Der Einzige und sein Eigentum - Max Stirner - E-Book

Der Einzige und sein Eigentum E-Book

Max Stirner

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Beschreibung

Das Buch ist kein sorgfältig komponiertes Werk, wie das nachfolgend wiedergegebene Inhaltsverzeichnis vermuten lässt, sondern im Grunde eine Gelegenheitsarbeit. Es entstand aus den oft heftigen Diskussionen, die in den Jahren 1841-44 in dem Berliner Debattierclub Die Freien geführt wurden. Hauptthemen waren die jeweils neuesten philosophischen Schriften von Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer, die nach Kant, Fichte und Hegel eine radikal atheistische Aufklärung und eine Philosophie der Tat begründen wollten. Inhalt: Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt Erste Abteilung: Der Mensch I. Ein Menschenleben II. Menschen der alten und neuen Zeit Zweite Abteilung: Ich I. Die Eigenheit II. Der Eigner III. Der Einzige Fußnoten

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Der Einzige und sein Eigentum

Max Stirner

Inhalt:

Max Stirner – Biografie und Bibliografie

Der Einzige und sein Eigentum

Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt

Erste Abteilung: Der Mensch

I. Ein Menschenleben

II. Menschen der alten und neuen Zeit

Zweite Abteilung: Ich

I. Die Eigenheit

II. Der Eigner

III. Der Einzige

Fußnoten

Der Einzige und sein Eigentum , M. Stirner

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636883

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Max Stirner – Biografie und Bibliografie

Eigentlich Kaspar Schmidt, bekannter philosophischer Schriftsteller, geb. 25. Okt. 1806 in Bayreuth, gest. 26. Juni 1856 in Berlin, studierte in Berlin, Erlangen und Königsberg Theologie und Philologie, ward Gymnasiallehrer in Berlin, dann Lehrer an einer höheren Töchterschule daselbst. Zuletzt lebte er in sehr dürftigen Verhältnissen. Sein Hauptwerk: »Der Einzige und sein Eigentum« (Leipz. 1845, 3. Aufl. 1900, auch in Reclams Universal-Bibliothek), kann als das Äußerste gelten, was der philosophische Radikalismus an kühner und geistreicher Negation gegen Staat, Religion, Sitte und in der Betonung des vollendeten Egoismus hervorgebracht hat. Sonst schrieb er noch eine »Geschichte der Reaktion« (Berl. 1852, 2 Bde.) und übersetzte Says »Lehrbuch der praktischen politischen Ökonomie« (Leipz. 1845, 4 Bde.) und Adam Smiths »Untersuchungen über den Nationalreichtum«. Zuerst erregten seine Ausstellungen einiges Aufsehen und Widerspruch, dann waren sie lange Zeit vergessen, bis E. v. Hartmann wieder darauf hinwies. Später wurden sie in Verbindung mit Nietzsches Ansichten gebracht, wiewohl mit Unrecht, und mehr beachtet. Max Stirners »Kleinere Schriften« gab Mackay heraus (Berl. 1898). Vgl. Lucchesi, Die Individualitätsphilosophie Stirners (Leipz. 1897); Mackay, M. Stirner, sein Leben und sein Werk (das. 1898); Joël, Philosophenwege (Berl. 1901); V. Basch, Individualisme anarchiste, Max Stirner (Par. 1904); Ruest, Max Stirner (2. Aufl., Berl. 1906); Messer, Max Stirner (das. 1907); E. Horn, Max Stirners ethischer Egoismus (das. 1906).

Der Einzige und sein Eigentum

Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt

Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache meines Volkes, meines Fürsten, meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur meine Sache soll niemals meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!«

Sehen wir denn zu, wie diejenigen es mit ihrer Sache machen, für deren Sache wir arbeiten, uns hingeben und begeistern sollen.

Ihr wißt von Gott viel Gründliches zu verkünden und habt jahrtausendelang »die Tiefen der Gottheit erforscht« und ihr ins Herz geschaut, so daß ihr uns wohl sagen könnt, wie Gott die »Sache Gottes«, der wir zu dienen berufen sind, selber betreibt. Und ihr verhehlt es auch nicht, das Treiben des Herrn. Was ist nun seine Sache? Hat er, wie es uns zugemutet wird, eine fremde Sache? Hat er die Sache der Wahrheit, der Liebe zur seinigen gemacht? Euch empört dies Mißverständnis und ihr belehrt uns, daß Gottes Sache allerdings die Sache der Wahrheit und Liebe sei, daß aber diese Sache keine ihm fremde genannt werden könne, weil Gott ja selbst die Wahrheit und Liebe sei; euch empört die Annahme, daß Gott uns armen Würmern gleichen könnte, indem er eine fremde Sache als eigene beförderte. »Gott sollte der Sache der Wahrheit sich annehmen, wenn er nicht selbst die Wahrheit wäre«? Er sorgt nur für seine Sache, aber weil er alles in allem ist, darum ist auch alles seine Sache; wir aber, wir sind nicht alles in allem, und unsere Sache ist gar klein und verächtlich; darum müssen wir einer »höheren Sache dienen«. – Nun, es ist klar, Gott bekümmert sich nur ums Seine, beschäftigt sich nur mit sich, denkt nur an sich und hat sich im Auge; wehe allem, was ihm nicht wohlgefällig ist. Er dient keinem Höheren und befriedigt nur sich. Seine Sache ist eine – rein egoistische Sache.

Wie steht es mit Menschheit, deren Sache wir zur unsrigen machen sollen? Ist ihre Sache etwa die eines andern und dient die Menschheit einer höheren Sache? Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selber ihre Sache. Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker und Individuen in ihrem Dienst sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die Menschheit braucht, dann werden sie von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. Ist die Sache der Menschheit nicht eine – rein egoistische Sache?

Ich brauche gar nicht an jedem, der seine Sache uns zuschieben möchte, zu zeigen, daß es ihm nur um sich, nicht um uns, nur um sein Wohl, nicht um das unsere zu tun ist. Seht euch die übrigen nur an. Begehrt die Wahrheit, die Freiheit, die Humanität, die Gerechtigkeit etwas anderes, als daß ihr euch enthusiasmiert und ihnen dient?

Sie stehen sich alle ausnehmend gut dabei, wenn ihnen pflichteifrigst gehuldigt wird. Betrachtet einmal das Volk, das von ergebenen Patrioten geschützt wird. Die Patrioten fallen im blutigen Kampfe oder im Kampfe mit Hunger und Not; was fragt das Volk danach? Das Volk wird durch den Dünger ihrer Leichen ein »blühendes Volk«! Die Individuen sind »für die große Sache des Volks« gestorben, und das Volk schickt ihnen einige Worte des Dankes nach und – hat den Profit davon. Das nenn' ich mir einen einträglichen Egoismus.

Aber seht doch jenen Sultan an, der für »die Seinen« so liebreich sorgt. Ist er nicht die pure Uneigennützigkeit selber und opfert er sich nicht stündlich für die Seinen? Ja wohl, für »die Seinen« Vesuch' es einmal und zeige dich nicht als der Seine, sondern als der Deine: Du wirst dafür, daß du seinem Egoismus dich entzogst, in den Kerker wandern. Der Sultan hat seine Sache auf nichts, als auf sich gestellt: er ist sich alles in allem, ist sich der Einzige und duldet keinen, der es wagte, nicht einer der »Seinen« zu sein.

Und an diesen glänzenden Beispielen wollt ihr nicht lernen, daß der Egoist am besten fährt? Ich meinesteils nehme mir eine Lehre daran und will, statt jenen großen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein. Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf nichts gestellt, auf nichts als auf sich. Stelle ich denn meine Sache gleichfalls auf mich, der ich so gut wie Gott das Nichts von allem andern, der ich mein alles, der ich der Einzige bin.

Hat Gott, hat die Menschheit, wie ihr versichert, Gehalt genug in sich, um sich alles in allem zu sein: so spüre ich, daß es mir noch weit weniger daran fehlen wird, und daß ich über meine »Leerheit« keine Klage zu fuhren haben werde. Ich bin nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem ich selbst als Schöpfer alles schaffe.

Fort denn mit jener Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist! Ihr meint, meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn.

Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie ich einzig bin.

Mir geht nichts über mich!

Erste Abteilung: Der Mensch

I. Ein Menschenleben

Von dem Augenblicke an, wo er das Licht der Welt erblickt, sucht ein Mensch aus ihrem Wirrwarr, in welchem auch er mit allem andern bunt durcheinander herumgewürfelt wird, sich herauszufinden und sich zu gewinnen.

Doch wehrt sich wiederum alles, was mit dem Kinde in Berührung kommt, gegen dessen Eingriffe und behauptet sein eigenes Bestehen.

Mithin ist, weil Jegliches auf sich hält, und zugleich mit anderem in stete Kollision gerät, der Kampf der Selbstbehauptung unvermeidlich.

Siegenoder Unterliegen, – zwischen beiden Wechselfällen schwankt das Kampfgeschick. Der Sieger wird der Herr, der Unterliegende der Untertan: jener übt die Hoheit und »Hoheitsrechte«, dieser erfüllt in Ehrfurcht und Respekt die »Untertanenpflichten«.

Aber Feinde bleiben beide und liegen immer auf der Lauer; sie lauern einer auf die Schwäche des andern, Kinder auf die der Eltern, und Eltern auf die der Kinder (z.B. ihre Furcht), der Stock überwindet entweder den Menschen oder der Mensch überwindet den Stock.

Im Kindheitsalter nimmt die Befreiung den Verlauf, daß wir auf den Grund der Dinge oder »hinter die Dinge« zu kommen suchen: daher lauschen wir allen ihre Schwächen ab, wofür bekanntlich Kinder eines sichern Instinkt haben, daher zerbrechen wir gerne, durchstöbern gern verborgene Winkel, spähen nach dem Verhüllten und Entzogenen, und versuchen uns an allem. Sind wir erst dahinter gekommen, so wissen wir uns sicher; sind wir z.B. dahinter gekommen, daß die Rute zu schwach ist gegen unsern Trotz, so fürchten wir sie nicht mehr, »sind ihr entwachsen«.

Hinter der Rute steht, mächtiger als sie, unser – Trotz, unser trotziger Mut. Wir kommen gemach hinter alles, was uns unheimlich und nicht geheuer war, hinter die unheimlich gefürchtete Macht der Rute, der strengen Miene des Vaters usw., und hinter allem finden wir unsere – Ataraxie, d.h. Unerschütterlichkeit, Unerschrockenheit, unsere Gegengewalt, Übermacht, Unbezwingbarkeit. Was uns erst Furcht und Respekt einflößte, davor ziehen wir uns nicht mehr scheu zurück, sondern fassen Mut. Hinter allem finden wir unsern Mut, unsere Überlegenheit; hinter dem barschen Befehl der Vorgesetzten und Eltern steht doch unser mutiges Belieben oder unsere überlistende Klugheit. Und je mehr wir uns fühlen, desto kleiner erscheint, was zuvor unüberwindlich dünkte. Und, was ist unsere List, Klugheit, Mut, Trotz? Was sonst als – Geist!

Eine geraume Zeit hindurch bleiben wir mit einem Kampfe, der später uns so sehr in Atem setzt, verschont, mit dem Kampfe gegen die Vernunft. Die schönste Kindheit geht vorüber, ohne daß wir nötig hätten, uns mit der Vernunft herumzuschlagen. Wir kümmern uns gar nicht um sie, lassen uns mit ihr nicht ein, nehmen keine Vernunft an. Durch Überzeugung bringt man uns zu nichts, und gegen die guten Gründe, Grundsätze usw. sind wir taub; Liebkosungen, Züchtigungen und ähnlichem widerstehen wir dagegen schwer.

Dieser saure Lebenskampf mit der Vernunft tritt erst später auf, und beginnt eine neue Phase: in der Kindheit tummeln wir uns, ohne viel zu grübeln.

Geistheißt die erste Selbstfindung, die erste Entgötterung des Göttlichen, d.h. des Unheimlichen, des Spuks, der »oberen Mächte«. Unserem frischen Jugendgefühl, diesem Selbstgefühl, imponiert nun nichts mehr: die Welt ist in Verruf erklärt, denn wir sind über ihr, sind Geist.

Jetzt erst sehen wir, daß wir die Welt bisher gar nicht mit Geist angeschaut haben, sondern nur angestiert.

An Naturgewalten üben wir unsere ersten Kräfte. Eltern imponieren uns als Naturgewalt; später heißt es: Vater und Mutter sei zu verlassen, alle Naturgewalt für gesprengt zu erachten. Sie sind überwunden. Für den Vernünftigen, d.h. »geistigen Menschen«, gibt es keine Familie als Naturgewalt: es zeigt sich eine Absagung von Eltern, Geschwistern usw. Werden diese als geistige, vernünftige Gewalten »wiedergeboren«, so sind sie durchaus nicht mehr das, was sie vorher waren.

Und nicht bloß die Eltern, sondern die Menschen überhaupt werden von dem jungen Menschen besiegt: sie und ihm kein Hindernis, und werden nicht mehr berücksichtigt: denn, heißt es nun: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Alles »Irdische« weicht unter diesem hohen Standpunkte in verächtliche Ferne zurück; denn der Standpunkt ist der – himmlische.

Die Haltung hat sich nun durchaus umgekehrt, der Jüngling nimmt ein geistiges Verhalten an, während der Knabe, der sich noch nicht als Geist fühlte, in einem geistlosen Lernen aufwuchs. Jener sucht nicht der Dinge habhaft zu werden, z.B. nicht die Geschichts data in seinen Kopf zu bringen, sondern der Gedanken, die in den Dingen verborgen liegen, also z.B. des Geistes der Geschichte; der Knabe hingegen versteht wohl Zusammenhänge, aber nicht Ideen, den Geist; daher reiht er Lernbares an Lernbares, ohne apriorisch und theoretisch zu verfahren, d.h. ohne nach Ideen zu suchen.

Hatte man in der Kindheit den Widerstand der Weltgesetze zu bewältigen, so stößt man nun bei allem, was man vorhat, auf eine Einrede des Geistes, der Vernunft, des eigenen Gewissens. »Das ist unvernünftig, unchristlich, unpatriotisch« und dergl., ruft uns das Gewissen zu, und – schreckt uns davon ab. – Nicht die Macht der rächenden Eumeniden, nicht den Zorn des Poseidon, nicht den Gott, so fern er auch das Verborgene sieht, nicht die Strafrute des Vaters fürchten wir, sondern das – Gewissen.

Wir »hängen nun unsern Gedanken nach« und folgen ebenso ihren Geboten, wie wir vorher den elterlichen, menschlichen folgten. Unsere Taten richten sich nach unseren Gedanken (Ideen, Vorstellungen, Glauben), wie in der Kindheit nach den Befehlen der Eltern.

Indes gedacht haben wir auch schon als Kinder, nur waren unsere Gedanken keine fleischlosen, abstrakten, absoluten, d.h. nichts als Gedanken, ein Himmel für sich, eine reine Gedankenwelt, logische Gedanken.

Im Gegenteil waren es nur Gedanken gewesen, die wir uns über eine Sache machten: wir dachten uns das Ding so oder so. Wir dachten also wohl: die Welt, die wir da sehen, hat Gott gemacht; aber wir dachten (»erforschten«) nicht die »Tiefen der Gottheit selber«; wir dachten wohl: »das ist das Wahre an der Sache«, aber wir dachten nicht das Wahre oder die Wahrheit selbst, und verbanden nicht zu einem Satze »Gott ist die Wahrheit«. Die »Tiefen der Gottheit, welche die Wahrheit ist«, berührten wir nicht. Bei solchen rein logischen, d.h. theologischen Fragen: »was ist Wahrheit?« hält sich Pilatus nicht auf, wenngleich er im einzelnen Falle darum nicht zweifelt, zu ermitteln, »was Wahres an der Sache ist«, d.h. ob die Sache wahr ist.

Jeder an eine Sache gebundene Gedanke ist noch nicht nichts als Gedanke, absoluter Gedanke.

Den reinen Gedankenzutage zu fördern oder ihm anzuhängen, das ist Jugendlust, und alle Lichtgestalten der Gedankenwelt, wie Wahrheit, Freiheit, Menschentum, der Mensch usw., erleuchten und begeistern die jugendliche Seele.

Ist aber der Geist als das Wesentliche erkannt, so macht es doch einen Unterschied, ob der Geist arm oder reich ist, und man sucht deshalb reich an Geist zu werden: es will der Geist sich ausbreiten, sein Reich zu gründen, ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, der eben überwundenen. So sehnt er sich denn alles in allem zu werden, d.h. obgleich ich Geist bin, bin ich doch nicht vollendeter Geist, und muß den vollkommenen Geist erst suchen.

Damit verliere ich aber, der ich mich soeben als Geist gefunden hatte, sogleich mich wieder, indem ich vor dem vollkommenen Geiste, als einem mir nicht eigenen, sondern jenseitigen, mich beuge und meine Leerheit fühle.

Auf Geist kommt zwar alles an, aber ist auch jeder Geist der »rechte« Geist? Der rechte und wahre Geist ist das Ideal des Geistes, der »heilige Geist«. Er ist nicht mein oder dein Geist, sondern eben ein – idealer, jenseitiger, er ist »Gott«. »Gott ist Geist«. Und dieser jenseitige »Vater im Himmel gibt ihn denen, die ihn bitten«1.

Den Mannscheidet es vom Jünglinge, daß er die Welt nimmt, wie sie ist, statt sie überall im Argen zu wähnen und verbessern, d.h. nach seinem Ideale modeln zu wollen; in ihm befestigt sich die Ansicht, daß man mit der Welt nach seinem Interesse verfahren müsse, nicht nach seinen Idealen.

Solange man sich nur als Geist weiß, und all seinen Wert darin legt, Geist zu sein (dem Jünglinge wird es leicht, sein Leben, das »leibliche«, für ein Nichts hinzugeben, für die albernste Ehrenkränkung), so lange hat man auch nur Gedanken, Ideen, die man einst, wenn man einen Wirkungskreis gefunden, verwirklichen zu können hofft; man hat also einstweilen nur Ideale, unvollzogene Ideen oder Gedanken.

Erst dann, wenn man sich leibhaftig liebgewonnen, und an sich, wie man leibt und lebt, eine Lust hat – so aber findet sich's im reifen Alter, beim Manne – erst dann hat man ein persönliches oder egoistisches Interesse, d.h. ein Interesse nicht etwa nur unseres Geistes, sondern totaler Befriedigung, Befriedigung den ganzen Kerls, ein eigennütziges Interesse. Vergleicht doch einmal einen Mann mit einem Jünglinge, ob er euch nicht härter, ungroßmütiger, eigennütziger erscheinen wird. Ist er darum schlechter? Ihr sagt nein, er sei nur bestimmter, oder, wie ihr's auch nennt, »praktischer« geworden. Hauptsache jedoch ist dies, daß er sich mehr zum Mittelpunkte macht, als der Jüngling, der für anderes, z.B. Gott, Vaterland und dergl., »schwärmt«.

Darum zeigt der Mann eine zweite Selbstfindung. Der Jüngling fand sich als Geist und verlor sich wieder an den allgemeinen Geist, den vollkommenen, heiligen Geist, den Menschen, die Menschheit, kurz alle Ideale; der Mann findet sich als leibhaftigen Geist.

Knaben hatten nur ungeistige, d.h. gedankenlose und ideenlose, Jünglinge nur geistige Interessen; der Mann hat leibhaftige, persönliche, egoistische Interessen. 

Wenn das Kind nicht einen Gegenstand hat, mit welchem es sich beschäftigen kann, so fühlt es Langeweile: denn mit sich weiß es sich noch nicht zu beschäftigen. Umgekehrt wirft der Jüngling den Gegenstand auf die Seite, weil ihm Gedanken aus dem Gegenstande aufgingen: er beschäftigt sich mit seinen Gedanken, seinen Träumen, beschäftigt sich geistig oder »sein Geist ist beschäftigt«.

Alles nicht Geistige befaßt der junge Mensch unter dem verächtlichen Namen der »Äußerlichkeiten«. Wenn er gleichwohl an den kleinlichsten Äußerlichkeiten haftet (z.B. burschikosen und andern Formalitäten), so geschieht es, weil und wenn er in ihnen Geist entdeckt, d.h. wenn sie ihm Symbole sind.

Wie ich mich hinter den Dingen finde, und zwar als Geist, so muß ich mich später auch hinter den Gedanken finden, nämlich als ihr Schöpfer und Eigner. In der Geisterzeit wuchsen mir die Gedanken über den Kopf, dessen Geburten sie doch waren; wie Fieberphantasien umschwebten und erschütterten sie mich, eine schauervolle Macht. Die Gedanken waren für sich selbst leibhaftig geworden, waren Gespenster, wie Gott, Kaiser, Papst, Vaterland usw. Zerstöre ich ihre Leibhaftigkeit, so nehme ich sie in die meinige zurück und sage: ich allein bin leibhaftig. Und nun nehme ich die Welt als das, was sie mir ist, als die meinige, als mein Eigentum: ich beziehe alles auf mich.

Stieß ich als Geist die Welt zurück in tiefster Weltverachtung, so stoße ich als Eigner die Geister oder Ideen zurück in ihre Eitelkeit. Sie haben keine Macht mehr über mich, wie über den Geist keine »Gewalt der Erde« eine Macht hat.

Das Kind war realistisch, in den Dingen dieser Welt befangen, bis ihm nach und nach hinter eben diese Dinge zu kommen gelang; der Jüngling war idealistisch, von Gedanken begeistert, bis er sich zum Manne hinaufarbeitete, dem egoistischen, der mit den Dingen und Gedanken nach Herzenslust gebart und sein persönliches Interesse über alles setzt. Endlich der Greis? Wenn ich einer werde, so ist noch Zeit genug, davon zu sprechen.

II. Menschen der alten und neuen Zeit

Wie ein jeder von uns sich entwickelte, was er erstrebte, erlangte oder verfehlte, welche Zwecke er einst verfolgte und an welchen Plänen und Wünschen sein Herz im Augenblicke hängt, welche Umwandlungen seine Ansichten, welche Erschütterungen seine Prinzipien erfuhren, kurz wie er heute geworden, was er gestern oder vor Jahren nicht war: das hebt er mit mehr oder minderer Leichtigkeit aus seiner Erinnerung wieder hervor und empfindet besonders dann recht lebhaft, welche Veränderungen in ihm selbst vorgegangen sind, wenn er das Abrollen eines fremden Lebens vor Augen hat.

Schauen wir daher in das Treiben hinein, welches unsere Voreltern vorführten.

1. Die Alten

Da das Herkommen einmal unseren vorchristlichen Ahnen den Namen der »Alten« beigelegt hat, so wollen wir es ihnen nicht vorrücken, daß sie gegen uns erfahrene Leute eigentlich die Kinder heißen müßten, und sie lieber nach wie vor als unsere guten Alten ehren. Wie aber sind sie dazu gekommen zu veralten, und wer konnte sie durch seine vorgebliche Neuheit verdrängen?

Wir kennen den revolutionären Neuerer und respektlosen Erben wohl, der selbst den Sabbat der Väter entheiligte, um seinen Sonntag zu heiligen, und die Zeit in ihrem Laufe unterbrach, um bei sich mit einer neuen Zeitrechnung zu beginnen wir kennen ihn und wissen's, daß es der – Christ hat. Bleibt er aber ewig jung und ist er heute noch der neue, oder wird auch er antiquiert werden, wie er die »Alten« antiquiert hat? –

Es werden die Alten wohl selbst den Jungen erzeugt haben, der sie hinaustrug. Belauschen wir denn diesen Zeugungsakt.

»Den Alten war die Welt eine Wahrheit,« sagt Feuerbach, aber er vergißt den wichtigen Zusatz zu machen: eine Wahrheit, hinter deren Unwahrheit sie zu kommen suchten, und endlich wirklich kamen. Was mit jenen Feuerbachschen Worten gesagt sein soll, wird man leicht erkennen, wenn man sie mit dem christlichen Satze von der »Eitelkeit und Vergänglichkeit der Welt« zusammenhält. Wie der Christ nämlich sich niemals von der Eitelkeit des göttlichen Wortes überzeugen kann, sondern an die ewige und unerschütterliche Wahrheit desselben glaubt, die, je mehr in ihren Tiefen geforscht werde, nur um so glänzender an den Tag kommen und triumphieren müsse: so lebten die Alten ihrerseits in dem Gefühle, daß die Welt und weltliche Verhältnisse (z.B. die natürlichen Blutsbande) das Wahre seien, vor dem ihr ohnmächtiges Ich sich beugen müsse. Gerade dasjenige, worauf die Alten den größten Wert legten, wird von den Christen als das Wertlose verworfen, und was jene als das Wahre erkannten, brandmarken diese als eitle Lüge: die hohe Bedeutung des Vaterlandes verschwindet, und der Christ muß sich für einen »Fremdling auf Erden« ansehen2, die Heiligkeit der Totenbestattung, aus der ein Kunstwerk wie die sophokleische Antigone entsprang, wird als eine Erbämlichkeit bezeichnet (»Laß die Toten ihre Toten begraben«), die unverbrüchliche Wahrheit der Familienbande wird als eine Unwahrheit dargestellt, von der man nicht zeitig genug sich losmachen könne3, und so in allem.

Sieht man nun ein, daß beiden Teilen das Umgekehrte für Wahrheit gilt, den einen das Natürliche, den andern das Geistige, den einen die irdischen Dinge und Verhältnisse, den andern die himmlischen (das himmlische Vaterland, »das Jerusalem, das droben ist« usw.), so bleibt immer noch zu betrachten, wie aus dem Altertum die neue Zeit und jene unleugbare Umkehrung hervorgehen konnte. Es haben die Alten aber selbst darauf hingearbeitet, ihre Wahrheit zu einer Lüge zu machen.

Greifen wir sogleich mitten in die glänzendsten Jahre der Alten hinein, in das perikleische Jahrhundert. Damals griff die sophistische Zeitbildung um sich, und Griechenland trieb mit dem Kurzweil, was ihm seither ein ungeheurer Ernst gewesen war.

Zu lange waren die Väter von der Gewalt des ungerüttelten Bestehenden geknechtet worden, als daß die Nachkommen nicht an den bitteren Erfahrungen hätten lernen sollen, sich zu fühlen. Mit mutiger Keckheit sprechen daher die Sophisten das ermannende Wort aus: »Laß dich nicht verblüffeln« und verbreiten die aufklärende Lehre: »Brauche gegen alles deinen Verstand, deinen Witz, deinen Geist; mit einem guten und geübten Verstande kommt man am besten durch die Welt, bereitet sich das beste Los, das angenehmste Leben.« Sie erkennen also in dem Geiste die wahre Waffe des Menschen gegen die Welt. Darum halten sie so viel auf die dialektische Gewandtheit, Redefertigkeit, Disputierkunst usw. Sie verkünden, daß der Geist gegen alles zu brauchen ist; aber von der Heiligkeit des Geistes sind sie noch weit entfernt, denn er gilt ihnen als Mittel, als Waffe, wie den Kindern List und Trotz dazu dient: ihr Geist ist der unbestechliche Verstand.

Heutzutage würde man das eine einseitige Verstandesbildung nennen und die Mahnung hinzufügen: bildet nicht bloß euren Verstand, sondern auch euer Herz. Dasselbe hat Sokrates. Wurde nämlich das Herz von seinen natürlichen Trieben nicht frei, sondern blieb es vom zufälligsten Inhalt erfüllt und als eine unkritisierte Begehrlichkeit ganz in der Gewalt der Dinge, d.h. nichts als ein Gefäß der verschiedensten Gelüste, so konnte es nicht fehlen, daß der freie Verstand dem »schlechten Herzen« dienen mußte und alles zu rechtfertigen bereit war, was das arge Herz begehrte.

Darum sagt Sokrates, es genüge nicht, daß man in allen Dingen seinen Verstand gebrauche, sondern es komme darauf an, für welche Sache man ihn anstrenge. Wir würden jetzt sagen: Man müsse der »guten Sache« dienen. Der guten Sache dienen, heißt aber – sittlich sein. Daher ist Sokrates der Gründer der Ethik.

Allerdings mußte das Prinzip der Sophistik dahin führen, daß der unselbständigste und blindeste Sklave seiner Begierden doch ein trefflicher Sophist sein und mit Verstandesschärfe alles zugunsten seines rohen Herzens auslegen und zustutzen konnte. Was gäbe es wohl, wofür sich nicht ein »guter Grund« auffinden, und was sich nicht durchfechten ließe?

Darum sagt Sokrates: ihr müßt »reines Herzens sein«, wenn man eure Klugheit achten soll. Von hier ab beginnt die zweite Periode griechischer Geistesbefreiung, die Periode der Herzensreinheit. Die erste nämlich kam durch die Sophisten zum Schluß, indem sie die Verstandesallmacht proklamierten. Aber das Herz blieb weltlich gesinnt, blieb ein Knecht der Welt, stets affiziert durch weltliche Wünsche. Dies rohe Herz sollte von nun an gebildet werden: die Zeit der Herzensbildung. Wie aber soll das Herz gebildet werden? Was der Verstand, diese eine Seite des Geistes, erreicht hat, die Fähigkeit nämlich, mit und über allem Gehalt frei zu spielen, das steht auch dem Herzen bevor: alles Weltliche muß vor ihm zuschanden werden, so daß zuletzt Familie, Gemeinwesen, Vaterland und dergl. um des Herzens, d.h. der Seligkeit, der Seligkeit des Herzens willen, aufgegeben wird.

Alltägliche Erfahrung bestätigt es, daß der Verstand längst einer Sache entsagt haben kann, wenn das Herz noch viele Jahre für sie schlägt. So war auch der sophistische Verstand über die herrschenden alten Mächte so weit Herr geworden, daß sie nur noch aus dem Herzen, worin sie unbelästigt hausten, verjagt werden mußten, um endlich an dem Menschen gar kein Teil mehr zu haben.

Dieser Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht seinen Friedensschluß erst am Todestage der alten Welt.

Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren Anfang, und aller Inhalt des Herzens wird gesichtet. In ihren letzten und äußersten Anstrengungen warfen die Alten allen Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für nichts mehr schlagen: dies war die Tat der Skeptiker. Dieselbe Reinheit des Herzens wurde nun in der skeptischen Zeit errungen, welche in der sophistischen dem Verstande herzustellen gelungen war.

Die sophistische Bildung hat bewirkt, daß einem der Verstand vor nichts mehr still steht, und die skeptische, daß das Herz von nichts mehr bewegt wird.

Solange der Mensch in das Weltgetriebe verwickelt und durch Beziehungen zur Welt befangen ist – und er ist es bis ans Ende des Altertums, weil sein Herz immer noch um die Unabhängigkeit von Weltlichem zu ringen hat – so lange ist er noch nicht Geist; denn der Geist ist körperlos und hat keine Beziehung zur Welt und Körperlichkeit: für ihn existiert nicht die Welt, nicht natürliche Bande, sondern nur Geistiges und geistige Bande. Darum mußte der Mensch erst so völlig rücksichtslos und unbekümmert, so ganz beziehungslos werden, wie ihn die skeptische Bildung darstellt, so ganz gleichgültig gegen die Welt, daß ihn ihr Einsturz selbst nicht rührte, ehe er sich als weltlos, d.h. als Geist fühlen konnte. Und dies ist das Resultat von der Riesenarbeit der Alten, daß der Mensch sich als beziehungs- und weltloses Wesen, als Geist weiß.

Nun erst, nachdem ihn alle weltliche Sorge verlassen hat, ist er sich alles in allem, ist nur für sich, d.h. ist Geist für den Geist, oder deutlicher: bekümmert sich nur um das Geistige.

In der christlichen Schlangenklugheit und Taubenunschuld sind die beiden Seiten der antiken Geistesbefreiung, Verstand und Herz, so vollendet, daß sie wieder jung und neu erscheinen, das eine und das andere sich nicht mehr durch das Weltliche, Natürliche verblüffen lassen.

Zum Geiste also schwangen sich die Alten auf und geistig strebten sie zu werden. Es wird aber ein Mensch, der als Geist tätig sein will, zu ganz anderen Aufgaben hingezogen, als er sich vorher zu stellen vermochte, zu Aufgaben, welche wirklich dem Geiste und nicht dem bloßen Sinne oder Scharfsinn zu tun geben, der sich nur anstrengt, der Dinge Herr zu werden. Einzig um das Geistige bemüht sich der Geist, und in allem sucht er die »Spuren des Geistes« auf: dem gläubigen Geiste »kommt alles von Gott« und interessiert ihn nur insofern, als es diese Abkunft offenbart; dem philosophischen Geiste erscheint alles mit dem Stempel der Vernunft und interessiert ihn nur so weit, als er Vernunft, d.h. geistigen Inhalt, darin zu entdecken vermag.

Nicht den Geist also, der es schlechterdings mit nichts Ungeistigem, mit keinem Dinge, sondern allein mit dem Wesen, welches hinter und über den Dingen existiert, mit den Gedanken zu tun hat, nicht ihn strengten die Alten an, denn sie hatten ihn noch nicht; nein, nach ihm rangen und sehnten sie sich erst und schärften ihn deshalb gegen ihren übermächtigen Feind, die Sinnenwelt (was wäre aber für sie nicht sinnlich gewesen, da Jehova oder die Götter der Heiden noch weit von dem Begriffe »Gott ist Geist« entfernt waren, da an die Stelle des sinnlichen Vaterlandes noch nicht das »himmlische« getreten war usw.?), sie schärften gegen die Sinnenwelt den Sinn, den Scharfsinn. Noch heute sind die Juden, diese altklugen Kinder des Altertums, nicht weiter gekommen, und können bei aller Subtilität und Stärke der Klugheit und des Verstandes, der der Dinge mit leichter Mühe Herr wird, und sie, ihm zu dienen, zwingt, den Geist nicht finden, der sich aus den Dingen gar nichts macht.

Der Christ hat geistige Interessen, weil er sich erlaubt, ein geistiger Mensch zu sein; der Jude versteht diese Interessen in ihrer Reinheit nicht einmal, weil er sich nicht erlaubt, den Dingen keinen Wert beizulegen. Zur reinen Geistigkeit gelangt er nicht, einer Geistigkeit, wie sie religiös z.B. in dem allein, d.h. ohne Werke rechtfertigenden Glauben der Christen ausgedrückt ist. Ihre Geistlosigkeit entfernt die Juden auf immer von den Christen; denn dem Geistlosen ist der Geistige unverständlich, wie dem Geistigen der Geistlose verächtlich ist. Die Juden haben aber nur den »Geist dieser Welt«.

Der antike Scharfsinn und Tiefsinn liegt so weit vom Geiste und der Geistigkeit der christlichen Welt entfernt, wie die Erde vom Himmel.

Von den Dingen dieser Welt wird, wer sich als freien Geist fühlt, nicht gedrückt und geängstigt, weil er sie nicht achtet; soll man ihre Last noch empfinden, so muß man borniert genug sein, auf sie Gewicht zu legen, wozu augenscheinlich gehört, daß es einem noch um das »liebe Leben« zu tun sei. Wem alles darauf ankommt, sich als freier Geist zu wissen und zu rühren, der fragt wenig danach, wie kümmerlich es ihm dabei ergehe, und denkt überhaupt nicht darüber nach, wie er seine Einrichtungen zu treffen habe, um recht frei oder genußreich zu leben. Die Unbequemlichkeiten des von den Dingen abhängigen Lebens stören ihn nicht, weil er nur geistig und von Geistesnahrung lebt, im übrigen aber, fast ohne es zu wissen, nur frißt oder verschlingt, und wenn ihm der Fraß ausgeht, zwar körperlich stirbt, als Geist aber sich unsterblich weiß und unter einer Andacht oder einem Gedanken die Augen schließt. Sein Leben ist Beschäftigung mit Geistigem, ist – Denken, das übrige schiert ihn nicht; mag er sich mit Geistigem beschäftigen, wie er immer kann und will, in Andacht, in Betrachtung oder in philosophischer Erkenntnis, immer ist das Tun ein Denken, und darum konnte Cartesius, dem dies endlich ganz klar geworden war, den Satz aufstellen: »Ich denke, das heißt: – ich bin«. Mein Denken, heißt es da, ist mein Sein oder mein Leben; nur wenn ich geistig lebe, lebe ich; nur als Geist bin ich wirklich oder – ich bin durch und durch Geist und nichts als Geist. Der unglückliche Peter Schlemihl, der seinen Schatten verloren hat, ist das Porträt jenes zu Geist gewordenen Menschen: denn des Geistes Körper ist schattenlos. – Dagegen wie anders bei den Alten! Wie stark und männlich sie auch gegen die Gewalt der Dinge sich betragen mochten, die Gewalt selbst mußten sie doch anerkennen, und weiter brachten sie es nicht, als daß sie ihr Leben gegen jene so gut als möglich schützten. Spät erst erkannten sie, daß ihr »wahres Leben« nicht das im Kampfe gegen die Dinge der Welt geführte, sondern das »geistige«, von diesen Dingen »abgewandte« sei, und als sie dies einsahen, da wurden sie – Christen, d.h. die »Neuen« und Neuerer gegen die Alten. Das von den Dingen abgewandte, das geistige Leben, zieht aber keine Nahrung mehr aus der Natur, sondern »lebt nur von Gedanken«, und ist deshalb nicht mehr »Leben«, sondern – Denken.

Nun muß man jedoch nicht glauben, die Alten seien gedankenlos gewesen, wie man ja auch den geistigsten Menschen sich nicht so vorstellen darf, als könnte er leblos sein. Vielmehr hatten sie über alles, über die Welt, den Menschen, die Götter usw. ihre Gedanken, und bewiesen sich eifrig tätig, alles dies sich zum Bewußtsein zu bringen. Allein den Gedanken kannten sie nicht, wenn sie auch an allerlei dachten und »sich mit ihren Gedanken plagten«. Man vergleiche ihnen gegenüber den christlichen Spruch: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und so viel der Himmel höher ist, denn die Erde, so sind auch meine Gedanken höher, denn eure Gedanken«, und erinnere sich dessen, was oben über unsere Kindergedanken gesagt wurde.

Was sucht also das Altertum? Den wahren Lebensgenuß, Genuß des Lebens! Am Ende wird es auf das »wahre Leben« hinauskommen.

Der griechische Dichter Simonides singt: »Gesundheit ist das edelste Gut dem sterblichen Menschen, das nächste nach diesem ist Schönheit, das dritte Reichtum, ohne Tücke erlanget, das vierte geselliger Freuden Genuß in junger Freunde Gesellschaft.« Das sind alles Lebensgüter, Lebensfreuden. Wonach anders suchte Diogenes von Sinope, als nach dem wahren Lebensgenuß, den er in der möglichst geringen Bedürftigkeit entdeckte? Wonach anders Aristipp, der ihn im heiteren Mute unter allen Lagen fand? Sie suchen den heitern, ungetrübten Lebensmut, die Heiterkeit, sie suchen »guter Dinge zu sein«.

Die Stoiker wollen den Weisen verwirklichen, den Mann der Lebensweisheit, den Mann, der zu leben weiß, also ein weises Leben; sie finden ihn in der Verachtung der Welt, in einem Leben ohne Lebensentwicklung, ohne Ausbreitung, ohne freundliches Vernehmen mit der Welt, d.h. im isolierten Leben, im Leben als Leben, nicht im Mitleben: nur der Stoiker lebt, alles andere ist für ihn tot. Umgekehrt verlangen die Epikuräer ein bewegliches Leben.

Die Alten verlangen, da sie guter Dinge sein wollen, nach Wohlleben (die Juden besonders nach einem langen, mit Kindern und Gütern gesegneten Leben), nach der Eudämonie, dem Wohlsein in den verschiedensten Formen. Demokrit z.B. rühmt als solches die »Gemütsruhe«, in der sich's »sanft lebe, ohne Furcht und ohne Aufregung«.

Er meint also, mit ihr fahre er am besten, bereite sich das beste Los und komme am besten durch die Welt. Da er aber von der Welt nicht loskommen kann, und zwar gerade aus dem Grunde es nicht kann, weil seine ganze Tätigkeit in dem Bemühen aufgeht, von ihr loszukommen, also im Abstoßen der Welt (wozu doch notwendig die abstoßbare und abgestoßene bestehen bleiben muß, widrigenfalls nichts mehr abzustoßen wäre): so erreicht er höchstens einen äußersten Grad der Befreiung, und unterscheidet sich von den weniger Befreiten nur dem Grade nach. Käme er selbst bis zur irdischen Sinnenertötung, die nur noch das eintönige Wispern des Wortes »Brahm« zuläßt, er unterschiede sich dennoch nicht wesentlich vom sinnlichen Menschen.

Selbst die stoische Haltung und Mannestugend läuft nur darauf hinaus, daß man sich gegen die Welt zu erhalten und zu behaupten habe, und die Ethik der Stoiker (ihre einzige Wissenschaft, da sie nichts von dem Geiste auszusagen wußten, als wie er sich zur Welt verhalten solle, und von der Natur [Physik] nur dies, daß der Weise sich gegen sie zu behaupten nahe) ist nicht eine Lehre des Geistes, sondern nur eine Lehre der Weltabstoßung und Selbstbehauptung gegen die Welt. Und diese besteht in der »Unerschütterlichkeit und dem Gleichmute des Lebens«, also in der ausdrücklichsten Römertugend.

Weiter als zu dieser Lebensweisheit brachten es auch die Römer nicht (Horaz, Cicero usw.).

Das Wohlergehen (Hedone) der Epikuräer ist dieselbe Lebensweisheit wie die der Stoiker, nur listiger, betrügerischer. Sie lehren nur ein anderes Verhalten gegen die Welt, ermahnen nur, eine kluge Haltung gegen die Welt sich zu geben: die Welt muß betrogen werden, denn sie ist meine Feindin.

Vollständigwird der Bruch mit der Welt von den Skeptikern vollführt. Meine ganze Beziehung zur Welt ist »wert- und wahrheitslos«. Timon sagt: »Die Empfindungen und Gedanken, welche wir aus der Welt schöpfen, enthalten keine Wahrheit.« »Was ist Wahrheit?!« ruft Pilatus aus. Die Welt ist nach Pyrrhons Lehre weder gut noch schlecht, weder schön noch häßlich usw., sondern dies sind Prädikate, welche ich ihr gebe. Timon sagt: »An sich sei weder etwas gut noch sei es schlecht, sondern der Mensch denke sich's nur so;« der Welt gegenüber bleibe nur die Ataraxie (die Ungerührtheit) und Aphasie (das Verstummen – oder mit andern Worten: die isolierte Innerlichkeit) übrig. In der Welt sei »keine Wahrheit mehr zu erkennen«, die Dinge widersprechen sich, die Gedanken über die Dinge seien unterschiedslos (gut und schlecht seien einerlei, so daß, was der eine gut nennt, ein anderer schlecht findet); da sei es mit der Erkenntnis der »Wahrheit« aus, und nur der erkenntnislose Mensch, der Mensch, welcher an der Welt nichts zu erkennen findet, bleibe übrig, und dieser Mensch lasse die wahrheitsleere Welt eben stehen und mache sich nichts aus ihr.

So wird das Altertum mit der Welt der Dinge, der Weltordnung, dem Weltganzen fertig; zur Weltordnung oder den Dingen dieser Welt gehört aber nicht etwa nur die Natur, sondern alle Verhältnisse, in welche der Mensch durch die Natur sich gestellt sieht, z.B. die Familie, das Gemeinwesen, kurz die sogenannten »natürlichen Bande«. Mit der Welt des Geistes beginnt dann das Christentum. Der Mensch, welcher der Welt noch gewappnet gegenübersteht, ist der Alte, der – Heide (wozu auch der Jude als Nichtchrist gehört); der Mensch, welchen nichts mehr leitet als seine »Herzenslust«, seine Teilnahme, Mitgefühl, sein – Geist, ist der Neue, der Christ.

Da die Alten auf die Weltüberwindung hinarbeiteten und den Menschen von den schweren umstrickenden Banden des Zusammenhanges mit Anderem zu erlösen strebten, so kamen sie auch zuletzt zur Auflösung des Staates und Bevorzugung alles Privaten. Gemeinwesen, Familie usw. sind als natürliche Verhältnisse lästige Hemmungen, die meine geistige Freiheit schmälern.

2. Die Neuen

»Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden«4.

Wurde oben gesagt: »den Alten war die Welt eine Wahrheit,« so müssen wir sagen: »den Neuen war der Geist eine Wahrheit,« dürfen aber, wie dort, so hier den Zusatz nicht auslassen: eine Wahrheit, hinter deren Unwahrheit sie zu kommen suchten und endlich wirklich kommen.

Ein ähnlicher Gang, wie das Altertum ihn genommen, läßt sich auch am Christentum nachweisen, indem bis in die die Reformation vorbereitende Zeit hinein der Verstand unter der Herrschaft der christlichen Dogmen gefangen gehalten wurde, im vorreformatorischen Jahrhundert aber sophistisch sich erhob und mit allen Glaubenssätzen ein ketzerisches Spiel trieb. Dabei hieß es denn, zumal in Italien und am römischen Hofe: wenn nur das Herz christlich gesinnt bleibt, so mag der Verstand immerhin seine Lust genießen.

Man war längst vor der Reformation so sehr an spitzfindiges »Gezänk« gewöhnt, daß der Papst und die meisten auch Luthers Auftreten anfänglich für ein bloßes »Mönchsgezänk« ansahen. Der Humanismus entspricht der Sophistik, und wie zur Zeit der Sophisten das griechische Leben in höchster Blüte stand (Perikleisches Zeitalter), so geschah das Glänzendste zur Zeit des Humanismus, oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, des Macchiavellismus (Buchdruckerkunst, Neue Welt usw.). Das Herz war in dieser Zeit noch weit davon entfernt, des christlichen Inhalts sich entledigen zu wollen.

Aber die Reformation machte endlich, wie Sokrates, mit dem Herzen selber Ernst, und seitdem sind die Herzen zusehends – unchristlicher geworden. Indem man mit Luther anfing, sich die Sache zu Herzen zu nehmen, mußte dieser Schritt der Reformation dahin führen, daß auch das Herz von der schweren Last der Christlichkeit erleichtert wird. Das Herz, von Tag zu Tag unchristlicher, verliert den Inhalt, mit welchem es sich beschäftigt, bis zuletzt ihm nichts als die leere Herzlichkeit übrig bleibt, die ganze allgemeine Menschenliebe, die Liebe des Menschen, das Freiheitsbewußtsein, das »Selbstbewußtsein«.

So erst ist das Christentum vollendet, weil es kahl, abgestorben und inhaltsleer geworden ist. Es gibt nun keinen Inhalt mehr, gegen welchen das Herz sich nicht auflehnte, es sei denn, daß es unbewußt oder ohne »Selbstbewußtsein« von ihm beschlichen würde. Das Herz kritisiert alles, was sich eindrängen will, mit schonungsloser Unbarmherzigkeit zu Tode, und ist keiner Freundschaft, keiner Liebe (außer eben unbewußt oder überrumpelt) fähig. Was gäbe es auch an den Menschen zu lieben, da sie allesamt »Egoisten« sind, keiner der Mensch als solcher, d.h. keiner nur Geist. Der Christ liebt nur den Geist; wo wäre aber einer, der wirklich nichts als Geist wäre?

Den leibhaftigen Menschen mit Haut und Haaren lieb zu haben, das wäre ja keine »geistige« Herzlichkeit mehr, wäre ein Verrat an der »reinen« Herzlichkeit, dem »theoretischen Interesse«. Denn man stelle sich die reine Herzlichkeit nur nicht vor wie jene Gemütlichkeit, die jedermann freundlich die Hand drückt; im Gegenteil, die reine Herzlichkeit ist gegen niemand herzlich, sie ist nur theoretische Teilnahme, Anteil am Menschen als Menschen, nicht als Person. Die Person ist ihr widerlich, weil sie »egoistisch«, weil sie nicht der Mensch, diese Idee, ist. Nur für die Idee aber gibt es ein theoretisches Interesse. Für die reine Herzlichkeit oder die reine Theorie sind die Menschen nur da, um kritisiert, verhöhnt und gründlichst verachtet zu werden: sie sind für sie nicht minder, als für den fanatischen Pfaffen, nur »Dreck« und sonst dergleichen Sauberes.

Auf diese äußerste Spitze interesseloser Herzlichkeit getrieben, müssen wir endlich inne werden, daß der Geilt, welchen der Christ allein liebt, nichts ist, oder daß der Geist eine – Lüge ist.

Was hier gedrängt und wohl noch unverständlich hingeworfen wurde, wird sich im weiteren Verlauf hoffentlich aufklären.

Nehmen wir die von den Alten hinterlassene Erbschaft auf und machen wir als tätige Arbeiter damit so viel, als sich – damit machen läßt! Die Welt liegt verachtet zu unseren Füßen, tief unter uns und unserem Himmel, in den ihre mächtigen Arme nicht mehr hineingreifen und ihr sinnbetäubender Hauch nicht eindringt; wie verführerisch sie sich auch gebärde, sie kann nichts als unsern Sinn betören, den Geist – und Geist sind wir doch allein wahrhaft – irrt sie nicht. Einmal hinter die Dinge gekommen, ist der Geist auch über sie gekommen, und frei geworden von ihren Banden, ein entknechteter, jenseitiger, freier. So spricht die »geistige Freiheit«.

Dem Geiste, der nach langem Mühen die Welt los geworden ist, dem weltlosen Geiste, bleibt nach dem Verluste der Welt und des Weltlichen nichts übrig, als – der Geist und das Geistige.

Da er jedoch sich von der Welt nur entfernt und zu einem von ihr freien Wesen gemacht hat, ohne sie wirklich vernichten zu können, so bleibt sie ihm ein unwegräumbarer Anstoß, ein in Verruf gebrachtes Wesen, und da er andererseits nichts kennt und anerkennt, als Geist und Geistiges, so muß er fortdauernd sich mit der Sehnsucht tragen, die Welt zu vergeistigen, d.h. sie aus dem »Verschiß« zu erlösen. Deshalb geht er, wie ein Jüngling, mit Welterlösungs- oder Weltverbesserungsplänen um.

Die Alten dienten, wir sahen es, dem Natürlichen, Weltlichen, der natürlichen Weltordnung, aber sie fragten sich unaufhörlich, ob sie denn dieses Dienstes sich nicht entheben könnten, und als sie in stets erneuten Empörungsversuchen sich todmüde gearbeitet hatten, da ward ihnen unter ihren letzten Seufzern der Gott geboren, der »Weltüberwinder«. All ihr Tun war nichts gewesen als Weltweisheit, ein Trachten, hinter und über die Welt hinaus zu kommen. Und was ist die Weisheit der vielen folgenden Jahrhunderte? Hinter was suchten die Neuen zu kommen? Hinter die Welt nicht mehr, denn das hatten die Alten vollbracht, sondern hinter den Gott, den jene ihnen hinterließen, hinter den Gott, »der Geist ist«, hinter alles, was des Geistes ist, das Geistige. Die Tätigkeit des Geistes aber, der »selbst die Tiefen der Gottheit erforscht«, ist die Gottesgelahrtheit. Haben die Alten nichts aufzuweisen als Weltweisheit, so brachten und bringen es die Neuen niemals weiter als zur Gottesgelahrtheit. Wir werden später sehen, daß selbst die neuesten Empörungen gegen Gott nichts als die äußersten Anstrengungen der »Gottesgelahrtheit«, d.h. theologische Insurrektionen sind.

§ 1. Der Geist

Das Geisterreich ist ungeheuer groß, des Geistigen unendlich viel: sehen wir doch zu, was denn der Geist, diese Hinterlassenschaft der Alten, eigentlich ist.

Aus ihren Geburtswehen ging er hervor, sie selbst aber konnten sich nicht als Geist aussprechen: sie konnten ihn gebären, sprechen mußte er selbst. Der »geborene Gott, der Menschensohn«, spricht erst das Wort aus, daß der Geist, d.h. er, der Gott, es mit nichts Irdischem und keinem irdischen Verhältnisse zu tun habe, sondern lediglich mit dem Geiste und geistigen Verhältnissen.

Ist etwa mein unter allen Schlägen der Welt unvertilgbarer Mut, meine Unbeugsamkeit und mein Trotz, weil ihm die Welt nichts anhat, schon im vollen Sinne der Geist? So wäre er ja noch mit der Welt in Feindschaft, und all sein Tun beschränkte sich darauf, ihr nur nicht zu unterliegen! Nein, bevor er sich nicht allein mit sich selbst beschäftigt, bevor er es nicht mit seiner Welt, der geistigen, allein zu tun hat, ist er nicht freier Geist, sondern nur der »Geist dieser Welt«, der an sie gefesselte. Der Geist ist freier Geist, d.h. wirklich Geist erst in einer ihm eigenen Welt; in »dieser«, der irdischen Welt, ist er ein Fremdling. Nur mittels einer geistigen Welt ist der Geist wirklich Geist, denn »diese« Welt versteht ihn nicht und weiß »das Mädchen aus der Fremde« nicht bei sich zu behalten.

Woher soll ihm diese geistige Welt aber kommen? Woher anders als aus ihm selbst! Er muß sich offenbaren, und die Worte, die er spricht, die Offenbarungen, in denen er sich enthüllt, die sind seine Welt. Wie ein Phantast nur in den phantastischen Gebilden, die er selber erschafft, lebt und seine Welt hat, wie ein Narr sich seine eigene Traumwelt erzeugt, ohne welche er eben kein Narr zu sein vermöchte, so muß der Geist sich seine Geisterwelt erschaffen, und ist, bevor er sie erschafft, nicht Geist.

Also seine Schöpfungen machen ihn zum Geist, und an den Geschöpfen erkennt man ihn, den Schöpfer: in ihnen lebt er, sie sind seine Welt.

Was ist nun der Geist? Er ist der Schöpfer einer geistigen Welt! Auch an dir und mir erkennt man erst Geist an, wenn man sieht, daß wir Geistiges uns angeeignet haben, d.h. Gedanken, mögen sie uns auch vorgeführt worden sein, doch in uns zum Leben gebracht haben; denn solange wir Kinder waren, hätte man uns die erbaulichsten Gedanken vorlegen können, ohne daß wir gewollt oder imstande gewesen wären, sie in uns wiederzuerzeugen. So ist auch der Geist nur, wenn er Geistiges schafft: er ist nur mit dem Geistigen, seinem Geschöpfe, zusammen wirklich.

Da wir ihn denn an seinen Werken erkennen, so fragt sich's, welches diese Werke seien. Die Werke oder Kinder des Geistes sind aber nichts anderes als – Geister.

Hätte ich Juden, Juden von echtem Schrot und Korn vor mir, so müßte ich hier aufhören und sie vor diesem Mysterium stehen lassen, wie sie seit beinahe zweitausend Jahren ungläubig und erkenntnislos davor stehen geblichen sind. Da du aber, mein lieber Leser, wenigstens kein Vollblutsjude bist – denn ein solcher wird sich nicht bis hierher verirren –, so wollen wir noch eine Strecke Weges miteinander machen, bis auch du vielleicht mir den Rücken kehrst, weil ich dir ins Gesicht lache.

Sagte dir jemand, du seiest ganz Geist, so würdest du an deinen Leib fassen und ihm nicht glauben, sondern antworten: ich habe wohl Geist, existiere aber nicht bloß als Geist, sondern bin ein leibhaftiger Mensch. Du würdest dich noch immer von »deinem Geiste« unterscheiden. Aber, erwidert jener, es ist deine Bestimmung, wenn du auch jetzt noch in den Fesseln des Leibes einhergehst, dereinst ein »seliger Geist« zu werden, und wie du das künftige Aussehen dieses Geistes dir auch vorstellen magst, so ist doch so viel gewiß, daß du im Tode diesen Leib ausziehen und gleichwohl dich, d.h. deinen Geist, für die Ewigkeit erhalten wirst; mithin ist dein Geist das Ewige und Wahre an dir, der Leib nur eine diesseitige Wohnung, welche du verlassen und vielleicht mit einer andern vertauschen kannst.

Nun glaubst du ihm! Für jetzt zwar bist du nicht bloß Geist, aber wenn du einst aus dem sterblichen Leibe auswandern mußt, dann wirst du ohne den Leib dich behelfen müssen, und darum tut es not, daß du dich vorsehest und beizeiten für dein eigentliches Ich sorgest. »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele!«

Gesetzt aber auch, Zweifel, im Laufe der Zeit gegen die christlichen Glaubenssätze erhoben, haben dich längst des Glaubens an die Unsterblichkeit deines Geistes beraubt: einen Satz hast du dennoch ungerüttelt gelassen, und der einen Wahrheit hängst du immer noch unbefangen an, daß der Geist dein besser Teil sei, und daß das Geistige größere Ansprüche an dich habe, als alles andere. Du stimmst trotz all deines Atheismus mit dem Unsterblichkeitsgläubigen im Eifer gegen den Egoismus zusammen.

Wen aber denkst du dir unter dem Egoisten? Einen Menschen, der, anstatt einer Idee, d.h. einem Geistigen zu leben, und ihr seinen persönlichen Vorteil zu opfern, dem letzteren dient. Ein guter Patriot z.B. trägt seine Opfer auf den Altar des Vaterlandes, daß aber das Vaterland eine Idee sei, läßt sich nicht bestreiten, da es für geistesunfähige Tiere oder noch geistlose Kinder kein Vaterland und keinen Patriotismus gibt. Bewährt sich nun jemand nicht als einen guten Patrioten, so verrät er in bezug aufs Vaterland seinen Egoismus. Und so verhält sich's in unzähligen andern Fällen; wer in der menschlichen Gesellschaft ein Vorrecht sich zunutze macht, der sündigt egoistisch gegen die Idee der Gleichheit; wer Herrschaft übt, den schilt man einen Egoisten gegen die Idee der Freiheit usw.

Darum verachtest du den Egoisten, weil er das Geistige gegen das Persönliche zurücksetzt, und für sich besorgt ist, wo du ihn einer Idee zu Liebe handeln sehen möchtest. Ihr unterscheidet euch darin, daß du den Geist, er aber sich zum Mittelpunkte macht, oder daß du dein Ich entzweist und dein »eigentliches Ich«, den Geist, zum Gebieter des wertloseren Restes erhebst, während er von dieser Entzweiung nichts wissen will, und geistige und materielle Interessen eben nach seiner Lust verfolgt. Du meinst zwar nur auf diejenigen loszuziehen, welche gar kein geistiges Interesse fassen, in der Tat aber fluchst du auf alle, welche das geistige Interesse nicht für ihr »wahres und höchstes« ansehen. Du treibst den Ritterdienst für dieses Schöne so weit, daß du behauptest, sie sei die einzige Schönheit der Welt. Du lebst nicht dir, sondern deinem Geiste und dem, was des Geistes ist, d.h. Ideen.

Da der Geist nur ist, indem er Geistiges schafft, so sehen wir uns nach einer ersten Schöpfung um. Hat er diese erst vollbracht, so folgt fortan eine natürliche Fortpflanzung von Schöpfungen, wie nach der Mythe nur die ersten Menschen geschaffen zu werden brauchten, das übrige Geschlecht sich von selbst fortpflanzte. Die erste Schöpfung hingegen muß, »aus dem Nichts« hervorgehen, d.h. der Geist hat zu ihrer Verwirklichung nichts weiter als sich selber, oder vielmehr, er hat sich noch nicht einmal, sondern muß sich erschaffen: seine erste Schöpfung ist daher er selber, der Geist. So mystisch dies auch klinge, so erleben wir's doch als eine alltägliche Erfahrung. Bist du eher ein Denkender, als du denkst? Indem du den ersten Gedanken erschaffst, erschaffst du dich, den Denkenden; denn du denkst nicht, bevor du einen Gedanken denkst, d.h. hast. Macht dich nicht erst dein Singen zum Sänger, dein Sprechen zum sprechenden Menschen? Nun so macht dich auch das Hervorbringen von Geistigen erst zum Geiste.

Wie du indes vom Denker, Sänger und Sprecher dich unterscheidest, so unterscheidest du dich nicht minder vom Geiste und fühlst sehr wohl, daß du noch etwas anderes als Geist bist. Allein wie dem denkenden Ich im Enthusiasmus des Denkens leicht Hören und Sehen vergeht, so hat auch dich der Geist-Enthusiasmus ergriffen, und du sehnst dich nun mit aller Gewalt, ganz Geist zu werden und im Geiste aufzugehen. Der Geist ist dein Ideal, das Unerreichte, das Jenseitige: Geist heißt dein – Gott, »Gott ist Geist«.

Gegen alles, was nicht Geist ist, bist du ein Eiferer, und darum eiferst du gegen dich selbst, der du einen Rest von Nichtgeistigem nicht los wirst. Statt zu sagen: »ich bin mehr als Geist,« sagst du mit Zerknirschung: »ich bin weniger als Geist, und Geist, reinen Geist, oder der Geist, der nichts als Geist, den kann ich mir nur denken, bin es aber nicht, und da ich's nicht bin, so ist's ein anderer, existiert als ein anderer, den ich ›Gott‹ nenne.«

Es liegt in der Natur der Sache, daß der Geist, der als reiner Geist existieren soll, ein jenseitiger sein muß, denn da ich's nicht bin, so kann er nur außer mir sein, da ein Mensch überhaupt nicht völlig in dem Begriffe »Geist« aufgeht, so kann der reine Geist, der Geist als solcher, nur außerhalb der Menschen sein, nur jenseits der Menschenwelt, nicht irdisch, sondern himmlisch.

Nur aus diesem Zwiespalt, in welchem ich und der Geist liegen, nur weil ich und Geist nicht Namen für ein und dasselbe, sondern verschiedene Namen für völlig Verschiedenes sind, nur weil ich nicht Geist und Geist nicht ich ist: nur daraus erklärt sich ganz tautologisch die Notwendigkeit, daß der Geist im Jenseits haust, d.h. Gott ist.

Daraus geht aber auch hervor, wie durchaus theologisch, d.h. gottesgelahrt, die Befreiung ist, welche Feuerbach5 uns zu geben sich bemüht. Er sagt nämlich, wir hätten unser eigenes Wesen nur verkannt und darum es im Jenseits gesucht, jetzt aber, da wir einsähen, daß Gott nur unser menschliches Wesen sei, müßten wir es wieder als das unsere anerkennen und aus dem Jenseits in das Diesseits zurückversetzen. Den Gott, der Geist ist, nennt Feuerbach »unser Wesen« zu uns in einen Gegensatz gebracht, daß wir in ein wesentliches und ein unwesentliches Ich zerspalten werden. Rücken wir damit nicht wieder in das traurige Elend zurück, aus uns selbst uns verbannt zu sehen?

Was gewinnen wir denn, wenn wir das Göttliche außer uns zur Abwechslung einmal in uns verlegen? Sind wir das, was in uns ist? So wenig als wir das sind, was außer uns ist. Ich bin so wenig mein Herz, als ich meine Herzgeliebte, dieses mein »anderes Ich« bin. Gerade weil wir nicht der Geist sind, der in uns wohnt, gerade darum mußten wir ihn außer uns versetzen: er war nicht wir, fiel nicht mit uns in eins zusammen, und darum konnten wir ihn nicht anders existierend denken als außer uns, jenseits uns, im Jenseits. 

Mit der Kraft der Verzweiflung greift Feuerbach nach dem gesamten Inhalt des Christentums, nicht, um ihn wegzuwerfen, nein, um ihn an sich zu reißen, um ihn, den langersehnten, immer ferngebliebenen, mit einer letzten Anstrengung aus seinem Himmel zu ziehen und auf ewig bei sich zu behalten. Ist das nicht ein Griff der letzten Verzweiflung, ein Griff auf Leben und Tod, und ist es nicht zugleich die christliche Sehnsucht und Begierde nach dem Jenseits? Der Heros will nicht in das Jenseits eingehen, sondern das Jenseits an sich heranziehen, und zwingen, daß es zum Diesseits werde! Und schreit seitdem nicht alle Welt, mit mehr oder weniger Bewußtsein, aufs »Diesseits« komme es an, und der Himmel müsse auf die Erde kommen und schon hier erlebt werden?

Stellen wir in Kürze die theologische Ansicht Feuerbachs und unsern Widerspruch einander gegenüber! »Das Wesen des Menschen ist des Menschen höchstes Wesen; das höchste Wesen wird nun zwar von der Religion Gott genannt und als ein gegenständliches Wesen betrachtet, in Wahrheit aber ist es nur des Menschen eigenes Wesen, und deshalb ist der Wendepunkt der Weltgeschichte der, daß fortan dem Menschen nicht mehr Gott als Gott, sondern der Mensch als Gott erscheinen soll«6.

Wir erwidern hierauf: »Das höchste Wesen ist allerdings das Wesen des Menschen, aber eben weil es sein Wesen und nicht er selbst ist, so bleibt es sich ganz gleich, ob wir es außer ihm sehen und als ›Gott‹ anschauen, oder in ihm finden und ›Wesen des Menschen‹ oder ›der Mensch‹ nennen. Ich bin weder Gott noch der Mensch, weder das höchste Wesen noch mein Wesen, und darum ist's in der Hauptsache einerlei, ob ich das Wesen in mir oder außer mir denke. Ja wir denken auch wirklich immer das höchste Wesen in beiderlei Jenseitigkeit, in der innerlichen und äußerlichen, zugleich: denn der ›Geist Gottes‹ ist nach christlicher Anschauung auch ›unser Geist‹ und ›wohnet in uns‹7. Er wohnt im Himmel und wohnt in uns; wir armen Dinger sind eben nur seine ›Wohnung‹, und wenn Feuerbach noch die himmlische Wohnung desselben zerstört, und ihn nötigt, mit Sack und Pack zu uns zu ziehen, so werden wir, sein irdisches Logis, sehr überfüllt werden.«

Doch nach dieser Ausschweifung, die wir uns, gedächten wir überhaupt nach dem Schnürchen zu gehen, auf spätere Blätter hätten versparen müssen, um eine Wiederholung zu vermeiden, kehren wir zur ersten Schöpfung des Geistes, dem Geiste selbst, zurück.

Der Geist ist etwas anderes als ich. Dieses andere aber, was ist's?

§ 2. Die Besessenen

Hast du schon einen Geist gesehen? »Nein, ich nicht, aber meine Großmutter.« Siehst du, so geht mir's auch: ich selbst habe keinen gesehen, aber meiner Großmutter liefen sie aller Wege zwischen die Beine, und aus Vertrauen zur Ehrlichkeit unserer Großmutter glauben wir an die Existenz von Geistern.

Aber hatten wir denn keine Großväter, und zuckten die nicht jederzeit die Achseln, so oft die Großmutter von ihren Gespenstern erzählte? Ja, es waren das ungläubige Männer und die unserer guten Religion viel geschadet haben, diese Aufklärer! Wir werden das empfinden! Was läge denn dem warmen Gespensterglauben zugrunde, wenn nicht der Glaube an das »Dasein geistiger Wesen überhaupt«, und wird nicht dieser letztere selbst in ein unseliges Wanken gebracht, wenn man gestattet, daß freche Verstandesmenschen an jenem rütteln dürfen? Welch einen Stoß der Gottesglaube selbst durch die Ablegung des Geister- oder Gespensterglaubens erlitt, das fühlten die Romantiker sehr wohl, und suchten den unheilvollen Folgen nicht bloß durch ihre wiedererweckte Märchenwelt abzuhelfen, sondern zuletzt besonders durch das »Hereinragen einer höheren Welt«, durch ihre Somnambulen, Seherinnen von Prevorst usw. Die guten Gläubigen und Kirchenväter ahnten nicht, daß mit dem Gespensterglauben der Religion ihr Boden entzogen werde, und daß sie seitdem in der Luft schwebe. Wer an kein Gespenst mehr glaubt, der braucht nur in seinem Unglauben konsequent fortzuwandeln, um einzusehen, daß überhaupt hinter den Dingen kein apartes Wesen stecke, kein Gespenst oder – was naiverweise auch dem Worte nach für gleichbedeutend gilt – kein »Geist«.

»Es existieren Geister!« Blick umher in der Welt und sage selbst, ob nicht aus allem dich ein Geist anschaut. Aus der Blume, der kleinen, lieblichen, spricht der Geist des Schöpfers zu dir, der sie so wunderbar geformt hat; die Sterne verkünden den Geist, der sie geordnet, von den Berggipfeln weht ein Geist der Erhabenheit herunter, aus den Wassern rauscht ein Geist der Sehnsucht herauf, und – aus dem Menschen reden Millionen Geister. Mögen die Berge einsinken, die Blumen verblühen, die Sternenwelt zusammenstürzen, die Menschen sterben – was liegt am Untergang dieser sichtbaren Körper? Der Geist, der »unsichtbare«, bleibt ewig!

Ja, es spukt in der ganzen Welt! Nur in ihr? Nein, sie selber spukt, sie ist unheimlich durch und durch, sie ist der wandelnde Scheinleib eines Geistes, sie ist ein Spuk. Was wäre ein Gespenst denn anders als ein scheinbarer Leib, aber wirklicher Geist? Nun, die Welt ist »eitel«, ist »nichtig«, ist nur blendender »Schein«; ihre Wahrheit ist allein der Geist; sie ist der Scheinleib eines Geistes.

Schau hin in die Nähe oder in die Ferne, dich umgibt überall eine gespenstische Welt: du hast immer »Erscheinungen« oder Visionen. Alles, was dir erscheint, ist nur der Schein eines inwohnenden Geistes, ist eine gespenstische »Erscheinung«, die Welt dir nur eine »Erscheinungswelt«, hinter welcher der Geist sein Wesen treibt. Du »siehst Geister«.

Gedenkst du dich etwa mit den Alten zu vergleichen, die überall Götter sahen? Götter, mein lieber Neuer, sind keine Geister; Götter setzen die Welt nicht zu einem Schein herab und vergeistigen sie nicht.

Dir aber ist die ganze Welt vergeistigt und ein rätselhaftes Gespenst geworden; darum wundere dich nicht, wenn du ebenso in dir nichts als einen Spuk findest. Spukt nicht dein Geist in deinem Leibe, und ist nicht jener allein das Wahre und Wirkliche, dieser nur das »Vergängliche, Nichtige« oder ein »Schein«? Sind wir nicht alle Gespenster, unheimliche Wesen, die auf »Erlösung« harren, nämlich »Geister«?