Der Eisblumengarten - Guy Jones - E-Book

Der Eisblumengarten E-Book

Guy Jones

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Beschreibung

Jess sehnt sich danach, wie alle anderen Kinder in die Schule zu gehen oder mit Freundinnen draußen in der Sonne zu spielen – aber Jess ist ein Mondscheinkind. Ihre Haut ist so lichtempfindlich, dass sie nur bei Dunkelheit oder in einem Schutzanzug ins Freie darf. Eines Nachts schleicht sie sich heimlich aus dem Haus und entdeckt einen zauberhaften Garten, der völlig aus Eis besteht. In ihm lebt sogar ein Junge aus Eis: Owen. Er und Jess werden Freunde. Bei einem von Jess' nächtlichen Besuchen schenkt Owen ihr eine Muschel aus Eis – und Jess ist auf wundersame Weise plötzlich geheilt. Doch Der Eisblumengarten beginnt zu schmelzen und auch Owen wird von Mal zu Mal weniger. Und irgendwann begreift Jess, dass sie ihren Freund nur retten kann, wenn sie das kostbare Geschenk zurückgibt ... Ein Roman über Freundschaft und die heilende Kraft der Phantasie, in der Traum und Wirklichkeit miteinander verschmelzen. »Der Eisblumengarten« ist eine zarte und berührende Lektüre und eine Hymne auf das Leben. »Guy Jones erzählt eine bewegende, hinreißende Geschichte – manchmal lustig, manchmal traurig. Brillant und schön.« Barry Cunningham, Entdecker von Harry Potter und englischer Verleger von Cornelia Funke

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Seitenzahl: 202

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Guy Jones

Der Eisblumengarten

Aus dem Englischen von Anne Braun

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]12345678910111213141516171819202122232425262728Dank

Für Isabelle

1

Sie nannten es die »Kappe«. Dabei war es in Wirklichkeit eine lange weiße Kopfbedeckung, die Jess sich über Gesicht und Hals zog, und darüber trug sie etwas Ähnliches wie eine Skibrille. Der Rest ihres Körpers war ebenfalls verhüllt: weites Oberteil, lange Hose und dicke Handschuhe, damit auch wirklich kein Fitzelchen ihrer Haut der Sonne ausgesetzt war.

»Ich mag es hier nicht«, sagte sie und hob die Brille ein Stück an, um sich zu kratzen, weil ihre Nase juckte.

»Kein Mensch ist gern in einem Krankenhaus«, entgegnete ihre Mutter.

»Ah, können wir dann gehen?«

»Wir sind wieder mal schlecht drauf, hm?«

Jess seufzte und atmete einen Mund voll ungesunder Luft aus. Die Zahlen im Display des Aufzugs tickten der Kinderabteilung entgegen. Schon jetzt hatte sie Schweißperlen im Nacken, die den Stoff an der Haut kleben ließen. Der Sommer war die absolut schlimmste Jahreszeit.

»Wir kommen nur zweimal im Monat her«, gab ihre Mutter zu bedenken.

»Nur?« Jess’ Stimme klang etwas schrill.

»Muss das jetzt sein?«

Jess fand, dass es sein musste. Zumindest bis ihre Mutter begreifen würde, wie sehr sie dieses Gebäude hasste, mit allem, was sich darin befand.

Im zweiten Stock hielt der Aufzug an, die Türen öffneten sich, und eine Frau mit einem violetten Kleid stand davor. Sie machte einen Schritt auf sie zu, doch beim Anblick von Jess’ Kappe blieb sie abrupt stehen und schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land, ohne einen Laut herauszubringen.

»Können wir Ihnen helfen?«, fragte Jess’ Mutter.

»Oh …«, stammelte die Frau, nachdem sie sich etwas gefasst hatte. »Rauf oder runter?«

»Rauf.«

»Aha. Ich muss runter. Danke.« Die Frau trat einen Schritt zurück und glotzte Jess immer noch an.

»Sie können den Mund jetzt wieder zumachen«, zischte Jess, als sich die Aufzugtüren schlossen.

»Schatz, das war unhöflich«, schimpfte ihre Mutter.

»Sie hat’s ja nicht mehr gehört.«

»Schade …« Sie grinsten beide, ohne sich anzublicken. Ihre Mutter drückte ein paarmal auf den Knopf mit der Vier und klopfte nervös mit dem Fuß. Der Aufzug setzte sich rumpelnd in Bewegung und nahm seine Fahrt nach oben wieder auf.

»Ich mag ihn nicht«, sagte Jess.

»Er ist sehr nett.«

»Zu dir schon. Mit mir redet er, als ob ich schwachsinnig wäre.«

»Er redet mit dir, als ob du ein Kind wärst.«

»Richtig.«

»Er ist ein sehr guter Arzt.«

»Woher willst du das wissen? Du hast keine medizinische Ausbildung.« Spiel, Satz und Sieg, dachte Jess.

»Setz deine Brille wieder auf!«, sagte ihre Mutter. »Im Korridor gibt’s Fenster.«

»Aber, Mum …«, begann sie.

»Jessica!«, sagte ihre Mutter mit Nachdruck. Spiel, Satz und Sieg.

2

Doktor Stannard war extrem groß, extrem dünn und, wie Jess fand, auch extrem nervig. Er hatte die Angewohnheit, den Oberkörper vorzubeugen, was ihn aussehen ließ wie eine Fahnenstange, die sich im Wind bog. Er war so groß, dass sein Vater bestimmt ein Riese gewesen war – also nicht nur ein normaler Mensch, der zufällig etwas groß geraten war, sondern ein echter Riese, wie jene in Märchenbüchern. Jess hatte mal eine ganz ähnliche Geschichte geschrieben, über einen besonders üblen Burschen, der in einer Höhle hauste, die bis zur Decke mit Knochen von bedauernswerten Menschen angefüllt war, die rein zufällig an seiner Höhle vorbeispaziert waren.

Doktor Stannard sah allerdings nicht so aus, als hätte er jemals in der Höhle gehaust. Aber wer weiß – vielleicht hatten seine Rieseneltern ja beschlossen, in die moderne Welt umzusiedeln? Falls ja, dann musste es für sie jeden Tag ein innerer Kampf gewesen sein, den Briefträger nicht aufzufressen, dachte Jess.

Ihr eigener Vater war, soweit Jess sich erinnerte, relativ normal groß. Doch weil ihre Mutter ihr nie klare Antworten gab, hatte Jess sich selbst ausdenken müssen, wohin er gegangen sein könnte. Falls jemand sie fragte, würde sie antworten, er sei von Aliens entführt worden, was eine zwielichtige Regierungsbehörde – denn Regierungsbehörden sind immer zwielichtig – natürlich zu verheimlichen versucht hatte.

»Jess?« Das war Doktor Stannard.

»Ja?«

»Der Doktor hat dich gebeten, deine Handschuhe auszuziehen«, sagte ihre Mutter.

»Aha«, sagte sie.

»Sie war wohl geistig abwesend, Mummy«, sagte der Arzt. Er nannte ihre Mutter immer »Mummy«. Das war idiotisch. »Du warst meilenweit weg, nicht wahr, Jess?«

»Ich glaub schon«, sagte sie.

»Woran hast du gedacht?«, fragte er.

»An Hundebabys«, erwiderte sie aufs Geratewohl.

Ihre Mutter bedachte sie mit einem Blick, der besagte: Ich weiß nicht, woran du gedacht hast, Süße, aber ich würde unser Haus verwetten, dass es keine Hundebabys waren.

Doktor Stannard aber schien sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben.

Er nahm ihre Hand und drehte sie in alle möglichen Richtungen, dann rollte er den Ärmel hoch, um auch ihren Arm zu betrachten. Als er damit fertig war, ging er auf die andere Seite. »Und was ist das?«, fragte er.

»Was ist was?«, fragte Jess mit einem unschuldigen Lächeln zurück.

»Herrje, was ist das?«, fragte auch ihre Mutter besorgt.

»Es sieht jedenfalls nicht gut aus, nicht wahr, Jess? Nein, sogar ziemlich übel.«

Ihre Mutter beugte sich zusammen mit dem Arzt vor, und Jess blickte auf die Köpfe der beiden Erwachsenen hinunter, die eine verbrannte Stelle an ihrem Handgelenk begutachteten.

»Ich spüre es kaum«, behauptete sie.

Es war vor ein paar Tagen passiert. Ihre Mutter war hinten in der Küche gewesen, als draußen auf der Straße plötzlich jemand herumgebrüllt hatte. Mr Olmos von Nummer dreiunddreißig stand auf dem Gehsteig und schrie den Paketboten an, weil der ihm, wie er brüllte, seine neue Eismaschine schon wieder nicht gebracht hatte. Der Paketbote versuchte ihm klarzumachen, dass er nichts ausliefern könne, was noch nicht in der Verteilerstelle eingetroffen war, doch Mr Olmos hörte gar nicht hin. Der Paketbote sei ein unfähiger Trottel, tobte er weiter, und höchstwahrscheinlich ein Gauner, dem absolut zuzutrauen war, dass er anderer Leute Eismaschinen klaute.

Da hatte sich Jess ihre Kopfbedeckung übergestülpt und die Haustür geöffnet, um besser mithören zu können. Die Fenster im Erdgeschoss waren getönt, doch ins Freie durfte sie nur »in voller Montur« gehen, wie ihre Mutter es nannte. Jess mochte Mr Olmos. Er war ein rastloser Mensch, der sich ständig neue Hobbys einfing, so wie andere Leute einen Schnupfen. Diesen Monat hatte er beschlossen, sein Eis in Zukunft selbst herzustellen, und davor hatte er Mundharmonika spielen lernen wollen. Ein paar Wochen davor hatte er versucht, in seinem Garten vor dem Haus eine kleine Rakete zu bauen. Jess vermutete allerdings, dass er ziemlich erleichtert gewesen war, als seine Rakete am Ende doch nicht zündete.

Während sie sich das Gezeter anhörte, hatte es sie am Arm gejuckt, und sie hatte unbewusst den Ärmel zurückgeschoben, um sich zu kratzen. An ihrem nackten Arm! Erschrocken war sie ins Haus zurückgerannt und hatte die Tür zugeschlagen. Als sie ihren Arm betrachtete, konnte sie genau erkennen, bis wohin sie den Ärmel geschoben hatte: Die glatte weiße Haut am Handgelenk war, nach nur wenigen Minuten in der Sonne, zu wütenden roten Pusteln aufgelodert.

»Was war das?«, hatte ihre Mutter gefragt, die in den Flur gekommen war.

»Mr Olmos ist sauer wegen seiner Eismaschine«, erklärte Jess.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Herrje, dieser Choleriker!«

»Ich mag ihn«, sagte Jess.

»Du kannst schon mal die Kartoffeln schälen«, hatte ihre Mutter gesagt und war in die Küche zurückgeeilt.

Jess hatte ihren Ärmel wieder nach unten gezogen und sich ohne Murren an die Arbeit gemacht.

 

»Jess …«, sagte ihre Mutter nun und spielte mit einer losen Haarsträhne. »Wenn ich nicht darauf vertrauen kann, dass du auf dich aufpasst …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht jede Sekunde des Tages im Auge behalten!«

»Musst du auch nicht.«

»Du bist am helllichten Tag ins Freie gegangen!«

»Ich war komplett verhüllt.«

»Offenbar nicht.«

»Ich wollte mich nur schnell am Arm kratzen und habe vergessen, den Ärmel wieder ganz runterzuziehen – es ist ja nicht so, dass ich es mit Absicht gemacht hätte!«

»Nicht in diesem Ton, Fräulein!«

»Ich habe keinen Ton.«

Ihre Mutter blickte zu Doktor Stannard hoch, der sie beide mit einem Gesichtsausdruck ansah, der förmlich Ich verstehe schrie. Jess hätte ihm am liebsten seinen eigenen Tacker um die Ohren gehauen.

»Was meinen Sie, Herr Doktor?«, seufzte ihre Mutter.

»Ich meine, dass sie besser aufpassen muss, Mummy. Sehr viel besser.«

»Hast du gehört, was der Doktor gesagt hat, Jess?«

Jess öffnete den Mund, um etwas darauf zu sagen. Sie wollte die beiden anbrüllen, dass es ein Unfall gewesen war, dass sie gut aufpasste, dass sie immer aufpasste. Doch sie verkniff es sich und erhob sich von ihrem Stuhl. »Kann ich jetzt gehen?«

»Wohin?« Ihre Mutter stand ebenfalls auf.

»Spazieren. Ihr könnt sicher leichter über mich reden, wenn ich nicht dabei bin.« Der Blick ihrer Mutter war messerscharf. »Bitte«, fügte Jess hinzu.

»Aber nur in voller Montur.«

»Ich weiß.« Jess nahm die Kopfbedeckung von dem Schreibtisch, der aussah, als sei er aus Plastik.

Ihre Mutter setzte sich seufzend wieder hin. »Gut, fünf Minuten«, sagte sie. »Nicht mehr.«

Jess salutierte militärisch und ließ die Tür hinter sich zufallen.

3

Sie setzte ihre Brille auf und verzog das Gesicht, als die orangefarbenen Gläser die Welt eine Spur farbloser machten. Ein trauriger, gemalter Regenbogen zierte eine Wand des Krankenhausflurs. Ein Pfleger schob einen Rollstuhl vorbei, dessen Räder wie ein Vögelchen zwitscherten. Darin saß eine alte Frau, die Jess von Kopf bis Fuß beäugte. »Armes Ding«, sagte sie, als sie an Jess vorbeirollte. »Alles wird wieder gut.«

Jess wusste, dass es für Erwachsene schwierig war, sie in voller Montur zu sehen. Vermutlich hatten sie keine Ahnung, warum ein Kind in einem Anzug herumrennen musste, in dem es wie ein Imker aussah. Für sie war es klar, dass dieses Kind nicht normal war und deshalb ihr Mitleid brauchte. Doch Jess wollte kein Mitleid, von niemandem. Sie hatte alles, was sie brauchte. Ihre Mutter zum Beispiel. Ihre Mutter, die sie manchmal verrückt machte und entmutigte, aber auch wunderbar war.

Und dann hatte sie natürlich ihre Geschichten. Erst an diesem Morgen hatte sie wieder an ihrem Großen Buch voller Geschichten geschrieben. Dieses Werk würde sie eines Tages reich und berühmt machen, und dann würde sie sich einen schöneren Schreibtisch kaufen, um ihren Traum zu verwirklichen und Das größte Buch voller Geschichten zu schreiben.

Sie bog um ein paar Ecken, doch jeder Gang sah fast genauso aus wie der letzte. Die Neonbeleuchtung tauchte alles in ein blaugrünes, kaltes Licht. Hier und da gab es Reihen von orangefarbenen, an die Wand geschraubten Plastikstühlen. Jess kam zu einem Fenster. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Glasscheibe, und Jess ließ ihn über ihre Handschuhe tanzen, mit einem vertrauten Schauder von Sehnsucht und Angst. Ich könnte sie ausziehen, dachte sie und stellte sich vor, wie Doktor Stannard dann ausrasten würde.

Ein Fußball, der direkt vor ihr an die Scheibe donnerte, riss sie unsanft aus ihrem Tagtraum.

Sie blickte nach unten und sah eine Gruppe von Kindern. Eines von ihnen, ein schmächtiger Junge, stieg in das Beet, das entlang der Mauer des Krankenhauses verlief, um zwischen den Sträuchern herumzuwühlen. Seine Freunde liefen umher und unterhielten sich so lautstark, als stünden sie auf verschiedenen Straßenseiten, obwohl sie in Wirklichkeit fast direkt nebeneinander standen.

»Mach schon!«, rief eines der Mädchen. Sie hatte die gleichen aschblonden Haare wie der Junge. Seine Schwester, dachte Jess. Da kam ein kurzer Aufschrei aus dem Gebüsch, und gleich darauf tauchte der Junge mit feuerroten Quaddeln an den Armen wieder auf und sah genauso ramponiert aus wie der Fußball, den er mitbrachte.

»Was hab ich gesagt!? Man darf ihn nicht kicken!«, schimpfte das Mädchen. »Du gehst jetzt sofort nach Hause und holst einen anderen.« Der Junge wollte protestieren, doch er war schnell überstimmt. Als er davonrannte, schlenderte der Rest der Gruppe weiter, zu dem Park am Ende der Straße.

In Jess’ Brust machte sich das nur allzu vertraute Gefühl von Leere breit, als wenn jemand mit einer Eiskugelkelle darin herumstochern würde.

Das aschblonde Mädchen blieb stehen und bückte sich, um ihre Schnürsenkel zu binden, wodurch sie ein Stück hinter den anderen zurückblieb.

Sie sah interessant aus, wie Jess fand. Ihre Kleidung war ihr etwas zu groß, und ihre Jeans war abgewetzt und hatte Grasflecken an den Knien. Wie würde das Mädchen reagieren, wenn Jess zu ihr ginge und sich einfach vorstellen würde? Wie es wohl wäre, einen Nachmittag mit diesen Kindern zu verbringen, in der Sonne Ball zu spielen, einander zu ärgern und über alles zu reden, was einem gerade in den Sinn kam?

Jess ertappte sich bei einem Lächeln – ein Lächeln, das wie der Schaum einer frisch eingeschenkten Limonade aufsprudelte und sich genauso schnell wieder legte. Denn in diesem Moment hob das Mädchen den Kopf und sah sie.

Jess hob grüßend eine Hand, doch das Mädchen unten reagierte nicht. Da zog ein Wolkenfetzen vor der Sonne vorbei, und Jess konnte in der Fensterscheibe ihr Spiegelbild sehen – und sie sah sich so, wie das Mädchen sie sah. Sie konnte sehen, dass ihr Gesicht verhüllt war und dass die Hand, mit der sie gewunken hatte, in einem dicken weißen Handschuh steckte.

Abrupt wandte sie sich vom Fenster ab und wünschte sich nichts sehnlicher, als unsichtbar zu sein. Ihr Gesicht und ihre Brust brannten lichterloh, und sie hörte das Blut in ihren Ohren pulsieren. Kein Wunder, dass das Mädchen nicht zurückgewinkt hatte. Jess sah ja nicht mal wie ein Mädchen aus. Sie war anders. Sie war sonderbar.

4

Eine Krankenschwester mit Haaren wie Stahlwolle kam aus dem gegenüberliegenden Zimmer und ging dann schnellen Schrittes den Flur entlang. Bevor die Tür wieder zufiel, konnte Jess einen Blick auf ein Krankenbett erhaschen. Ein Bett, in dem ein Junge lag. Ohne lange zu überlegen, sah sie sich kurz um und huschte dann in dieses Zimmer.

Das Zimmer war leer, abgesehen von dem Jungen in dem Bett, der etwa in ihrem Alter war. Auf seinem Nachttisch stand eine Vase mit gelben Blumen, auf dem Fenstersims waren etliche Gute-Besserung-Karten aufgereiht. Jess griff nach einer, die umgefallen war, und stellte sie wieder hin. Darauf war eine Babymaus mit Schlappohren abgebildet, gut zugedeckt und mit einem Thermometer im Mund.

Der kranke Junge rührte sich nicht. Er hatte die Augen geschlossen und war mit Schläuchen gespickt, die mit mehreren Geräten und Maschinen verbunden waren. Grüne Lichter blinkten, und in einem nervtötenden Rhythmus ertönte ein monotoner Piepton.

Jess ließ die Jalousien herunter und nahm Kopfbedeckung und Brille ab: halbe Montur. Augenblicklich füllte sich ihre Nase mit dem Duft von Blütenstaub. Sie beugte sich über den Blumenstrauß und atmete tief ein, um so den strengen antiseptischen Krankenhausgeruch zu übertünchen.

Auf dem Nachttisch stand ein Foto, an die Blumenvase gelehnt. Darauf war eine Familie auf einem baufällig aussehenden Anlegesteg zu sehen, der auf einen gefrorenen See hinausführte. Mit Raureif überzogene Blumenbeete waren im Vordergrund, in der Ferne ragten schneebedeckte Berge empor. Sonnenstrahlen tanzten auf dem Eis, und Jess verspürte plötzlich einen Druck und eine Enge in ihrem Brustkorb. Sie schob diesen Anflug von Traurigkeit beiseite und wandte sich dem Jungen zu.

Er war fast so farblos wie sie selbst. Die blasse Haut an den Schläfen war mit einem Spinnennetz blauer Adern überzogen. Sein Brustkorb hob und senkte sich mit einem leisen Zischen. Er war dünn – dünner als auf dem Foto. Auf dem Foto grinste er in die Kamera und stand zwischen seinen Eltern, die über etwas lachten, was man auf dem Foto nicht sehen konnte.

Wer war er? Der Sohn eines Spions, dachte sie spontan. Sein Vater – nein, seine Mutter – arbeitete für die Regierung an einem der gefährlichsten Orte der Welt. Sie sprach acht Sprachen, hatte einen schwarzen Gürtel im Judo und konnte aus dem Stand zwölf Saltos rückwärts machen. Für Jess stand fest, dass so eine Frau ihren Sohn höchstwahrscheinlich dafür trainiert hatte, dass er in ihre Fußstapfen treten konnte. Mit gerade mal zwölf Jahren konnte er aus hundert Metern Entfernung bereits den Deckel von einer Flasche schießen, einen Hubschrauber fliegen und in der Wildnis mit nur einer Regenjacke und einer Büchse Bohnen überleben.

Aber warum lag er hier? Nun, das war klar. Seine Mutter hatte in einem Korruptionsskandal auf höchster Ebene ermittelt und war aufgeflogen. Deshalb waren Agenten geschickt worden, die ihre Familie gefangen nehmen sollten, doch die hatte sie mit nichts als dem Inhalt ihrer Besteckschublade abwehren können. Mit der Kugel, die ihren Sohn ins Koma gerissen hatte, war ihr das leider nicht gelungen …

Mit einem Mal fühlte sich Jess sehr müde und begrub ihren Kopf zwischen den Händen. »Tut mir leid«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang dünn und gekünstelt in dem stillen Raum. »Es muss schrecklich sein, einfach nur dazuliegen mit all diesen Schläuchen in den Armen. Und die ganze Zeit nichts als die Ärzte und Krankenschwestern zu hören, wie sie über dich reden.«

Einen verrückten Moment lang rechnete sie halb damit, der Junge würde ihr antworten, aber natürlich war außer dem langsamen Raspeln seiner Atemzüge nichts zu hören. Wo bist du?, fragte sie stumm. War sein Geist irgendwo an einem anderen Ort? Träumte er? Oder wartete er einfach nur? Darauf, dass sich etwas veränderte, damit er wieder aufwachen konnte?

Jess setzte sich behutsam auf seine Bettkante und spürte, wie die Matratze unter ihr etwas einsank. »Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, wie du dich fühlst. Was die Ärzte betrifft, meine ich. Ich muss alle paar Wochen herkommen, und sie tun nichts anderes, als über mich zu reden, darüber, wie es mir geht oder was ich als Nächstes tun soll. Aber niemand fragt mich direkt, nicht wirklich. Weißt du, was ich mir wünsche? Ich wünschte, es gäbe keine Sonne, gar keine. Keine Sonne für niemanden, dann wären alle wie ich. Klingt das gemein? Sich zu wünschen, dass alle anderen ebenfalls im Dunkeln leben müssen? Ist mir egal.«

Sie zog sich einen Handschuh aus, griff nach der Hand des Jungen und rechnete halb damit, er würde seine Finger um ihre schlingen. Aber natürlich geschah das nicht; sie blieben einfach liegen, reglos und kalt. So kalt, dachte sie. Eine plötzliche Panik erfasste sie. Wie konnte ein Mensch so wenig Wärme im Körper haben und trotzdem noch leben? Aber andererseits könnten die Leute sich auch fragen, wie jemand ohne Sonnenlicht leben kann, so wie sie.

»Nein, doch nicht«, sagte sie schließlich. »Ich möchte doch nicht, dass alle anderen wie ich wären. Aber ich wünschte, es gäbe einen Ort, an den ich gehen könnte, ohne Angst vor der Sonne haben zu müssen.« Sie stieß einen langen, traurigen Seufzer aus.

Da entdeckte sie auf einem Stuhl in der Ecke eine Tasche. Abgewetztes, braunes Leder. Eine Damenhandtasche, ganz ähnlich wie die ihrer Mutter. Sie war halb offen, und Jess konnte einen Schlüsselbund sehen, was bedeutete, dass die Besitzerin der Tasche vermutlich nur kurz aus dem Zimmer gegangen war. Und das wiederum bedeutete, dass sie demnächst zurückkommen würde. Sprich: Jess musste möglichst schnell verschwinden, bevor sie lange Erklärungen abgeben müsste.

»Ich hoffe, du wachst bald wieder auf«, flüsterte sie, beugte sich über ihn und strich eine Haarsträhne zurück, die ihm in die Augen gefallen war. »Und ich hoffe auch, dass du bis dahin schöne Träume hast.«

Im Zickzack eilte sie dann zum Sprechzimmer von Doktor Stannard zurück, vor dem ihre Mutter bereits auf sie wartete. »Ich sagte: fünf Minuten.«

Jess nickte. Das hier war keinen Streit wert.

»Wir müssen deine Brandwunde verbinden lassen.«

»Ich habe doch gesagt, dass es nicht schlimm ist.«

»Es sieht aber schlimm aus, und das weißt du.«

»Ich will aber nicht.«

»Du musst trotzdem mitkommen.« Dann wurde die Stimme ihrer Mutter etwas weicher: »Komm schon, meine Kleine, es dauert ja nicht lange. Wir gehen nur kurz zu einer Krankenschwester, und danach können wir nach Hause.«

Noch mehr stochern und rumdrücken, dachte Jess. Mehr und mehr und noch mehr. Sie hatte es satt, so satt. Etwas musste sich ändern.

5

Jess lag im Bett und hörte das arthritische Knacken der Stufen, als ihre Mutter hochkam, um ebenfalls schlafen zu gehen. Ein paar Minuten später erlosch der Lichtschein unter der Tür von Jess’ Zimmer, doch sie wartete weiter. Durch die Bäume vor ihrem Fenster fiel Licht von der Straße herein und warf Schatten an die Wand.

Erst als sie sich ganz sicher war, dass das Haus tief und fest schlief, schlüpfte sie wieder aus dem Bett und zog sich Jeans und ein T-Shirt an. Auf den Zehenspitzen schlich sie nach unten und blieb erst an der Haustür kurz stehen, weil sie nicht glauben konnte, was sie da tat.

Ich meine, dass sie besser aufpassen muss, Mummy. Sehr viel besser … Bei der Erinnerung an Doktor Stannards Stimme zuckte Jess zusammen. Doch dann schloss sie die Haustür auf und ging entschlossen hinaus auf die Straße. Ihr Magen entkrampfte sich etwas, und plötzlich war sie nichts weiter als ein normales Mädchen in normaler Kleidung, das tun konnte, was immer ihm Spaß machte. Ihr Herz begann zu rasen, und sie konnte nicht verhindern, dass sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Ich tu’s, dachte sie, ich tu’s wirklich!

Die Nachtluft war suppig und warm, doch Jess fröstelte, als eine leichte Brise über ihre nackten Arme strich. In den Wintermonaten machte ihre Mutter oft einen Spaziergang mit ihr, wenn es dunkel war, doch im Sommer, wenn die Sonne erst unterging, wenn Jess bereits im Bett sein musste, war ihr dieses Glück nicht vergönnt. Jess hatte argumentiert, dass für sie keine normalen Regeln gelten dürften, doch ihre Mutter hatte Doktor Stannard dazu befragt, der ihr daraufhin einen Vortrag über die Vorzüge von geregelten Schlafenszeiten gehalten hatte.

Sie blickte zu ihrem Haus zurück, das genauso aussah wie alle anderen Häuser in dieser Straße. Zwei Stufen führten zu einer schwarzen Haustür, über der zwei Fenster im oberen Stockwerk wie ein Augenpaar auf sie herabblickten. Das linke Fenster gehörte zum Zimmer ihrer Mutter. Was, wenn sie aufwacht?, dachte Jess bestürzt. Klar, sie könnte wieder hineingehen, das wäre ganz leicht, aber hier draußen gab es eine ganze Stadt, die sie immer nur durch die getönten Autofenster oder durch die orangefarbene Brille ihrer Montur gesehen hatte. Und noch schlimmer war die Art, wie die Stadt sie sah – als ein merkwürdiges Wesen, das man anstarren und über das man tuscheln konnte.

Sie atmete langsam und tief aus und marschierte dann los. Ihre Straße war ein schmales Asphaltband zwischen roten Backsteinhäusern, an dessen Ende es einen Tante-Emma-Laden gab. Das leuchtend blaue Ladenschild, das vermutlich fröhlich aussehen sollte, wirkte in Wirklichkeit irgendwie nur armselig.

Das ist weit genug, sagte sie sich. Es war mitten in der Nacht, deshalb musste es weit genug sein. Und doch ging sie weiter, durch ein Labyrinth von Häusern, bis sie schließlich in der Hauptstraße ankam. Der Trommelwirbel in ihrem Kopf wurde immer schneller und lauter, je größer ihre Aufregung wurde.

Die Geschäfte in der Hauptstraße schliefen allesamt, ihre Rollläden sahen wie geschlossene Augenlider aus, auf denen sich matt die Straßenlaternen spiegelten. Jess wusste, dass es hier tagsüber von Menschen wimmelte, doch nachts war die Stadt ein ganz anderer Ort. Abfälle in allen möglichen Farben verstopften die Rinnsteine, und in der Luft hing der schwere Geruch von Frittiertem und Essig.

Sie wunderte sich nicht, dass sie angestarrt wurde – dass ein Mädchen nachts allein durch die Gegend spazierte, war schließlich eher ungewöhnlich, und außerdem war sie recht klein für ihr Alter. Ein Pärchen mittleren Alters, Hand in Hand, blieb stehen, und einen Moment lang hatte Jess Angst, sie würden sie fragen, wo ihre Eltern wären. Doch sie ging unbeirrt weiter, so, als hätte sie jedes Recht der Welt, hier zu sein, obwohl sie sich innerlich schrecklich klein fühlte. Als sie an dem Pärchen vorbeiging, merkte sie, dass dessen Blicke von ihr abglitten. Sie lächelte vor sich hin. Alles in Ordnung. Sie war praktisch unsichtbar.

 

Die Weston Road führte abwärts, von der Hauptstraße hinunter in den besseren Teil der Stadt. Auf der einen Seite standen große Häuser, auf der anderen Seite gab es nur ein Geländer. Dahinter war ein Abhang, auf dem vereinzelt niedrige Bäume und Sträucher wuchsen. Ein Weg führte hinunter zu einem Park, in dem die Straßenlaternen seltsame Formen auf das graue Gras warfen. Ein kleiner See glänzte wie ein silbrig-schwarzer Spiegel.