Der dunkle Schwarm - Marie Graßhoff - E-Book

Der dunkle Schwarm E-Book

Marie Graßhoff

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Beschreibung

Im Jahr 2100 können Menschen ihr Bewusstsein mittels Implantaten zu Schwärmen verbinden, den Hive Minds. Die Programmiererin Atlas Lawson profitiert davon gleich doppelt: Tagsüber arbeitet sie für den größten Hive-Entwickler. Nachts betreibt sie unter dem Decknamen Oracle einen lukrativen Handel mit Erinnerungen, die sie aus Hive-Implantaten stiehlt. Nur ihr Androide Julien weiß von ihrem gefährlichen Doppelleben. Doch dann löscht ein Unbekannter auf einen Schlag einen ganzen Hive aus — etwas, das eigentlich unmöglich sein sollte ...

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Seitenzahl: 432

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumFolge 1 - The OracleProlog - Die Erinnerungen eines sterbenden SternsKapitel 1 - Der Anfang eines leuchtenden UntergangsKapitel 2 - Der Aufstieg einer aussterbenden SpeziesKapitel 3 - Der Wunsch eines verzweifelten KünstlersKapitel 4 - Das Herz einer seelenlosen MaschineKapitel 5 - Die Entscheidung eines unwissenden OrakelsFolge 2 - The CellKapitel 1 - Das Auge eines tosenden SturmsKapitel 2 - Der Verlust einer flammenden HoffnungKapitel 3 - Das Fragment eines dunklen GeheimnissesKapitel 4 - Die Angst eines feigen LämmchensFolge 3 - The TradeKapitel 1 - Die Tage einer müden SeeleKapitel 2 - Die Heimat eines vergangenen KampfesKapitel 3 - Die Rückkehr einer finsteren ErinnerungKapitel 4 - Das Driften eines beklommenen GeistesFolge 4 - The BombKapitel 1 - Das Beben einer urtümlichen WutKapitel 2 - Die Nachricht eines traurigen MannesKapitel 3 - Das Schlachtfeld eines globalen KriegesFolge 5 - The ShieldKapitel 1 - Die Wärme eines letzten LichtsKapitel 2 - Die Gefahr einer finsteren SchwärzeKapitel 3 - Das Aufflammen einer letzten HoffnungKapitel 4 - Das Finden eines letzten AuswegsFolge 6 - The SwarmKapitel 1 - Der Name eines alten ClustersKapitel 2 - Die Stimme einer dunklen NachtKapitel 3 - Das Kennenlernen einer vertrauten MaschineFolge 7 - The MachinesKapitel 1 - Die Größe eines einzelnen PlanetenKapitel 2 - Das Muster einer zufälligen AuslöschungKapitel 3 - Das Finden einer letzten ZufluchtKapitel 4 - Der Tod einer verbliebenen HoffnungFolge 8 - The HostKapitel 1 - Die Geburt eines endlosen HassesKapitel 2 - Die Manifestation einer alten AngstKapitel 3 - Die Ausrottung einer lebenslangen LügeKapitel 4 - Die Einsicht einer alten SchwächeFolge 9 - The MindKapitel 1 - Die Lösung eines offenkundigen RätselsKapitel 2 - Die Bedeutung eines wiederkehrenden TraumsKapitel 3 - Das Surren eines dunklen SchwarmsFolge 10 - The StarsKapitel 1 - Die Entwicklung eines letzten PlansKapitel 2 - Die Zerstörung einer vertrauten KonstellationKapitel 3 - Der Kampf einer freieren WeltEpilog - Die Geburt eines neuen SternsDanksagung

Über dieses Buch

Im Jahr 2100 verbinden die Menschen ihr Bewusstsein über Implantate zu sogenannten »Hive-Minds«. Die junge Atlas profitiert davon gleich doppelt: Tagsüber arbeitet sie als Programmiererin für den größten Hive-Entwickler. Nachts betreibt sie unter dem Decknamen Oracle einen lukrativen Handel mit Erinnerungen, die sie aus Hive-Implantaten stiehlt.

Eines Nachts berichtet ihr ein Kunde namens Noah von dem Mord an einem ganzen Hive – eigentlich eine technische Unmöglichkeit. Er bietet ihr eine horrende Summe dafür an, den Täter zu finden. Atlas lässt sich auf den Deal ein – und ist bald auf der Flucht vor der Polizei, Umweltterroristen und Auftragsmördern …

Über die Autorin

Marie Graßhoff, geboren 1990 in Halberstadt/Harz, studierte in Mainz Buchwissenschaft und Linguistik. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Social-Media-Managerin bei einer großen Agentur, mittlerweile ist sie als freiberufliche Autorin und Grafikdesignerin tätig und lebt in Leipzig. Mit ihrem Fantasy-Epos Kernstaub stand sie auf der Shortlist des SERAPH Literaturpreises 2016 in der Kategorie »Bester Independent-Autor«.

MARIEGRASSHOFF

DER DUNKLESCHWARM

Roman

NACH EINER AUDIBLE-ORIGINAL-PRODUKTION

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Guter Punkt unter Verwendung eines Designs von © Denis Holzmüller, Atelier Franken

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0367-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Folge 1

The Oracle

Prolog

Die Erinnerungen eines sterbenden Sterns

Kurz bevor ich sterbe, sehe ich die Sterne. Ihre Konstellation auf dunklem Grund verschiebt sich. Als sie ihre Positionen eingenommen haben, erfüllt ihr Licht mein ganzes Sichtfeld. So mächtig, dass es in der Lage wäre, das Sonnensystem auszulöschen.

Eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Nacken aus. Der Raum um mich herum ist in Schwärze gehüllt. Bis auf das Summen der Computer ist es still.

»Das habt ihr also vor«, murmelt ein Mann hinter mir und erhebt sich von seinem Stuhl.

Ich spüre, wie mein Herzschlag sich beschleunigt. Nur langsam drehe ich mich um. Noch bevor ich weiß, was geschieht, drängt sich mir ein Gedanke auf. Ein Gedanke von kolossaler Einfachheit und gewaltigem Gewicht: Hier wird es enden.

Mehrere Schüsse hämmern wie ein dröhnender Bass an mir vorbei, bis einer von ihnen meine Schulter trifft. Der Raum kippt, und die Sterne verschwinden. Ich falle auf die Knie.

»Damit kommt ihr nicht durch«, sagt der Fremde mit zitternder Stimme.

Blut, überall. Ich spüre es in der Dunkelheit, die mich umgibt, als Schritte sich nähern und ich in den Lauf einer Waffe blicke, die im Licht der Monitore schwach schimmert.

Das Letzte, an das ich denke, ist die Konstellation der Sterne.

Kapitel 1

Der Anfang eines leuchtenden Untergangs

»Und wer gibt mir die Sicherheit, dass diese Daten verwendbar sind, wenn ich sie vorher nicht prüfen kann, Miss Oracle?« Die Stimme des untersetzten Mannes mir gegenüber donnerte durch den kleinen fensterlosen Raum. Die Gestalten in den Ecken regten sich im Schatten, außerhalb des Lichtkegels der uralten Glühbirne, die über dem Tisch baumelte. Die Bodyguards dieses Industriellen wirkten angespannt.

»Mr. Soho«, sagte ich um Gelassenheit bemüht. »Der Handel mit Erinnerungen ist ein spezielles Geschäft. Es ist nicht üblich, die Ware einzusehen, bevor die Überweisung getätigt wurde. Das habe ich Ihnen von Anfang an gesagt.«

Ich kannte Typen wie diesen, der mir gegenübersaß: überheblich, misstrauisch, feige. Solange man Menschen wie ihn in der Gewissheit ließ, sie hätten die Kontrolle, waren sie für gewöhnlich harmlos.

»Sie geben sich professionell, Oracle«, spottete er. »Aber bei jemandem von Ihrer Herkunft weiß ich nicht einmal, ob Sie die Aufgabe überhaupt verstanden haben.«

Fast belustigten mich sein unsinniges Gerede und die pulsierende Ader auf seiner Stirn. »Ich habe die Aufgabe verstanden, Mr. Soho. Ihre Minen auf dem Mars wurden von Dryden geplündert, und Sie brauchen Beweise, um den Transport des Materials zum Dyson Swarm rechtzeitig zu verhindern.« Ich ließ den kleinen Chip zwischen meinen Fingern hin und her tanzen. »Diese Beweise habe ich hier.«

Sein Getue war nichts als bloße Machtdemonstration. Niemand war so verlässlich wie ich. Das wusste er, ich hatte in seinen Kopf geschaut. Ich war die Einzige auf dem Planeten, die diese Fähigkeit hatte, und auch wenn ihm nicht genau klar war, wozu ich imstande war, hatte er zumindest eine Ahnung.

Wenn er diesen Raum verließ, würde ich mein Geld haben. Auf die eine oder andere Art.

»Falls Sie lieber mit anderen Tradern verhandeln, nur zu. Ich halte Sie nicht auf.«

Seine tief gerunzelte Stirn sagte mehr als tausend Worte. Er wusste genauso wie ich, dass keiner von denen das leisten konnte, was ich tat. Die anderen Trader beschäftigten sich vor allem mit dem Verkauf von Erinnerungen an Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch und dem ganzen kranken Scheiß, für den verzweifelte Seelen viel Geld bezahlten. Industriespionage war ein Feld, das nur ich bediente.

»Diese Typen sind mir zuwider«, spuckte er förmlich aus.

»Mir auch«, stimmte ich lächelnd zu. »Aber die Sache ist folgende: Sie haben nicht endlos Zeit, wenn Sie diesen Transport aufhalten wollen.« Demonstrativ warf ich einen Blick auf die Ziffern, die an meinem Handgelenk leuchteten. »Also entweder, Sie überweisen mir jetzt mein Geld, oder Sie lassen sich von meinem Partner hinausbegleiten.« Ich ruckte mit dem Kopf zu Julien, der schräg neben mir Stellung bezogen hatte. Mit seiner Weste, den Waffen und den Munitionstaschen sah er um einiges imponierender aus als die Anzugträger, die Soho mitgebracht hatte.

Ich legte den Chip auf den rostigen Tisch zwischen uns. Rasch streckte der Kerl seine Hand aus, um ihn zu sich hinüberzuziehen.

»Das macht hunderttausend Coins«, stellte ich klar, und Soho runzelte die Stirn, während er das fast durchsichtige Plättchen in seinen Wurstfingern drehte.

»Ziemlich viel für ein paar Informationen, die nicht ausreichend sein könnten.«

Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel mir nicht. Ich nahm Verbindung zu Juliens Bewusstsein auf und wies ihn an, eine Gefahrenanalyse durchzuführen.

»Andererseits ein verschwindend geringer Betrag, wenn sie Ihnen dabei helfen, den Transport zu stoppen. Sonst entstünde Ihnen ein Schaden von Milliarden, nicht wahr?« Ich lächelte erneut, doch die Art, wie Soho mich anschaute, verriet mir, dass er es sich anders überlegt hatte.

Scheiße! Wir brauchten die Analyse wohl nicht mehr.

»Julien«, sagte ich, nur eine Sekunde bevor Soho seinen Bodyguards ein Zeichen gab und sie ihre Waffen zogen.

Der Geschäftsmann suchte Schutz unter dem Tisch, aber ehe die erste Kugel abgefeuert wurde, hatte Julien schon einen Satz nach vorn gemacht, nach der Waffe des ihm am nächsten stehenden Mannes gegriffen, sie nach unten gedrückt und ihn mit einem gezielten Schlag niedergestreckt.

Ich zog den Kopf ein, als das Gewehrfeuer der Bodyguards an Juliens Haut abprallte. Die Kugeln flogen durch den Raum und sprengten den Putz von den alten Wänden.

Drei Schüsse. Mehr brauchte Julien nicht, um die Männer systematisch auszuschalten. Sie waren nicht einmal auf dem Boden aufgeschlagen, da war er bereits am Tisch angekommen, um Soho am Kragen zu packen und hochzuzerren.

»Na gut!«, schrie der Mann hysterisch und hob die Hände. Seine vor Panik geweiteten Augen glänzten wässrig im Licht der hin und her schwingenden Glühbirne. »Sie bekommen Ihr Geld!«

Ich verschränkte die Arme, um ihm zu signalisieren, dass ich wartete. Fest in Juliens Griff gefangen, schob Soho den Ärmel seiner Anzugjacke hoch und warf einen Blick auf sein Handgelenk.

Die abgesprochene Summe tauchte auf der Projektion meiner Kontaktlinse auf, und ich nickte dankend. Daraufhin ließ Julien ihn los, und der Mann sprang, ohne zu zögern, auf die Tür zu. Er machte sich nicht einmal die Mühe, nach seinen Bediensteten zu sehen, die tot am Boden lagen.

»Viel Erfolg bei der Verhandlung!« Ich schaute entspannt dabei zu, wie Soho unter größter Anstrengung die schwere Metalltür aufzog. Das schummrige Licht der Gassen fiel in den Raum, als er zitternd in den Nieselregen hinausstolperte.

Wir warteten, bis seine Schritte verklungen waren, dann sahen Julien und ich einander an. Die Sommersprossen auf seiner Nase und seinen Wangen leuchteten regenbogenfarben, während er die neuesten Daten verarbeitete.

»Nach Hause?«, wollte er wissen, und ich seufzte.

»Ja. Nach Hause.«

Kapitel 2

Der Aufstieg einer aussterbenden Spezies

Eine kühle Brise wehte am Bahnsteig entlang. Sie kroch an meinen Knöcheln empor, schlich sich unter die dicke Strumpfhose und wirbelte hinauf zu meinen vor Kälte kribbelnden Händen. Ich schlang den Wintermantel enger um den Körper und strich genervt eine Strähne meines rosa gefärbten Haars zurück, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte.

Hunderte Menschen scharten sich am Gleis. Die meisten waren Kollegen von mir. Sie standen da, den Kaffee in der Hand, die von Schatten gezeichneten Augen starr auf die Werbetafeln uns gegenüber gerichtet, in Gedanken vermutlich noch in ihren Betten.

Und zwischen all den Arbeitern, Managern und Programmierern war ich nicht mehr als ein blasser Niemand. Die Anonymität der Masse kleidete mich ebenso gut wie mein dunkler Mantel, wenn ich nachts durch die lichterlosen Gassen des Sub-Levels streifte. Zwischen elf Milliarden Menschen war jeder Einzelne unsichtbar.

Ich schob die Brille auf meiner Nase ein Stück höher und folgte den Blicken zu den Gebäuden uns gegenüber.

Glas und Metall, so weit man schauen konnte. Pastellfarben und bunt leuchteten die Anzeigen in den Schatten des jungen Morgens hinein. Autos schwebten über schillernde Holobahnen, während Züge geräuschlos über die Gleise glitten, die verschlungen zwischen den Wolkenkratzern angebracht waren. Die meisten Gebäude ragten so hoch in den Himmel, dass man ihre Dächer von hier aus nicht erkennen konnte. Die Ebenen des Upper-Levels weit über uns lagen heute verborgen im Smog.

Vom Himmel war nichts zu erkennen. Ich hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen.

Die Anzeigetafel mir gegenüber war mindestens zehn Stockwerke hoch. Hypermind, mein Arbeitgeber, prästentierte seine neuen ADICs, optimierte Hirnimplantate, die besser auf Hirnströme reagierten und mit denen man sich schneller in seine Hives einloggen konnte. Die Firma Dryden warb schon seit mehreren Monaten für die neueste Generation ihrer Androiden. Dem Betrachter schauten ein männlicher, ein weiblicher und ein genderloser Android mit einem moderaten Lächeln entgegen. Bis auf die bunten Sommersprossen war keiner von ihnen von einem echten Menschen zu unterscheiden.

Ich dachte gerade an Julien, als eine Anfrage auf meiner Kontaktlinse aufblinkte und ich einen Kanal öffnete.

»Shane, du sollst mich tagsüber in Ruhe lassen«, fauchte ich ihn in Gedanken an. Die Verbindung über den Hive erlaubte es mir zwar, mit ihm zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, trotzdem wollte ich nicht mit ihm kommunizieren, wenn ich in der Öffentlichkeit war. »Ich kann jetzt nicht.« Wenn irgendjemand herausfand, in was ich im Untergrund verwickelt war, wäre mein Leben vorbei.

»Entspann dich«, säuselte mein Kollege. »Du hast mir gestern eine ganz schöne Schweinerei hinterlassen. Du bist mir was schuldig.«

Ich übermittelte ihm, was ich davon hielt, schloss den Kanal aber nicht.

Kurz darauf sendete Shane mir ein Bild von einer Menschenmenge in einem Club. Die Füße locker auf den gegenüberliegenden Stuhl gelegt, fixierte er einen jungen Mann. Schwarze Haut, helle Augen, feiner Anzug, ein nervöser Ausdruck auf den Zügen.

»Ich habe einen neuen Kunden für dich. Scheint ein großer Fisch zu sein. Heute Abend, zweiundzwanzig Uhr im Pub.«

»Gut, wir sehen uns. Und jetzt raus aus meinem Kopf.«

Ich beendete die Verbindung und stellte ernüchtert fest, dass der Zug sich verspätete. Von einem Fuß auf den anderen tretend versuchte ich, mich warm zu halten. Erst als das Licht der Werbeanzeige ein durchscheinendes Gelb annahm, wurde mir klar, dass etwas nicht stimmte.

Noch bevor ein Raunen durch die Menge ging und die schrillen Sirenen des Bahnhofs ertönten, wusste ich, was los war. Ich wusste, was ich sehen würde, als ich den Blick zur Werbetafel hob.

»The Cell«, murmelte ich und wich automatisch einige Schritte zurück, weiter vom Gleis weg. Stimmen wurden laut, Bewegung kam in die Menge, und Menschen drängten sich hektisch an mir vorbei in Richtung Ausgang.

Auf der Anzeigetafel leuchtete eine gewaltige Biene auf grellgelbem Grund. In riesigen Lettern stand »THE CELL« erst in Englisch, dann in Spanisch und abschließend in Chinesisch darunter.

Suchend schaute ich mich um, bis mir eine Frau am Ende des Gleises auffiel, die deutlich entspannter wirkte als die meisten anderen hier. Schon der erste Gedanke, den ich aus ihrem ADIC auslesen konnte, offenbarte, warum sie keine Angst hatte: Sie war ein Mitglied der Umweltschutzorganisation. Geduldig verfolgte sie, wie der Zug am Ende des langen Bahnsteigs einfuhr. Ich konnte ihn durch ihre Augen sehen.

Seine Außenverkleidung war in ein leuchtend gelbes digitales Graffiti gehüllt, über das das Logo der Vereinigung glitt.

Die Menschen im Inneren kamen in Sicht. Sobald die Frau Augenkontakt zu einem von ihnen aufnahm, sprang ich über und scannte das Gehirn des Insassen. Dutzende Bilder fluteten meinen Geist. Brennende Fabriken, Schreie, Chaos. Bienen, überall. Ich sprang von Mensch zu Mensch, doch die Gedanken, die ich sah, unterschieden sich kaum voneinander.

Der Zug war voll besetzt. Hunderte Mitglieder von The Cell blockierten ihn. Sie würden den Bahnsteig überrennen und den Zugang zum Hypermind-Viertel versperren. Und einige von ihnen hatten nicht besonders friedfertige Absichten.

Ich musste hier weg.

Einige Male blinzelte ich heftig, um in meinen eigenen Kopf zurückzukehren. Dann nahm ich Verbindung zu dem Hive auf, in dem sich meine Programmierer-Kollegen von Hypermind befanden.

»The Cell blockiert die Bahnstationen«, übermittelte ich. Die mehr als sechzig Menschen stimmten sofort zu und sendeten Bilder von ihren Bahngleisen, auf denen teils schlimmeres Chaos herrschte als hier.

»Sollen wir trotzdem versuchen, ins Viertel zu kommen?«, fragte eine von ihnen. Alle anderen wirkten ratlos. »Die waren nie gewalttätig gegenüber Menschen. Die unternehmen bestimmt nichts, wenn wir …«

»Nein!« Das, was ich gesehen hatte, hatte gewaltbereit gewirkt. Das konnte ich ihnen nicht sagen, sie wussten nichts von meiner Fähigkeit, in andere Gehirne zu schauen. Aber ich hoffte, nachdrücklich genug zu sein. »Nur weil sie es bisher nicht waren, heißt das nicht, dass sie es nicht irgendwann sein werden«, erklärte ich vage und schloss mich dem Strom an Menschen an, die auf die Treppen zudrängten. »Und wenn es so weit ist, will ich nicht dabei sein.«

Kapitel 3

Der Wunsch eines verzweifelten Künstlers

Der erste Atemzug, den man nahm, wenn man das Sub-Level betrat, war der schlimmste. Instinktiv hielt ich mir den Ärmel meines Mantels vor Mund und Nase, als Julien und ich aus dem klapprigen Lastenaufzug stiegen und uns in die enge Gasse schoben. Die Luft stand hier unten oft tagelang zwischen den Hochhäusern, angereichert vom Geruch des Unrats, der sich in sämtlichen Ecken sammelte.

Die Sonne war untergegangen. Das wusste ich, weil ich auf dem Middle-Level ein kleines Stück des Himmels hatte ausmachen können. Von hier aus, dem untersten Bereich der Megastädte, sah man ihn nie.

»Gibt es etwas Neues zu den Aufständen?« Ich schaute zu Julien hinüber. Unter seinen dunklen Augen leuchteten die Sommersprossen.

»Die Lage hat sich nach wie vor nicht beruhigt. The Cell ist heute weltweit aktiv. Deutlich aggressiver als sonst.«

Ich hatte mit meinen Beobachtungen also recht behalten. »Okay. Halt mich auf dem Laufenden.«

»Hast du Infos darüber, wen wir jetzt treffen werden?«, fragte Julien, während wir in eine lange Gasse einbogen, die lediglich von einer einzigen Laterne erhellt wurde. Sie stammte aus früheren Zeiten von Washington, zu denen es die Hochhäuser und all die Ebenen noch nicht gegeben hatte. Zu denen alles irgendwie süß und klein gewesen war. Ich kannte es nur aus sehr alten Erinnerungen.

Ich übermittelte ihm die Bilder, die Shane mir heute Morgen zugeschickt hatte. »Mehr hab ich nicht«, erklärte ich. »Über Shanes Gedanken ließe sich sicher mehr herausfinden, aber …« Unwillig verzog ich den Mund. »Da lauert so viel Düsteres.« Ich begab mich ungern in die Gedanken derart unausgeglichener Menschen. Das brachte zu viel Chaos in meine eigenen.

Bevor wir in den Schein der Laterne traten, bogen wir erneut ab. Das bunte Licht einer uralten Neonbeleuchtung schillerte uns entgegen, als wir auf das Ende der Sackgasse zusteuerten. Ein dunkel gekleideter Mann lehnte an der Wand neben einer morschen Holztür, durch die gedämpfte Musik drang. Seine leuchtenden Augen fixierten uns streng. Die bunten Sommersprossen zeigten, dass er ein Android war. »Oracle«, grüßte er und zog eine Augenbraue hoch. »Geschäftliches?«

»Für etwas anderes würde ich hier nicht hinabsteigen«, entgegnete ich lächelnd.

»Jetzt verrätst du also deine Wurzeln«, grummelte er schmunzelnd. Ich wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass er nichts über mich wusste, da regte Julien sich neben mir und trat einen forschen Schritt nach vorn.

»Schon gut, schon gut«, seufzte der Türsteher. Androiden konnten nicht wirklich eingeschüchtert werden, doch er wusste, dass Julien vermutlich um einiges stärker war als er. Diese Modelle der Kampfklasse gab es eigentlich gar nicht mehr.

»Ich soll euch sagen, dass Shane nicht auf euch warten konnte. Der Kunde sitzt in Raum 21. Da könnt ihr ihn abholen.«

»Holst du ihn?«, fragte ich Julien im Stillen und übermittelte ihm den Treffpunkt. »Ich warte dort auf euch.«

Julien und ich hatten die leer stehende Fabrikhalle, in die ich mich gehackt hatte, schon mehrere Male benutzt. Kleine Aufträge konnten wir im Pub abhandeln, Klienten, bei denen es um mehr ging, wollten allerdings gern ihre Ruhe. Und der Raum, den wir gestern verwendet hatten, wurde sicherlich noch gereinigt.

Ich holte mir das Bild, das Shane mir von unserem nächsten Kunden geschickt hatte, immer wieder vor Augen, während ich die schwere Metalltür aufzog, den öligen Staub von meinen Händen klopfte und den Lichtschalter betätigte. Eine einzelne von der hohen Decke hängende Lampe schaltete sich ein. Direkt unter ihr befanden sich ein grob gefertigter Holztisch und vier Stühle. Seit unserem letzten Besuch schien sich nichts verändert zu haben.

Ein kurzer Scan des Gebäudes zeigte nur ein paar Tauben und Ratten. Ich trat weiter hinein und nahm wieder Kontakt zu Julien auf, um seine erste Interaktion mit dem Kunden zu verfolgen.

»Guten Tag.« Juliens Stimme drang über die Verbindung unserer ADICs an mein Ohr, und ich hielt inne, um zu sehen, was er sah.

Der Raum, den Shane im Pub gebucht hatte, war rund und dunkel. Nur der Tisch in der Mitte war beleuchtet. Auf der Couch, die normalerweise von zwielichtigen Personen besetzt wurde, die sich alles Mögliche an illegalen Substanzen reinzogen, saß heute ein junger Mann in einem sauber geschnittenen Mantel, besorgt in seine Handinnenflächen schauend.

In dem Moment, in dem er zu Julien hinaufsah, wusste ich, dass er der Richtige war. Der aufmerksame Blick seiner hellen Augen schien bis zu mir durchzudringen.

»Bitte folgen Sie mir«, sagte Julien und drehte sich zum Gehen um.

»Entschuldigen Sie … s-sind Sie Oracle?«

Julien antwortete ihm nicht, trotzdem lief der junge Mann ihm hinterher.

Ich widerstand dem Drang, schon jetzt in seinen Kopf zu schauen. Ich bevorzugte es, wenn die Menschen mir ihre Geschichte erzählten und ich sie danach auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen konnte. So wusste ich schneller, woran ich war.

»Du kannst ihn briefen«, wies ich Julien in Gedanken an, während die beiden den Pub verließen. Ich faltete die Hände und konzentrierte mich auf alles, was Julien wahrnahm.

Der Fremde, den Shane uns vermittelt hatte, machte einen überaus skeptischen Eindruck. Beinahe ängstlich. Jedes Rascheln aus den Ecken, jede Maus in den Gassen schien ihn zu erschrecken. Er war auf keinen Fall öfter hier unten.

Vielleicht war er sogar aus dem Upper-Level. Seiner Kleidung nach zu urteilen wäre es nicht unwahrscheinlich.

»Es wird so ablaufen«, begann Julien. »Sämtliche Kommunikation, die von nun an stattfindet, ist verschlüsselt. Selbst wenn Ihr ADIC ausgelesen wird, wird niemand die Gesichter oder die Namen der Personen, mit denen Sie heute zu tun haben, scannen können. Gleichzeitig garantieren wir, alle Transaktionen, die Sie tätigen, mehrfach zu sichern. So wird man weder Sie noch uns für etwas belangen können, falls Sie oder wir einer polizeilichen Untersuchung unterzogen werden sollten.«

»Wir?«, fragte der Mann, doch Julien fuhr einfach fort.

»Wir informieren Sie außerdem darüber, dass wir eine Blockade in Ihrem ADIC installiert haben, die es Ihnen ab jetzt untersagen wird, über irgendjemanden zu sprechen, den Sie im Zusammenhang mit Oracle treffen. Diese Maßnahme gilt der Sicherung unseres Business.«

»Business«, wiederholte der Mann, als sei ihm der Begriff nicht geheuer.

»Der ist süß«, übermittelte ich Julien, ging um den Tisch herum und nahm Platz, während der Android seine Hände auf die Klinken der großen Doppeltür legte und sie aufstieß.

Endlich konnte ich den neuen Kunden mit eigenen Augen begutachten: Er war jung, auf keinen Fall älter als ich. Das war ungewöhnlich, die meisten unserer Kunden waren deutlich älter. Er war ordentlich angezogen, wirkte eingeschüchtert, aber entschlossen. Juliens Scans hatten ergeben, dass er keine Waffen oder sonst etwas bei sich trug, womit er uns gefährlich werden konnte.

Zaghaft schaute er sich in der Halle um. Ich nutzte die Chance, um einen ersten Blick in seinen Kopf zu werfen.

Dort herrschte ungewöhnliches Chaos. Die Gedanken der meisten Personen, die zu mir kamen, schrien nach einem Wunsch oder einem Ziel. Bei ihm war alles seltsam verwirbelt, wie nach einem emotionalen Trauma. Ich erkannte Tränen, Gemälde, die Sterne, einen Baum und erst dann einen Namen.

»Mr. Noah Jason Levy«, sprach ich ihn aus und riss ihn damit aus seinen Beobachtungen. Seine Augen waren aufmerksam auf mich gerichtet. »Ich werde dich Noah nennen.« Bei Typen wie ihm konnte man etwas lockerer sein. »Du bist der Sohn von Jason Levy. Dein Vater hat den Levy-Shield gebaut.«

Er presste die Lippen zusammen, als würde ihn daran etwas stören.

»Danke für die Kühlung unserer Erde«, sagte ich, zog anerkennend die Augenbrauen hoch und bedeutete ihm, näher zu treten. Julien schloss die Türen.

»Ich hatte meinen Namen gar nicht genannt. Auch nicht Ihrem …«

»Dafür bist du ja hier«, unterbrach ich ihn lächelnd. Ich liebte diesen ersten Moment der Überraschung, obwohl es kindisch war, derartig anzugeben. Es war die einzige Freude, die ich in meinem Alltag hatte.

»Noah ist okay«, murmelte er unsicher und legte seine Hand auf die Lehne des Metallstuhls. »Und du bist Oracle?«

»Das ist richtig«, bestätigte ich und signalisierte ihm, sich zu setzen, während Julien mit großer Gelassenheit auf uns zutrat. »Das ist mein Bodyguard.«

Der junge Mann ließ sich zögerlich nieder. Ich versuchte, mich nicht davon beleidigt zu fühlen, dass er offenbar einen Mann an meiner Stelle erwartet hatte. »Was kann ich für dich tun?«

»Na ja«, setzte Noah an, zog seinen Stuhl ein Stück an den Tisch heran und lehnte sich mit den Unterarmen darauf, um mich zu fixieren. »Es heißt, du weißt alles. Ich würde deine wahrsagerischen Fähigkeiten gern erst mal auf die Probe stellen wollen, bevor ich dir mein Anliegen nenne.«

Wie süß. Er war nicht der Erste, der das von mir verlangte, aber er war der Erste, der nicht überheblich bei dieser Bitte klang.

»Kein Problem. Sag mir, was ich über dich herausfinden soll.« Das war meine leichteste Übung, weil jeder Mensch mit einer Frage gleichzeitig an die Antwort dachte.

»Wie alt bin ich?«, wollte Noah wissen.

»Achtundzwanzig«, antwortete ich. »2072 geboren.« Genau wie ich.

»Was mache ich beruflich?«

Wieder die Gemälde in seinem Kopf. Klassisch auf Leinwänden, mit Pinseln und Acrylfarben. In einem Atelier erkannte ich viele Pflanzen und Farbflecken auf dem Boden.

»Du bist Künstler.« Das war ein extrem seltener Beruf. »Im klassischen Sektor. Ich dachte, so etwas gibt es nicht mehr.«

»Dann kann ich sogar das große Orakel überraschen«, stellte er fest. Sein ehrliches Lächeln entblößte strahlend weiße Zähne. »Was ist … mein Lieblingsessen?«, fragte er weiter.

»Toast mit Erdbeermarmelade.« Je weiter ich in seinen Kopf hineinsah, umso mehr verwunderte er mich.

»Wie heißt mein Haustier?«

»Fangfrage. Du hattest nie eins.«

Noah nickte. »Und wer hat meine Schwester getötet?«

Ich runzelte die Stirn in dem Moment, in dem alle Bilder aus seinem Kopf verschwanden und es schwarz vor meinem inneren Auge wurde. »Du hast eine …?« Ja, er hatte eine Schwester. Erst nach einigen Momenten lichtete sich die Dunkelheit, auf die ich gestoßen war, wieder. War sie es, die das Chaos in seinen Gedanken ausgelöst hatte? Ich erkannte einen strahlend blauen Himmel und ein Dach, weit über dem Smog. Einen See, schmutzige Kinderfüße, Lachen und ein Gesicht, das sich der warmen Sonne entgegenreckte. Ein Gefühl, so frei und unbeschwert.

Ja, er hatte eine Schwester. Warum hatte ich das nicht gleich gesehen?

»Sie wurde … getötet?« Ich fand nirgendwo in seinem Kopf ein Bild von ihrem Gesicht. Nur Hände und ein leichtes Sommerkleid, verschwommen wie aus einer alten Erinnerung.

Wie war das möglich? Nicht einmal, wenn man sich an das Aussehen einer Person nicht mehr genau erinnerte, war dort … so wenig.

Das Lächeln, das sich auf Noahs Züge schlich, wirkte so entwaffnet und enttäuscht, als hätte er mit dieser Reaktion gerechnet.

Das weckte meinen Ehrgeiz, denn es hatte noch nie eine Information gegeben, die ich nicht hatte aufspüren können. Erst recht keine so bedeutende wie ein Familienmitglied.

Ich drang weiter vor. Ein Gespräch mit der Polizei. Rufe und Schreie, aber nirgendwo Gewalt.

Und kein Gesicht. Nicht einmal ein Name.

»Wie hieß deine Schwester?«, wollte ich wissen – und das Lächeln wich aus seinen Zügen.

An so ein Ende war ich noch nie gestoßen. Sonst gab es nichts, das vor meinem System verborgen bleiben konnte. Loggte ich mich in das Gehirn, dann erkannte ich alles: seine schlimmsten Ängste, seine düstersten Geheimnisse, seine schamvollsten Erlebnisse. Ich fand sogar Erinnerungen, die die Menschen vergessen glaubten oder vor sich selbst verbargen.

Ich fand verdammt noch mal alles.

Also warum konnte ich seine Schwester nicht sehen?

»Sara Levy.«

Ich bat Julien im Stillen, alle verfügbaren Datenbanken nach ihr zu durchsuchen. »Ich brauche mehr Informationen«, gestand ich danach und faltete meine Hände, um mich besser konzentrieren zu können.

Noah schürzte die Lippen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Gestern Nacht gab es einen Mordfall«, erklärte er. »Er war nicht in den Medien. Nicht eine einzige Erwähnung.«

Bilder flackerten durch seinen Geist. Viele von ihnen waren zu verschwommen und zogen zu schnell vorbei, als dass ich sie hätte deuten können. »Ein Hive wurde ausgelöscht.«

Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. »Ein Hive?«, wiederholte ich ungläubig.

»Du weißt schon«, sagte er und fuchtelte unbestimmt mit den Händen. »Viele Menschen, die gedanklich miteinander verbunden sind, Informationen austauschen können, über die ADICs in ihren Gehirnen und …«

»Ich weiß, was ein Hive ist«, fuhr ich ihm genervt dazwischen. »Du meinst, dass alle Menschen eines Hives getötet wurden?«

»Ja«, antwortete er ungeduldig. Es schien eine echte Enttäuschung für ihn zu sein, dass ich nicht Gott war. »Sie starben alle zur selben Zeit.«

Was? Es kostete mich einiges an Beherrschung, meine Verwunderung nicht laut auszusprechen. Ich musste mich aus seinen Gedanken zurückziehen, um meine eigenen zu ordnen.

»Ich habe mit der Polizei gesprochen. Sie tappen im Dunkeln.«

»Und deine Schwester war in diesem Hive?«

»Ja.«

»Welcher Hive war das?«

»Etwas Lapidares, schätze ich. Irgendein Freizeitsport-Ding. Nichts Berufliches, nichts Aktivistisches oder so.« Er holte tief Luft. »Nichts … was jemanden dazu bringen könnte, zweihundert Menschen zu töten.«

Zweihundert. Ich wiederholte die Zahl in meinem Kopf, doch sooft ich es auch tat, es ergab keinen Sinn. Die Hives funktionierten mit Hypermind-Technologie. Ich arbeitete für dieses Unternehmen, seit ich denken konnte, und durch meinen zweiten Job war ich mit nahezu allen Arten vertraut, wie jemand ums Leben kommen konnte. Aber dass jemand durch seinen Hive starb? Das war technisch gar nicht möglich.

Noah musterte mich eine ganze Weile, während ich ein weiteres Mal versuchte, in seinem Kopf nach etwas zu suchen, das mir helfen konnte, diese Geschichte zu verstehen. Ja, er hatte mit der Polizei darüber gesprochen. Gestern Nacht. Eine Polizistin namens Lora Hiland hatte ihn befragt.

»Also«, brach Noah nach einigen Momenten die Stille. »Ich biete dir fünfhunderttausend Coins an, wenn du dich des Falls annimmst. Und noch mal genauso viel, wenn du herausfindest, wer dafür verantwortlich ist.«

Während ich sein Gesicht musterte, wagte ich es zunächst gar nicht, zu blinzeln, so eindringlich schaute er mich an.

Ein Mordfall – technisch unmöglich. Zweihundert Tote, und die Polizei tappte im Dunkeln. Die Medien verschleierten es.

»Ich …«, begann ich, stockte aber kurz, um meine Antwort auf sein Angebot erneut zu überdenken. »Ich fürchte, ich muss den Fall ablehnen.« Meine Stimme hörte sich sogar in meinen eigenen Ohren tonlos an. Diese Worte hatte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgesprochen.

Noahs gefasster Gesichtsausdruck wich ehrlicher Verwunderung.

»Du … du hast schon gehört, was ich dir dafür biete, oder?« Er wirkte vollkommen ratlos.

Verdammt, ja, das hatte ich. Mit dieser Menge an Geld könnte ich mich zur Ruhe setzen. Dennoch …

»Das ist zu riskant«, erklärte ich knapp. In diesen Fall würden mit großer Wahrscheinlichkeit die Polizei, das FBI und diverse private Sicherheitsdienste involviert sein. Von solchen Aufträgen ließ ich die Finger.

Noah setzte sich aufrechter hin und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und wenn ich erhöhe?«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, wiederholte ich mit bestimmtem Tonfall, obwohl es mir wirklich leidtat. Ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlte. »Julien wird dich nach draußen begleiten.«

Noah starrte mich eine ganze Weile an, bis Julien sich in seiner Ecke regte, um auf ihn zuzusteuern.

»Danke«, grummelte der junge Mann und sprang auf. Noch bevor Julien ihm die Türen öffnen konnte, war er verschwunden.

Nahm man den Hyperlift des Middle-Levels und fuhr Hunderte von Stockwerken nach oben, brachte er einen an guten Tagen bis über den Smog. Dort, auf den Dächern von Wolkenkratzern, so hoch, dass man den Himmel sehen konnte, und gleichsam nicht hoch genug, um von den Menschen des Upper-Levels gesehen zu werden, fühlte man sich fast allein mit dem Wind.

Das Metall des Daches war eiskalt unter meinen Gliedern. Selbst durch meinen dicken Mantel drang die Kälte schnell bis an meine Haut. Die Generatoren und Belüftungsanlagen des Gebäudes summten hinter mir.

All das störte mich nicht, während ich dort lag und hinauf zu den Sternen blickte.

Mir war heute verdammt viel Geld verloren gegangen. Dennoch hatte ich eine Art Bezahlung bekommen, auch wenn der Fremde nichts davon wusste – und obwohl ich mir geschworen hatte, das hier nie wieder zu tun.

Dieses Mal war es einfach zu verlockend. Also lag ich dort und stöberte durch die neuen Bilder in meinem Kopf. Die Erinnerungen, die nicht meine waren.

Sie waren so anders als alles, was ich jemals gesehen hatte. Was ich jemals gespürt hatte. Viel friedlicher und so viel freier. Ich fühlte den lauen Sommerwind in meinen Haaren, den Schlamm an meinen Fingern, die Wärme der Sonne auf der Haut. Ich spürte, wie das Gras unter meinen nackten Fußsohlen kitzelte und wie angenehm es war, sich in den Schatten des Baumes zu flüchten, während die Sonne am Horizont hinaufkroch.

Und ich dachte, ich würde in diesen Bildern und Gefühlen ertrinken. Ich hatte noch nie einen Baum gesehen oder eine Wiese oder einen Fluss. Nicht mit eigenen Augen. Ich hatte nie jemanden getroffen, der so unschuldige, unverfälschte Erinnerungen an all diese Dinge in sich trug.

Trotz der Kälte, die sich immer enger um mich schlang, war mir plötzlich ganz warm. Als wäre ich selbst dort, an diesem Sommertag.

Als wäre ich dort.

Kapitel 4

Das Herz einer seelenlosen Maschine

»Atlas? Hey.«

Juliens Stimme holte mich aus einem traumlosen Schlaf. Mattes Licht drang durch meine geschlossenen Lider, die Wärme meines Bettes umschloss mich, und ich atmete tief ein und aus. Erst nach wenigen Momenten begriff ich, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich hier gelandet war. Also schlug ich die Augen auf.

»Julien«, hauchte ich und wollte mich aufrichten, doch er legte eine Hand auf meine Brust und drückte mich zurück.

»Alles okay«, beruhigte er mich. »Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht.«

Ich schluckte schwer, schob seine Hand fort und blinzelte einige Male in den Morgen hinein. Sanftes Sonnenlicht spiegelte sich auf den Fenstern der gegenüberliegenden Wolkenkratzer und schimmerte sacht in die Wohnung. Diesen Anblick hatte ich schon lange nicht mehr gesehen.

»Es geht mir gut«, kam es über meine Lippen, ohne dass ich darüber nachgedacht hatte. Es roch nach Pancakes und Kaffee. Normalerweise wurde ich wach, wenn Julien Frühstück machte.

Gemächlich richtete er sich auf, stieg über ein paar Bücherstapel und Zeitschriften und schlenderte in die Küche. »Du hast dein ADIC überlastet und bist auf diesem Dach eingeschlafen«, erklärte er, ohne dass ich danach fragen musste.

Ich räusperte mich unangenehm berührt. Verdammt, ich war wirklich tief in diesen Erinnerungen drin gewesen. Das war mir ewig nicht mehr passiert.

Schwerfällig rappelte ich mich auf. Julien hatte mich umgezogen – ich trug nur eine Unterhose und mein weites Nachtshirt.

»Es war ein langer Tag«, schloss ich das Thema ab, als ich aufstand, um Julien in die Küche zu folgen.

Ich erinnerte mich nicht mehr daran, wann es in unserer Wohnung das letzte Mal so hell gewesen war, ohne dass die Lampen eingeschaltet waren.

Sonnenlicht. Was für eine Seltenheit. Der Blick aus dem Fenster wurde nur von den noch immer gehackten Screens überschattet, auf denen nach wie vor die riesige The-Cell-Biene prangte.

»Geht’s dir wirklich gut, oder muss ich mir Sorgen machen?«, fragte der Android.

Ich ließ mich lächelnd auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder. Die Pancakes dampften, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. »Du kannst es ja mal versuchen«, schlug ich vor, und er legte den Kopf schief. »Aber verwende nicht so viel Rechenleistung darauf. Sonst können wir am Ende des Jahres unsere Stromrechnung nicht bezahlen.«

Ein paarmal blinzelte er mich aus seinen braunen Augen an, bevor er mir die Kaffeekanne reichte. »Hypermind bleibt heute geschlossen«, informierte er mich und übermittelte mir die Nachricht meines Arbeitgebers, die er abgefangen hatte. »The Cell war die ganze Nacht aktiv. Also kannst du dir Zeit lassen.«

»Wie ist denn die Lage?« Allein der Geruch des Kaffees, den ich in meine Tasse goss, belebte mich ein wenig.

»Es sieht so aus, als würden sie alle Verkehrsstrecken und Plätze bis auf die von Hypermind in Ruhe lassen. Deswegen mischt sich die Polizei nicht großartig ein.«

Ich lachte leise auf. Obwohl die Aktivisten sich so aggressiv artikulierten, war der Gedanke fast amüsant, dass Boston Everick, der Vorstandsvorsitzende von Hypermind, sich nun persönlich mit ihnen anlegen musste.

»Das kommt mir gelegen.« Ein freier Tag war eine angenehme Vorstellung. »Wenn sich sonst nichts ergibt, können wir endlich zum Schrottplatz und unsere alten Rechner entsorgen.« Fast nahtlos schloss ich in beiläufigem Tonfall an: »Bist du zufällig auf etwas über den Mordfall gestoßen, von dem Noah gesprochen hat?«

»Ich denke, wir bearbeiten den Fall nicht?« Juliens Frage klang fast ein wenig provokant.

»Reines Interesse. Ich habe nämlich nichts gefunden.« Ich goss ein wenig künstlichen Ahornsirup über meine Pancakes. »Ist doch komisch, dass ein Mordfall wie dieser nicht mal bis an die Untergrundmedien dringt.« Vielleicht interessierte mich diese Sache wirklich. Vielleicht versuchte ich auch nur, die Scham darüber zu verdrängen, wie lange ich mich gestern diesen fremden Kindheitserinnerungen hingegeben hatte.

Während ich frühstückte, nahm ich Verbindung zu Juliens Prozessoren auf.

»Ich habe etwas zu Lora Hiland recherchiert«, sagte er und betrachtete mich forschend. »Weil ich dich kenne.« Das Lächeln, das er aufsetzte, war gespielt herabwürdigend, doch es funktionierte.

»Idiot«, sagte ich grinsend.

»Lora Christine Hiland ist neunundzwanzig Jahre alt und Polizistin erster Klasse.«

»Wow, in dem Alter schon.« Ich schob mir einen weiteren Bissen in den Mund. »Nicht schlecht.«

Julien sendete mir ein Bild von ihr. Weiße Haut, blonde Haare, blaue Augen. In ihrem Gesichtsausdruck lag etwas Forsches, Entschlossenes. Mit der war vermutlich nicht zu scherzen.

»Hast du einen Hive ausfindig machen können, über den ich in sie reinkomme?«

»Willst du dich wirklich in die Polizei einhacken?«

Ich zog die Augenbrauen hoch und schaute ihn fordernd an. Sofort knickte er ein und seufzte.

»Ja, hab ich. Ich schick es dir gleich. Aber iss erst mal auf.«

Das Fahrzeug, in dem wir saßen, schwebte an den letzten Wolkenkratzern Washingtons vorbei. Mit einem gewaltigen Ruck wurden wir zur Seite gedrückt, als die rauen Winde, die über der Konstruktionsebene herrschten, uns erfassten.

Ich biss die Zähne zusammen, ließ meinen Blick durch den transparenten Fußraum nach unten gleiten. Mir wurde jedes Mal übel, wenn wir den Schutz der Stadt verließen, um uns in den Außenbereich zu begeben. Die Maschinen, die Tag und Nacht mit dem Bau neuer Gebäude beschäftigt waren, reihten sich bis zum Horizont auf. Die Stadt wuchs schneller als ein Geschwür. Millionen von Klimaflüchtlingen drängten sich in die stark besiedelten Gebiete, wo sie zumindest durch Metall vor den aggressiven Witterungen der Welt geschützt waren.

Der Himmel hatte sich wieder zugezogen. Fast bereute ich es, noch gefrühstückt und die Wintersonne dadurch verpasst zu haben. Jetzt klatschte Schneeregen auf unsere Frontscheibe.

Ob dieser Noah sein Gesicht auch nach jedem Sonnenstrahl reckte, den er sah? Oder gab es dort, wo er herkam, mehr davon? Hatte er vielleicht sogar schon den Dyson Swarm besucht, die Satelliten, Sphären und Hotels, die um unsere Sonne kreisten?

»Du solltest aufhören, weiter im Gehirn dieses Typen herumzugraben«, murmelte Julien und steuerte den Wagen ein Stück nach unten, um in den Windschatten einiger Metallskelette einzutauchen. »Sonst wirst du abhängig von seinen Erinnerungen.«

Ich grummelte leise, stimmte ihm allerdings zu. »Ich nerve mich selbst. Wir sollten schnell ’nen spannenden Auftrag an Land ziehen, damit ich den Kopf wieder freibekomme.«

Die Gedanken von Lora Hiland waren eine Sackgasse gewesen. In all den Stunden, die dieser Fall nun alt war, hatte sie überraschend wenig herausgefunden. Ich hatte mir die Liste mit den Opfern heruntergeladen. Ihre Vermutung, dass The Cell hinter dem Mord steckte, nur weil überraschend viele Industrielle in dem ermordeten Hive gewesen waren, hielt ich allerdings für zu weit hergeholt.

Sie hatte also nichts.

Eine Kontaktanfrage blinkte vor meinen Augen auf, und ich nahm sie an. »David, was gibt’s?«, fragte ich laut. Julien hörte ja eh mit.

»Oracle, schön, deine Stimme zu hören«, antwortete der Mann, der sich seit Jahren zuverlässig mit der Entsorgung unseres Schrotts beschäftigte. »Kleine Planänderung. Könnt ihr in den 101. Abschnitt kommen? Meine Pressen zicken heute rum.«

»Klar«, entgegnete ich und blinzelte zu Julien hinüber, der sofort den korrigierten Kurs einschlug. Das kam nicht zum ersten Mal vor. »Kannst du es da auch sicher entsorgen?«

»Natürlich«, bestätigte er.

Das Dröhnen der Müllpressanlagen und die wirbelnde Hitze der Verbrennungsöfen, die sich mit der winterlichen Luft mischte, schlugen mir entgegen. Julien hatte den Wagen auf einem erdigen Grund gelandet, und als ich ausstieg, überkam mich sofort dieses unwohle Gefühl, das mich zwischen den meterhohen Maschinen in diesem Bereich der Stadt jedes Mal heimsuchte. Das uralte Material, aus dem sie gefertigt waren, rostete an allen Stellen, und der Geruch nach verbranntem Plastik mischte sich mit einer derart verbrauchten Luft, dass das Atmen schwerfiel.

»Lass uns das Zeug wegbringen und schnell verschwinden«, murmelte ich Julien zu, der sich rasch an meine Seite schob und neben mir, mit all den kleinen Supercomputern in den Taschen, auf die Verwaltungshütte zusteuerte. Ich zog die Kapuze über meinen Kopf, um der nieselnden Mischung aus Schnee und Regen zu entgehen, und stapfte durch den Schlamm voran.

»Irgendwas ist komisch«, stellte ich fest, als wir uns dem Haus näherten. Die Lichter waren ausgeschaltet, obwohl der Himmel von Minute zu Minute dunkler wurde. Gewitterwolken zogen auf.

War David doch nicht hier? Ich wollte meine Fühler nach seinem ADIC ausstrecken, um zu schauen, ob alles stimmte. Aber schon im nächsten Moment krachte die Tür der kleinen Hütte auf, und er trat heraus. Die Hände erhoben, einen schuldbewussten Ausdruck auf dem Gesicht, blaue Flecken und Kratzer am ganzen Körper.

Verdammte Scheiße.

Drei Männer folgten David mit auf ihn gerichteten Waffen.

Ich stöhnte leise und schüttelte den Kopf. »Warum vertraue ich überhaupt jemandem?«, rief ich ihm und den Männern entgegen, um ein wenig Zeit zu schinden. Ich wies Julien im Geist an, sich bereitzuhalten und Flucht- und Kampfoptionen auszurechnen, während ich, um Gelassenheit bemüht, in Davids Geist eindrang, um herauszufinden, was hier vor sich ging.

Bilder wirbelten durch seine Gedanken. Waffen, Schläge. Und ein Gesicht. Dieser Typ also.

»Sie können rauskommen, Mr. Soho!«, rief ich, als ich den Kerl identifiziert hatte. »Es kommt unerwartet, dass Sie sich noch einmal mit uns anlegen, nachdem wir Ihnen das letzte Mal den Arsch aufgerissen haben!«

Die Stirn gerunzelt, beobachtete ich den dunklen Eingang der Hütte, aus der unser Freund nun langsam trat. Das gewinnende Lächeln auf seinen Zügen verpasste mir einen Schauer. Julien übermittelte mir den Fluchtweg, den er berechnet hatte. Überlebenschancen: Vierunddreißig Prozent. Super.

»Was soll die Scheiße?«, rief ich. Regen wehte mir ins Gesicht und kribbelte unangenehm auf meiner Haut. Julien ließ langsam die Hände unter seinen Mantel zu seinen Waffen gleiten. »Können wir nicht …«

Ich wollte weitersprechen, während ich sein ADIC nach Informationen durchsuchte. Aber das erste Bild, das ich sah, versetzte mir einen solchen Schock, dass ich einige Schritte zurückstolperte.

Fuck!

Noch ehe ich Julien warnen konnte, eröffneten die Männer das Feuer. Mein Begleiter packte mich am Arm und zog mich auf eine der Müllpressen zu, während er die Schüsse erwiderte. Ich ließ mich willenlos mitziehen, achtete gar nicht auf das Geschehen, weil meine Augen und mein ADIC nach etwas anderem suchten.

Doch kurz bevor wir uns in die erste Deckung hatten flüchten können, brach es schon zwischen den Metallträgern der Anlage hervor und baute sich in all seiner Größe vor uns auf. Ich erstarrte, legte den Kopf in den Nacken und sah zu dem Ding hinauf, das eine Kanone auf mich richtete, die mindestens doppelt so groß war wie ich. Ein Kampfroboter.

Das Metall des Gebäudes hinter ihm knarzte, so viele Pfeiler hatte er mit einer Bewegung wie Streichhölzer weggerissen. Erst das Leuchten seines Arms, das das Aufladen des ersten Schusses ankündigte, riss mich aus meiner Schockstarre.

Ich hechtete zur Seite und rollte mich aus dem Schussfeld der Maschine, die mir ohne Mühen mit ihren Blicken folgte. Der Energiestrahl, den sie abfeuerte, war so gleißend weiß, dass er die Umgebung wie ein Blitz erhellte und ich kurz die Sicht verlor.

Blind rannte ich weiter. Die Streben der Anlage boten mir keinen Schutz, aber selbst eine stabilere Mauer wäre gegen dieses Ding nutzlos gewesen. Seine Waffen schnitten durch Stein wie durch Butter.

»Julien!« Das Hämmern seiner Gewehre war erstorben, ebenso wie das der gegnerischen.

Ein weiterer Energiestrahl verfehlte mich um Haaresbreite. Ich spürte die Hitze auf meiner Haut, als ich auf wackligen Beinen so schnell rannte, wie ich konnte. Der Roboter langte nach mir, und obwohl er mich nur am Fuß traf, schleuderte mich die Wucht seiner Berührung einige Meter zur Seite. Ich schlug gegen eine Wand, fiel zu Boden, aber da war kein Schmerz in meinen Gliedern. Blitzschnell raffte ich mich wieder auf die Beine, rannte weiter.

Stöhnend hastete ich zwischen den Stützen entlang und versuchte, meine schwirrenden Gedanken weit genug zu beruhigen, um zumindest überprüfen zu können, ob Julien noch lebte.

Ich erreichte das Ende des Korridors, aber unser Wagen war nutzlos. Selbst wenn wir ihn schnell genug hätten starten können, hätte das Ding uns einfach vom Himmel gepustet.

Taumelnd sprang ich um eine Hausecke, atmete tief durch und nutzte die eine Sekunde, die ich vermutlich noch bis zum nächsten Schuss hatte, um Verbindung zu allem aufzunehmen, was sich in der näheren Umgebung befand. Arbeiterandroiden verschiedener Klassen. Einer von ihnen fuhr in einem riesigen Lastwagen durch die Korridore, direkt auf uns zu.

Bingo! Ich hechtete zur Seite, während der Roboter tobend um die Ecke bog und mit einem seiner Arme die Wand der Halle einschlug. Das Metall knüllte sich unter der Wucht seines Hiebes wie Papier. Erneut richtete er seine Kanone auf mich, in dem Moment, in dem ich Juliens Gewehre wieder hören konnte – und das Ding herumwirbelte.

Scheiße, hoffentlich erwischte es Julien nicht! Aber ich durfte keine Sekunde verlieren. Ich hackte mich in den Androiden, der den Transporter steuerte, und ließ ihn beschleunigen und herumlenken. Der Roboter hatte gerade einen weiteren Schuss abgefeuert, als der Transporter ungebremst auf ihn zuraste und ihn mit einem ohrenbetäubenden Krachen tief in die Halle drückte.

Das würde ihn nicht aufhalten, gab uns allerdings eine halbe Minute.

Der Roboter regte sich.

Vielleicht doch nur fünfzehn Sekunden.

Ich schloss die Augen, um in sein System einzudringen. Verdammt, da waren drei beschissene Barrieren!

Die erste Barriere war eine simple Verschlüsselung, die sich innerhalb von wenigen Sekunden knacken ließ.

Ich hörte Julien auf mich zurennen, um mich am Arm zu packen und mich auf das Auto zuzuziehen.

»Nein, verdammt, dafür ist keine Zeit!«, schrie ich und kämpfte mich von ihm los.

Die zweite Barriere erforderte eine Stimmautorisierung, also flutete ich alle Worte über die Synapsen des Roboters, die ich jemals von Soho und seinen Mitarbeitern aufgeschnappt hatte. Es funktionierte!

Doch bevor ich die dritte Ebene erreichte, packte mich Julien erneut und riss mich weiter. Ich öffnete die Augen und sah, dass der Roboter sich bereits befreit hatte. Er schleuderte den Laster mit einer Wucht zur Seite, dass er an das nächstgelegene Gebäude donnerte, das unter der Gewalt des Aufpralls bedenklich wankte.

»Komm!«, rief Julien, als die Maschine einen Satz auf uns zumachte und ihre Kanone wieder aktivierte.

Die dritte Ebene! Ich achtete gar nicht auf meine Schritte. Die Umgebung verblasste unter diesem letzten Akt der Konzentration, die ich aufzubringen versuchte.

Ein optisches Passwort. Und zum ersten Mal war ich dankbar dafür, dass ich mein Leben damit verbracht hatte, in den Köpfen von Fremden herumzustöbern und alles anzusammeln, was mir über den Weg lief.

Der Supercomputer an meiner Kette begann zu glühen, und Juliens Sommersprossen leuchteten auf, als der Roboter nur noch wenige Schritte von uns entfernt war und ich ihn mit allen Bildern, Gedanken und Emotionen spülte, über die mein zugemülltes ADIC verfügte.

»STOPP!«, schrie ich.

Und einen knappen Meter vor uns kam die Maschine zum Stillstand.

Ich atmete auf, und Julien erstarrte in der Bewegung, seine Hand noch immer schmerzend fest in meinen Arm gekrallt.

Der nasse Schnee fiel auf mein Gesicht. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um zu dem gewaltigen Wesen aufzuschauen, das seine Kanone wieder entlud und mit den leuchtenden Augen fast fragend zu uns herabschaute.

»Na geht doch, Großer«, keuchte ich, dann beugte ich mich vor und stützte die Hände auf meinen Knien ab. Mein Schädel dröhnte. Ich wusste nicht, ob es von dem Aufprall an der Wand oder der Anstrengung kam, dieses Teil zu hacken.

Erst jetzt spürte ich den Schmerz, den der Schlag des Roboters ausgelöst hatte. Mein Fuß pochte, meine Rippen brannten bei jedem Atemzug, und ich fühlte Blut heiß an meiner Schläfe hinabrinnen, schmeckte es auf meiner Zunge.

»Was für ein Arsch«, ächzte ich und richtete mich auf. Einige Androiden waren aus den Winkeln und Gebäuden gekommen, um zu schauen, was hier vor sich ging.

Verdammt, wir mussten verschwinden, bevor jemand den Vorfall meldete und uns festnahm.

Ich setzte mich in Bewegung, um auf das Auto zuzusteuern – bevor ich Schritte in unserer Nähe vernahm und mich umsah.

»Soho!«, rief ich, überrascht, dass der Kerl noch lebte, und riss Julien eine seiner Waffen aus der Hand. Der Geschäftsmann schaute mich aus großen Augen an und stürzte in der nächsten Sekunde in die Gasse auf dem Weg zur Hütte zurück.

»Na warte«, knurrte ich, setzte ihm hinterher, nahm die Waffe in Anschlag und feuerte eine Salve ab. Es überraschte mich selbst, dass ich traf und er im Matsch zu Boden ging. Das Gewehr fallen lassend holte ich zu ihm auf, während er sich unter Stöhnen und Flüchen auf den Rücken wand. Weiter kam er nicht. Meine Schüsse hatten ihn am Bein und im Bauchbereich getroffen. »Bleib weg von mir, Schlampe!«, schrie er mir hysterisch entgegen.

Ich trat über ihn, bückte mich hinab und packte ihn am Kragen. »Was sollte die Scheiße, hm?«

Er spuckte mir Blut ins Gesicht, doch ich ließ nicht von ihm ab. Langsam hob ich die Hand, um es mir aus den Augen zu wischen.

Durchatmen. Nicht ausrasten.

»Ich bin keine einfache Kriminelle«, grollte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und blinzelte einige Male, ohne ihn loszulassen. »Du und deine Männer habt euch maßlos überschätzt, also erzähl mir, was das sollte. Dann bereitet dir mein Begleiter vielleicht ein schnelles Ende.«

Ich hätte mich auch in sein ADIC loggen können, aber ich wusste nicht, ob ich noch genügend Kraft und Konzentration aufbringen konnte, um Verwendbares herauszukristallisieren.

Meine Finger zitterten unkontrolliert. Blut rann mir von der Wunde an meiner Schläfe ins Auge.

Noch immer kein Wort.

»Julien!«, rief ich, ohne meinen Blick von Soho zu lösen.

Und endlich machte er den Mund auf: »Du dummes Stück Scheiße! Ich wusste genau, dass man sich mit euch Kindern aus der Gosse nicht einlassen kann! Du hast mich und meine verdammte Firma verraten!«

Ich runzelte die Stirn und loggte mich zumindest so weit in sein Bewusstsein ein, dass ich überprüfen konnte, ob das wirklich die Wahrheit war.

Tatsächlich.

Aber warum? Waren meine Informationen falsch gewesen?

»Die Erinnerungen stammten aus sicherer Quelle«, erklärte ich, nun etwas ruhiger. Soho hustete, und ich ließ ihn los.

Es war fast traurig, dass der Kerl sich weiterhin Sorgen um sein Geschäft machte. Lange leben würde er nicht mehr.

»Du weißt genau, wovon ich rede, Schlampe«, keuchte er, und ich wich noch ein Stück von ihm zurück, als er röchelnd nach Luft schnappte. »Du hast meinen Geschäftspartner kaltgemacht.«

Wieder ein Blick in sein ADIC.

Charles Langdon. Der Name kam mir bekannt vor.

Ermordet. Blut quoll aus seinen Augen und seinem Mund.

»Sein verdammter Schädel wurde gebraten«, hustete Soho. »Du bist der einzige Scheißmensch, den ich kenne, der dazu in der Lage ist.« Sein Blut vermischte sich mit Wasser, Schnee und Schlamm. »Wenn du überhaupt ein Mensch bist.«

Ich holte Luft, um etwas zu erwidern, dann schüttelte ich den Kopf und rückte ein weiteres Stück von ihm ab. »Sie irren sich«, murmelte ich. »Ich bin ein Mensch. Ich kann so etwas nicht. Und ich war es nicht.«

Seine Gedanken sprudelten vor Chaos und Verzweiflung. Sein Partner war auf dem Weg zum Mars gewesen, um den Transport zu verhindern, als er umgekommen war.

Und plötzlich wusste ich, woher ich den Namen kannte: Er war eins der Mordopfer von Lora Hilands Liste.

Ein weiterer Industrieller.

Ich richtete mich auf, und Julien trat näher an uns heran. Wir sahen auf den Mann hinab, der sich verzweifelt krümmte.

»Du Monster«, fauchte er schwach.

Ich seufzte, wandte mich um und ging auf den Wagen zu.