Der dunkle Ort - Nadine Zacher - E-Book

Der dunkle Ort E-Book

Nadine Zacher

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Beschreibung

Das Leben kann einen aus der Bahn werfen und uns zu Dingen bringen, die weder gewollt noch vorhersehbar sind. Betrug und Affären, Mord und Totschlag, alles ist möglich. Aber auch der Liebe zu begegnen und zu sich selbst zu finden kann hinter der nächsten Ecke auf uns warten. All dem müssen sich die Personen in "Der dunkle Ort" stellen, müssen umgehen mit dem Unerwarteten, was nach dem Frühstück einfach zur Tür herein spaziert und bleibt. Charlotte verliert ihre große Liebe und auch sich selbst, Ingrid sieht Gespenster, die längst tot sein sollten, Anna und Paula entdecken die Macht des Voodoo. Frank traut sich, verliebt zu sein, Oskar findet bei einem Regenspaziergang zu sich selbst, Hannah küsst eine Frau, Anton nimmt erst sein Leben und schließlich das Gesetz selber in die Hand, und so manch einer ist nicht so klug wie er dachte und sich seiner selbst ein bisschen zu sicher. "Der dunkle Ort" ist das Unvorhergesehene, aber auch der Teil in jedem von uns, in dem die Dinge gut verborgen sind und nur selten ans Licht kommen. Der Teil, der aus Eifersucht morden könnte, der sich ungeahnten Begierden hingibt, der sich das Unvorstellbare traut. Düster und hässlich, aber auch leuchtend und schön.

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Seitenzahl: 617

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Nadine Zacher

Der dunkle Ort

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Erinnerung

Madonna

Tiffys Hände

Ingrid van Bergen

Die Käfer meiner Mutter

Eisbegonien

Weststraße 1

Es gibt viele Arten zu schweigen

Die fremde Hand

Der dunkle Ort

Impressum neobooks

Die Erinnerung

Ich erinnere mich genau. Es war ein heißer Tag, an dem Gewitter in der Luft lag, an dem das Atmen schwer fiel und der verhangene Himmel viel zu nah zu kommen schien. Es muss einer dieser heißen Tage im August gewesen sein, da bin ich mir sicher, weil ich ein paar Tage vorher Geburtstag gehabt hatte.

Ich hatte neue Schuhe bekommen. Wenn ich die Augen schließe und mich erinnere, sehe ich sie genau vor mir. Es waren braune Lederschuhe, eigentlich viel zu warm für diesen Sommertag, aber ich konnte es nicht abwarten, sie zu tragen; auf keinen Fall noch Wochen, bis der Herbst das Wetter abkühlen würde. Die Schuhe gingen bis über die Knöchel. An der Außenseite auf Höhe des Knöchels befand sich auf jedem der beiden Schuhe die schwarz gelbe Abbildung einer Biene, sehr klein, aber so genau, dass man sogar den Stachel erkennen konnte.

Meine Schuhe wurden staubig, als ich den schmalen Weg durch das kleine Waldstück nahm. Der Boden war trocken, und die Luft war feucht. Auch wenn der Weg nicht besonders lang war, legte sich ein feuchter, klebriger Film auf meine Stirn und meine Arme.

Man sparte sich ungefähr zehn Minuten Weg mit dieser Abkürzung durch den kleinen Wald, ging dafür nicht an der Straße entlang zum Haupteingang, sondern kam hinter dem Haus aus, wo man nur durch den Garten gehen musste und zur Hintertür reingehen konnte. Manchmal war sie verschlossen, oft aber nicht, wenn jemand zuhause war, und schon gar nicht in den heißen Sommermonaten, wenn es sowieso nur ein ständiges Rein und Raus zwischen Garten und Haus war.

Es war Mittagszeit, als ich durch den Garten zum Haus ging, viel zu früh eigentlich. Das Gras und die Blätter hatten ein dunkles, sattes Grün unter diesem tiefen Gewitterhimmel. Alle Fenster im ersten Stock, die zur Gartenseite zeigten, waren weit aufgerissen, und ganz deutlich hörte ich jetzt ein helles Lachen, als ich zu den geöffneten Fenstern nach oben sah.

Ich trat mir den Staub von den Füßen, als ich durch die Hintertür in die Küche ging. Die Tür war nicht abgeschlossen. In der Küche und im Wohnzimmer war jetzt alles ganz still, als würde diese drückende Luft, die durch die geöffneten Fenster rein kam, alle Geräusche verschlucken. Niemand war zu sehen, nichts rührte sich, nur im Wohnzimmer lief der Fernseher ohne Ton und warf ein flackerndes Licht auf den dunklen Teppich.

Jetzt hörte ich kein Lachen mehr, jetzt war es ein Stöhnen, ein Seufzen, das sich den Weg herunter aus dem ersten Stock durch die stickige Luft bis zu mir bahnte. Es hörte sich nicht bedrohlich an, es hörte sich nicht nach Angst oder Schmerzen an, es klang nach etwas Anderem, nach etwas Fremden, das ich noch nicht kannte. Wenn ich mich heute daran erinnere, weiß ich, dass es Lust war, Lust und Begehren, was ich dort hörte.

Langsam stieg ich die hölzerne Treppe in den ersten Stock hinauf. Ich war nicht besonders vorsichtig; ich vermied es nicht einmal, auf die Stufen zu treten, von denen ich wusste, dass dort das alte Holz unter meinen Füßen knarren würde. Im Flur verschluckte der Teppich wie von selbst die Geräusche meiner Schritte. Ich musste mich gar nicht anstrengen, gar nichts tun, ich musste einfach nur eine Treppe hoch und durch einen Flur gehen und durch eine halb geöffnete Tür in ein Zimmer sehen.

Was ich sah, hatte ich noch nie gesehen. Zwei nackte Körper auf dem Bett ineinander verschlungen. Bettdecke und Kleider auf dem Boden verstreut. Ich sah Bewegung, einen Rhythmus, der vom Stöhnen zweier unterschiedlicher Stimmen begleitet wurde. Ich sah einen schlanken, hellen Frauenkörper auf dem Körper einer anderen weniger schlanken Frau, die sich aber nicht weniger bewegte, die mit ihren Fingern in die Haare und in den Rücken der Frau, die sich auf ihr bewegte, griff.

Das muss doch wehtun, das weiß ich noch, dass ich das dachte, dass ich diese feste Geste nicht mit Vergnügen verbinden konnte.

In dem Zimmer hier oben war es noch ein bisschen dunkler als in den Räumen unten, vielleicht hatte sich der Himmel noch weiter zugezogen, vielleicht würde es wirklich gleich gewittern. Doch daran erinnere ich mich nicht, vielleicht war es so, vielleicht blieb aber auch der Regen und das Gewitter aus, und wir merkten einfach nicht, wie die schwüle, stickige, viel zu heiße Luft wieder verschwand.

Ich blieb weiter dort stehen, wo ich stand, rührte mich nicht und konnte den Blick unmöglich abwenden, von dem, was in diesem Bett geschah.

Eine von beiden hatte die Augen nun geschlossen, während die andere mit dem Mund ihren Körper entlang fuhr. Lippen berührten Brüste und Hände, schlossen sich um Finger, berührten Beckenknochen und Oberschenkel, verweilten sehr lange zwischen den Beinen. Auch hier ergab sich wieder eine Bewegung, wie ein Fluss, der in einem bestimmten Rhythmus fließt, und irgendwann in all dieser Bewegung öffnete die Frau die Augen wieder und sah dabei genau in meine Richtung, sah einfach so genau in mein Gesicht. Als würde man nach einem gedankenverlorenen Moment die Augen wieder öffnen und mit seinem Blick zufällig irgendeine Stelle im Zimmer treffen, einen Vorhang oder eine Tasse auf dem Couchtisch.

Meine Mutter sah mich in dem Moment so selbstverständlich an wie irgendetwas anderes im Zimmer, aber dieser Moment ging schnell vorbei. Ich glaube, sie brauchte einfach diesen Moment, um festzustellen, dass das, was sie gerade sah, in keiner Weise zu dem passte, was sie gerade tat.

Aber auch das, was diesem Moment folgte, war nicht hektisch und laut. Ruhig und beherrscht wurde nach Bettdecken und Kleidung gegriffen. Paula, die beste Freundin meiner Mutter, war als erste wieder komplett angezogen; es wurde sich ordnend durch die Haare gefahren, Blusen wurden zugeknöpft, und ich wurde auf mein Zimmer geschickt. Dort saß ich auf dem Bett, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, und ließ die Beine runterbaumeln. Ich betrachtete meine Schuhe, die ich immer noch anhatte und die auch immer noch ein bisschen staubig waren. Meine Geburtstagsschuhe, ich war elf Jahre alt geworden.

Als ich heute, vierunddreißig Jahre später, den Weg zum gleichen Haus meiner Eltern einschlage, nehme ich keine Abkürzungen mehr, sondern parke, wie alle anderen Gäste auch, vor dem Haus.

Vieles hat sich verändert, auch das Haus, innerlich und äußerlich. Aus dem einstmals grünlichen Anstrich ist irgendwann ein weißer geworden und aus dem weißen im Laufe der Zeit ein dreckig beigefarbener. Wie das Gesicht einer alternden Frau, denke ich, dessen Make-up mit den vergehenden Jahren immer ungenauer und rissiger und gleichzeitig immer notwendiger wird, bis man es irgendwann vielleicht einfach bleiben lässt.

Obwohl es erst Nachmittag ist, dämmert es schon. Das Haus ist hell beleuchtet, und auf dem Hof stehen mindestens schon acht Wagen. Gut, nicht die Erste zu sein, sich nicht in der Gegenwart von Mutter und Frederik verloren fühlen zu müssen. Wo es Mutter doch ohnehin mit jedem Geburtstag immer schwerer fällt, ihre düsteren Launen im Griff zu halten, und die Gäste immer mehr Bemühen aufwenden müssen, ihren lockeren Wohlwollen über diese Stimmung auszubreiten, bis der Abend zu Ende geht. Geschenke will sie schon seit Jahren nicht mehr, ich bin die Einzige, die sich konsequent daran hält, die diesen Wunsch als offensichtliche Erleichterung empfunden hat.

Frederik öffnet mir schwungvoll die Tür, als ich läute. Er ist jetzt achtundsechzig und hat nie diese Aura verloren, die einem auf aufdringlich optimistische Weise vermittelt, die Lage sei unter Kontrolle und es gäbe nicht den geringsten Grund, in den nächsten Stunden nicht noch ein paar bemerkenswerte berufliche oder private Erfolge zu erzielen. Mir ist nicht klar, ob das für Frederik überhaupt unterschiedliche Bereiche sind oder ob sich nicht alles zu einem einzigen großen Schlachtfeld vermischt.

Kein Zweifel, dieser Mensch ist zufrieden mit sich. Ist angekommen in seinem Leben und in seiner Persönlichkeit, kennt das gar nicht, dieses Gefühl des Suchens nach dem richtigen Zustand, dem richtigen Leben, der richtigen Art zu sein. Dieses Gefühl des Nicht-fertig-Seins muss Frederik absolut fremd sein.

Er arbeitet noch immer, natürlich tut er das, obwohl er sich schon längst hätte zur Ruhe setzen können. Er ist einer von denen, die sich in dem sicheren Glauben wiegen, gebraucht zu werden. Von seinen Patienten, von seinen Kollegen, wahrscheinlich von der Institution psychiatrische Klinik an sich, ja wenn nicht sogar von der Psychiatrie als solches. Ich bin mir sicher, dass viele jüngere Kollegen Mühe haben, ihre Ungeduld nicht zu offensichtlich werden zu lassen und schon lange darauf warten, dass die Stelle des leitenden Arztes der Psychiatrie endlich neu besetzt wird, und ich bin mir genau so sicher, dass Frederik diese Ungeduld noch eine ganze Weile ignorieren wird.

„Schön, dass du da bist, Ingrid“, sagt er jetzt und schüttelt mir dabei einen Moment zu lange die Hand. „Deine Mutter ist im Wohnzimmer.“ Und mit etwas gesenkter Stimme fährt er fort: „Und schon beim dritten Glas.“

Ich habe es nie gemocht, wenn Frederik versucht hat, eine Vertrautheit von Verbündeten zwischen uns herzustellen, seine Versuche, sich zu vergewissern, in welcher Position man zu ihm steht, einzuordnen, ob man in den kommenden Stunden Freund oder Feind sein wird.

Als ich das Wohnzimmer betrete, stehen schon einige Gäste locker in Zweier- oder Dreiergruppen im Raum herum. Die Stimmung wirkt ein bisschen unruhig, wie ein leicht betäubter Bienenschwarm schwirren die Gäste durcheinander. Meine Mutter thront vor dem Fenster in einem schweren, braunen Ledersessel und ist die mittlerweile nicht mehr leicht, sondern eindeutig betäubte Königin in einem lässigen, sündhaft teuren Hosenanzug und einer weißen Seidenbluse. Definitiv wird sie die bestangezogene Frau des Abends sein, aber da sie das weiß, ist ihr auch das egal, was wiederum ihre Haltung genauso lässig erscheinen lässt wie ihre Kleidung.

Da Frederik offensichtlich mitgezählt hat, weiß ich, dass das Weißweinglas in ihrer Hand das dritte ist, und da es erst sechs Uhr ist, bietet der Abend noch Raum für einige weitere. Ein bisschen gelangweilt sieht sie aus, wie sie so im Raum herumschaut, aber ich entdecke tatsächlich Freude in ihrem Gesicht, als sie mich jetzt an der Tür stehen sieht. Sie lächelt und prostet mir von der anderen Seite des Zimmers aus zu, und ich bin auf einmal froh, hier zu sein.

Als ich ihr einen Kuss auf die Wange gebe und ihr zum Geburtstag gratuliere, fühlt sich ihre Haut ganz weich an. Sie ist fast gar nicht geschminkt, im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen hier. Ich weiß, dass sie das für „albernen Firlefanz“ hält, der je älter man wird, umso unwürdiger aussieht. Trotzdem erstrahlen ihre Lippen und ihre Fingernägel in zwei perfekt aufeinander abgestimmten, warmen, dunklen Rottönen.

Ich sehe Frederik quer durch den Raum auf uns zusteuern, sehe wie meine Mutter langsam die Augen verdreht und mir zuflüstert: „Wenn du deiner Mutter an ihrem Geburtstag einen Gefallen tun willst, hältst du mir den jetzt vom Leib und besorgst mir noch ein Glas.“

Ich finde, dass sie diesen Gefallen auf jeden Fall verdient hat und gehe Frederik entgegen. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass die Schröders, die wie eingefroren vor dem Kamin stehen, gelangweilt und vor allem ohne Getränke in die Gegend starren und organisiere ein weiteres Glas Chardoney für meine Mutter. Mit Weißwein für sie und einem Martini für mich komme ich zu ihr zurück und ernte ein „Gut gemacht“ von ihr.

Die Erinnerung an diesen Sommertag im August vor vierunddreißig Jahren war gerade eben noch auf der Fahrt hierher so präsent und so eindringlich gewesen, dass mir auch jetzt all diese Bilder im Kopf hängen bleiben, wie etwas Zähes, Klebriges, das man beim Versuch es wegzuwischen nur noch schlimmer macht.

Ich frage meine Mutter, ob sie weiß, wo all die alten Sachen von mir abgeblieben sind, die von ganz früher, nicht die aus der Zeit kurz bevor ich hier ausgezogen bin. All diese kleinen Dinge, die man so fest und unauslöschlich mit seiner Kindheit verknüpft hat. Spiele, die man Tag und Nacht hatte spielen wollen, Bücher, bei denen beim Vorlesen niemals der Wortlaut geändert werden durfte, kleine kuschelige Wesen, die jahrelang das Bett mit einem teilten. All das muss irgendwo abgeblieben sein, aber meine Mutter scheint keine rechte Übersicht mehr zu haben, wo sich was in ihrem Haus befindet und schwankt unsicher zwischen den Möglichkeiten Keller, Garage, Dachboden oder altes Kinderzimmer.

„Wozu brauchst du den alten Kram?“, will sie nach einigem Überlegen wissen, und ich erzähle ihr von den Schuhen, die ich früher hatte, die mit den Bienen an den Seiten. Doch meine Mutter sieht mich nur ungläubig an und sagt mir, solche Schuhe hätte ich nie gehabt. Ich will es dabei bewenden lassen und nicht an diesen Sommer vor so vielen Jahren rühren. Die so tief und gründlich vergrabenen Leichen im Keller müssen heute nicht wieder auferstehen.

Also sage ich nur, so wichtig sei es auch nicht und begleite meine Mutter ins Esszimmer, um gemeinsam mit allen anderen, gemeinsam mit noch mehr Chardoney und Martini das Abendessen zu überstehen.

Meine Mutter ist schweigsam beim Essen, Frederik dafür umso gesprächiger. Fast alles, was er sagt, sagt er laut genug, um damit den gesamten Tisch zu unterhalten. So ist das, wenn man gebraucht wird, denke ich, wenn man sogar für die Abendunterhaltung die Verantwortung trägt.

Nach dem Essen zieht man sich wieder ins Wohnzimmer zurück, wechselt die Getränke von Wein zu Kaffee oder auch nicht, und eine seltsame Mischung aus Trägheit und Unruhe breitet sich im Haus aus.

Als ich in der Küche alleine auf Frederik stoße, frage ich ihn, ob er weiß, wo sich meine alten Sachen befinden. Er ist gerade dabei, eine Zitrone in Scheiben zu schneiden, und ich merke, wie das Messer einen winzigen Moment lang ins Stocken gerät, bevor es weiter durch die gelbe Schale schneidet und er mir nur mit der Gegenfrage „Wozu?“ antwortet.

„Ich suche etwas“, sage ich und kriege wieder nur Frederiks Gegenfrage „Und was?“ zu hören. Am liebsten möchte ich ihm sagen, dass ihn das unglaublich wenig angeht, möchte aber auch möglichst beiläufig klingen, so dass die Chance auf eine brauchbare Antwort besteht.

„Ach, ein paar Sachen von früher halt“, sage ich vage, merke aber, wie Frederik das Messer zur Seite legt und mich jetzt unverwandt ansieht. Sein Tonfall ist jetzt kühl und sehr präzise, wie der eines Forschers, der versucht herauszufinden, mit was er es hier zu tun hat.

„Ein paar Sachen von dir sind im Keller, ganz hinten an der Wand in diesen dunklen Kartons, aber es ist bestimmt auch noch was in den Schränken in deinem Zimmer. Ich kann dir suchen helfen, wenn du willst.“ Und dieser Tonfall klingt viel mehr wie eine Feststellung als wie ein Angebot.

„Das ist nicht nötig“, sage ich abwinkend, „lass deine Gäste nicht alleine.“

„Ingrid“, ruft er mit der gleichen Kälte in seiner Stimme, als ich schon in der Tür stehe. „Es ist nicht immer gut, nach Dingen zu suchen, die vergangen sind.“

Dazu habe ich nichts zu sagen. Ich drehe mich um und gehe durch den Flur die Treppe zu meinem alten Kinderzimmer hinauf, in dem ich nicht lange verweilen will und deswegen rasch die paar wenigen Schränke durchsuche, in denen tatsächlich noch viele Sachen verborgen sind, an die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe. Einige Dinge bleiben völlig fremd, durch ein paar andere wird eine bunte, farbenprächtige Erinnerung aufgeschlagen, wie ein lange verschwundenes Kinderbuch. Nach wenigen Minuten wird jedoch schnell klar, dass das, was ich suche, hier nicht zu finden ist. Ich nehme nichts mit, schließe alle Schränke und mache mich wieder auf den Weg nach unten, wo ich meine Suche im Keller fortsetze.

Der Keller ist sehr gut beleuchtet und unglaublich aufgeräumt. Nichts erinnert hier an düstere, verwinkelte Räume, in denen alles Mögliche lauern könnte. Ich finde schnell die Kartons, die Frederik mir beschrieben hat, und beeile mich mit dem Durchsuchen, weil sich hier unten die Kälte und noch etwas Anderes, was ich nicht greifen kann, an mich heranschleicht und mich auf einmal fest im Griff hat. Ganz plötzlich muss ich mich anstrengen, um genug Luft zu bekommen, merke, wie ich vor Kälte fast anfange zu zittern und den letzten Karton mit immer ruckartigeren Bewegungen durchsuche. Nichts. Dieses beklemmende Gefühl wird so stark, dass es mir jetzt völlig egal ist, auch hier nichts gefunden zu haben.

Ich beeile mich, die Kartons zu verschließen und das Licht hinter mir auszumachen, als ich zur Treppe gehe. Ich bemühe mich, nicht zu rennen, schaffe das auch, indem ich auf meine Füße sehe und konzentriert einen Fuß nach dem anderen auf die Stufen setze. Es ist niemand im Flur, als ich oben ankomme, also erlaube ich mir, mich kurz am Treppengeländer aufzustützen und tief auszuatmen, bis das Zittern verschwindet.

„Hast du alles gefunden?“

Erschrocken fahre ich herum und sehe Frederik im Halbdunkel hinter mir auf der Treppe, die weiter nach oben führt, stehen.

Er steht nur da und schaut mich an, und ich kann in diesem Moment unmöglich sagen, warum ich dieses Nichtstun, dieses Stehen und Schauen als Bedrohung empfinde, aber ich bin mir sicher, genau das ist es, eine Drohung, etwas, das sehr ernst gemeint ist.

„Nein“, sage ich und gehe ohne ein weiteres Wort zu sagen wieder ins hell erleuchtete Wohnzimmer.

Trotz mittlerweile fortgeschrittener Stunde hält sich meine Mutter ganz gut. Ihre Gesten sind ein bisschen fahriger, wenn man genau hinsieht, sitzt ihr Lächeln irgendwie schief im Gesicht und der Tonfall, mit dem ich sie jetzt zu der hilflosen Frau Schröder sagen höre „So ist es eben nicht“, ist ein bisschen zu bestimmt und zu laut. Ich lächele Frau Schröder aufmunternd entgegen, als ich meiner Mutter jetzt mit gedämpfter Stimme ins Ohr flüstere, dass ich gleich gehen werde.

„Ja“, sagt sie, „aber du musst noch ein paar Minuten warten, ich glaube ich habe noch etwas für dich.“ Damit verschwindet sie aus dem Wohnzimmer, und ich mache mich daran, im Flur meinen Mantel zu suchen.

Fertig angezogen sehe ich mich auf einmal wieder Frederik gegenüber, und schon wieder fühlt es sich beklemmend an, seine Anwesenheit hier im Flur auszuhalten. Als ich mich schon fast dazu entschieden habe, nicht mehr zu warten und einfach zu gehen, kommt meine Mutter mit jetzt doch deutlich unsicherem Gang die Treppe herunter.

„Hier“, sagt sie und drückt mir einen Kuss auf die Wange, als sie mir die kleine braune Schachtel in die Hand drückt, die sie mit herunter gebracht hat. Ich kann nur „Danke“ sagen, und dass es ein netter Abend war, bevor ich draußen im Dunkeln endlich wieder das Gefühl bekomme, richtig atmen zu können.

Das Auto muss ich stehen lassen, zu viele Martinis. Da es dort, wo es steht aber mindestens drei andere Wagen blockiert, fahre ich das Auto noch die paar Meter vom Hof Richtung Straße und parke es in der nächsten Nebenstraße in der ersten Parklücke, die ich entdecken kann. Ich packe die Schachtel in meine Tasche und mache mich auf den Weg zur Hauptstraße, wo ich überraschend schnell ein Taxi anhalten kann.

Ungefähr zwanzig Minuten später sitze ich zuhause im Dunkeln auf dem Sofa, und in einem merkwürdig unentschlossenen Schwebezustand kann ich mich weder dazu entschließen, einfach hier und jetzt einzuschlafen noch das Licht anzumachen. Erst als mir die Schachtel einfällt, die mir meine Mutter gegeben hat, schaffe ich es, noch einmal in den Flur zu gehen und meine Tasche zu holen.

Immer noch im Dunkeln setze ich mich wieder auf das Sofa, öffne die Schachtel und hole ein paar Kinderschuhe hervor. Das Leder fühlt sich weich an unter meinen Fingern und warm, ein Schnürsenkel ist abgerissen. Ich streiche behutsam mit den Fingern über die leicht erhabene Stelle an der Außenseite, dort, wo die Biene ist, die jetzt im Dunkeln nur wie ein schwarzer Fleck aussieht. Die Schuhe fühlen sich gut an in meinen Händen, ganz sicher und vertraut, wie ein altes Kuscheltier aus Kindheitstagen, mit dem man sehr viele Nächte verbracht hat.

Jetzt schalte ich das Licht doch an, und ich sehe, dass die Schuhe genau den schönen, warmen Braunton haben, an den ich mich so gut erinnere. Aber als ich den linken Schuh umdrehe, sehe ich etwas ganz anderes. Ungläubig drehe ich jetzt auch den rechten Schuh um und halte jetzt beide Schuhe in den Händen.

Ich blicke auf zwei unterschiedlich aussehende Marienkäfer. Dort, wo jetzt eine Biene sein müsste, sehe ich rechts einen kleinen, gut gelaunten Marienkäfer mit einer Blume in der Hand und links einen ebenso gut gelaunten Marienkäfer mit einem Sonnenhut auf dem Kopf.

Ich merke, dass mir schwindelig wird, während ich weiter auf die beiden Schuhe starre, und auch jetzt, als ich die Augen schließe, beginnt sich die Dunkelheit hinter meinen Augen sanft zu drehen. Diese Dunkelheit begleitet mich zurück, vierunddreißig Jahre zurück in ein Kinderzimmer, in dem ich auf dem Bett sitze und die Beine baumeln lasse, in dem ich auf meine Geburtstagsschuhe schaue und nicht mehr weiß, ob ich dort eine Biene, einen Marienkäfer oder gar nichts mehr sehe.

Diese Nacht ist lang und nicht schön. Mir wird übel und ich weiß nicht, ob von meinen eigenen Gedanken oder von zu viel Martini, der sich nicht mit meinen geschlossenen Augen verträgt.

Als ich mich im Bad übergeben habe und noch einen Moment auf den weißen Fliesen an die Badewanne gelehnt sitzen bleibe, fällt mir das Atmen wieder schwer, und ich merke, wie mir die Tränen übers Gesicht laufen.

Ich habe das deutliche Gefühl, dass mir irgendetwas entgleitet heute Nacht. Ich weiß nicht was, aber etwas, was ich brauche, ohne das die Dinge bodenlos sind, verschwindet gerade, ist nicht mehr an seinem Platz.

Ich schaffe es schließlich, mir den Mund auszuspülen und zurück ins Wohnzimmer zu gehen.

Ich rufe Frank an. Ich brauche jetzt jemanden, dem ich vertrauen kann und jemanden, der mir ein paar Fragen beantworten kann.

Nach minutenlangem Läuten hebt Frank mit verschlafener, halb gelähmter Stimme ab und erklärt mir sofort, dass das kein Wunder sei um halb drei Uhr nachts. Ich sage, dass ich ihn dringend sprechen, am liebsten sogar treffen möchte und dass es wirklich wichtig sei, aber das passt Frank um halb drei Uhr nachts schlecht, es sei denn ich wäre gerade mitten in einem Notfall.

Franks Stimme bringt mich wieder etwas mehr in die Realität zurück, und die Realität ist, dass Übelkeit auf dem Sofa kein Notfall ist. Also entschuldige ich mich für den späten Anruf, und wir verabreden uns für den nächsten Nachmittag.

Ich versuche, mich zu beruhigen. Es ist gut, Rituale zu haben. Ausziehen, Zähne putzen, Tee kochen, all das ist irgendwie beruhigend. Als ich mit dem Tee auf dem Weg ins Bett bin, nehme ich eine gerahmte Fotografie mit, die sonst im Bücherregal neben dem Schreibtisch steht und die ich jetzt lange und genau betrachte.

Auf dem Foto ist mein Vater zu sehen, der auf der Terrasse umgeben von Werkzeug auf dem Boden hockt und anscheinend irgendetwas repariert, das man nicht genau erkennen kann. Ich weiß nicht mehr, wer das Foto gemacht hat, aber offensichtlich ist er vom Fotografen überrascht worden, weil er sich gerade in dem Moment mit einem erstaunten Gesichtsausdruck umdreht. Ich habe dieses Bild immer gemocht, weil dieses Erstaunen so echt und so unmittelbar aussieht, dass auf seinem Gesicht überhaupt kein Platz mehr für irgendetwas Beherrschteres war.

Wenn ich die Augen schließe, kann ich mich an all die kleinen Details auf dem Foto erinnern. Ich weiß, welche Farbe sein Hemd hat und welches Werkzeug um ihn herum liegt. Ich weiß, dass man im Hintergrund ein Tulpenbeet sieht.

Aber an meinen Vater, daran, wie er war, wie er sich bewegte, wie er mit mir sprach, wie sich seine Stimme anhörte, daran erinnere ich mich kaum. Er ist wie ein Phantom, das mir jedes Mal durch die Finger gleitet, wenn ich versuche, mich wirklich an ihn zu erinnern. Dann wird alles so unscharf, dass meine Erinnerung keinen Halt findet, sich kaum an einem konkreten Moment, den ich mit ihm erlebt habe, oder an einer immer wiederkehrenden Geste festhalten kann.

Ich war elf, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und es ist eine traurige Ironie, dass die einzigen, wirklich deutlichen Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, jene sind, die mich an den Tag erinnern, an dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Die Erinnerung ist das Einzige, was bleibt, das sagt man doch. Aber was tut man, wenn man die einzige klare Erinnerung an einen Menschen seit vierunddreißig Jahren am liebsten vergessen würde, aber gleichzeitig auch davor Angst hat. Denn dann ist er endgültig verschwunden, dann existiert er nur noch auf Fotos, aber nicht mehr in mir.

Wir treffen uns bei Frank zuhause. Das ist gut, denke ich, gut von Zuhause raus zu kommen, und außerdem habe ich Franks Wohnung immer gemocht.

Schlicht und schön ist es da; die sparsamen Möbelstücke strahlen etwas Warmes und Behagliches aus, als würde diese Wohnung darauf warten, dass es sich Menschen darin gemütlich machen.

Frank macht es sich allerdings meistens alleine gemütlich, was ihm von Zeit zu Zeit mal mehr und mal weniger auszumachen scheint. Ich kenne ihn schon lange, schon seit den letzten Schuljahren. Und so lange ich ihn auch kenne, hat er in all den Jahren nie eine Beziehung gehabt, von der ich gewusst habe und vermutlich nie eine, die es sich mit ihm zusammen in dieser schönen Wohnung hätte gemütlich machen wollen.

Frank arbeitet im Krankenhaus, aber als Neuropsychologe glücklicherweise nicht im Schichtdienst, so dass sein Leben, glaube ich, alles in allem recht gleichmäßig vonstatten geht.

Als ich jetzt mit Frank schon bei der dritten Tasse Kaffee in seinem Wohnzimmer sitze, sieht er mich ernst und nachdenklich an.

„So funktioniert es nicht, Ingrid“, sagt er jetzt. „Erinnerungen sind keine Kopien von Dingen, die wir mal erlebt haben. Erinnerungen sind nicht neutral, wir verbinden sie immer mit Empfindungen und Bedeutungen. Wir halten in unseren Erinnerungen fest, wie wir Ereignisse erlebt haben, und das muss nicht immer genau mit der Realität übereinstimmen.“

Seine Stimme ist angenehm und ganz ruhig, als er fortfährt. „Und ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass es in erster Linie darum geht, ob unsere Erinnerungen in jedem Detail den Dingen entsprechen, wie sie tatsächlich gewesen sind. Auch nicht bei dir“, fügt er jetzt etwas leiser hinzu. „Manchmal kommt es mehr darauf an, wie stark die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst und ob dieser Einfluss gut für uns ist oder nicht.“ Er setzt die Kaffeetasse ab und sieht mich wieder an. „Wie lange ist das alles jetzt her? Fünfunddreißig Jahre?“

„Vierunddreißig“, antworte ich. „Letzten Monat waren es vierunddreißig Jahre. Frank, ich weiß selber nicht genau, was ich von dir jetzt eigentlich wissen will und warum mich ein Paar Kinderschuhe so aus der Bahn wirft.“

„Doch, ich glaube ich weiß, was du von mir willst und auch warum, aber das ist nicht möglich.“

Es muss sich angenehm anfühlen, Franks Patient zu sein, denke ich und frage mich gleichzeitig, ob seine Patienten überhaupt in einem Zustand sind, solche Gedanken haben zu können. Ich weiß es nicht.

Mit immer noch ganz ruhiger Stimme fährt er fort. „Die Erinnerungen an unser Leben, an unsere Autobiografie, machen wir zur Grundlage für unser ganzes Selbstverständnis, zum Gerüst für unsere ganze Identität. Es muss sich zwangsläufig beängstigend anfühlen, wenn uns das Gefühl, dass die eigene Identität ausreichend zusammengehalten wird, verloren geht. Und manchmal reicht da eine Kleinigkeit, um dieses Empfinden auszulösen. Und dann geht es los. Dann fragen wir uns automatisch: Wenn ich eine Kleinigkeit falsch im Gedächtnis habe, was ist dann mit andern Dingen, mit größeren Ereignissen, mit bedeutsameren? Kann ich Personen verwechseln, wenn ich Bienen und Marienkäfer durcheinander bringe? Waren die Ereignisse meines Lebens so, wie ich sie erinnere? Wie kann ich sicher sein? Und haben nicht all diese großen und kleinen Ereignisse in meinem Leben zu dem geführt, was ich heute bin? Was bedeutet es, wenn vielleicht nur die Hälfte tatsächlich so geschehen ist, und gibt es keine Methode, keine Wissenschaft, die in der Lage wäre, richtige von falschen Erinnerungen trennen zu können? Und die Antwort darauf lautet: Nein. Gibt es nicht.“

Er hat recht. Genau das ist es, was ich seit gestern Nacht empfunden habe, und genau das ist es, was ich eigentlich will. Jemanden oder etwas, das in der Lage ist, Ordnung zu schaffen. In meinen Erinnerungen aufzuräumen, Richtiges von Falschem zu trennen, zu korrigieren, gerade zu rücken, was offensichtlich schief geraten ist. Bienen gegen Marienkäfer auszutauschen und wer weiß, was noch alles an den richtigen Platz zu rücken.

„Was soll das heißen, das gibt es nicht? Irgendwie muss es doch möglich sein herauszufinden, ob die Dinge wirklich so passiert sind, wie man sich an sie erinnert.“

„Nein“, Frank schüttelt langsam den Kopf. „Unsere Gefühle kommen uns in die Quere. Ich weiß, du fragst dich, wie kann eine bestimmte Erinnerung so genau und detailliert und trotzdem falsch sein. Aber unsere Wahrnehmung ist beeinflussbar, verändert sich, wenn wir Angst haben, uns freuen, wenn wir verliebt sind oder enttäuscht. Durch all das verändert sich die Art, wie wir wahrnehmen, wird angreifbar für Fehler, empfänglich für das, was wir uns wünschen, für das, was wir nicht wahrhaben wollen. Aus unseren Wünschen können im Kopf Bilder entstehen. Bilder können sich mit Erinnerungen vermischen, und auf einmal können wir nichts mehr voneinander unterscheiden. Aber das ist meistens auch gar nicht wichtig, weil wir uns dann diese Frage gar nicht mehr stellen, weil diese Bilder dann bereits zu dem geworden sind, was unsere Erinnerung ist, und die Tatsache, dass das keine Kopie der Realität ist, spielt dann keine Rolle mehr.“

„Ingrid“, Frank sieht mich traurig und wirklich mitfühlend an, als er jetzt weiterredet. „Ich weiß, warum dir das alles so wichtig ist. Aber du warst elf Jahre alt, als es passiert ist, das ist vierunddreißig Jahre her. Du warst ein Kind und zwar ein Kind, das Angst hatte, das einem enormen Druck ausgesetzt war, von dessen Aussage unglaublich viel abhing.“

„Was willst du damit sagen? Dass es unter solchen Umständen gar nicht möglich ist, sich richtig zu erinnern?“

„Ich will damit sagen, dass jeder Mensch, jedes Kind unter solchen Umständen beeinflussbar ist und labil und dass ich nicht weiß, wie wir heute herausfinden sollen, was damals tatsächlich passiert ist und ob es mit den Erinnerungen in deinem Kopf übereinstimmt.“

„Das weiß ich auch nicht, ich dachte es gäbe einen Weg.“

Ich habe lange nicht mehr daran gedacht, an diesen Tag, der das Leben von uns allen so sehr veränderte. Das ist eigentlich merkwürdig. Man denkt doch, wenn etwas wirklich Schlimmes passiert, etwas, das einem wirklich den Boden unter den Füßen wegzieht, dass man dann für den Rest seines Lebens jeden Tag daran wird denken müssen. Aber das ist nicht so. Auch das wirklich Schlimme verblasst, schleicht sich nicht mehr jede Stunde und irgendwann auch nicht mehr jeden Tag in die Gedanken. Es ist nicht direkt ein Vergessen, es wird einfach zu etwas, das sich einreiht in eine lange Reihe anderer Ereignisse und Erlebnisse. Etwas, das zwar da ist, das aber den Griff ums alltägliche Bewusstsein gelockert hat, so dass es irgendwann, nach vielen Jahren, besonderer Umstände bedarf, um die Erinnerung wachzurufen. Ein Paar Kinderschuhe vielleicht oder einen Besuch im Elternhaus.

Als ich mit der Bahn von Frank wegfahre, schaffe ich es nicht, einen Umweg zum Haus meiner Eltern zu machen, um mein Auto abzuholen, das immer noch in einer der Nebenstraßen geparkt ist. Die letzte Nacht steckt mir in den Knochen, macht mir die Glieder schwer und lässt die Augen brennen. Mittlerweile ist es Sonntagabend, und es sind nicht mehr all zu viele Stunden, die mich vom alltäglichen Stress, der am Montagfrüh beginnt, trennen. Also beschließe ich, das Auto morgen nach der Arbeit zu holen und mich jetzt so schnell es geht in meine Wohnung zurückzuziehen.

Ich möchte gerne mit meinen Gedanken und Erinnerungen alleine sein und befürchte gleichzeitig, dass mir das nicht unbedingt gut tun wird. Und trotzdem braucht man manchmal genau das. Dann ist es das Richtige, einzutauchen in etwas Trauriges, Schmerzvolles, um dann wieder aufzutauchen und sich davon zu entfernen.

Ich muss nicht lange warten, bis mich die Erinnerung überwältigt, als ich schließlich zuhause bin und mich in der dunklen Wohnung an meinen Schreibtisch setze.

Wenn ich die Vorhänge nicht zugezogen habe, kann ich auf die Straße vor dem Haus blicken und die Sonntagabendheimkehrer beobachten, wie sie Parkplätze suchen oder ihre müden Kinder hinter sich herziehen. Ein ruhiges, müdes Treiben, das mich wie eine Art Hintergrundmusik begleitet, als ich jetzt an jenen Tag vor vierunddreißig Jahren zurückdenke.

Es war einige Wochen nachdem ich einen so unerwarteten Einblick ins Schlafzimmer meiner Eltern bekommen hatte, dort aber nicht meine Eltern, sondern meine Mutter und Paula vorgefunden hatte.

Weder meine Mutter noch Paula hatten in den Tagen und Wochen, die folgten, den Versuch unternommen, mit mir darüber zu reden, und auch meinem Vater war nicht anzumerken, ob er das gleiche Geheimnis teilte wie wir. Es war, als hätte man etwas Verbotenes gesehen, von dem man, je mehr Zeit verging, umso weniger sicher sein konnte, ob es tatsächlich passiert war. Doch das war es. Aber das wurde erst knapp zwei Monate später klar, dass hier etwas passiert war, dessen Ausmaß zunächst wohl niemandem außer meinem Vater bewusst war. Etwas, das nicht rückgängig und nicht wieder gut zu machen war. Etwas, das für meinen Vater alle Grenzen überschritten und gleichzeitig auch für ihn außer Kraft gesetzt hatte. Etwas, wodurch es keine Regeln mehr gab.

Meine Mutter gab später zu, schon eine längere Affäre mit Paula gehabt zu haben, aber auch sie konnte nicht erahnen oder wissen, an welchem Punkt mein Vater begann mitzubekommen, was in seinem Haus vorging, wenn er nicht da war.

Es war spät am Abend, ich lag schon lange im Bett und hatte schon geschlafen, weil ich am nächsten Tag in die Schule musste. Noch im Halbschlaf hörte ich irgendwann laute und aufgeregte Stimmen aus den Räumen im Erdgeschoss kommen.

Ich weiß, dass meine Eltern Paula zu Besuch hatten und irgendeinen Freund meines Vaters, den ich nicht kannte. Mein Vater hatte zum Abendessen eingeladen und sogar selber gekocht. Ich hatte mit den Erwachsenen zusammen zu Abend gegessen, es hatte Fisch gegeben, das weiß ich noch, weil ich es kompliziert und anstrengend fand, die ganze Zeit nach Gräten zu suchen.

Der Freund meines Vaters war fast direkt nach dem Essen gegangen, und ich musste nur wenig später Zähne putzen und ins Bett gehen. An mehr kann ich mich von diesem Abendessen nicht erinnern. Ich weiß nicht mehr, ob es verschwörerische Blicke zwischen Paula und meiner Mutter gab oder zweideutige Andeutungen von meinem Vater, die hätten erkennen lassen können, dass er sehr genau wusste, dass er nicht nur die beste Freundin seiner Frau eingeladen hatte, sondern auch ihre Geliebte.

Die Stimmen wurden immer lauter, während ich noch im Bett lag. Jetzt hörte ich auch deutlich, dass irgendetwas zu Boden fiel und kaputt ging.

Ich wusste, dass es nicht gut war, aufzustehen und hinunter zu gehen, ich wusste, dass ich hier oben in meinem Bett eine sichere Höhle hatte, und dass es falsch war, dieses Versteck zu verlassen. Aber ich konnte nicht anders.

Ich öffnete die Tür meines Kinderzimmers und schlich barfuß und im Schlafanzug leise ein paar Schritte den Flur entlang bis zur ersten Treppenstufe, die nach unten führte. Mit dem Öffnen der Tür waren die Stimmen schlagartig noch lauter geworden, und jetzt hörte ich auch das Weinen meiner Mutter deutlich heraus. Die Stimmen von Paula und meinem Vater schrien gerade laut durcheinander, als ich vorsichtig die ersten Treppenstufen nach unten schlich, bis ich sehen konnte, wie meine Mutter weinend vor dem Fenster stand und sich die Hand vor die Augen hielt.

Ich sehe ganz deutlich, wie mein Vater ausholt und seine rechte Hand Paula mitten ins Gesicht trifft. Paula taumelt zurück, fängt sich aber wieder und hält sich die Hand vor die blutende, aufgeplatzte Lippe. Meine Mutter schreit auf, als sie Paula so sieht, will zu ihr stürzen, aber mein Vater hält sie zurück und stößt sie in die andere Ecke des Zimmers, von Paula weg.

Ich werde nie diesen Blick vergessen, mit dem sich meine Mutter und Paula jetzt ansehen. Ein Blick, der sagt, dass hier gerade alles außer Kontrolle gerät, ein Blick, der darum weiß, dass jetzt alles möglich ist, weil alle Regeln außer Kraft gesetzt sind. Etwas muss geschehen.

Mein Vater dreht sich zum Schreibtisch um, der an der rechten Wand des Wohnzimmers steht, ungefähr dort, wo sich meine Mutter gerade befindet, und dreht Paula damit den Rücken zu.

Als sich Paula jetzt umdreht und zu dem Kaminhaken greift, der hinter ihr an der Wand hängt, tropft ihr ein bisschen Blut von ihrer Lippe auf den Boden, und ich denke, dass diese dunklen Flecken auf dem dunklen Teppich genauso aussehen, als würde ich mit Kakao vor dem Fernseher auf den Boden kleckern. Das weiß ich noch, dass mich das erstaunt hat.

Genau in dem Moment, als mein Vater die Schreibtischschublade öffnet und hineingreift, trifft ihn der Kaminhaken am Hinterkopf, und er fällt sofort seitlich zu Boden. Einen langen Moment geschieht gar nichts, bis Paula den Kaminhaken endlich fallen lässt und sich vorsichtig über meinen Vater beugt. Ich kann von hier aus sehen, dass sein Hinterkopf feucht und strähnig vom Blut ist.

Paula fasst ihn jetzt fest an der Schulter und dreht ihn mit einer einzigen kräftigen Bewegung auf den Rücken. Im gleichen Moment öffnet mein Vater die Augen und sieht Paula an. Wieder scheint die Zeit sich zu verlangsamen, und der Moment, in dem nichts geschieht, außer dass mein Vater Paula ansieht, dehnt sich aus und schließt uns alle in ein Vakuum ein, in dem es keine Luft mehr zum Atmen gibt. Merkwürdig, dass ein einzelner Augenblick das kann, die Zeit anhalten.

Das Vakuum wird von einem Schuss durchbrochen, als mein Vater abdrückt. Paula wird sofort nach hinten geschleudert. Als sie fällt, prallt sie erst gegen den Couchtisch und landet dann seitlich davon auf dem Boden. Die Kugel hat ein Loch in ihre linke Schläfe gerissen, aus dem jetzt erstaunlich schnell sehr viel Blut auf den Teppich fließt. Schnell sammelt sich eine große, triefende Pfütze um ihren Kopf herum, die den Teppich jetzt glänzend und tief schwarz färbt und keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Kakaoflecken hat.

Niemand sagt etwas, niemand schreit. Es ist jetzt ganz still im Haus. Ich stehe immer noch auf der Treppe und spüre jetzt, wie ich vor Kälte zittere. Erst nach einer Weile höre ich wieder etwas, als meine Mutter die Hand vor den Mund schlägt und „Oh Gott“ sagt, als sie mich auf der Treppe stehen sieht.

Es war Frederik, der sich in dieser Nacht um mich kümmerte. Ich weiß nicht, ob meine Mutter Frederik anrief, weil er so ein enger Freund war oder weil sie ihre Tochter vorsorglich lieber gleich in die Hände eines Psychiaters geben wollte.

Als mich Frederik aus meinem Zimmer holte, vielleicht ein oder zwei Stunden später, war Paula vom Wohnzimmerteppich verschwunden und nicht nur das, ein großes Stück Teppich war bereits auch verschwunden.

Meine Eltern hatten an der Fensterwand des Wohnzimmers angefangen, den gesamten Teppich zu entfernen, waren aber noch nicht bis zu der dunklen Pfütze neben dem Couchtisch gekommen, von der ich nicht die Augen abwenden konnte, als ich mich am Treppengeländer festhielt. Ich weiß nicht mehr warum, aber ich weiß, dass ich diesen Ort nicht verlassen wollte, dass ich nicht mit Frederik aus dem Haus gehen wollte. So fest ich konnte klammerte ich mich ans Treppengeländer, bis meine Mutter und Frederik schließlich meine Finger vom Geländer lösten und mich zur Haustür zogen.

Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe, verschwitzt, mit von Blut verschmierten Haaren, wie er sich mit einem Stück Teppich in der Hand immer mehr der schwarzen Pfütze auf dem Boden nähert.

Mein Vater war in dieser Nacht für immer aus meinem Leben verschwunden. Meine Mutter gab später an, er habe Paula, nachdem er sie erschossen hatte, in ein Stück des Teppichs gewickelt und in den Kofferraum seines Autos gebracht. Nachdem er alle Telefonleitungen im Haus durchtrennt hatte, habe er zwei Taschen mit seinen wichtigsten Sachen gepackt, alles Bargeld eingesteckt, das sich im Haus befand, und sei dann im Auto mit der Leiche verschwunden.

Meine Mutter gab weiter an, dass sie unter Schock stehend und aufgrund der durchgeschnittenen Telefonleitungen nicht eher die Polizei hatte rufen können. Außerdem sei ihr Mann immer noch im Besitz der Waffe gewesen, mit der er kurz zuvor ihre Freundin erschossen hatte.

Nichts von all dem tauchte jemals wieder auf, weder das Auto noch Paulas Leiche noch mein Vater.

Die Polizei vermutete, Auto und Leiche seien in einem der zahlreichen Gewässer in der Umgebung versenkt worden, aber trotz intensiven Suchens wurde man nicht fündig. Man nahm an, meinem Vater sei es eventuell gelungen, ins Ausland zu fliehen, hielt das aber für weniger wahrscheinlich als die Vermutung, er habe sich selbst das Leben genommen, nicht mehr in der Lage, mit dem Verlust seiner Familie und seiner Schuld zu leben.

Das habe ich mir nie vorgestellt. Wenn ich an meinen Vater denke, stelle ich mir immer vor, dass er noch lebt, irgendwo. Und ich habe auch nie geglaubt, dass er irgendetwas bereuen würde. Ich habe ihn lange vermisst. Ich habe die Tragweite der Ereignisse erst nach und nach begriffen, verstanden, dass er nicht zurückkommen würde, dass das Warten ein Warten ohne Ziel war. Jetzt ist er ein Gespenst, das durch meine Kindheit schleicht, das immer entwischt, wenn ich nach ihm greifen will, das nur dann ganz deutlich und klar wird, wenn ich an diese Nacht vor vierunddreißig Jahren zurückdenke.

Zwei schlaflose Nächte hintereinander scheinen mir einfach rein physisch nicht mehr möglich zu sein. Also schlafe ich spät am Abend erschöpft ein und wache am nächsten Morgen beinahe genauso erschöpft auf.

Müde quäle ich mich durch einen relativ ereignislosen Arbeitstag, breche sehr rechtzeitig vom Büro auf, weil der Umweg zum Haus meiner Eltern, wo immer noch mein Auto geparkt steht, nicht gerade kurz ist. Ich beschließe, schnell bei meiner Mutter und Frederik vorbeizuschauen, um wenigstens zu sagen, dass es ein netter Geburtstagsabend war, und um mich bei meiner Mutter für die Schuhe zu bedanken, die sie mir herausgesucht hatte.

Das Haus wirkt auf den ersten Blick unbeleuchtet, als ich über die Einfahrt auf die Vordertür zugehe. Vor dem Haus stehen jedoch die Autos von Mutter und Frederik und, abgesehen davon, ein mir fremder, dunkler Mercedes.

Alle Fenster, die man von der Einfahrt aus sehen kann, sind dunkel, sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock. Also sitzen die beiden mit ihrem Gast aus unerfindlichen Gründen entweder im Dunkeln oder halten sich an diesem kühlen Herbstabend im Garten auf. Beides erscheint unwahrscheinlich und seltsam. Seltsam genug, dass ich ohne zu läuten um das Haus herum gehe und zunächst einen Blick in den Garten werfen will.

Der Garten liegt still und dunkel da, so still, dass ich das Herbstlaub unter meinen Füßen höre.

Die Gardinen sind zugezogen, aber man kann erkennen, dass dahinter in der Küche ein schwaches Licht brennt und sich Personen hinter der Gardine hin und her bewegen. So lange ich denken kann, war die Gardinenstange schon immer ein kleines bisschen kürzer als die große Fensterfront zum Garten hin. Merkwürdig eigentlich, dass das in all den Jahren nie geändert wurde.

Ich stelle mich rechts neben das Fenster, ganz dicht an die Hauswand, so dass ich vorsichtig durch den kleinen Spalt zwischen Gardine und Küchenwand sehen kann und sich jemand von der anderen Seite schon genauso dicht ans Fenster stellen müsste, um mich sehen zu können. Ich merke die Kälte der Hauswand an Rücken und Schulter, während ich jetzt so dastehe und versuche, etwas durch diesen kleinen Spalt erkennen zu können.

Ich sehe Frederik mit dem Rücken zu mir stehend, energisch gestikulierend, redend. Wenn ich meinen Kopf noch ein wenig weiter drehe, sehe ich auch den Oberkörper und den Kopf meiner Mutter, wie sie an der Spülmaschine lehnt und in die Richtung starrt, in der noch eine dritte Person steht, die ich aber nicht sehen kann. Meine Mutter sieht nicht gut aus. Sie ist bleich im Gesicht und hat dunkle Ränder unter den Augen. Sie bewegt sich kaum, starrt nur vor sich hin.

Am Schatten, der sich hinter dem Vorhang bewegt, ist deutlich zu erkennen, dass die dritte Person im Zimmer auf und ab geht, aber nie weit genug in mein kleines Sichtfeld kommt, um sie erkennen zu können.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich meine Mutter jetzt zur Spüle umdreht und ein Glas mit Wasser füllt. Als sie das Glas mit einer zitterigen Bewegung zum Mund führen will, rutscht es ihr aus der Hand, und das Geräusch, als es auf dem Boden zersplittert, ist so laut, dass ich es sogar hier draußen höre. Meine Mutter bückt sich zu den Scherben hinunter, und jetzt kommt mit einer schnellen Bewegung die dritte Person ins Bild, bückt sich jedoch ebenfalls sogleich zu Boden, so dass ich nur kurz einen Blick auf die langen, grauen Haare einer Frau mit kräftiger Statur erhaschen kann. Als sie mit der Hand voller Scherben wieder hochkommt und ich ihr Gesicht sehen kann, bin ich wie erstarrt. Diesen Blick, diese Augen erkenne ich in der Sekunde, in der ich sie sehe, nur dass ich gerade etwas sehe, was eigentlich nicht möglich sein kann. Ich sehe ein Gespenst. Ein Gespenst, das seit Jahrzehnten ein Loch im Schädel haben sollte, dessen Blut ich vor vierunddreißig Jahren unseren Teppich habe schwarz färben sehen. Ich sehe das um vierunddreißig Jahre gealterte Gesicht von Paula, da gibt es nicht den geringsten Zweifel.

Stocksteif und frierend stehe ich noch einen Moment länger an die Wand gelehnt da und merke, wie mir langsam die Übelkeit die Kehle empor kriecht, wie ein pelziges, uraltes Tier, das sich den Weg nach draußen sucht. Ich drücke mir die Hand vor den Mund, um mich nicht gleich hier an Ort und Stelle übergeben zu müssen und damit mir kein sonst wie gearteter Laut entfährt. Ich will schreien und losrennen, aber irgendwie schaffe ich es, meinen Körper zu beherrschen und mit einer Hand vor den Magen und mit der anderen vor den Mund gepresst, langsam und fast geräuschlos durch den Garten zurück zur Einfahrt zu gehen.

Aber hier schaffe ich es nicht mehr, mich zurückzuhalten, renne los mit einem schon säuerlichen Geschmack im Mund, bis ich mich eine Minute später vor meinem Auto übergeben muss. Nicht nur mein Magen und meine Kehle, mein ganzer Körper krampft sich zusammen und wird minutenlang von einem mir endlos vorkommenden Würgen geschüttelt. Als ich es schaffe, in den Wagen zu steigen, sitze ich schweißüberströmt und zitternd da und fühle mich, als hätte jegliche Kraft meinen Körper verlassen. Mein Kopf ist leer. Zusammenhängende Gedanken gibt es nicht. Nur dieses Gespenst, dieses Gesicht in meinem Kopf.

Ich muss zu Frank. Das ist der einzige Gedanke, den ich jetzt klar erkenne. Frank muss mir helfen, mit dem, was ich gerade gesehen habe, irgendetwas anzufangen, irgendetwas Rationales, Klares, Kühles, was mich nicht verschluckt wie ein schwarzes Loch.

Die Autofahrt ist unruhig und unsicher. Ich kann mich kaum konzentrieren, aber es gelingt mir irgendwie, ohne Unfall vor Franks Haus zu parken. Als er überrascht die Tür öffnet, gehe ich ohne ein Wort zu sagen mit schnellen Schritten an ihm vorbei, direkt ins Bad, wo sich dieses würgende Geschüttel und Gezerre an meinen Eingeweiden wiederholt.

Dann liege ich verschwitzt und immer noch zitternd auf Franks Couch, in eine Wolldecke gehüllt, und ich versuche, langsam und ruhig ein- und auszuatmen, bis das Zittern endlich verschwindet.

„Es ist etwas passiert“, fange ich an zu erzählen und halte mich an Franks besorgtem Gesicht fest, während ich ihm jetzt berichte, was ich gerade eben gesehen und erlebt habe.

Als ich fertig bin, ist sein Gesichtsausdruck nur noch besorgter geworden.

„Ich weiß, die Frage wirst du jetzt nicht gerne hören, aber bist du dir wirklich absolut sicher, dass diese Frau Paula war? Schließlich hast du sie seit vierunddreißig Jahren nicht gesehen.“

„Ich bin mir sicher. Ich war mir in der ersten Sekunde sicher, als ich sie gesehen habe. Alles an dieser Frau ist Paula, die Augen, die Haare, der Rücken, die Art, wie sie sich da in der Küche bewegt hat. Ich bin mir absolut sicher. Paula lebt, Frank, aber wie kann das möglich sein, nach all dem was damals passiert ist, wie kann man so etwas denn überleben?“

„Ja“, sagt Frank jetzt. „Und wenn du recht hast, ist das nicht die einzige Frage. Was hat dein Vater mit ihr gemacht, als er mit ihr weggefahren ist, warum hat sie nie Anzeige erstattet, und wo war sie in all den Jahren, warum ist sie nie wieder aufgetaucht?“

„Und warum taucht sie jetzt, nach vierunddreißig Jahren zum ersten Mal wieder auf?“, frage ich mich.

„Vielleicht war es ja gar nicht das erste Mal.“

In dem Schweigen, das jetzt entsteht, fühlt es sich so an, als würde sich irgendetwas im Dunkeln an uns heranschleichen. Etwas Gerissenes und Verschlagenes, das langsam seine Netze über uns auswirft und diese allmählich zuzieht. Es ist, als würde ich aus dem Dunkeln heraus von etwas beobachtet, das ich selber nicht sehen kann.

Frank kneift die Augen zusammen, um sich besser konzentrieren zu können.

„Was ist, wenn Paulas Verletzung damals gar nicht so stark war, wie du sie in Erinnerung hattest? An traumatische Ereignisse kann man sich in der Regel besser erinnern, als an andere, ganz normale, aber auch die sind kein genaues Abbild von Erlebnissen, wie sie wirklich passiert sind. Deine Erinnerung kann vielleicht verzerrt gewesen sein, vielleicht war Paula nur angeschossen.“

„Und warum sollte meine Mutter dann die verwirrte und verzerrte Aussage eines elfjährigen Kindes bestätigen, wenn sie gar nicht der Wahrheit entsprochen hat?“

„Wenn du dich an die Nacht damals erinnerst, siehst du dann all das genau vor dir? Alles, was passiert ist, und auch die tote Paula?“

„Ja.“ Ich schließe die Augen und sehe sofort einzelne Bilder, Schnappschüsse, aus jener Nacht vor mir. „Ich sehe seit vierunddreißig Jahren immer die genau gleichen Bilder, aus genau der gleichen Perspektive, immer den gleichen Ablauf. Wie eingebrannt. Und ich sehe Paula tot auf dem Wohnzimmerteppich liegen. Ihr hat, verdammt noch mal, der halbe Kopf gefehlt.“

Frank sieht mich aufmerksam und ernst an, als würden gerade die Gedanken in seinem Kopf ineinander greifen und als wäre er sich nur noch nicht sicher, ob diese Gedanken zu der Frau vor ihm passen.

„Erzähl mir, was nach dieser Nacht passiert ist, wie es dann weiter ging, mit dir meine ich.“

„Ich war viel bei Frederik“, erzähle ich jetzt und erinnere mich nur verschwommen an diese erste Zeit danach zurück. „Ich weiß nicht, daran erinnere ich mich viel weniger genau als an diese Nacht. Auf jeden Fall war ich den Rest der Nacht und auch den folgenden Tag über bei Frederik, bis alles in Gang kam, die Ermittlungen und so. Vielleicht war ich auch länger da, ich weiß es nicht, das verschwimmt alles irgendwie. Auf jeden Fall habe ich Frederik ständig gesehen in dieser Zeit.“

„Wollte das deine Mutter so? Bist du nicht auch sofort danach psychologisch betreut worden?“

„Doch, deswegen habe ich ihn ja ständig gesehen.“

„Ihn? Soll das heißen Frederik war dein Therapeut in dieser Zeit?“, Frank scheint erstaunt und sieht mich gleichzeitig immer forschender an.

„Ja.“ Ich zögere. „Stimmt etwas nicht damit?“

„Ich weiß nicht, Frederik hatte, soviel ich weiß, nie etwas mit Kinderpsychologie zu tun. Ich meine, er ist fachlich unglaublich kompetent, und ich kenne seine Arbeit, aber er war einfach nie ein Kindertherapeut. Und er war so nah dran an euch, an allem, warum hat er dir nicht einen Kollegen besorgt, der sich mit traumatischen Erlebnissen bei Kindern auskannte?“

„Ich weiß nicht“, antworte ich verwirrt. „Vielleicht wollte er einfach meiner Mutter einen Gefallen tun.“

„Ja, vielleicht.“ Frank wirkt nicht überzeugt. „Erzähl mir noch mehr. Wie war das, die Therapie bei Frederik, an was kannst du dich noch erinnern?“

Ich muss mich anstrengen, um die Erinnerung an ein paar brauchbare Informationen zurückzuholen.

„Die Sitzungen bei Frederik fingen, glaube ich, ein paar Tage nach dieser Nacht an. Am Anfang musste ich wahnsinnig oft dahin, in seine Praxis, die er damals hatte. Ich glaube in den ersten zwei Wochen war ich täglich da. Meine Mutter brachte mich hin und holte mich ab. Ein paar Mal brachten mich auch irgendwelche Leute von der Polizei hin. Dann, nach einer Weile, vielleicht waren es zwei Wochen, wurden die Sitzungen seltener, und irgendwann musste ich nur noch alle paar Monate zu Kontrollterminen, zu denen ich nie wollte.“

„Was weißt du noch aus den Sitzungen mit Frederik? Wie liefen die ab, wie war er und auf welche Weise habt ihr über all das, was passiert war, geredet?“

Ich versuche nachzudenken, zurückzudenken, mich zu erinnern, aber da ist nichts. Ich sehe vage vor mir, wie das Therapiezimmer in Frederiks Praxis ausgesehen hat, und ich kann mich auch noch grob an das Wartezimmer erinnern. Frederiks Sekretärin oder Arzthelferin hieß Doris, sie war blond und sehr nett, das weiß ich noch. Aber alles andere fühlt sich wie ein nebliges, graues Loch an.

„Nichts“, sage ich jetzt erschrocken. „Ich erinnere mich an gar nichts mehr.“

Ich spüre, wie mir die Tränen übers Gesicht laufen und ich erneut das Gefühl habe, dass alle Kraft meinen Körper verlässt.

„Wir sollten jetzt erst einmal schlafen“, sagt Frank jetzt ganz ruhig, „und morgen weiter überlegen. Es ist schon spät, und du bist völlig erschöpft. Ich gebe dir was, damit du ein paar Stunden durchschlafen kannst.“

Es ist gut, sich in den Schlaf zu flüchten, auch wenn ich erst nicht daran glaube, dass mir das heute Nacht gelingen wird. Aber was auch immer mir Frank gegeben hat, es wirkt schnell. Ich spüre nur noch, wie eine zusätzliche Decke über mir ausgebreitet wird und wie dann alles dunkel und ruhig wird.

Ich wache mit schweren Gliedern und ein wenig orientierungslos am nächsten Tag auf. Mein Körper scheint an diesem Tag nicht für Bewegung geschaffen zu sein und wird wie mit schweren Gewichten behangen auf der Couch gehalten.

Dass ich für die Arbeit zu spät bin, ist mir sofort klar, aber beim Blick auf die Uhr stelle ich jetzt erschrocken fest, dass mich Franks Schlaftabletten bis zum nächsten Nachmittag außer Gefecht gesetzt haben. Die Sonne steht schon wieder tief am Himmel, es ist schon fast drei Uhr.

Auf dem Couchtisch sehe ich diverse Utensilien für mich ausgebreitet, wie ein liebevoller Erstehilfe-Kasten nach einem schrecklichen Abend und einer anstrengenden Nacht. Ein Glas Wasser, eine Packung Kopfschmerztabletten, eine Thermoskanne mit Kaffee, ein Stapel Bücher und ein Zettel, auf dem mir Frank mitteilt, er sei gegen sechs von der Arbeit zurück. Ich solle ruhig solange bei ihm bleiben, mir die Bücher ansehen, die er rausgelegt hat, und mir ansonsten erst mal keine Sorgen machen. Außerdem habe er bei meiner Arbeit angerufen und mich für heute krank gemeldet. Ich merke, wie mir abermals die Tränen in die Augen schießen, diesmal aber vor Dankbarkeit, dass ich Frank habe.

Auf dem Couchtisch liegen mindestens vier, fünf Bücher, die an vielen Stellen mit kleinen, gelben Post-its versehen sind. Ich halte den Kopf schräg, um die Titel lesen zu können. Allesamt sind psychologische Fachbücher, sogar eins über Freud. Doch bevor ich auch nur ein Buch anheben kann, brauche ich zunächst andere Maßnahmen. Ich nehme mir zwei von den Kopfschmerztabletten, gehe unter die Dusche und koche frischen Kaffee.

Ich greife mir das erste Buch vom Stapel, das sich laut Titel mit der Psychoanalyse und dem Einsatz von Hypnose beschäftigt, und fange beim ersten Post-it an zu lesen.

Ich lese, was Freud über frühkindliche Erinnerungen gedacht hat, dass diese oft keine Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern eher Gedächtnistäuschungen, mit deren Hilfe man später den Geschehnissen, die sich tatsächlich zugetragen haben, ausweichen kann. Dementsprechend hält es Freud für ein Hauptziel der Psychoanalyse, die wirkliche Realität aufzudecken, die hinter diesen falschen Erinnerungen steckt.

Freud. Ich wusste nie so richtig, was ich davon halten soll. Ich lese weiter über Erinnerungen in der Therapie, lese, dass der Psychoanalytiker selbst immer die Art und Weise, wie sich ein Patient in der Therapie an etwas erinnert beeinflusst, unausweichlich, ob er will oder nicht.

Jetzt geht es um Hypnose, und ich lese, dass Freud immer auf den Einsatz von Hypnose in der Therapie verzichtet hat, weil er herausfand, dass die so zutage geförderten Erinnerungen häufig ausgedacht waren. Irgendetwas in mir fühlt sich nicht mehr gut an. Hier steht es, schwarz auf weiß, dass hypnotisierbare Individuen bei entsprechenden hypnotischen Befehlen dazu neigen, Gedächtnistäuschungen zu produzieren.

Ich überlege und komme zu dem beunruhigenden Schluss, dass man sich also, egal ob mit oder ohne Therapie, in keiner Weise auf seine Erinnerungen verlassen kann. Man hat Experimente gemacht, natürlich. Irgendwann gab es ja immer Experimente zu irgendetwas, und man fand heraus, dass Versuchspersonen, die einem starken sozialen Druck zur Hervorbringung bestimmter Erinnerungen ausgesetzt waren, sich häufig an Ereignisse erinnerten, die nie stattgefunden hatten.

Wie kann das möglich sein, denke ich, wie können wir nur so schwach sein, so beeinflussbar, so angreifbar. Alles erscheint mir jetzt gerade wie eine einzige gigantische Fehlkonstruktion.

Ein Name taucht jetzt immer wieder auf. Elisabeth Loftus, eine amerikanische Forscherin, auch so eine die herumexperimentiert hat. Tatsächlich beschäftigt sich gleich ein ganzes Buch mit ihr und ihren Experimenten, und als ich zu lesen beginne, bin ich sofort gefesselt von dieser Frau und ihren ungewöhnlichen Versuchen. Implantierte Erinnerungen nennt man das, schon wieder so eine Fehlkonstruktion, irgendwie sind wir wirklich Mangelware.

Beschrieben wird hier die Geschichte von Chris Coan und seinem älteren Bruder Jim. Jim steckte sozusagen mit Frau Loftus unter einer Decke und erzählte seinem Bruder Chris, auf ihre Anweisung, als dieser vierzehn Jahre alt war, drei Geschichten aus Chris´ Kindheit, die sich tatsächlich so zugetragen hatten und eine komplett erfundene. Er erzählte ihm, wie Chris im Alter von fünf Jahren in einem Einkaufszentrum verloren gegangen sei, bis ihn seine Mutter in Begleitung eines fremden Mannes wieder gefunden habe. Chris war nicht in der Lage, die falsche von den echten Erinnerungen zu unterscheiden, im Gegenteil, er erinnerte sich sogar sehr genau an dieses schreckliche Erlebnis im Einkaufszentrum, erinnerte sich daran, wie er geweint hatte und was für schreckliche Angst er gehabt hatte. Ich bin fassungslos.

Und tatsächlich gibt es eine Möglichkeit, noch effektiver und leichter die Erinnerung zu manipulieren - Bilder. Frau Loftus hatte nämlich noch ein bisschen weiter experimentiert. Sie hatte Kinderfotos von ihren Versuchspersonen in Fotos von einer Ballonfahrt hineinmontiert. Als sie ihren Versuchspersonen die Fotos zeigte, in denen sie zusammen mit ihren Verwandten in einem Heißluftballon schwebten, konnte sich die Hälfte dieser Personen tatsächlich genau an diese aufregende Ballonfahrt erinnern, die nie stattgefunden hatte.

Fasziniert und gleichzeitig auch resigniert klappe ich die Bücher zu und lasse mich wieder kraftlos auf die Couch fallen.

Es muss einen Grund geben, dass ich mich nicht an meine Therapiestunden bei Frederik erinnern kann. Und offensichtlich hat Frank bei seinen Nachforschungen der letzten Nacht gedacht, die Antwort darauf sei irgendwo in diesen Büchern und Experimenten zu finden.

Ich frage mich, ob es nicht Aufzeichnungen geben müsste, Akten, die irgendwo archiviert sind, irgendetwas, was den Verlauf dieser Therapie vor vierunddreißig Jahren dokumentiert hat. Frederik hat seine Praxis vor mindestens zwanzig Jahren aufgegeben und, so viel ich weiß, seitdem nur im klinischen Bereich gearbeitet, aber irgendwo müssen doch noch Unterlagen aus seiner Praxiszeit existieren. Doch die Frage ist nicht nur, wo, sondern auch, wie man gegebenenfalls da herankommen könnte. Ich werde in meinen Gedanken unterbrochen, als ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird und ich Frank sehe, wie er leise und auf Socken ins Wohnzimmer schleicht.

„Du bist noch hier“, sagt er erfreut, „und wach. Du siehst schon wieder viel besser aus.“

„Ja“, sage ich. „Ich fühle mich auch ein bisschen besser, aber ich bin so verwirrt. Ich weiß nicht, was ich mit all dem anfangen soll, mit Paula gestern Abend, mit den Therapiestunden bei Frederik, mit all dem hier“, sage ich und deute schwach auf den Stapel Bücher auf dem Couchtisch.

„Frank, sag mir ehrlich, was du denkst. Hältst du es für möglich, dass ich in diesen Therapiestunden manipuliert worden bin? Durch Hypnose oder was auch immer? Dass Frederik irgendwie in meinem Kopf herumgepfuscht hat, so dass etwas ganz anderes herausgekommen ist als das, was wirklich geschehen ist?“