Verse vorlas.

Ich platzte vor Stolz über die Taten, die er als Chirurg vollbracht hat, um Menschen zu retten, denen sonst niemand half. Er war ein Held, so viel stand fest.

Oft habe ich mich gefragt, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn er leibhaftig an meiner Seite gewesen wäre. Bei Ballettaufführungen stellte ich mir vor, er säße im Publikum und applaudierte von allen Eltern am lautesten. Und auch bei der Übergabe meines Masterzeugnisses zwinkerte er mir aus der vordersten Zuschauerreihe zu. Ach, Papa.

»Wo bist du denn eigentlich?«, reißt Mirko mich aus meinen Gedanken, und mein Cooper macht einen Schlenker.

»Unterwegs zu einer Testamentsverlesung«, gebe ich zu, kaue das Bonbon. »Ich bin gespannt, was dabei rauskommt.«

»Du hättest mich mitnehmen können.« Überraschenderweise klingt Mirko vorwurfsvoll, was ich nicht verstehe. Wir waren dreimal essen, haben Händchen gehalten und uns einmal recht harmlos geküsst. Wie kommt er darauf, dass ich ihn bei so etwas Privatem einbeziehen würde?

»Das ist nett von dir, aber in Anbetracht der Umstände wollte ich das allein machen. Nicht mal meine Mutter weiß davon«, verrate ich und folge dem Weg, der sich in Schlangenlinien vorangräbt. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, Mutti von der Sache zu erzählen. Immerhin glaubt sie seit knapp der Hälfte ihres Lebens, dass Papa tot ist. Seinetwegen hat sie nie wieder einen Mann gehabt, hat sie mir einmal verraten, als ich ihr zu verstehen gab, dass es für mich okay wäre, falls sie in Liebesdingen noch mal neu durchstarten wollen würde.

Eins unserer heiklen Teenagergespräche, und sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nach deinem Papa.«

Papa – das Wort hallt in meinem Geist umher, öffnet Türen in mir, und ich muss plötzlich gegen Tränen anschlucken. Bislang dachte ich, man messe die Größe eines Mannes an seinen Taten, und kam mir reich vor, weil mein Vater ein so prall gefülltes Karmakonto besaß. Nun überlege ich, dass vielleicht jene Dinge mehr aussagen, die ein Mann verbirgt. Was mag wohl dazu geführt haben, dass er meine Mutter und mich in dem Glauben ließ, er sei tot? Mir fällt nichts ein, das krass genug wäre.

Eine Erschütterung geht durch den Wagen, als er durch ein Schlagloch holpert und aufsetzt. Ich verschlucke einen Fluch.

»Ich muss Schluss machen«, beschließe ich, und Mirko kontert mit: »Aber wir sind doch noch gar nicht zusammen.«

Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Mann schon vertröste, was einen Besuch auf Wolke sieben angeht. Aber meine Höhenintoleranz kickt in diesem Moment doppelt so heftig wie sonst. Also kichere ich nur albern und lege dann einfach auf. Ich habe echt andere Sorgen.

Ein hübsches kleines Bruchsteinhaus mit hellblauen Fensterläden und Weinranken am Giebel taucht vor mir auf, als sich der Wald lichtet. Wie ein kleiner Wächter steht es direkt neben einem großen Eisentor, dessen Flügel weit geöffnet sind und zum Passieren einladen. Immerhin ein Zeichen, dass es hier Menschen gibt. Sehr schön.

Die Straße wird besser, macht einen Knick, und was ich dann zu sehen bekomme, raubt mir schlicht den Atem. Ich trete in die Eisen und schnappe nach Luft. Heilige Scheiße, was ist das denn?!

Vor mir erhebt sich ein weißes Schlösschen, dessen silberblaues Dach in der Sonne funkelt. Wie Zauberhüte reckt es zwei französische Türme in den blauen Himmel, ich zähle drei Etagen und verliebe mich augenblicklich in die süßen Gaubenfenster im Obergeschoss. Was für ein Notar kann sich bitte ein Büro in solch einem Ambiente leisten?!

Der Weg zweigt sich auf, eine weite Grünfläche, die alte Erlen, Eschen und ein paar Fichten rahmen, liegt zwischen Wald und Schloss, und ich nehme die rechte Zufahrt. Erst jetzt entdecke ich eine Limousine, an der ein Mann im Anzug lehnt und vermutlich auf mich wartet.

Ich lenke meinen Cooper hinüber, parke direkt hinter dem Mercedes und steige aus. Das Gebäude wirft mir seinen Schatten zu Füßen und wirkt so imposant, dass ich vor Ehrfurcht den Kopf einziehe. Ich habe schon immer ein Faible für geschichtsträchtige Häuser und bewundere vor allem den Stil des frühen 19. Jahrhunderts. Wer hier wohl mal lebte? Was diese Mauern erzählen könnten? Aufregung kribbelt durch meine Adern.

»Herzlich willkommen, Frau, eh, Isabel von Böhler. Haben Sie gut hergefunden?«, begrüßt mich der Mann mit Glatze und beeindruckend gerader Nase. Er erinnert mich an Mr Gru, den Meisterdieb aus dem Kinderfilm Ich – Einfach unverbesserlich.

»Isabel Schmidt«, berichtige ich ihn und blinzle, mustere den Typen mit ungesunder Gesichtsfarbe und morbider Ausstrahlung genauer. Er könnte mir sympathisch sein, würde er meinen Namen kennen. Mein Vater hieß von Böhler, ich trage den Mädchennamen meiner Mutter. Als Notar weiß man so was, finde ich.

Verwirrt blättert er in einer kleinen Ledermappe herum und berichtigt sich eilig. »Pardon, natürlich. Frau Schmidt.«

Ich reiche ihm die Hand, er drückt fest zu. Sein Siegelring quetscht meine Haut.

»Röwekamp«, stellt er sich mit dem Namen der Kanzlei vor, von der ich die Einladung erhielt, und ich befreie meine Hand aus seiner.

»Sehr hübsch hier, nur etwas abgelegen vielleicht«, sage ich und blicke mich in diesem Idyll um. Das Rauschen der Blätter mischt sich mit dem Gesang hunderter Vögel und ergibt eine Symphonie, die mein Herz aufblühen lässt. Ich sollte mich öfter an Orten wie diesem aufhalten.

»Ich muss zugeben, ich hatte befürchtet, mich vollkommen verfahren zu haben«, füge ich an, als Herr Röwekamps Aufmerksamkeit zu einem weiteren Fahrzeug wandert, das in diesem Moment das Tor passiert und auf das Schlösschen zuhält.

»Ach, sehr gut. Da kommt ja auch schon Ihre Schwester«, meine ich ihn sagen zu hören, werde jedoch von dem Mini in auffälligem Blau abgelenkt, bevor ich ihn ein zweites Mal korrigieren kann – ich bin Einzelkind. Das Auto bremst viel zu scharf und viel zu dicht vor uns, Staub erhebt sich in die warme Spätsommerluft und wabert zu uns herüber. Die Fahrerin ist mir sofort unsympathisch.

»Wie schön, dass wir komplett sind«, meint Herr Röwekamp zufrieden, während die Tante aussteigt und sich eine Sonnenbrille ins Gesicht schiebt. Ihre hellbraunen Locken trägt sie in einem kurzen, durchgestuften und sehr hippen Haarschnitt, der ihr schmales Gesicht beeindruckend in Szene setzt. Die weit geschnittene lila Stoffhose reicht bis zum Bauchnabel; die mintfarbene Bluse steckt im Bund. Ihr Make-up sitzt, als sei sie Moderatorin einer Talkshow. Meine Güte, wer ist das?

Auf hohen Absätzen klappert die Frau uns entgegen und streckt ihre Hand schon aus, bevor sie uns erreicht. Sie wirkt aufgekratzt und lächelt ein honigsüßes Lächeln, das irgendwie aufgesetzt rüberkommt. Etwas ist seltsam an ihr. Sie erinnert mich an jemanden, den ich kenne. Ist sie vielleicht tatsächlich Fernsehmoderatorin?

»Herzlich willkommen, Frau von Böhler«, schnarrt der Notar und begrüßt die Fremde auf die gleiche Art wie mich zuvor, und eine Weile stehe ich wie bestellt und nicht abgeholt daneben. Ein bisschen Small Talk übers Wetter, die Schönheit des Waldes und verstopfte Straßen, dann wendet sich die Minifahrerin mir zu.

»Hey, ich bin Isabel von Böhler«, stellt sie sich vor, und ich stutze.

»Isabel Schmidt«, erwidere ich, und sie lacht glockenklar.

»Herrlich, wir haben ja denselben Vornamen«, strahlt sie. Als sei das ein Grund zur Freude.

»Den gleichen, nicht denselben«, stelle ich klar und denke über verfahrene Situationen nach. Wie unangenehm kann eine Begegnung sein? Und wann darf ich wieder gehen?

»Sie kennen sich gar nicht?«, fragt nun zu allem Überfluss der Notar mit einer Mischung aus Überraschung und Beunruhigung in der Stimme.

»Nein, sollten wir?«, hake ich nach. Die andere Isabel lächelt komisch, und ich fröstle, weil Wolken die Sonne verschlucken und die Umgebung mit Schatten füllen.

»Na gut, wir besprechen alles Relevante drinnen, wenn Sie mir beide bitte folgen wollen?« Herr Röwekamp deutet zum Haupteingang.

Fünf mit Moos bewachsene Stufen später stehen wir vor einer großen Tür mit zauberhaften Schnitzereien, über die der Notar irgendetwas verlauten lässt, das ich nicht mitbekomme, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, die Frau neben mir verstohlen zu mustern. Isabel von Böhler? Dann ist sie die Witwe meines Vaters? Gott, ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll, sie kann nicht viel älter sein als ich. Klarer Fall von Daddy Issues, wenn man mich fragt. Und so was kann ich mal so gar nicht nachvollziehen. Wer will einen alten Knacker als Lover haben, der früher in Rente ist, als man selbst in die Wechseljahre kommt?

Ich versuche, sie nicht weiter anzustarren, und frage mich, seit wann sie wohl zusammen waren, die andere Isabel und mein Vater. Wie viele Jahre hat sie an seiner Seite verbracht? Und hat sie von mir gewusst?

Gemeinsam mit dem Brennen in meinen Augen blinzle ich die Fragen beiseite und konzentriere mich lieber aufs Atmen. Eine leicht unterschätzte Tätigkeit, nicht ganz unerheblich fürs Überleben.

»Willkommen in Ihrem Märchen«, höre ich indessen Herrn Röwekamp schwärmen, und sein verhaltenes Grinsen macht mich langsam, aber sicher sauer. Er keckert herum, wirft mit verschwörerischen Blicken um sich, sodass ich plötzlich überlege, ob die meisten Horrorfilme nicht genau so beginnen. Eine ominöse Einladung in ein abgelegenes Schloss? Ein Fluch, der schließlich alle killt oder wenigstens einen Vampirkönig beinhaltet, der seine Blutmaid aussaugt? Wobei Letzteres, wenn es ewiges Leben und einen Traumprinzen à la Edward Cullen bereithält, nicht das Übelste wäre. Ich könnte jetzt gut starke Arme gebrauchen.

Atmen, Bella, mahne ich mich und staune über den riesigen Kronleuchter an der kuppelförmigen Decke und die Größe der mit Marmorboden ausgestatteten Empfangshalle. Das sind mindestens an die sechzig Quadratmeter, und das ist nur der Flur. Links und rechts winden sich herrschaftliche Treppen mit schnörkeligem Handlauf aufwärts, um sich im Obergeschoss zu vereinen und anschließend in den zweiten Stock zu führen. Das Einzige, das nicht so recht zu dieser imposanten Eleganz passen will, ist der gepolsterte Sitz eines Treppenlifts, der am Fuße parkt.

»Verraten Sie uns endlich, um welche Art von Märchen es sich hier genau handelt?«, werde ich ungeduldig, weil einige Herzschläge lang niemand etwas sagt. »Einiges von dem, was in Ihrem Brief stand, kommt mir nämlich suspekt vor.« Die Tatsache, dass mein Vater noch lebte, nachdem er gestorben war, zum Beispiel. Reflektionen des Kronleuchters tanzen als bunte Lichtpunkte über den Boden.

»Ich kann mir vorstellen, dass Sie beide viele Fragen haben«, antwortet Herr Röwekamp und biegt nach rechts. »Ich versichere Ihnen, Sie werden alle Antworten bekommen.«

»Da bin ich mal gespannt«, zwitschert die andere Isabel. »Ich habe meinen Vater seit meinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen. Als ich Ihr Schreiben erhalten habe, war meine Verwirrung perfekt«, meint sie, und ich renne beinahe in eine Ritterrüstung. Was hat ihr Vater mit der Geschichte zu tun?

»Es ist auch für mich das erste Mal, dass ich zwei verschollene Prinzessinnen ausfindig machen musste, um sie über ihr Erbe aufzuklären«, antwortet Herr Röwekamp und zwinkert mir doch tatsächlich zu, während er eine nussbraune Holztür ansteuert.

»Prinzessinnen?«, hakt die andere Isabel nach, und wir landen in einem riesigen Raum mit Kamin, hohen Bücherregalen und einer Ledersitzecke. An einer Wand hängt der Kopf eines armen Hirsches, und ich knirsche mit den Zähnen.

»Nobel geht die Welt zugrunde«, murmle ich über ein plötzliches Rauschen in meinen Ohren hinweg.

Erst jetzt registriere ich, dass wir nicht allein sind. Eine alte Dame ganz in Schwarz mit Turmfrisur und gekleidet wie eine Rokokokokotte steht mit verschränkten Armen neben dem Ledersofa und mustert uns mit bis zum Haaransatz hochgezogenen Brauen. Augenblicklich schäme ich mich, nicht ebenfalls in Schwarz, sondern in Boyfriend-Jeans und weißem T-Shirt gekommen zu sein. In Anbetracht der Situation erscheint mir das plötzlich respektlos. Ich weiche dem vorwurfsvollen Blick aus und verspasse vor lauter Aufregung, wie der Notar die Rokokokokotte vorstellt. Aber zum Glück sind Namen ja Schall und Rauch.

Im nächsten Moment öffnet sich hinter uns die Tür, und ein Kerl in schweren Stiefeln, Outdoorhose und Hunting Sweater tritt ein. Seine dunkelblonden Haare fallen ihm in die Stirn, hinten sind sie kurz rasiert. Er ist der Einzige hier, der nicht aussieht, als entstamme er der Kulisse eines absurden Traumes, und ich freue mich wie blöd, als er zu mir herüberschaut und mich anlächelt. Oh, tut er gar nicht; sein Gesichtsausdruck ist eher grimmig.

Schön, dann lächle ich eben, streiche mir verlegen meine Locken hinter die Ohren und weiß plötzlich nicht, wohin mit mir. Fremde Leute haben grundsätzlich diesen Effekt auf mich. Ich möchte mich dann am liebsten in Luft auflösen, nur damit man keine Interaktion von mir erwartet.

Dafür schüttelt die andere Isabel dem Mann so überschwänglich die Hand, dass es für zwei reicht. Hurra.

»Nehmen Sie bitte Platz«, fordert Herr Röwekamp uns auf, wartet, bis wir uns hingesetzt haben und der Dunkelblonde neben die alte Dame gerutscht ist, die mittlerweile kerzengerade auf dem Ledersofa sitzt. Herr Röwekamp selbst lässt sich in den letzten Sessel fallen, schlägt seinen Hefter auf und beginnt, über Reinhard von Böhler zu sprechen. In feierlichem Tonfall referiert er über den Mann, dem ich mich mein Leben lang so nahe fühlte, als sei er nie fortgegangen, der mir in diesem Moment jedoch fremder vorkommt als jeder Passant auf der Straße. Ich erfahre, dass mein vor Jahrzehnten verstorben geglaubter Vater als direkter Nachfahr des Adelsgeschlechts von Böhler Anfang des Jahres auf dieses Anwesen zog, um seine Angelegenheiten zu regeln, wie der Notar es nennt. Er sei krank gewesen und habe seine letzten Monate hier verbringen wollen.

Ich sitze über Eck mit der Frau in Schwarz, die vermutlich in Parfüm gebadet hat, und mich erfasst ein Hauch von Schwindel. Wie aus weiter Ferne höre ich, wann mein Vater geboren wurde und dass er vor sechs Wochen starb. Ich sage nichts, lausche nur stoisch dem Notar.

Irgendwann bemerke ich, dass der Blick des Mannes in Outdoorkluft über mich hinweg huscht, während Herr Röwekamp dazu übergeht, ein Testament zu verlesen. Er bedenkt ebenjenen Kerl neben der Lady, namentlich Philip März, den Förster, Gärtner und Hausmeister des Jagdschlosses Falkenfried derer von Böhler, als Erstes, und nur sehr langsam sickert zu mir durch, dass dieses gesamte Anwesen mitnichten eine überkandidelte Notarkanzlei beherbergt, sondern Gegenstand des Erbes meines Vaters ist. Und dieser Philip März bekommt das kleine Gesindehaus am Tor, an dem ich eben noch vorbeigefahren bin. Wow. So ein Glückspilz.

»Seinen beiden Töchtern, Isabel Schmidt und Isabel von Böhler, vermacht er zu gleichen Teilen Schloss Falkenfried mit all seinen Besitztümern und insgesamt 15 Hektar Grundstück«, sind weitere Informationen, die so surreal in mir nachklingen, als wäre ich auf Drogen oder so. Nicht, dass ich Erfahrungen damit hätte, ganz im Gegenteil. Mein Nervensystem ist sehr speziell und reagiert bereits auf Alkohol so empfindlich, dass ich selten trinke und von Drogen bisher gänzlich die Finger ließ. Meine Mutter sagt immer, ich hätte einen hervorragenden Selbsterhaltungstrieb. Mein erster Freund nannte mich feige und eine Spaßbremse.

»Das Schloss umfasst 1.172 Quadratmeter Wohnfläche, verteilt auf dreizehn Zimmer, Küche, drei Bäder und Ballsaal, dazu kommen Stallungen- und Betriebsgebäude in Garten und Wald. Alles muss erhalten und darf nicht veräußert werden. Des Weiteren verpflichten sich die Erben, Freiherrin Thea von Böhler auf ihrem verbleibenden Lebensweg zu begleiten und ihr lebenslanges Wohnrecht im Schloss zu gewähren. Wird gegen diese Festlegung verstoßen, geht das Erbe umgehend und vollständig an die vorgenannte Frau von Böhler über.«

Als der Name fällt, starrt mich die alte Dame mit weit aufgerissenen Augen an. Ich bin noch dabei, Herrn Röwekamps Worten einen Sinn abzuringen, und schlucke trocken. Zwei Töchter? Mein Vater hatte zwei Töchter? Und wir heißen auch noch gleich? Wie zähflüssiger Honig tropft die Erkenntnis in mein Bewusstsein, und ich bleibe daran kleben.

»Das muss ein Irrtum sein«, werfe ich ein und stehe auf. Meine Beine sind weich. Der Parfümduft der Lady neben mir macht mich echt fertig.

»Das hab ich auch gesagt«, kontert die pikiert, und mein Sichtfeld franst aus.

»Entschuldigung, aber wer sind Sie noch mal?«, wundere ich mich und taumle.

»Ich bin Thea Margarete Amanda Louisa Freiherrin von Böhler, Kindchen. Die Hausherrin«, erwidert die Lady mit einem süffisanten Unterton. »Und die Eigentümerin von Schloss Falkenfried, falls Sie dumm genug sind, Ihr Erbe abzulehnen.«

Jemand sagte mir mal, dass der Tod nicht der größte Verlust im Leben sei. Weitaus schwerer wiege das, was in uns stirbt, während wir noch leben. Während ich das denke, verblasst die strahlende Vorstellung eines Vater, den ich nie hatte und der dennoch stets seine schützenden Arme über mich hielt. Vor mir tut sich eine Leere auf, in die ich haltlos hineinstürze.

Irgendjemand fängt mich auf, bevor ich mit dem Gesicht voran auf dem gekachelten Boden eines mehrere Millionen schweren Schlosses landen kann, das in der Theorie zur Hälfte mir gehören könnte.

***

Zwei Tage später habe ich den größten Teil des Schocks überwunden und die Tragweite des Ganzen verstanden. Glaube ich zumindest. Fakt ist: Ich bin doch kein Einzelkind. Die Witwe meines Vaters ist in Wahrheit meine Schwester, zumindest zur Hälfte. Und unser Erzeuger hat uns ein Erbe hinterlassen, das so verlockend wie abschreckend ist. Denn zum märchenhaften Schlösschen Falkenfried gehört die entfernte Verwandte Thea von Böhler, die alles andere als handzahm zu sein scheint. Entscheide ich mich für Anwesen und Schloss, übernehme ich eine Verantwortung, bis dass der Tod uns scheidet, und das will gut überlegt sein.

Falls die andere Isabel auch nur ansatzweise so überrumpelt war wie ich, hat sie sich deutlich schneller gefangen.

»Also, hierherziehen kann ich auf keinen Fall«, erklärte sie, kaum dass ich zu mir gekommen war und Herr Röwekamp seine Verlesung beendet hatte. »Mein Mann arbeitet in der Stadt, und wir haben eine Tochter im Teenageralter – die bringt mich um, wenn ich sie mitten ins Nirgendwo verfrachte.« Sie lachte ihr Glockenlachen, das meinen Kopf zum Vibrieren brachte. Als hätte der nach meinem Sturz nicht eh schon ordentlich gedudelt. »Wenn wir’s nicht verkaufen dürfen, können wir es vermieten und uns die Einnahmen teilen. Mein Mann ist Jurist, der wird eine entsprechende Vereinbarung aufsetzen.«

Herr Röwekamp erwiderte etwas, während auf meiner Stirn eine Beule wuchs und ich dem Blut in meinen Adern beim Rauschen zuhörte. Keine Ahnung, was noch besprochen wurde, aber das »Sie bekommen Post von mir«, mit dem der Notar uns verabschiedete, gibt mir noch Zeit zum Nachdenken.

»Bella, kann es sein, dass du nicht bei der Sache bist?«, platzt Mirko in mein Kopfkino, und ich zucke zusammen. »Du hast einen zeitgenössischen Künstler neben Fritz Mackensen angeordnet. Das passt ja mal gar nicht.« Sein Ton ist exakt der gleiche, den mein letzter Freund draufhatte, wenn er an der Art herummäkelte, wie ich die Spülmaschine einräumte.

»Wieso?«, wundere ich mich über Mirkos Kritik. »Jeder kann doch lesen.« Mir unterlaufen nicht oft Fehler, trotzdem steigt sofort Scham in mir auf, und ich betrachte das Bild, um das sich Mirkos Unmut dreht. Abendstimmung bei Worpswede, Schätzpreis um die 8.000 Euro, und daneben ein vergleichbares Werk eines neuen Künstlers namens Lasse Winter, der eine andere Technik benutzt, mit seinem Farbspiel aber eine ähnliche Stimmung erschafft. Ich finde, das passt wunderbar, und die Beschreibungen der Werke geben genug Aufschluss.

»Und was ist mit diesem Bild?« Mirko deutet auf ein Werk, das mein eigenes ist und das ich heimlich in den Katalog geschmuggelt habe, um meinen Marktwert zu testen. Man muss seine Chancen zu nutzen wissen, oder? »ArtbyAnnalies hab ich noch nie gehört. Gibt es Daten zu ihr?«

Ich zögere. Die Informationskarte habe ich noch nicht fertig, weil ich mit mir hadere, wie viel ich preisgeben und was ich dem Betrachter selbst überlassen will.

»Nicht viele, sie ist Newcomerin«, sage ich halblaut und wünsche mir, Mirko würde es einfach gut sein lassen.

»Was macht sie dann hier neben Mackensen und Modersohn-Becker?«

»Auch neuen Künstlern muss man Chancen eröffnen. Außerdem dachte ich, ich hätte freie Hand bei der Gestaltung der Ausstellung«, erinnere ich ihn an die Vereinbarungen zu meinem Job.

»Sicher, aber dieses Werk ist eher abstrakt. Es passt nicht rein.« Prüfend legt Mirko den Kopf schief.

»Findest du es etwa schlecht?« Mein Magen sticht, und ich verschränke die Arme schützend vor der Brust. Das kann er jetzt unmöglich behaupten, oder doch? Sicher, Eigenes zu bewerten, hat immer eine subjektive Färbung, doch immerhin kann ich ein abgeschlossenes Kunststudium vorweisen und kenne mich gut genug aus, um nicht völlig blauäugig meine eigene Brillanz zu feiern. Ich weiß genau, wo meine Schwächen liegen, aber dieses Bild ist super!

»Ist die Malerin zufällig eine Freundin von dir?«, vermutet Mirko prompt.

»So in etwa.«

»Das ist Vetternwirtschaft«, findet er und runzelt die Stirn.

»Nein, das nennt man Vitamin B«, kontere ich. »Und Fügung. Also, sag mir, was du denkst. Ich bin neugierig, was dein aufmerksames Auge sieht. Wenn du mir erläutern kannst, weshalb es kein Recht hat, ausgestellt zu werden, dann berichtige ich meinen Fehler.«

Mirko taxiert mich. Ich fürchte, er ist verstimmt, weil ich ihm nichts über meinen Termin erzählen wollte. Irgendwie gehört dieses Chaos mir, finde ich. Mir ganz allein. Vielleicht noch der anderen Isabel, aber ganz bestimmt nicht einem Mann, den ich ein-, zweimal gedatet habe und dessen Ego so fragil ist, dass er eine Frau mit schlechter Laune straft, wenn sie weniger Interesse an ihm zeigt, als er es sich wünscht. Kurz erinnere ich mich an unseren Kuss, der zugegeben nicht schlecht war, insgesamt aber doch recht unspektakulär.

»Es ist schön, aber passt nicht zu Paula Modersohn-Becker, das vorherrschende Thema. Du erinnerst dich?«

Und ob ich mich erinnere, doch mir ist unbegreiflich, weshalb Landschaftsmalereien von Kunstakademien als zu wenig wertvoll angesehen werden, um neben einer etablierten Künstlerin hängen zu dürfen.

»Was ist das für eine Technik?«, hakt Mirko dann nach und tritt näher an das große Bild aus Rosa und Erdtönen, dessen Fluchtpunkt einen Weg ins Licht darstellt.

»Acryl, mit Malmesser und Schwämmen aufgetragen.«

»Die Farbkomposition ist gut, die Tiefe beeindruckend«, urteilt er, und ich lächele heimlich in mich hinein. »Dennoch, die Landschaft ist zu abstrakt, sie passt nicht zum Konzept. Und über Stil kann man auch streiten.«

Hoppla. Ich runzle die Stirn.

»Du siehst süß aus, wenn du so guckst.«

»Wie guck ich denn?«, möchte ich mal wissen, und seine Hand macht sich auf den Weg zu meinem Gesicht, um mir eine Strähne hinters Ohr zu streichen, wie er es schon oft getan hat, bevor er mich küsste. Etwas schwirrt in meinem Magen auf, Falter, die ans Licht drängen, voller Sehnsucht und doch ängstlich, bis sie in der Sonne verglühen. Ich trete einen Schritt rückwärts.

»Könntest du nicht einfach ein Auge zudrücken?«, bitte ich und stoße auf Granit.

»Ich finde, statt über einen Gefallen, sollten wir uns lieber über etwas anderes unterhalten.«

»Ist das so?«, wundere ich mich, und der riesige mit blauem Teppich ausgelegte Raum schrumpft um mich herum.

»Ich würde gerne wissen, woran ich bei dir bin, Bella«, sagt er, und ich weiß zunächst nicht, was er meint. »Ich strample mich seit Monaten ab. Wenn du kein Interesse hast, dann sag es einfach.«

Mir schießt die Frage durch den Kopf, ob meine Antwort sich auf meinen Job auswirken wird. Dann höre ich mich sagen: »Es tut mir leid, ich habe jemand anderen kennengelernt.«

Keine Lüge, denn seit der Testamentseröffnung auf Falkenfried bekomme ich sowohl die andere Isabel als auch Thea von Böhler nicht mehr aus dem Kopf. Ganz zu schweigen von dem Schlösschen, das einen immer größeren Platz in meinem Herzen einnimmt.

Als ich erfahren habe, dass mein Vater ein zweites Mal und als ein ganz anderer gestorben ist, als ich dachte, hat sich in mir ein Loch aufgetan und ich weiß einfach nicht, ob Mirko der Richtige ist, um mit all dem umzugehen. Und wenn man bei solch einer Frage Zweifel hegt, ist das dann nicht als Alarmsignal zu werten? Wie bei seinem Auto sollte man Warnzeichen niemals ignorieren. Sonst endet’s noch im Totalschaden.

»Ist das dein Ernst?«, murrt Mikro sichtlich angepisst, und ich weiche seinem Blick aus.

»Tut mir total leid.«

Er lacht unglücklich auf, fährt sich angespannt mit der Hand über den Dreitagebart, und ich trete zu meinem Bild, hänge es ab. Als müsste ich es schnell in Sicherheit bringen.

»So einfach ist das für dich?«

»Nein, es tut mir wirklich leid«, beteuere ich und spüre die Welle aus Zorn, die plötzlich von meinem Chef ausgeht. So viel zu der Frage, ob sich meine Antwort auf meinen Job auswirken wird. Der Wind hat sich ganz klar gedreht. Ich eiere voran, das riesige Kunstwerk vor mir her balancierend, sodass es mir die Sicht nimmt.

»Ich werde es in Ordnung bringen, die Ausstellung«, versuche ich mich selbst zu beruhigen und höre Mirkos gemurmelte Worte nur zu gut: »Was für eine Zeitverschwendung.«

Tief in meinem Inneren beginnt es zu vibrieren. Ich bleibe stehen, schiebe mein Bild von mir und blicke auf die Landschaft hinab. Rosa und braun saugt es mich in sich hinein, bis ich glaube, in einen Tunnel zu fallen. Die Tiefe ist mir wirklich gelungen, denke ich, während mich die Farbe verschluckt. Ein Satz, den ich irgendwo aufgeschnappt habe, wirbelt durch mich hindurch: Man ist immer nur eine Entscheidung entfernt von einem vollkommen anderen Leben.

Ich spüre, wie etwas in mir versucht, sich Gehör zu verschaffen. Lausche in mich hinein. Wir können es vermieten, klimpert die andere Isabel. Dann höre ich einen Kuckuck. Und das Raunen und Rauschen der Bäume, rieche den würzigen Duft des Waldes und atme automatisch tiefer.

Was wäre wenn?

Mein Bild gibt mich frei, und glasklar ploppt es vor mir auf: Ich bin nur eine beliebige Angestellte in einem unbedeutenden Museum einer Kleinstadt, die niemand kennt. Keiner wartet hier auf mich. Wieso sollte ich mich also nicht selbst verwirklichen und tun, was mir gefällt? Ohne Rücksicht auf die Meinung eines Chefs nehmen zu müssen, der mich vermutlich bloß eingestellt hat, weil ihm mein Dekolleté gefällt. Ich habe ein Anwesen geerbt, verdammt noch mal, und ein Schloss macht zwar noch keine Prinzessin, aber deshalb könnte ich doch trotzdem einfach selbst dort einziehen, oder? Zur Ruhe kommen, meine eigenen Bilder erschaffen und sie verkaufen. Eine Freundin in London lebt sehr gut davon und ist so glücklich wie nie.

Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Falkenfried, flüstert es in meinem Herzen und klingt wie eine Melodie.

Edelgebäck und andere Kekse

Isa

Die Leiter, auf der ich stehe, schwankt, und ich kralle mich am Balken des Budenhimmels fest, um nicht abzustürzen. Leider rutscht mir dabei die Stoffrolle aus dem Arm und plumpst zu Boden. Mein Blick folgt ihr, bevor er sich auf den dunklen Hinterkopf neben meinen Füßen richtet.

»Hey, wär’ nett, wenn du ein bisschen aufpassen könntest«, rufe ich hinunter. Der Kopf ruckt nicht mal. »Erde an Sahar – hallo, ich stehe hier oben, halte bitte die Leiter fest!«

»Was? Ups, sorry.« Jetzt wendet sich ein Gesicht zu mir, aufgerissene Kohleaugen gucken mich an beziehungsweise durch mich hindurch.

»Kannst du das Handy vielleicht wegstecken, bis ich hier oben fertig bin?« Ich deute auf den Stoffballen zu Sahars Füßen. »Und mir das eventuell wieder raufreichen.«

»Ja klar.« Endlich lässt sie ihr Smartphone los, sodass es an seiner Kette gegen ihre Hüfte schlägt, und greift nach der Leiter. »Laleh ist bloß total aufgeregt wegen der Orchesteraufführung heute Nachmittag, sie weiß nicht, was sie anziehen soll … Ach, du kennst das ja sicher.« Mit einer Hand angelt sie nach der Stoffrolle, muss die Leiter jedoch wieder loslassen, um das dicke Teil zu mir hochzustemmen.

Ich stütze mich mit den Knien gegen die oberste Sprosse, nehme Sahar die Bahn ab und werfe ein Ende des dunkelblauen Leinenstoffs über das hölzerne Gestänge der Bude. Wie ein Wasserfall fällt es herab, die eingestickten Ornamente funkeln in der Septembersonne.

»Wow!« Sahar macht ein beeindrucktes Gesicht. »Das sieht hammer aus.«

Ja, in der Tat. Den von intensiver Benutzung abgenudelten Budenstoff mit Lurexgarn aufzupeppen, war wirklich eine gute Idee. Dennoch winke ich ab und lache. »Ach, ich hatte das Garn noch übrig.« Es hat mich Stunden gekostet, im Internet was Passendes zu finden, aber ich will Sahar nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin hat sie sich zum Aufbau gemeldet, obwohl ihre Tochter in eine andere Klasse geht als meine.

»Das hast du selbst gemacht?«

Ich zucke die Achseln. »Nur so zum Spaß.« Ich habe ganze Vormittage an den Stickereien gesessen und war nicht nur einmal kurz davor, Etsy zu bemühen, um mir einen fertigen Stoff liefern zu lassen, aber das muss Sahar ja nicht unbedingt wissen.

Ich befestige das Meisterwerk mit den vorgesehenen Spannhaken, sodass es gerade hinunterhängt. Gefällt mir nicht, und ich raffe einen Teil und ziehe ihn wieder zu mir hoch, angle eine Sicherheitsnadel aus der Gesäßtasche meiner Marlenehose und stecke den Stoff fest. Jetzt fällt er in zwei großen Wellen; wenn ich das auf der anderen Seite ebenfalls mache, kann von mehreren Seiten Sonnenlicht einfallen und verwandelt unsere Bude in einen Pavillon. Es sind die Kleinigkeiten!

Ich klettere von der Leiter, gebe Sahar den Stoff zum Halten und umrunde unseren Stand. »Nur weil’s ein Schulfest ist, muss es ja nicht öde sein, oder?«

Während ich die Leiter hinter mir herziehe, lasse ich meinen Blick umherschweifen. Überall auf dem Schulhof werkeln Eltern an Marktständen für das verspätete Sommerfest herum, stellen Stände auf oder hängen Deko in die beiden mickrigen Hofbäume. Es ist jetzt drei Jahre her, dass ich als Elternvertreterin unserer Stadtteilschule die Einrichtung eines Eventkomitees angeregt und nach dessen Gründung den Vorsitz übernommen habe, um dem üblichen Schulveranstaltungseinerlei Flair zu verleihen. Warum drinnen in der muffigen Aula hocken und sich mit Waffeln vom Null-acht-fuffzehn-Stand zufriedengeben, wenn man genauso gut zwischen echten Marktbuden und Zelten flanieren und dem Orchester auf einer Bühne im Freien lauschen kann? Atmosphäre ist nichts Schwieriges, und ich habe einen guten Deal für die Budenmiete ausgehandelt und den Förderverein der Schule zu einer regelmäßigen Festspende überredet. Seitdem kommen nicht nur schulinterne Familien zu unseren Events, sondern Menschen aus der ganzen Gegend, und die Einnahmen der Klassen sprudeln, sodass wir im Frühling endlich das abgeranzte Basketballfeld wiederherstellen und im Pausenraum der Oberstufe einen Tischkicker aufstellen konnten. Nebenbei erblüht der Ruf unserer Schule – win-win.

»Cool, sieht aus wie das Hochzeitszelt eines Magiers oder so«, findet Sahar, die Engagement erfreulicherweise nicht als Angriff versteht, so wie manch andere Eltern. Mit bloß einem Kind und ohne Beruf fehle mir jedes Verständnis für »die Arbeitenden unter uns«. Sicher. Übrigens habe ich einen Beruf. Ich arbeite momentan nur nicht darin.

»Perfekt für unsere Motto-Cupcakes«, pflichte ich Sahar bei. Beim Gedanken an unsere Muffins mit Glitzerstaub-Sahnehaube und Cakepops in allen Farben des Regenbogens will ich am liebsten sofort losschlemmen und beglückwünsche mich zu der Idee, es den Familien aus unserer Klasse freigestellt zu haben, entweder selbst zu backen oder ihren Beitrag per Spende zu leisten. Das hübsche Sümmchen, das dabei zusammengekommen ist, tausche ich nachher bei der Meisterkonditorin der Stadt gegen regelrechte Backkunstwerke ein. Als Absolventin unserer Schule hat sie mir einen saftigen Rabatt gewährt. Trotzdem gab es auch dafür Gemurre beim letzten Elternabend.

»Warum bezahlen wir die Klassenfahrt nicht einfach direkt und ohne den Umstand über Kuchenverkauf?«, verlangte die Front der ewig Mäkelnden zu wissen.

»Aus demselben Grund, warum wir uns zu Weihnachten einen Baum ins Wohnzimmer stellen und unseren Kindern hübsche Dinge in glänzendes Papier einwickeln, statt ihnen im Dezember schlicht ein dreizehntes Monatstaschengeld auszuzahlen«, lautete meine Antwort darauf.

»Macht sich Liv eigentlich auch so einen Kopf wegen des Auftritts später?« Sahar tippt schon wieder auf ihrem Handy herum, vermutlich eine neue Aufmunterungsnachricht an ihre Tochter.

»Nein, das hat mit dem Eintritt in die Mittelstufe aufgehört.« Unsere Stadtteilschule teilt sich den Pausenhof mit der Grundschule gegenüber, und Sahars Tochter Laleh ist diesen Sommer von drüben hierhergewechselt – wie viele Kinder aus der Gegend, denen das nächste Gymnasium zu weit weg ist. Oder die dort kleinen Platz bekommen. Auch auf der Stadtteilschule kann man Abitur machen, aber nur wenige bleiben bis zur zwölften Klasse. Manchmal frage ich mich, ob Liv wohl so weit kommt, sie ist jetzt in der Neunten. Eine Überfliegerin war meine Tochter noch nie, und zurzeit glänzt sie vor allem in Desinteresse. »Sie hasst das Orchester.« Ich lache. »Wie alles, das mit Schule zu tun hat.«

Sahar nickt. »Ich fürchte, da kommen wir auch noch hin. Schwieriges Alter, oder?«

»Wie man’s nimmt. Ich versuche immer daran zu denken, wie es mir mit fünfzehn ging.« Ich überlege, was ich damals gemacht habe. Wann war das überhaupt? Ich muss nachrechnen, komme auf das Jahr 2005. Dragostea din tei fällt mir ein, der Numa Numa Song, wie wir ihn nannten. Wir grölten ihn immer und überall, sehr zum Leidwesen unseres erwachsenen sozialen Umfelds. Die rumänischen Verse beschleunigten unter anderem den Bruch zwischen meiner Mutter und ihrem damaligen Freund. Nach den ersten harmonischen Monaten stritten sie sich immer häufiger, oft meinetwegen, und weil er sich so wunderbar ärgern konnte, machte ich mir einen Spaß daraus, das Liedauf alles zu erwidern, das er zu mir sagte.

»Isa, räum mal bitte die Spülmaschine aus.« – »Dragostea din tei.« – »Isa, deine Klamotten liegen immer noch im Bad herum.« – »La-la-la-la-la-la-la-la-la-la-hey!«

Sein Gesicht färbte sich jedes Mal herrlich rot, und ich feierte es ab, wenn er mich zwischen den Zähnen hindurch anknirschte in dem Versuch, mich nicht anzuschreien. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich sogar ein paar coole Moves drauf und hab mir Hosenträger und so eine goldene Brille gekauft, wie sie O-Zone im Musikvideo tragen. Gott, fand ich Dan Bălan damals sexy.

Der Lover meiner Mutter jedenfalls war irgendwann so entnervt, dass er nicht mehr wiederkam, was ich dann doch ein bisschen schade fand, weil er mir und meinen Freundinnen regelmäßig Kinokarten spendiert hatte, wenn er Zeit mit meiner Mutter allein verbringen wollte. Sogar eine Woche Reiterhof in den Osterferien hat er mal ausgegeben. Es hat Vorteile, wenn der Typ deiner Mutter nicht gleichzeitig dein Vater ist. Vielleicht plagte mich deshalb das schlechte Gewissen, als er wegblieb, oder wenigstens ein Hauch davon. Doch meine Mutter winkte ab.

»Nichts ist von Dauer, Isi«, sagte sie achselzuckend, als ich vorsichtig nachfragte, ob sie sehr traurig sei. »Und wenn’s eiert, muss man das Rad wechseln.«

Ich grinse, als ich an den merkwürdigen Vergleich zurückdenke. Meine Mutter lebt eine gute Form von Pragmatismus, finde ich. Vielleicht sollte ich sie mal wieder anrufen.

Ein Scheppern reißt mich aus meinen Gedanken, eine Frau nähert sich, sie trägt eine Einkaufsbox vor sich her, leere Konservendosen kullern darin herum. »Bist du Isa vom Eventkomitee?«, will sie wissen. Ich nicke. »Ich bin Mutter in der Sechsten und soll die hier« – sie klappert mit ihren Dosen – »am Stand abliefern.«

»Die Sechste ist dieses Jahr neben der Turnhalle.« Ich deute hinüber und schiele in die Einkaufsbox. »Wir bauen dort einen Bewegungsparcours mit Fühlpfad auf. Ähm, sag mal, meinst du, du kannst die Dosen noch ein wenig aufpeppen?«

Die Frau macht ein verwirrtes Gesicht. »Wie meinst du?«

»Na ja, es ist ein Fest, da kann so was ruhig schick aussehen.« Ich lache. Die Frau bleibt bei ihrer komischen Miene. Dann rümpft sie die Nase.

»Es sind Konservendosen, die Kinder werfen mit ’nem Ball danach – fertig.« Sie zieht von dannen und verschwindet automatisch von meiner Liste für potenzielle Mitstreiterinnen im Komitee.

»Wenn du an den Details sparst, wird auch das große Ganze Mist«, murmle ich und stemme die Hände in die Hüften. Überlege und treffe eine Entscheidung. Ganz oder gar nicht, lautet mein Lieblingsmotto. Alles andere ist Zeitverschwendung. »Du, Sahar, kommst du kurz allein klar?«

»Hm?« Sie hebt den Kopf, sieht mich nicht und nickt.

Ich tätschle ihre Schulter, bevor ich Richtung Schulgebäude marschiere. Neben dem Werkraum im Keller habe ich eine Abstellkammer eingerichtet, Eventkomitee verkündet das Schild neben der Tür. Der Raum ist ordentlich, in mehreren Metallregalen reihen sich Pappkartons nebeneinander alle übersichtlich beschriftet. Weihnachten, Frühling, Entlassungsfeier, Deko allgemein.

Ich steuere den Materialschrank an und durchforste die einzelnen Fächer darin, ziehe eine Plastikwanne hervor und finde, was ich suche: Lackspray in Glitzer, Neon und Metallic, angeschafft für und übrig geblieben nach der letzten Projektwoche.

»Wer sagt’s denn?« Ich klemme mir den Behälter unter den Arm und will den Raum verlassen, als mein Blick auf einen Karton mit der Aufschrift Abiball fällt. Gab’s da letztes Jahr nicht einen Cocktailstand, den die Elftis für die Abgängerfamilien betrieben? Ich erinnere mich an die coolen Outfits und beschließe, dass Paillettenschürzen unter Glitzerbandanas genau das Richtige ist, um Trendgebäck zu verkaufen. Ich finde zwei Garnituren, stopfe sie in eine leere Plastiktüte und eile zurück zur Turnhalle.

Die Mutter von vorhin plaudert inzwischen mit einem Vater, der eine Slackline für den Hindernisparcours spannt. Ich entdecke die Box mit den Konserven, stelle meine Wanne und die Tüte daneben und ziehe eine Folie hervor, die ich auf dem Steinboden ausbreite. Ich verteile die Dosen darauf, gehe ans Werk und habe ödes Silber in vier neonleuchtende und zwei metallicglänzende Zylinder verwandelt, als mich Abneigung trifft.

»Man kann’s auch übertreiben.«

Ich spare mir den Blick über die Schulter. Natürlich ist es die Mutter, die die Dosen gebracht hat, der mein Tun nicht gefällt.

»Wenn man’s nur halbherzig angeht, kann man’s auch lassen«, erwidere ich und greife nach Gold. In der Wanne finde ich eine Sternen-Schablone und lege sie auf die nächste Dose, bevor ich sprühe.

»Nur weil nicht jeder deinen Maßstab anlegt, heißt das nicht, dass man halbherzig dabei ist«, giftet es hinter mir. »Nicht alle haben Zeit für so was, weißt du?«

Jetzt wende ich doch den Kopf. »Ist mir klar.« Ich lasse meinen Blick über die Frau gleiten, die mit verschränkten Armen dasteht und mich anfunkelt. Älter als ich, voll berufstätig, schätze ich, und voll gestresst, weil ihr Arbeitspensum mit ihren Ansprüchen ans Muttersein kollidiert, und zwar grundsätzlich. »Deshalb übernehme ich gern, wo ist das Problem?« Ich zwinkere ihr zu, entscheide mich für Pink und sprühe einen Blitz zwischen die Sterne.

»Das ist umweltschädlich!«

Ich werfe die Dose zurück in die Wanne, betrachte mein Werk und bin zufrieden. Ein Detail mehr, das dem großen Ganzen zum Glänzen verhilft.

»Das sind Sprays auf Wasserbasis, die sind harmlos«, lasse ich die Missmutige wissen, schnappe mir meine Wanne und rausche davon.

»Boa, die nervt vielleicht«, schnarrt es mir hinterher.

»Selber«, murmle ich und frage mich, wieso es so viele als persönlichen Angriff empfinden, wenn man sich kümmert. Mir ist bewusst, dass nicht alle Familien über die gleichen Kapazitäten verfügen. Ich verstehe bloß nicht, warum die sich nicht einfach freuen, wenn andere für sie einspringen.

An unserem Stand händige ich Sahar die Tüte mit den Cocktailoutfits aus, erkläre: »Das i-Tüpfelchen für unsere Zauberbude«, und laufe zum Parkplatz weiter. »Ich geh unsere Auslage abholen!« Am Auto fällt mir auf, dass ich noch immer die Wanne mit der Lackfarbe unter dem Arm trage, und verstaue sie kurzerhand im Kofferraum. Keine Zeit für einen Umweg durch den Keller.

Als ich meinen Mini umrunde, um einzusteigen, schießt mir unvermittelt die seltsame Frau in den Kopf, die den gleichen Vornamen trägt wie ich und offenbar auch denselben Vater hatte. Sie fährt sogar das gleiche Auto, wenn auch in einer der langweiligen Standardfarben, während meiner Blazing Blue glänzt und Daniel mir beim Kauf das Multitone-Roof mit Farbverlauf spendiert hat. Ein echtes Schnuckelchen. Daniel und mein Mini.

»Du hast eine Schwester?« Mein Mann war nicht weniger überrascht als ich, als ich ihm nach dem Termin im Wald vom Testament meines Vaters erzählte.

»Eine Halbschwester.« Wundern tut mich das nicht. Was meinen Vater betrifft, hörte ich nach schmerzlichen Lektionen irgendwann auf, mir weitere Illusionen zu machen. Das Alter der seltsamen Isabel gibt mir recht: Sie ist kaum jünger als ich, schätze ich, also hat mein Vater sie gezeugt, während er noch mit meiner Mutter zusammen war, oder vielmehr: den Wohnsitz mit ihr teilte. Es gab Jahre, da war er an mehr Tagen unterwegs als zu Hause; Strichlisten, die ich führte, belegen das. Und irgendwo muss er in der ganzen Zeit ja geschlafen haben, wenn er als Gastprof ein Semester auswärts lehrte oder zu Kongressen fuhr, um sein Wissen in plastischer Chirurgie mit der Welt der Neugierigen zu teilen. Wie macht man aus Schwänzen eine funktionierende Vagina – so was wusste mein Vater und sicherlich auch, wie man hormonell nicht verkümmert, wenn man fernab von Ehefrau und Tochter nächtigt.

»Macht es gar nichts mit dir, dass dein Vater tot ist?«, wollte Liv wissen, als ich vom Brief des Notars und damit dem Ableben meines Vaters erzählte. In ihrer Welt sind gerade real feelings angesagt, und was nicht theatralisch daherkommt, gleicht in ihren Augen krankhafter Gefühlskälte.

»Ich habe meinen Vater in den letzten zwanzig Jahren weder gesehen noch etwas von ihm gehört.« Ich zuckte die Achseln. »Dass die AfD beständig an Zuspruch gewinnt, finde ich schlimmer.«

Meine Mutter blühte auf, nachdem mein Vater seine Sachen endgültig gepackt hatte, sie achtete mehr auf sich, kaufte schicke Klamotten, benutzte Make-up, ging aus. Und ich kam in den Genuss von männlichen Bezugspersonen, die sich heftig bei mir einschleimten, was meine Preise schnell in die Höhe trieb. Du willst einen freien Abend mit meiner Mutter? Okay, kostet einmal das Kinopalast-Komplettpaket inklusive Mäckes danach. Weihnachten beanspruchst du einen Platz unter unserem Weihnachtsbaum? Tja, mein Lieber, ein Amazon-Gutschein genügt da nicht, aber wenn du mir ein neues Handy schenkst, sage ich meiner Mutter, dass du voll in Ordnung bist.

Ich fädle mich durch den Verkehr, während ich daran denke. Dragostea din tei summt durch meinen Kopf, ich spüre ein Lächeln im Gesicht und singe mit, so laut ich kann.

Vor mir taucht die Konditorei auf, und ich rolle auf den Kundenparkplatz. Ob mein Vater zu der anderen Familie gezogen ist, nachdem er unser Heim verlassen hatte? Warum sonst sollte er der seltsamen Isabel die Hälfte seines Besitzes vererbt haben?

»Aus demselben Grund, warum er dich bedacht hat«, überlege ich, während ich den Motor abstelle und aussteige. »Welcher auch immer das ist.«

»Vielleicht hat er keine anderen Erben«, hat Daniel überlegt, als ich mit ihm darüber spekulierte. »Oder es ist eine späte Art der Wiedergutmachung.«

»Wohl eher ein allerletzter Arschtritt«, erwiderte ich. »Er hätte das Schloss ja auch dieser komischen alten Frau vermachen können, dieser Thea von Böhler, aber nö, er hält uns diesen Riesenbesitz vor die Nase, dass man kaum den Mund wieder zukriegt, hängt dann aber ein fettes Wenn-ihr’s-haben-wollt-müsst-ihr-euch-kümmern-Ätschbätsch dran. Das ist doch bescheuert.« Und mir ist schleierhaft, was mein Vater damit bezwecken wollte.

Gleichgültig, denn seine versalzene Suppe kann er selbst auslöffeln. Daniel hat der seltsamen Isabel ein Angebot ausgearbeitet, das ihr das Nutzungsrecht am Waldschloss überlässt und mich an etwaigen Einnahmen beteiligt. Sie schien völlig überwältigt von dem Anwesen zu sein und deutete an, sich damit beschäftigen zu wollen. Soll sie. So verträumt, wie sie wirkt, wird sie glücklich damit, und mit der Vereinbarung kann sie allein entscheiden und muss mir lediglich einen Teil abgeben. Win-win.

Ich summe den Numa Numa Song vor mich hin, während ich die Tür zur Konditorei aufstoße. Über mir bimmelt es.

»Ach, hi, Isa.« Susan kommt mir um die Theke herum entgegen und haucht mir ein Wangenküsschen auf. »Magst du einen Latte?«

»Nee du, tut mir leid, ich muss gleich weiter.« Ich tippe auf meine Uhr und lache.

»Immer schwer beschäftigt, ich weiß. Na, dann hole ich mal das Zauberwerk.« Die Meisterkonditorin verschwindet in der Küche, und ich lasse meinen Blick über die Auslage schweifen. Susan ist eine wahre Künstlerin, und ich bewundere die Vielfalt und Farbpracht ihrer Kreationen. Marzipanrosen blühen neben Schokoladenornamenten und konkurrieren mit feinen Sahnewellen, Krokantsplittermosaiken und glänzender Ganache. Hier ist eine, die wahrhaft was von Details versteht, und mein Magen knurrt beleidigt, weil er nicht kosten darf.

Ein paar Minuten später stehen vier edel beschriftete Pappkartons voll Leckereien neben mir auf dem Beifahrersitz und auf der Rückbank, und ich fahre vorsichtig, um keinen Schaden anzurichten. Spontan entschließe ich mich zu einem Umweg über zu Hause, weil ich überlege, dass zum Cocktailoutfit für unseren Cupcake-Pavillon statt meiner Stoffhose mein blaues Kleid mit Rankenschnörkeln ideal wäre. Dazu dezente Mascara und ein Hauch von Lidschatten. Wie gesagt, ich liebe Details.

Weder Daniel noch Liv sind zu Hause, als ich ankomme. Es erstaunt mich, dass unsere Tochter sich offenbar bereits aufgemacht hat, um pünktlich zum Schulfest zu erscheinen – gestern beklagte sie noch die real Zeitverschwendung, für die sie die Veranstaltung an sich und den Auftritt des stufenübergreifenden Orchesters im Besonderen hält. Müsste sie nicht die Fünf in Deutsch ausgleichen, hätte sie ihre Trompete sicherlich längst in die Tonne gekloppt und das zusätzliche Fach aufgegeben. So freut mich Livs plötzlicher Sinneswandel umso mehr, und ich nehme mir vor, sie später dafür zu loben.

Nachdem ich mich umgezogen und geschminkt habe, nasche ich Erdbeeren aus der Obstschale und will mich wieder auf den Weg machen, als mein Blick auf den Blumenstrauß fällt, den ich gestern gekauft und auf unseren Esstisch gestellt habe. Sonne glitzert durch das Fenster und lässt die Blüten einen wunderschönen Schatten auf das Nussholz werfen. Ich klettere auf einen der Stühle und fotografiere von schräg oben.

Heute von meinem Schatz bekommen, lüge ich auf Instagram und kriege innerhalb weniger Sekunden vier Likes dafür. Und jetzt ab zurück zur Schule!

***

Kurz bevor ich losmuss, um mir den Auftritt des Orchesters anzuhören, ist unsere Auslage bereits gut geleert. Ich öffne die letzte Schachtel und lege noch einmal nach, arrangiere Erdbeertörtchen in Herzform neben grünen Cakepops, die wie Frösche aussehen.

»Boa, Isa, das hast du echt schön hingekriegt«, höre ich gern und kassiere zahlreiche Wangenküsschen. Ich poste ein paar Bilder unseres Stands, tagge Susans Konditorei und schreibe: Prinz hin oder her – diese Frösche küsst man gern.

Nice, urteilt Melli, eine ehemalige Klassenkameradin von mir, zu der ich via Insta losen Kontakt halte. Vor einer Weile hat sie sich selbstständig gemacht und ein eigenes Unternehmen gegründet, das ungewöhnliche Locations für Events jeder Art vermittelt. Letztes Jahr hat sie den Vogel abgeschossen, indem sie eine private Gruft auf dem Friedhof anmietete und für eine Halloweenparty nutzte. Seitdem ist sie eine berüchtigte Persönlichkeit in ihrer Branche. Die einen hassen sie, vom Rest wird sie geliebt.

»Hallo, die Damen, hier kommt die Ablösung.« Zwei Väter aus Livs Klasse tauchen vor unserem Stand auf, um den nächsten Dienst zu übernehmen. Das trifft sich wunderbar, denn Sahar ist inzwischen so aufgeregt wie ihre Tochter.

»Lauf schon rüber zur Bühne«, lächle ich sie an. »Ich übergebe alles.«

»Danke!« Schon ist sie verschwunden, und ich erinnere mich daran, wie ich Livs erstem Auftritt entgegenfieberte. Sie war sieben und spielte als Zweitklässlerin in einem Sketch bei der Einschulung der neuen ersten Klasse den Fibelfuchs, der einem ängstlichen Jungen mit witzigen Reimen die Angst vorm Lesen nahm. Wehmut überfällt mich, als ich daran denke, wie aufgeregt und stolz Liv damals war und wie süß sie in ihrem Kostüm aussah. Als ich sie heute Morgen an den heutigen Auftritt erinnerte und sie um pünktliches Erscheinen bat, traf mich bloß ein verächtlicher Blick.

Nachdem ich den beiden Männern unser Preissystem erklärt und die Kasse übergeben habe, eile ich Sahar hinterher. Vor der Bühne wogt Gedränge, die aufgestellten Stühle sind bereits besetzt, ich schiebe mich zwischen stehenden Elterngrüppchen hindurch und finde schließlich einen Platz mit guter Sicht. Kinder von der Fünften bis zur Zwölften sitzen in engen Halbkreisreihen auf den schwarzen Podesten und warten darauf, dass es losgeht. Die Klangsuppe des Instrumentenstimmens habe ich zum Glück verpasst, im Moment spricht die Schuldirektorin. Weil sie kein Mikrofon benutzt, versteht man ab der zweiten Reihe kein Wort. Weil man kein Wort versteht, wird überall getuschelt.

Technisches Equipment für Audio anschaffen, notiere ich auf meiner geistigen Komiteeliste.

Mein Telefon klingelt, und mich treffen tadelnde Blicke, während ich in meiner Handtasche herumkrame. Endlich finden meine Finger, was ich suche, und ich halte mir das Handy ans Ohr. »Isa hier.«

»Pssst«, zischt es neben mir, und ich zucke entschuldigend mit den Achseln. Man versteht doch sowieso nichts, was soll der Unmut?

»Hallo, hier ist Bella«, höre ich, während mein Blick über die Bühne schweift. Die Unterstüfler lauschen den Worten ihrer Direktorin mit aufgeregt glänzenden Mienen. Mit steigendem Alter wächst der Grad an zur Schau gestellter Langeweile in den Gesichtern. Ich grinse, weil es so lustig ist, wie sich die Jugendlichen in ihrem Bestreben nach Individualität wie Spiegelbilder gleichen. Liv sieht genauso aus. Liv?

»Hallo, Isabel?«

»Ja, ich bin dran.« Die Direktorin beendet ihre Rede, ich kann meine Tochter nicht entdecken und mustere noch einmal die Reihe der Bläser. Nichts. Streicher setzen ein, dann quäken zwei Klarinetten los. Wo steckt Liv? Und apropos: Wo ist Daniel? Er wollte kommen, hat er heute Morgen gesagt.

»Den Auftritt unserer Tochter lasse ich mir doch nicht entgehen«, verkündete er am Frühstückstisch, und Liv verdrehte die Augen.

»Musst du nicht«, murrte sie und verschwand mit der Cornflakesschüssel in der Hand in ihrem Zimmer.

Mein Ohr fängt Worte auf, doch ich verstehe rein gar nichts, weil das Mädchen am Schlagzeug loslegt.

»Sorry, ich kann gerade nichts hören, warte kurz.« Während ich über den Schulhof und zwischen den nun leeren Ständen hindurcheile, werfe ich einen Blick auf das Display meines Handys. Isabel Waldschloss steht da, weil ich mir beim Abspeichern sicher war, später nichts mit ihrem Nachnamen anfangen zu können. Ich erreiche die Turnhalle, die Klänge des Orchesters werden allmählich leiser. »So, jetzt. Hi, Isabel. Was verschafft mir die Ehre?«

»Ähm … ja.«

»Ja?«

Sie braucht Sekunden, bis sie antwortet. Ob sie generell langsam denkt? Schon beim Notartermin kam sie mir ein bisschen begriffsstutzig vor. Als laufe die Welt einen Ticken schneller ab, als sie selbst funktioniert. So was gibt’s ja.

»Ich habe dein Angebot gelesen, und …« Etwas rumpelt im Hintergrund der seltsamen Isabel. »Mist.«

Drüben auf der Bühne setzt irgendein Blechbläser ein, und plötzlich bin ich genervt.

»Du, ich bin gerade bei einer Schulveranstaltung meiner Tochter.« Die nicht da ist. Wo mag sie stecken? »Kannst du vielleicht zur Sache kommen?« Ich laufe an der Turnhalle entlang bis zur Ecke. Vertrocknetes Gestrüpp begrenzt hier den Schulhof, aber ein Trampelpfad führt daran vorbei und um das Gebäude herum.

»Ja, Entschuldigung, mir ist bloß ein Karton runtergefallen. Ich packe gerade.«

»Okay.« Ich umrunde den Bau, die Klänge des Blechbläsers verhallen. Eine von Büschen, überlangem, welken Gras und Unkraut überwucherte Fläche erstreckt sich vor mir, ich weiche einem umgekippten Einkaufswagen aus. Diese vergessenen Flecken gehören zur Grundausstattung jeder Schule, scheint mir. An meiner gab es auch so einen, natürlich, und wie alle Generationen nutzten auch wir ihn, um heimliche Dinge zu tun, von denen jeder wusste, dass sie genau dort stattfanden. Rauchen, Bier trinken, knutschen.

Ein Junge kommt mir entgegen, Langarmshirt, Wollmütze, wie sie zurzeit alle tragen, auch Liv, egal wie warm es ist. Er wirft mir einen irritierten Blick zu, bevor er so tut, als hätte er mich nicht gesehen, und an mir vorbeischlurft. Bilde ich mir das ein oder hat er es plötzlich eilig?

»Ja, weißt du, ich habe mich dazu entschlossen, selbst nach Falkenfried zu ziehen.«

»Äh, klar, nice. Warum nicht?« Ich blicke dem Jungen hinterher, irgendwoher kenne ich den, ist das nicht der mit dem bescheuerten Spitznamen? Hotzenplotz oder so?

»Das wollte ich dir sagen, damit du Bescheid weißt.«

Plötzi! Aus irgendeinem Grund nennen den Jungen alle Plötzi, und er ist Chefboy jener Clique Siebzehnjähriger, zu der Liv zu meinem großen Leidwesen so gern gehören möchte, dass sie sich regelrecht anbiedert. Weiß der Geier, was sie an dem Typen findet; ich halte ihn für ein Großmaul.

»Mit der Abmachung, die dein Mann aufgesetzt hat, bin ich einverstanden. Wir können also gern einen Termin mit Herrn Röwekamp abmachen, um die Papiere zu unterschreiben. Wann passt es dir?«

»Äh, was?«

»Wie bitte?«

»Entschuldige, ich war abgelenkt. Du willst unterschreiben, sagtest du?« Ich kneife mir in die Nasenwurzel und schüttle die Gedanken an Plötzi ab. Liv muss ihre eigenen Erfahrungen machen, mahne ich mich. Sie wird schon noch erkennen, was für ein Flachbildschirm der Typ ist.

»Ja.« Die andere Isabel klingt ein wenig ungehalten. Meine Güte, ist die pissig. »Soll ich einen Termin ausmachen?«

»Ja, gern. Ich bin zeitlich flexibel und richte mich da ganz nach dir.« Ich lache. »Danke, dass du dich kümmerst.«

»Hm. Dann sage ich dir Bescheid, wenn ich mit Röwekamp gesprochen habe.«

»Ist gut.« Ich bin an einem Busch stehen geblieben und zupfe an den Blättern herum, als mein Blick auf Füße fällt. Zwei Stück, ein Paar hohe Hiphop-Sneaker. Die kenne ich, weil die Schuhe schwarz sind und jemand neonfarbene Flügel draufgezeichnet hat. Ich lasse das Handy sinken. »Liv?!«