Der dunkle Kristall - Zeit der Lieder - J.M. Lee - E-Book

Der dunkle Kristall - Zeit der Lieder E-Book

J.M. Lee

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Beschreibung

Der zweite Band der Fantasy-Saga »Der dunkle Kristall«, bekannt durch die gleichnamige Netflix-Serie: spektakulär, originell und aufregend!

Die jungen Gelflinge Naia und Kylan haben die entsetzliche Verschwörung der Skekse aufgedeckt. Nun sind die beiden Freunde auf der Flucht vor ihren einstigen Meistern, aber auch vor ihrem eigenen Volk. Doch da der talentierte Liedererzähler Kylan nun die Wahrheit über den dunklen Kristall kennt, muss er diese verbreiten, auch wenn es schmerzlich sein wird, sie zu erzählen. Denn die Heldentaten der Vergangenheit, von denen er sonst zu singen weiß, haben keine Bedeutung mehr, wenn die Zukunft der Welt auf dem Spiel steht ...

Alle Bände der »The Dark Crystal«-Saga:
Der dunkle Kristall 1. Ära der Schatten
Der dunkle Kristall 2. Zeit der Lieder
Der dunkle Kristall 3. Nacht der Gezeiten
Der dunkle Kristall 4. Stunde der Flammen

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Seitenzahl: 361

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Buch

Jim Henson hat nicht nur die weltberühmten »Muppets« geschaffen, sondern revolutionierte auch das Fantasygenre auf der Leinwand: Sein Film »Der dunkle Kristall« (1982) besitzt Kultstatus, was die Serienmacher von Netflix unlängst dazu bewogen hat, die Vorgeschichte des Meisterwerks zu erzählen. Der Serienhit »Der dunkle Kristall: Ära des Widerstands« basiert auf der auf Deutsch noch unveröffentlichten Fantasysaga von J. M. Lee. Darin erzählt er die Geschichte des Gelfling-Mädchens Naia: Sie versucht, ihren verschwundenen Bruder zu finden, der einer schrecklichen Intrige zum Opfer gefallen ist. Dabei deckt Naia ein entsetzliches Verbrechen auf, welches die Welt Thra für immer verändern wird.

Alle Bände der »The Dark Crystal«-Saga:

Der dunkle Kristall 1. Ära der Schatten

Der dunkle Kristall 2. Zeit der Lieder

Der dunkle Kristall 3. Nacht der Gezeiten (in Vorbereitung)

Der dunkle Kristall 4. Stunde der Flammen (in Vorbereitung)

Der Autor

J. M. Lee verbrachte seine Jugend in Minnesota, wo er in dem Glauben aufwuchs, mit Tieren sprechen und das Wetter beherrschen zu können. Am College interessierte er sich für vergleichende Filmwissenschaft, Drehbuchschreiben sowie Shakespeare und schloss sein Studium an der University of Minnesota im Fach Linguistik mit Schwerpunkt japanische Phonetik ab. Er lebt in Minneapolis. Für die Netflix-Serie »Der dunkle Kristall. Ära des Widerstands« lieferte Lee mit seinen Romanen die Vorlage und fungierte als Berater und Drehbuchautor.

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Roman

Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Song of the Dark Crystal« bei Grosset & Dunlap, New York 2017.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Übersetzerin dankt dem Freundeskreis Literaturübersetzer e. V. für ein Arbeitsstipendium, das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg ermöglicht wurde.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Penguin Workshop, an imprint of Penguin Young Readers Group, a division of Penguin Random House LLC.

Illustrations © by Brian Froud and Cory Godbey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: © Max Meinzold, München nach einer Originalvorlage von Penguin Workshop

Umschlagillustration: Brian Froud © 2016 The Jim Henson Company

TM & © The Jim Henson Company. JIM HENSON’S mark & logo, THE DARK CRYSTAL mark & logo, characters and elements are trademarks of The Jim Henson Company. All Rights Reserved

LO Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27269-2V002

www.blanvalet.de

Ein Geräusch zu machen bedeutet, die Wurzeln der Stille zu stören.

Der dunkle Kristall: Die Romanfassung

Kapitel 1 

»Hierher. Wir sind fast da.«

Kylan deutete auf die Weggabelung ein Stück voraus. Der eine Weg führte zurück ins Dorf hinter ihnen, während der andere sich unter einem Dach aus Zweigen abwärts- und vom Dorf weg schlängelte. Er folgte Letzterem und vertraute darauf, dass Naia mit ihm Schritt hielt. Die Luft überall um ihn herum war erfüllt vom morgendlichen Gesang.

Das Steinwald-Mädchen wartete am Dorfrand auf sie, dort, wo der mit flachen Steinen gepflasterte Pfad in einen aus festgetretener Erde überging. Sie war jung, hatte noch keine Flügel und hockte oben auf einem der vielen grauen Felsblöcke, die überall im Wald zu finden waren. Als sie bei ihr ankamen, sprang das Mädchen herunter und ergriff Naias Hand.

»Naia, du bist wach! Ich bin Mythra. Als du angekommen bist, hast du geschlafen. Hast du dich gut erholt? Stimmt es, dass du gegen skekMal gekämpft hast? Kylan hat es mir erzählt. Und du bist aus der Burg des Kristalls entkommen! Das ist so toll und mutig!«

Naia rieb sich die Wange. Sie sagte nichts, aber Kylan konnte erkennen, dass sie das Gleiche dachte wie er. Ihre Flucht vor den Skeksen im Dunkelwald empfand sie als überhaupt nicht toll und mutig. Genau genommen hatten sie sogar großes Glück gehabt, dass sie überlebt hatten. Es hatte allerdings keinen Sinn, diesem Jungling damit Angst zu machen.

»Als wir letzte Nacht auf dem Landschreiter nach Steinwalden gekommen sind, hätten wir Mythra fast niedergetrampelt«, erklärte Kylan. »Sie hat uns zu sich nach Hause mitgenommen, damit wir uns ausruhen können.«

»Dann … weißt du über die Skekse Bescheid?«, fragte Naia. »Und du glaubst Rians Geschichten, obwohl die Skekse allen erzählt haben, dass er lügt und ein Verräter ist?«

Mythra hüpfte bereits den Pfad entlang und verschwand zwischen den Vorhängen aus herabhängendem Blattwerk. Doch sie hörten ihre Stimme, als sie ihr folgten.

»Natürlich glaube ich Rian. Er ist mein Bruder!«

Kylan folgte dem Mädchen durch den Dunkelwald, verlor jedoch ein paar Wendungen später das Gefühl für den Weg. Waren sie auf ihrer Flucht von der Burg hier durchgekommen? Aber selbst wenn er die Stelle sah, würde er sie wahrscheinlich nicht wiedererkennen. Mythra blieb stehen, als sie eine kleine, mit Gebüsch überwucherte Lichtung erreichten.

»Rian!«, rief sie. »Ich bin’s – ich habe die anderen mitgebracht, von denen ich dir erzählt habe. Gurjins Schwester und ihren Freund.«

Niemand war zu sehen, und Mythra rief erneut Rians Namen. Naia trat vor, als niemand antwortete, drehte die Ohren hierhin und dahin, den Blick geschärft. Als Mythra ein drittes Mal rufen wollte, hielt sie dem jüngeren Mädchen den Mund zu.

»Schsch«, zischte sie. »Hör mal.«

Kylan stellte die Ohren auf. Naias Instinkte waren äußerst scharf, da sie im Sumpf von Sogg aufgewachsen war, wo alles in der Wildnis eine Bedrohung darstellen konnte, angefangen von den Bäumen bis hin zum Schlamm. Als er jetzt den Atem anhielt und lauschte, hörte er tatsächlich ein weit entferntes Knack und Rumms, gefolgt von Flüchen in der Gelfling-Sprache.

»Rian«, sagte Mythra und rang nach Luft.

»Da lang!«

Kylan und Mythra folgten Naia, die in den Wald davonschoss, die Hand am Griff des Messers, das sie in einer Scheide am Gürtel trug. Sie eilten zwischen den Bäumen hindurch, sprangen über Felsbrocken und dorniges Buschwerk, und Kylan verlor die Lichtung rasch aus den Augen.

Als sie gerade eine Felsnase erklommen, schreckte ein weiteres lautes Knacken Vögel auf. Unter ihnen kämpfte ein Tier mit grünem Fell, Hörnern und einem keulenförmigen Schwanz gegen etwas sehr viel Kleineres. Als die gehörnte Kreatur sich aufbäumte und ein abgehacktes Gebrüll ausstieß, konnte Kylan gewaltige Zähne sehen – und unter den behuften Vorderbeinen einen Gelfling-Jungen, der mit einem Stock bewaffnet war. Auf der anderen Seite der Lichtung lag ein Speer, vermutlich die Waffe, die er normalerweise benutzte.

»Rian!«, rief Mythra.

Der Junge rollte sich unter dem Tier weg und sah in Richtung seiner Schwester.

»Mythra! Bleib, wo du bist! Dieses Gabelhorn hat den Kristall gesehen.«

»Ein Tier, das von der Verfinsterung heimgesucht worden ist?«, fragte Kylan; er war immer noch atemlos vom Rennen. »Wie der Rüsselwühler?«

»Und wie das Nebrie«, fügte Naia hinzu. »Aber …«

Als sie das letzte Mal heimgesuchten Geschöpfen begegnet waren, hatte Naia sie mit dem Bilderströmen heilen können, hatte die Dunkelheit aus ihren Herzen gestoßen. Kylan hatte so etwas noch nie mit eigenen Augen gesehen. Aber so beeindruckend diese Fähigkeit auch war – es bedeutete immer noch, dass sie sich dafür mit dem Geist und dem Herzen des betreffenden Tiers verbinden musste. Und das beunruhigte Kylan, nach allem, was Naia durchgemacht hatte. Wenn sie selbst noch nicht ganz geheilt war, konnte es gefährlich für sie werden, wenn sie versuchte, ein der Verfinsterung anheimgefallenes Tier zu heilen.

Das Gabelhorn bockte, entwurzelte zur Warnung einen Schössling. Nicht lange, und es würde wieder auf Rian losgehen. Kylan packte Naias Ärmel, als sie sich zum Kampf bereit machte.

»Überfordere dich nicht«, sagte er. »Bitte. Ich weiß, dass du helfen willst, aber pass auf, dass du dich dabei nicht selbst verletzt.«

Sie schnitt eine Grimasse und hüpfte auf einen Stein. Dann zog sie ihren Dolch.

»Zumindest kann ich ihm helfen, von dort wegzukommen.«

Bevor Kylan sie aufhalten konnte, sprang sie und entfaltete die Flügel dabei gerade so weit, um ihren Fall abzubremsen, während sie zwischen Rian und dem grünen Gabelhorn landete. Die Kreatur grub wieder die Hufe in die Erde, schwang den Kopf herum und verfehlte nur knapp die beiden Gelflinge, die vor ihr standen.

»Ich brauche deine Hilfe nicht!«, rief Rian. Dann sah er ihre Kleidung, ihre grüne Haut und die dunklen Dreadlocks. »Warte mal, bist du …«

»Das hat Zeit bis später!«

Naia und Rian duckten sich beide seitlich weg, als das Gabelhorn angriff. Im Unterschied zu den wilden, wahnsinnigen Tieren, die Kylan bisher gesehen hatte, schien dieses hier nicht vollständig durchgedreht zu sein. Als es Naia sah, hielt es kurz inne, bevor es die Hörner senkte, beinahe, als würde es sie erkennen. Es schnaubte, scharrte über den Boden und wirbelte Steine und Wurzeln auf.

»Verschwinde von hier«, befahl Naia. »Solange es seine Aufmerksamkeit auf mich richtet.«

»Ich hab gesagt, dass ich deine Hilfe nicht brauche!«, fauchte Rian zurück, aber er nutzte die Gelegenheit, um sich weiter auf seinen Speer zuzubewegen. »Das hier ist anders als die anderen – ich weiß nicht, wie oder warum, aber es ist anders!«

Kylans Finger schmerzten, als er nach einem Stein griff. Naia wich langsam und mit gleichmäßigen Schritten zurück, lenkte den roten Blick des Gabelhorns von Rian weg. Wenn er sich ihnen anschloss und zu helfen versuchte, würde er nur im Weg sein. Seine Finger fanden seine Bola, und er zog sie aus dem Gürtel.

»Ich weiß, dass du jetzt voller Dunkelheit bist«, sagte Naia zu dem Tier; sie hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen. »Aber bitte, erinnere dich! Erinnere dich daran, was du vorher warst!«

Rian bekam seinen Speer zu fassen und warf ihn, ohne einen Moment zu zögern, auf das Tier. Die Waffe bohrte sich in die ungeschützte Flanke des Gabelhorns, aber das Tier reagierte kaum darauf. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Naia gerichtet, und seine Hufe donnerten über den Boden, als es angriff. Seine Hörner standen so weit auseinander, dass sie unmöglich rechtzeitig entkommen konnte; dafür war es einfach schon zu nah bei ihr. Rian schrie bestürzt auf, und Kylan warf seine Bola. Sie verfehlte fast ihr Ziel und prallte schließlich vom Rücken des Tiers ab, als wäre sie ein kleiner Stein.

Doch Naia musste gar nicht gerettet werden. Als das Gabelhorn näher kam, sprang sie hoch und packte eines der Hörner des Tiers, als es sich zu ihr hindrehte. Dort hing sie dann mit vor störrischer Entschlossenheit leuchtenden Augen, während das Gabelhorn wütend aufheulte. Kylan stieß erleichtert den Atem aus – nur um die Luft sofort wieder anzuhalten. Das Gabelhorn war schlau, selbst in seiner Raserei, und statt sich verwirren zu lassen, änderte es seine Taktik. Es sah einen Baum und stürmte darauf zu, drehte den Kopf so, dass es ihn treffen konnte. Wenn Naia sich auf den Boden fallen ließ, würde sie zertrampelt werden, aber wenn sie nicht losließ, würde sie zwischen dem Horn und der Rinde zerquetscht werden.

»Naia«, rief Kylan, denn es war das Einzige, was er tun konnte. »Naia, mach schnell!«

Sie krabbelte weiter über das Horn und hatte es fast bis zum Kopf des Gabelhorns geschafft, als sie ausrutschte. Beinahe hätte sie den Halt verloren. Sie baumelte jetzt von dem spiraligen Horn, das durch die Luft und durch Dornenbüsche auf den Baum zuschwang.

Da schoss etwas Dunkles und Schlangenartiges unter Naias Haaren hervor und tauchte in die dicke grüne Mähne im Nacken des Gabelhorns ab. Verblüfft zuckte das Tier zusammen. Statt den Baum direkt zu treffen, berührte es ihn nur mit der Spitze seines Horns, die vom Stamm abrutschte, was es aus dem Gleichgewicht brachte. Naia schrie auf und ließ los, segelte durch die Luft und landete sich überschlagend im Gebüsch. Kylan sah, wie das Gabelhorn ins Straucheln geriet, beinahe umkippte, dann kreischte und um sich trat.

»Ein Muski?«, fragte Mythra mit weit aufgerissenen Augen.

Der schwarze Aal, der Naia zu Hilfe gekommen war, schoss in das Fell des Gabelhorns hinein und wieder heraus wie eine Wasserschlange, die durch Ozeanwellen gleitet. Das Gabelhorn warf sich gegen den Baum, versuchte, den kleinen fliegenden Aal zu zerquetschen, aber Neech war zu flink. Naia und Rian positionierten sich neu und machten ihre Waffen bereit. Sie wussten, dass sie nur wenig Zeit hatten, bevor Neechs Ablenkungsmanöver seine Wirkung verlor, denn so scharf die Zähne des kleinen Aals auch sein mochten, sie konnten unmöglich die dicke Haut des Gabelhorns durchdringen.

Als Naia und Rian gerade wieder angreifen wollten, hörte das Gabelhorn plötzlich auf, um sich zu treten. Sein Gebrüll verstummte, und auf der Lichtung wurde es schlagartig still. Die Knie des großen Tiers knickten ein, dann stürzte es zu Boden und schloss die blutunterlaufenen Augen. Zuerst dachte Kylan, es wäre tot, aber als Neech wieder aus seiner Mähne auftauchte, sah er, wie sich seine Flanken hoben und senkten. Es war bewusstlos. Er und Mythra kletterten vom Felshügel nach unten, um sich zu den anderen beiden zu gesellen.

»Was ist passiert?«, fragte Kylan.

Naia wischte sich über die Stirn und streifte sich die Dreadlocks aus dem Gesicht.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat es meine Bitte auch ohne Bilderströmen gehört und die Dunkelheit losgelassen … Ich kann es nur hoffen. Oh, Neech. Du bist mir schon wieder zu Hilfe gekommen. Hast du dadrin einen Leckerbissen gefunden?«

Der fliegende Aal kam herangeschwebt und ließ sich auf Naias Schulter nieder. Aus seinem Maul hing ein immer noch zuckendes schwarzes Gliederfüßlerbein. Kylan wollte gar nicht wissen, wie viele andere Käferarten noch im dichten Fell des Gabelhorns lebten. Knirschend und knackend beendete Neech seinen Siegesschmaus und schluckte dann hörbar.

»Du bist Naia. Gurjins Zwillingsschwester«, sagte Rian mit rauer Stimme. Er war groß für einen Gelfling, hatte olivenfarbene Haut und dunkle Augen. Seine dicken dunkelbraunen Haare waren strubbelig und wild, von einem einzelnen Streifen Blau über dem rechten Auge durchbrochen. Er hatte ein junges und freundliches Gesicht, aber sein Blick war resigniert und die Lippen zu einer erschöpften Linie zusammengepresst.

»Und du bist Rian«, sagte Naia.

Sie hatten den Namen so oft gehört, seit sie ihre Reise begonnen hatten. Tatsächlich war sein Name oftmals das Einzige gewesen, an dem sie sich orientiert hatten. Zeitweise hatte es so ausgesehen, als sei es völlig unmöglich, ihn irgendwann persönlich zu treffen, und doch waren sie jetzt hier.

»Noch so ein von der Finsternis befallenes Gabelhorn!«, sagte er. »Sie graben dort, wo sich die Kristalladern befinden, und sie sind zu dämlich, um wegzusehen, wenn sie eine freilegen.«

»Es war sicherlich verfinstert, aber trotzdem irgendwie anders als sonst«, sagte Kylan.

Naia nickte zustimmend.

»Es war fokussiert. Als hätte es Rian und mich erkannt …«

Rian betrachtete das schlafende Gabelhorn stirnrunzelnd.

»Wenn du die verfinsterten Kreaturen ebenfalls gesehen hast, breitet sich die Dunkelheit weiter aus. Vielleicht verändert sie sich auch. Erst vor Kurzem haben wir die ersten Hinweise darauf im Wald gesehen. Bei diesem Tempo wird es nicht lange dauern, bis ganz Thra in die Schatten blickt und auf sich selbst losgeht.«

Rian schob den Gedanken mit einem Kopfschütteln beiseite und zog seinen Speer aus dem Körper des armen Gabelhorns. Mythra kam mit einer Handvoll Waldmoos, kletterte auf das Tier und presste es gegen seine blutende Wunde.

»Du siehst genauso aus wie Gurjin … Ist er bei dir?«

»Er hat es nicht geschafft«, sagte Naia mit ausdrucksloser Stimme, als wollte sie die traurige Nachricht so rasch wie möglich übermitteln und es so hinter sich bringen. Vielleicht war das auch das Beste. Kylan hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte, und er stellte sich vor, dass Rian sich noch verlorener vorkam, wenn sie zu lange bei diesem Thema verweilten. Dann sprach Naia weiter. »Das hier ist Kylan, ein Liedererzähler vom Spriton-Clan. Wir sind hier, um …«

Niemand wollte sagen, was als Nächstes gesagt werden musste, auch wenn es der Grund war, warum sie sich hier so heimlich trafen. Der Grund, warum weder Gurjin noch die Vapra-Prinzessin da waren, die ihnen auch geholfen hatte. Kylan nagte auf seiner Unterlippe herum, schob jedoch schließlich die Schuldgefühle wegen ihrer Freunde, die nicht hatten entkommen können, beiseite.

»Wir sind hier, um herauszufinden, was wir wegen der Skekse tun können!«

Die helle Stimme kam von oben. Mythra hatte die Wunde des Gabelhorns versorgt und kletterte jetzt wieder von ihm herunter. Sie schob Rian und Naia näher zueinander, so nah, dass sie sich die Hände reichen konnten.

»Ihr beide solltet Bilder strömen. Dann können wir einen Plan machen.«

Rians Ohren legten sich leicht an, aber er wischte sich die Hand an seiner Tunika ab, um sich auf das Bilderströmen vorzubereiten. Dann streckte er sie ihr hin, weder eifrig noch widerstrebend.

»Sie hat recht. So geht es am schnellsten.«

Kylan betrachtete Naia und verspürte einen Stich, als sein Beschützerinstinkt sich meldete. Wenn sie sich schon nicht in der Lage gefühlt hatte, mit dem Gabelhorn Bilder zu strömen, war sie dann wirklich stark und geschützt genug, um ihr Herz einem anderen Gelfling gegenüber zu öffnen? Mit ihm zu teilen, was es gebrochen hatte? Sie hatten Rians Namen viele Male gehört und ihn seit Tagen gesucht, aber er war immer noch ein Fremder. Ein Verbündeter, aber kein Freund.

Als Naia ihm einen zögernden Blick zuwarf, wusste er, was er wissen musste. Er trat vor und hielt Rian seine eigene Hand hin.

»Naias Herz ist gebrochen«, sagte er. »Aber ich war auch da, und sie hat mir erzählt, was sie gesehen hat. Ich kann dir nicht ihre Erinnerungen geben, aber ich kann dir meine geben und meine Erinnerung an das, was sie mir erzählt hat.«

»Also schön«, sagte Rian.

Es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren, mit wem er Bilder strömte; er zeigte jede Menge Tatendrang, aber nur wenig Gefühle. Kylan machte sich klar, dass auch Rian Prüfungen hatte bestehen müssen, als er vor den Skeksen geflohen war – Prüfungen, die Kylan wahrscheinlich zu sehen bekommen würde.

Er wappnete sich innerlich. Sie legten die Hände aneinander, und das Bilderströmen begann.

Kapitel 2 

Bilder zu strömen war in etwa so, als würde man in einen Teich eintauchen, ohne zu wissen, wie tief er war oder was einen dort unten erwartete. Kylan blieb zunächst an der Oberfläche, spürte Rians Erinnerungen und wusste gleichzeitig, dass Rian seine sehen konnte. Wenn man mit jemandem zum ersten Mal Bilder strömte, war man anfangs oft orientierungslos. Denn auch wenn sich beide dafür entschieden hatten, gab es noch immer unendlich viele Gedanken und Bilder, Schutzbarrieren und Wellen der Vorsicht.

Nach einem Moment beruhigten sich diese Wellen, und Rian begann. Seine mentale Stimme kam wie aus weiter Ferne und war zugleich in Kylans Geist.

Ich war ein Soldat, wie mein Vater …

Als Erstes tauchte ein lebhaftes Bild von der Burg des Kristalls auf, ganz Obsidian und herrlich. Sie thronte über dem Dunkelwald wie eine Klaue oder eine Krone. Rians Erinnerungen an die Burg waren stark und voller Einzelheiten. Er kannte alle geräumigen Hallen und jeden stattlichen Raum, war durch jeden einzelnen gewundenen Korridor gegangen und hatte dort patrouilliert. Das einzige Zimmer, das er nicht gesehen hatte, war der Pavillon im Zentrum. Gelfling-Wachen und Bediensteten war der Zutritt verboten. Nur die Skekse, diese in samtenen Umhängen daherkommenden räuberischen Hüter der Burg, hatten die Erlaubnis, ihn zu betreten. Dort hielten sie und nur sie allein Zwiesprache mit dem Herzen von Thra – dem Herzen der Welt. Nachdem sie Thras Lied gehört hatten, trugen sie Thras Worte in dicke Bücher ein und schickten der Maudra eines jeden Gelfling-Clans Befehle. Auf diese Weise wurde der Wille Thras weitergegeben.

Oder zumindest hatte es so ausgesehen. Kylan kannte das schreckliche Geheimnis bereits, das die Skekse hüteten. Er hatte den Beweis dafür sowohl selbst als auch – nach dem Albtraum, den sie überlebt hatten – im Bilderströmen mit Naia gesehen. Jetzt wartete er darauf, es so zu sehen, wie Rian es erlebt hatte.

Unsere Freunde sind einer nach dem anderen verschwunden. Wir haben die Skekse irgendwann darauf angesprochen, aber sie haben dem keine Beachtung geschenkt. Dann kam der Tag, an dem sie Mira zu sich gerufen haben …

Kylan sah kurz ein Gelfling-Mädchen, augenzwinkernd und voller Fröhlichkeit, wie aus einem Märchen. Eines Nachts kehrte Rian mit ihr zur Burg zurück, nachdem sie gemeinsam in dem die Burg umgebenden Wald patrouilliert hatten. In den Händen, die er unter dem Umhang seiner Uniform verbarg, hielt Rian eine leuchtende Glockenblume. Er wollte sie Mira geben, wenn sie sich verabschiedeten. Er wollte ihr sagen, dass er ihre gemeinsame Zeit, auch wenn sie im Dienst gewesen waren, sehr genossen hatte und dass sie vielleicht auch einmal an einem anderen Abend Zeit miteinander verbringen könnten …

Zwei Skekse warteten bei der Burg, der überreich ausstaffierte Kammerherr und skekTek, der Gelehrte, ein listiger, sehniger Skeks, dessen eines Auge aus Metall und Glas bestand. Der Kammerherr winkte Mira zu sich, er hatte eine offizielle Aufgabe für sie.

»Du bist eine Vapra, ja? Oh, ja, hübscher Silberling … bekommst Befehle …«

Der Skeks mit dem mechanischen Auge deutete mit seinem klauenähnlichen Finger auf Rian.

»Wache, abtreten.«

Kylan fühlte Rians Erinnerung mehr, als dass er sie sah: Wut, Angst, Besorgnis. Rian wusste, dass er den Herrschern vertrauen oder zumindest gehorchen sollte, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Dann war da Leidenschaft, als er ihnen folgte – sehr wohl wissend, dass er erledigt sein würde, sollte man ihn erwischen. Wenn sein Instinkt ihn allerdings nicht trog, dann befand sich Mira möglicherweise in Gefahr.

Und er sollte recht behalten. Die Erinnerung kam in Gestalt einer wirren Woge aus Geräuschfetzen und bruchstückhaften Bildern: Rians Weg durch die Burg, die misstönenden Echos des schroffen Gelächters der Skekse. Miras Fragen, die ruhig begannen, dann aber immer alarmierter wurden. Und über allem hörte Kylan die Erinnerung an einen knirschenden Hebel, als würde ein riesiges Stück des Gebäudes sich auf hundert Zahnradgetrieben in Bewegung setzen.

Die Vision war an dieser Stelle scharf und schmerzhaft. Rian fand den Ort, an den die Skekse Mira gebracht hatten. Es war das Labor des Gelehrten, tief im Inneren der Burg. Die Tür stand einen Spalt offen, ein Streifen aus feurigem Rot im ansonsten dunklen Korridor. Miras Stimme war jetzt leise, lediglich ein Wimmern, und Rian spähte durch den offenen Türspalt. Er sah, dass sie an einen Stuhl gebunden war, gegenüber einer Platte in der Steinmauer. SkekTek, der Gelehrte, stand dicht bei der Platte, die Klauen auf einem Hebel. Das Knirschen und Zittern der Maschinerie wurde stärker, und dann schob sich die Platte zur Seite, und gleißendes Rot überflutete den Raum.

»Ja, Gelfling, sieh in das Licht«, sagte skekTek. Er griff nach einem anderen Hebel und bewegte ihn, so dass ein zweites Stück der Apparatur sichtbar wurde – ein Reflektor, der in der Höhle aus Feuer jenseits der Wand aufgehängt war. Mira begann, um Hilfe zu schreien, kämpfte gegen die Fesseln an. Rian wäre schon fast in den Raum gestürmt, aber da drehte skekTek den Reflektor herum, so dass ein blendender Dolch aus Licht auf Miras Gesicht fiel. In dem Augenblick, als sie in das Licht sah, wurde sie still.

Kylan spürte, wie die Erinnerung schwächer wurde, als Rian etwas den Fokus verlor.

Es ist in Ordnung, sagte er. Du musst mir nicht noch mehr zeigen. Ich verstehe …

Nein, erwiderte Rian. Nein, es ist wichtig. Du musst es sehen. Du musst sehen, wie schrecklich die Skekse wirklich sind.

Kylan sah durch Rians Augen, wie Miras Körper erschlaffte. Ihre Haut wurde blass und vertrocknete, ihre Haare wurden brüchig, als ihr die Lebenskraft aus dem Körper gezogen wurde. Während sie langsam starb, wurden ihre Augen milchig und blicklos, und eine andere Maschine setzte sich in Bewegung. Mehrere Röhren erwachten zitternd zum Leben, füllten sich langsam mit einer leuchtenden Flüssigkeit. Die Substanz war makellos und blau gefärbt, beinahe wie flüssiger Kristall, und sie lief langsam durch die Leitungen, bis sie schließlich ein Glasfläschchen füllte, Tropfen für Tropfen.

Das Schlimmste kam erst noch. Als es voll war, griff sich der Gelehrte das Fläschchen. Er schnüffelte daran und seufzte zufrieden, und dann setzte er sich zu Kylans großem Entsetzen das Fläschchen an den Mund und nahm einen winzigen, ekelhaften Schluck. Als die Tropfen seine Zunge berührten, blitzte Licht in seinen Augen auf, klärte ihren altersbedingten Schleier. Die Falten und Verzerrungen in seinem welken Gesicht und an seinem Schnabel glätteten sich, die Haare auf seinem Schädel wurden dichter und bekamen einen leichten Glanz. Miras Lebenskraft gehörte jetzt ihm, ihre Jugend strömte in seine alten, verbrauchten Adern.

Ihr Vliya, sagte Rian. Als wäre es Wein.

Kylan erschauerte. Naia hatte ihm das Gleiche erzählt, aber es so klar in Rians Erinnerung zu sehen war noch einmal auf furchtbare Weise anders. Er war erleichtert, als die Vision sich auflöste.

Das mit Mira tut mir leid, sagte er.

Mir auch, erwiderte Rian. Aber die Trauer hatte die Tür zu Mut und Entschlossenheit geöffnet, wie es schien. Und jetzt erzähl du mir, was ihr beide, du und Naia, erlebt habt. Erzähl mir, wie es kommt, dass ihr mir im Kampf gegen die Skekse helft, während der Rest unseres Volks mich als Verräter und Lügner verfolgt.

Kylan griff auf den Bilderstrom zu, erinnerte sich an das, was er von Naias Reise wusste. Er musste für sie ebenso wie für sich selbst sprechen. Aber obwohl sie während ihrer Reise Bilder geströmt hatten und Naia ihm erzählt hatte, wie sie von zu Hause aufgebrochen und nach Norden gereist war, war es unmöglich, die im Bilderströmen erhaltenen Erinnerungen im Bilderströmen weiterzugeben. Er musste sie vielmehr aussprechen, und so fasste er sich kurz und beschränkte sich auf das Wesentliche.

Tavra, eine Tochter der All-Maudra, ist in Naias Dorf gekommen, weil sie nach dir und Gurjin gesucht hat. Als Tavra Gurjin dort nicht gefunden hat, ist Naia nach Ha’rar aufgebrochen, um Gurjins Ehre zu verteidigen. Ich bin ihr nördlich von Sogg begegnet, als sie durch die Spriton-Ebenen gereist ist.

Kylan erinnerte sich noch gut an den Tag, als Naia in sein Dorf gekommen war. Er wusste, dass auch Rian die Erinnerung sehen konnte, als er sie sich wieder ins Gedächtnis rief. Er sah Naias Unnahbarkeit vor sich, wie sie gezögert hatte, sich mit ihm zu befreunden. Aber gerade das hatte Kylan an ihr gefallen. Er hatte etwas von seinem eigenen Außenseitertum in ihr gesehen. Für sie mochte das keine besondere Bedeutung gehabt haben, aber für Kylan war es der Beginn der Reise, die ihn schließlich hierhergeführt und dazu gebracht hatte, mit Rian Bilder zu strömen und gegen die Skekse zu kämpfen.

In allen Ländern hat sich Dunkelheit ausgebreitet, erzählte er Rian. Wir haben verfinsterte Kreaturen gesehen, die wahnsinnig waren, nachdem der Blick in die Erde sie krank gemacht hat. Selbst die Bäume im Dunkelwald waren befallen.

Er zeigte Rian die Erinnerung an die Nacht, in der sie sich im Wald verirrt hatten. Kylan stand Wache, während Naia mit dem Wiegenbaum Bilder strömte und so versuchte, seinen Wahnsinn zu beruhigen. Sie hatte den Baum geheilt, aber die Dunkelheit hatte nicht beschwichtigt werden können. Diese Schatten waren woanders geboren worden.

Am Ende sind wir zur Burg gegangen …

Dort hatte er – durch Naia – erfahren, dass die Skekse sie verraten hatten. Dass sie Tavra, die edle Tochter der All-Maudra, gefangen genommen und vor den Reflektor im Labor des Gelehrten gesetzt hatten. Dass der Kristall selbst die Quelle der Verfinsterung war und dass die Skekse dafür verantwortlich waren.

Und Gurjin?, fragte Rian.

Die ernste Frage brachte nur eine einzige Erinnerung zurück: Wie der furchterregende skekMal sie im Wald gejagt hatte, wie ein Schattensturm mit glühenden, feurigen Augen hinter ihnen her gewesen war. Das war alles, was Kylan gesehen hatte, und so endete das Bilderströmen an dieser Stelle.

Kylan schlang die Arme um sich. Seine Sinne kehrten in die Wirklichkeit zurück, aber nicht augenblicklich, eher so, wie man auch nicht gleich trocken ist, wenn man aus dem Wasser steigt, nachdem man schwimmen war. Naia saß auf einem kleinen Moosflecken und wartete aufmerksam neben dem schlafenden Gabelhorn, während Mythra eine reife Pfirsichbeere aß, die sie aus ihrem Reisebeutel genommen hatte.

»Er hat sich geopfert, damit wir dich treffen und unser Volk warnen können«, sagte Kylan. »Genau wie Tavra.«

Kylan musterte Rians Gesicht; er versuchte zu ergründen, was im Kopf des Soldaten vorging. Es war anstrengend gewesen, Rians Erinnerung zu sehen, und er mochte sich nicht einmal vorstellen, wie es für Rian war, das alles noch einmal zu durchleben. Rian schüttelte den Kopf; seine dicken Brauen schienen für immer zusammengezogen zu sein.

»Gurjin ist so stolz gestorben, wie er immer war«, sagte Rian. »Wir werden dafür sorgen, dass sein Opfer nicht umsonst war. Und auch das von Tavra oder das von Mira nicht. Die Skekse werden für das, was sie getan haben, bezahlen. Dafür werde ich sorgen, und wenn ich es ganz allein tun muss.«

»Das musst du nicht. Gurjin ist – war – mein Bruder«, sagte Naia. »Wenn jemand den Skeksen beibringt, was Gurjins Opfer bedeutet, dann werde ich das sein.«

»Du? Du hast doch nicht einen einzigen Tag Dienst in der Burg erlebt!«

»Ich habe viele Tage an anderen Orten erlebt.«

»Die Skekse würden dich beim nächsten Mal zermalmen! Ich werde es allein tun.«

»Hör auf!«, schalt Mythra ihn. »Rian versucht immer, alles allein zu machen«, sagte sie, zu den anderen gewandt. »Sieh dir doch nur an, wohin dich das bisher gebracht hat, großer Bruder!«

Rian blies sich die zotteligen Haare aus dem Gesicht.

»Ich tue es für dich. Und für Timtri und Mutter. Das habe ich immer getan, und ich werde weiter Dinge allein tun, wenn ich damit das Volk der Gelflinge retten kann. Ich brauche von niemandem Hilfe.«

Naia verdrehte nur die Augen. Kylan dagegen wusste nicht genau, was er von dem Steinwald-Soldaten halten sollte. Rian war eindeutig mutig und bereit zum Handeln, aber er war so ungestüm, dass es ihn schon mindestens einmal fast das Leben gekostet hätte. Als er dem Gelehrten tief ins Innere der Burg gefolgt war, hätte das gut und gern das Letzte sein können, was er je getan hatte, aber er war entkommen und hatte überlebt und konnte die Geschichte weitererzählen. Entweder wurde sein Mut belohnt, oder er hatte einfach nur Glück.

Mythra hatte die Pfirsichbeere jetzt aufgegessen und warf den Stein in Richtung ihres Bruders, der ihm geschickt auswich.

»Wo du gerade Mutter erwähnst: Sie möchte euch alle zum Abendessen einladen – so wie wir es früher oft getan haben, bevor Rian zur Burg gegangen ist, um dort zu dienen.«

»Ich sollte hier im Wald bleiben«, sagte Rian. »Ich bin ein Verräter, schon vergessen?«

»Mutter sagt, es ist wichtig, dass du nach Hause kommst. Sie ist heute früh losgezogen, um deine geliebten Grumbirsen auszugraben. Sie will sich bei Naia und Kylan dafür bedanken, dass sie dir glauben. Zu uns zu kommen ist das Mindeste, was du tun kannst, um ein bisschen Dankbarkeit zu zeigen, da du ja nicht sehr daran interessiert zu sein scheinst, ihnen selbst zu danken.«

Rian zuckte zusammen.

»Ich bin nicht undankbar. Ich will nur einfach nicht, dass noch jemand verletzt wird. Nach allem, was ihr getan und gesehen habt, solltet ihr vielleicht auch darüber nachdenken, ob ihr euch nicht besser davor hütet, gesehen zu werden.«

Die Warnung war nur allzu vernünftig. Es spielte keine Rolle, ob sie unschuldig waren. Die Vorwürfe der Skekse zählten mehr als die Wahrheit.

Mythra schnaubte. Sie hüpfte von ihrem Platz herunter und ging den Pfad entlang, zurück in Richtung Steinwalden.

»Sei einfach pünktlich zum Essen zu Hause.«

Kapitel 3 

Nachdem Mythra die drei allein gelassen hatte, herrschte auf der Lichtung einen Moment Stille, abgesehen vom Gezwitscher der Vögel in den Bäumen um sie herum.

Kylan wusste nicht, was er als Nächstes sagen sollte. Das vor ihnen liegende Problem war riesig, fast zu groß, um darüber nachdenken zu können. Wie konnten sie es mit den Skeksen aufnehmen, die die Herrscher über die Gelflinge waren und in deren Hand sich die Burg des Kristalls befand? Die Gelflinge waren friedlich und verteilten sich auf sieben Clans in einem großen Land. Einige dieser Clans waren so weit weg, dass Kylan lediglich in Liedern von ihnen gehört hatte.

Andererseits waren die Skekse zwar wenige, aber zielgerichtet. Sie kontrollierten das Herz von Thra, und deshalb war ihr Wort Gesetz.

Kylan hoffte, dass Naia oder Rian das Gespräch beginnen würden, das geführt werden musste, aber beide waren nicht nur dickköpfig, sondern auch völlig in ihre eigenen Gedanken vertieft. Daher blieb es Kylan überlassen, den Anfang zu machen, und er tat es so behutsam wie möglich.

»Was denkt ihr – was sollten wir tun?«

»Wir müssen es der All-Maudra sagen«, erwiderte Rian sofort, als wäre die Antwort offensichtlich und die Frage unnötig. »Ich breche schon bald nach Ha’rar auf. Ich habe ein Fläschchen mit der schrecklichen Essenz. Wenn ich nach Ha’rar gelangen und es der All-Maudra und ihrem Hof zeigen kann, werden sie wissen, dass ich die Wahrheit sage.«

»Hast du schon versucht, es deiner eigenen Maudra zu sagen?«, fragte Kylan. »Die Reise nach Ha’rar ist lang, und du weißt nicht, ob die All-Maudra dir glauben wird. Aber es ist die Pflicht deiner Maudra, für ihren Clan zu sorgen. Vielleicht würde sie dich überraschen …«

Der Soldat schüttelte den Kopf und senkte die Stimme, als würde er mit sich selbst sprechen.

»Ich dachte einmal, die Lösung wäre, es allen zu sagen, so vielen wie möglich. Nachdem ich von der Burg weg war, habe ich auch versucht, mit Leuten zu sprechen, die ich von früher kannte … aber die Skekse haben alle gegen mich aufgebracht. Sie haben sogar meinen Vater dazu gebracht, mich zu verfolgen. Wenn ich Maudra Fara sage, was los ist, und sie sich auf die Seite der Skekse stellt, bringe ich damit meine Familie in Gefahr. Wenn die All-Maudra mich im Stich lässt, dann weiß ich zumindest, dass ich getan habe, was ich konnte.«

Naia schlug mit der Faust auf die Erde.

»Nicht alle sind gegen dich! Wir sind hier. Und wir werden mit dir gehen. Ganz egal, wie sehr du darauf beharrst, dass du das allein durchziehen willst. Ich habe das verfinsterte Herz von Thra gesehen und auch, was mit Tavra passiert ist, nachdem sie sie vor den Kristallspiegel gesetzt haben.«

»Naia hat recht«, pflichtete Kylan ihr bei. »Wir stecken alle mit drin.«

Kylan konnte sehen, dass Rian überlegte, was es ihm bringen würde, wenn er sie mitnahm. Vielleicht hätte er es vorgezogen, Gurjin an seiner Seite zu haben, aber diese Möglichkeit gab es nicht mehr. Dennoch waren drei Gelflinge, die das gleiche Lied sangen, immer noch besser als nur einer alleine. Rian schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen. Er schnaubte.

»Ihr werdet mich nur aufhalten. Ich breche in zwei Tagen auf …«

»Wirst du heute Abend zu deiner Mutter gehen?«, unterbrach Naia ihn.

Rian wurde rot. Er verschränkte die Arme vor der Brust und murmelte: »Natürlich werde ich zu ihr gehen. Das ist der einzige Grund, weshalb ich hier bin.«

»Dann kannst du uns heute Abend alles über deinen Aufbruch erzählen. Bis dahin werden wir dich deinen glorreichen Problemen überlassen.«

Naia schob den Dolch in die Scheide, um ihre Worte zu unterstreichen, und ging auf dem gleichen Pfad, den Mythra genommen hatte, davon. Es war nicht ihre Art, ihre Gefühle mit Worten abzuschwächen, und Rian war nicht besonders entgegenkommend. Kylan winkte Rian unbeholfen zum Abschied und trottete hinter seiner Freundin her.

»Er ist wirklich charmant, was?«, sagte Naia, als er sie einholte.

»Er ist sicherlich durch das verändert worden, was er erlebt hat.«

»Das ist bei uns auch nicht anders.« Sie seufzte. »Wenigstens haben wir jetzt jemanden, der den Weg nach Ha’rar kennt, wenn wir losgehen. Tavra hat ihn mir im Bilderströmen gezeigt, aber das war der direkte Weg. Ich glaube nicht, dass sie mit irgendetwas von dem, was passiert ist, gerechnet hat. Jetzt werden wir nach Ha’rar gelangen müssen, ohne dass die Skekse uns entdecken.«

Kylan pflichtete ihr bei, obwohl er Naia um das Geschenk der durch Bilderströmen übermittelten Erinnerung beneidete. Er selbst hatte nur uralte Lieder, die den Weg zur sagenumwobenen Hauptstadt der Gelflinge beschrieben.

Vor ihnen tauchte jetzt Steinwalden aus dem üppigen Wald auf, eine halbmondförmige Erhöhung aus Steinen und Felsblöcken in allen Größen. Es sah aus, als hätte ein Riese Stücke von Berggipfeln dort gestapelt, die dann im Laufe der Zeit zusammengewachsen waren. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Gelfling-Hütten schmiegten sich zwischen die Felsen und Bäume, alle durch schmale Wege und Stufen miteinander verbunden. Einige der Hütten bestanden aus Stein, andere waren aus Holz und in die Äste und Stämme der riesigen Bäume gebaut worden, die zwischen den Felsen wuchsen.

Am Fuß der hügeligen Landschaft befand sich ein See mit klarem Wasser, auf dessen ruhiger Oberfläche sich der Steinobelisk spiegelte, der ganz oben auf dem Hügel Wache hielt. Er war das beeindruckende Herzstück, das dem Dorf seinen Namen gab.

Der Aufstieg war nicht besonders mühsam gewesen, aber sie blieben dennoch kurz stehen, um sich auszuruhen. Sie hatten in der Vergangenheit viele schwierige Tage erlebt, und daher war die Gelegenheit, einen Moment lang in Ruhe die Brise genießen zu können, wie ein Geschenk. Kylan setzte sich neben seine Freundin auf einen Stein und sah hinunter auf das Dorf. Es wirkte so friedlich – und so arglos. Diese Leute hatten keine Ahnung, was außerhalb ihres Fleckchens im Dunkelwald vor sich ging. Es würde schwierig werden, ihnen die Wahrheit zu sagen, aber es war unvermeidlich. Wind blies durch den Wald, und die raschelnden Blätter klangen, als würden tausend Stimmen singen.

Naia stützte das Kinn auf die Fäuste.

»Danke übrigens. Dass du an meiner Stelle mit Rian Bilder geströmt hast. Ich hätte es getan, wenn es unbedingt nötig gewesen wäre, aber …«

Sie beendete den Satz nicht, und Kylan erschauerte, obwohl der Wind überhaupt nicht kalt war. Rians Bilderstrom genügte, um ihn frösteln zu lassen. Kein Wunder, dass der Soldat nach allem, was er durchgemacht hatte, so spröde war. Kylan dachte daran, Naia die Geschichte zu erzählen, die Rian ihm mitgeteilt hatte, aber er beschloss, es nicht in diesem Moment zu tun. Sie hatte schon genug, worum sie sich Sorgen machen musste, und sie würden auf ihrer bevorstehenden Reise noch Zeit genug haben, sich über alles zu unterhalten. Im Augenblick wollte er, dass sie sich ausruhte.

»Natürlich«, sagte er. »Dafür sind Freunde da.«

»Weißt du, Kylan … du hast mir angeboten, ohne mich weiterzugehen, damit ich nach Sogg zu meiner Familie zurückkehren kann. Was für eine Freundin wäre ich, wenn ich dir nicht das Gleiche anbieten würde? Du könntest in Steinwalden bleiben. Dort, wo der legendäre Jarra-Jen zu Hause war. Hast du Sami Thicket nicht deshalb verlassen?«

Das stimmte, aber es kam ihm jetzt irgendwie dumm vor. Kylan war völlig gescheitert mit seinem Vorsatz, ein Spriton zu sein, abgesehen von seinen Studien im Schriftritzen bei Maudra Mera. Als er weggelaufen war, hatte er gedacht, dass er in Steinwalden ein Lebensziel finden würde … aber jetzt war er hier, und er hatte nicht das Gefühl, dass sich irgendetwas geändert hatte. Jarra-Jen hatte vor vielen hundert Trigonen gelebt, vielleicht sogar bevor die Skekse die Kontrolle über das Herz von Thra übernommen hatten. Kylan fragte sich, ob Jarra-Jen wohl gewusst hätte, was zu tun war, wenn er herausgefunden hätte, was die Skekse dem Land von Thra und den Gelflingen antaten.

»Als wir uns damals in Sami Thicket begegnet sind, hatte ich nichts anderes als Geschichten, die ich erzählen konnte«, sagte Kylan und stand auf. »Die Weisheit dieser Erzählungen könnte uns hin und wieder helfen, aber jetzt haben wir unsere eigenen Übeltäter zu besiegen. Den Jäger … skekMal. Er ist immer noch da draußen, und er weiß, wie wir aussehen. Sie alle wissen es, und sie werden uns jagen. Es wäre unverantwortlich, wenn ich mich jetzt hinter Geschichten verstecken würde, und ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass du alleine gegen sie kämpfst.«

»Ich würde nicht allein sein«, meinte Naia. »Rian wird auch da sein!«

Kylan sah seine Freundin an und bemerkte, dass sie grinste, und schließlich lachten sie beide leise bei der Vorstellung. Naia folgte seinem Blick zum Herzstück des Dorfes auf dem Hügel und stupste ihn sanft mit dem Ellbogen an.

»Willst du hingehen und es dir ansehen?«

Das wollte Kylan, fast mehr als alles andere, aber es kam ihm wie ein Luxus vor, den er sich nicht leisten konnte. In den Stein auf dem Hügel waren die Geschichten über Jarra-Jen – und unzählige andere Erzählungen – eingemeißelt worden.

»Ich weiß nicht … Es gibt wichtigere Dinge, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Sobald wir bei dieser Sache mit den Skeksen klarer sehen und die All-Maudra die Angelegenheit übernommen hat, werde ich hierher zurückkehren und so viel erforschen und lesen, wie ich will.«

»Komm schon, sehen wir es uns an. Wir haben noch den ganzen restlichen Tag zur Verfügung.«

Naia stand schwungvoll auf und streckte sich, schüttelte dabei fast Neech ab. Dann zog sie ihren Rucksack über die eine Schulter. Er hatte ihrem Vater gehört und wurde auf dem Rücken getragen, aber seit ihre Flügel erblüht waren, hatte sie sich angewöhnt, ihn sich nur über eine Schulter zu hängen. Es war ein Männerrucksack, und sie würde ihn schon bald gegen etwas austauschen müssen, das besser zu ihren Flügeln passte, ganz besonders wenn sie vorhatten, noch weiter zu reisen als bis Steinwalden.

»Nur weil wir von den Skeksen gejagt werden und die Welt in Stücke bricht, heißt das nicht, dass du dir nicht ein bisschen was gönnen kannst.«

Sie lächelte, und obwohl in ihrer Bemerkung Ironie mitgeschwungen hatte, wusste Kylan, dass sie es gut meinte. Der Fels auf der Erhöhung über ihm zog ihn magisch an, und als er ihn jetzt ansah, konnte er beinahe das Flüstern der Lieder hören, die in ihn geritzt worden waren. Und so fand er, wenn auch mit Bedacht, einen nach oben führenden Weg durch den Wald und begann mit dem Aufstieg, dicht gefolgt von Naia.

Kapitel 4 

Der Hang erwies sich als weitläufiger als gedacht, und der Aufstieg dauerte daher eine ganze Weile. Je höher sie kamen, desto zerklüfteter und älter schienen die großen Felsklötze, die den Hügel bildeten. Als sie schließlich ganz oben angekommen waren und von der flachen Kuppe nach unten schauten, lag Steinwalden winzig klein inmitten der Bäume unter ihnen.

Bei dem im Zentrum stehenden Obelisken handelte es sich in Wirklichkeit nur um eine von vielen ähnlichen Säulen, aber sie war die einzige, die groß genug war, um von unten gesehen werden zu können. Um ihn herum war ein halbes Dutzend breiter moosbewachsener Steine angeordnet, die alle mit Gelfling-Schrift versehen waren, einige zusätzlich mit Piktogrammen und verschnörkelten geometrischen Diagrammen. Kylan näherte sich dem großen Stein in der Mitte und berührte ihn, strich über das feuchte Moos, das in den tief eingeritzten Worten wuchs.

»Kannst du das lesen?«, fragte Naia. Wie die meisten Gelflinge konnte sie weder lesen noch schreiben, aber Kylan konnte beides. Maudra Mera hatte es ihm in der Hoffnung beigebracht, dass er es damit eines Tages zu etwas bringen würde.

»Es erzählt vom Ursprung Steinwaldens«, sagte er voller Ehrfurcht und tastete über die Worte. »Im Sommer-Nonegon, im Zeitalter der Unschuld, stand hier Maudra Ynid von den Drei Sängern, gerufen von den Weinenden Bäumen im Herzen des Dunkelwalds, wo der Schwarzfluss strömt. Sie zeichnete die Form der Sonnen in den Boden. Mit dem Segen des Wiegenbaums vervielfachten sich die Steine, und so wurde Steinwalden geboren, und die Gelflinge erblühten.«

Naias Ohren stellten sich auf.