Der Elefant im Universum - Govert Schilling - E-Book

Der Elefant im Universum E-Book

Govert Schilling

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Beschreibung

Der renommierte Wissenschaftsjournalist Govert Schilling trägt in "Der Elefant im Universum" das aktuelle Wissen rund um die Dunkle Materie zusammen und erzählt sehr authentisch von persönlichen Begegnungen mit Forschenden auf der ganzen Welt. Leicht verständlich beschreibt er die wissenschaftlichen Hintergründe und zeigt, was Astronomen und Physiker auf aller Welt antreibt, ihr Leben der Suche nach dieser geheimnisvollen Substanz zu widmen.

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GOVERT SCHILLING ist ein international bekannter und mehrfach ausgezeichneter Autor zu Astronomie und Raumfahrt aus den Niederlanden. Seine Artikel erscheinen in renommierten Magazinen wie „New Scientist“, „Sky & Telescope“ und „BBC Sky at Night“. Er hat über 50 Bücher verfasst, viele davon sind auch auf Englisch oder Deutsch erschienen, darunter im Kosmos Verlag „Unser Universum“, „Das Kosmos-Buch der Astronomie“, „Astronomie – die größten Entdeckungen“, „Galaxien“ und „Sternenbilder“. Im Jahr 2007 hat die Internationale Astronomische Union (IAU) den Kleinplaneten (10986) Govert nach ihm benannt.

Titel

Inhalt

Die Blinden und der Elefant

Vorwort

Einleitung

TEIL I: DAS OHR

1. Materie, aber nicht wie wir sie kennen

2. Phantome des Untergrunds

3. Die Pioniere

4. Der Halo-Effekt

5. Die Kurve abflachen

6. Kosmische Kartografie

7. Big-Bang-Baryonen

8. Radio-Erinnerungen

TEIL II: DER STOSSZAHN

9. Ab in die Kälte

10. Wundersame WIMPs

11. Die Simulation des Universums

12. Die Ketzer

13. Hinter den Kulissen

14. MACHO-Kultur

15. Das rasende Universum

16. Kosmologische Kuchenstücke

17. Verräterische Muster

TEIL III: DER RÜSSEL

18. Die Xenon-Kriege

19. Den Wind einfangen

20. Boten aus dem All

21. Abtrünnige Zwerge

22. Kosmologische Spannung

23. Flüchtige Gespenster

24. Dunkle Krise

25. Das Unsichtbare sichtbar machen

Danksagung

Quellenangaben

Bildnachweis

Impressum

DIE BLINDEN UND DER ELEFANT

Eine Hindu-Fabel

Sechs Männer fern in Industan,

voll Neugier wie es schien,

Erstrebten, obschon blind sie war’n,

den Elefant zu sehn,

Dass jeder durch den Augenschein

könnt’ dieses Tier verstehn.

Der Erste, von Natur aus forsch, sich naht dem Elefant,

Befühlt die Seite des Geschöpfs und hat sogleich erkannt:

„Mein Gott, es ist ein Ungetüm; es ist wie eine Wand!“

Der Zweite nun den Stoßzahn fühlt und fragt: „Wo kommt das her?

So rund und glatt und spitz am End? Die Lösung ist nicht schwer;

Dies Ding von einem Elefant ist gleich als wie ein Speer!“

Darauf der Dritte sich nun naht, ergreift – ihm ward nicht bange –

Den Rüssel vorn am Kopf mit Kraft, und zögert auch nicht lange,

Den andern Blinden kundzutun: „Das Biest ist eine Schlange!“

Darob der Vierte nun erfühlt – beinahe wie im Traum –

Das linke Bein der Kreatur; umfasst es aber kaum:

Und spricht: „Es ist mir sonnenklar: Das Ding ist wie ein Baum.“

Der Fünfte nun berührt das Ohr am Elefantenschädel

Und sagt: „Sogar ein blinder Mann und auch ein blindes Mädel

Weiß doch auf Anhieb, dass dies ist ein großer breiter Wedel.“

Der Sechste tastet sich nun vor, grad bis zum Hinterteil,

Und sucht, dort wo der Schwanz sich regt, nun ebenfalls sein Heil,

Ruft dann, sobald er ihn erfasst: „Das Tier ist wie ein Seil!“

Sechs Blinde fern in Industan, nun stritten lang und laut,

ob dem, was jeder nur für sich als Elefant geschaut –

doch hatten, wiewohl teils im Recht, sie alle nur auf Sand gebaut.

So häufig im Gelehrten-Streit geschieht’s im Handumdrehn

Dass Disputanten – scheinbar taub – sich einfach nicht versteh’n

Und zanken um ’nen Elefant, den niemand je geseh’n.

John Godfrey Saxe, 1872

ins Deutsche übertragen von Kurt Bangert

VORWORT

von Avi Loeb

Der Begriff „Dunkle Materie“ wird verwendet, um den größten Teil der Materie im Universum zu beschreiben. Sie ist fünfmal häufiger als die gewöhnliche Materie, wie die Atome, aus denen Sterne und Planeten bestehen. Doch wie der Name schon sagt, können wir Dunkle Materie nicht sehen. Wir schließen nur indirekt auf ihre Existenz durch ihren Schwerkrafteinfluss auf die sichtbare Materie. So ist die Dunkle Materie der Inbegriff unserer Unwissenheit.

Das Rätsel der Dunklen Materie ist wie alle guten Geheimnisse ein beständiges. Es fasziniert die Wissenschaft schon seit einem ganzen Jahrhundert. Beobachtungen und wissenschaftliche Theorien deuten darauf hin, dass die Dunkle Materie aus einer beliebigen Anzahl hypothetischer Bausteine bestehen könnte: vielleicht aus schwach wechselwirkenden massereichen Teilchen oder aus sogenannten Axionen, vielleicht sogar aus Atomen, die weder mit gewöhnlicher Materie noch mit Licht wechselwirken. Heute sind sich die Wissenschaftler darüber einig, dass die Dunkle Materie wahrscheinlich während der Entstehung des Universums aus der feurigen Ursuppe hervorgegangen ist, aus einem Ozean von Teilchen, die sich anfangs nur wenig und rein zufällig bewegten. Obwohl bisher noch keines dieser unsichtbaren Teilchen nachgewiesen werden konnte, haben die Wissenschaftler zumindest die Spuren dieser Fluktuationen detektiert. Diese Dunkle-Materie-Fluktuationen zeigen sich in der leicht variierenden Intensität des kosmischen Mikrowellenhintergrunds, jener Strahlung, die vom Urknall übriggeblieben ist.

Der Erste, der eine dynamische Schätzung dessen vorlegte, was wir uns heute als Dunkle Materie vorstellen, war Lord Kelvin. Er stellte 1884 in einem Vortrag die These auf, dass es in der Milchstraße verborgene, dunkle Objekte geben könnte. Fast 50 Jahre und unzählige Theorien später vermutete der schweizerisch-amerikanische Astronom Fritz Zwicky, dass Galaxienhaufen mehr Masse besitzen müssten, als sich beobachten lässt. In den 1970er-Jahren wurde schließlich durch die bahnbrechende Arbeit von Vera Rubin, Kent Ford und Kenneth Freeman der Beweis für unsichtbare Teilchen erbracht. Sie zeigten, dass die Dynamik von Gas und Sternen in Galaxien darauf hindeutet, dass eine nicht sichtbare Masse in einem Halo existieren muss, der sich weit über den inneren Bereich der Galaxie, in dem die gewöhnliche Materie konzentriert ist, hinaus erstreckt. Im Jahr 1983 schlug Mordehai „Moti“ Milgrom eine Theorie zur modifizierten Newtonschen Dynamik vor, um das Problem der fehlenden Masse zu erklären. In dieser alternativen Theorie der Schwerkraft postulierte Milgrom, dass die Newtonschen Gesetze nicht für Galaxien gelten würden.

Wie die meisten Vorstöße in der Wissenschaft, fanden auch die historischen Theorien zu Dunkler Materie ihre Befürworter und Kritiker. Milgroms einfache Annahme einer veränderten Dynamik bei niedrigen Beschleunigungen erklärt zwar auch nach vier Jahrzehnten der Prüfung noch sehr gut die nahezu flachen Rotationskurven in vielen Galaxienhalos, doch für die von Zwicky beobachteten Eigenschaften von Galaxienhaufen gibt sie keine zufriedenstellende Erklärung. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Dunkle Materie stark mit sich selbst wechselwirkt und die Zentren von Galaxien meidet. Die Hypothesen gehen immer weiter.

In diesem Buch nimmt uns Govert Schilling mit auf eine fesselnde Reise durch die Forschungen zu Dunkler Materie; zu den verschiedenen Theorien sowie den Bemühungen, Dunkle Materie nachzuweisen, von den Anfängen bis heute. Wir reisen mit ihm zu astronomischen Observatorien hier auf der Erde und im Weltall und zu Teilchendetektoren in unterirdischen Höhlen und Tunneln. Während wir den Globus umrunden, treffen wir die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Protagonisten dieser Geschichte sind und die ihre Karriere der Suche nach der Lösung dieses Rätsels gewidmet haben. Die Bandbreite der Charaktere ist groß: Da gibt es herausragende und hochdekorierte Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Dunkle-Materie-Forschung wie Jim Peebles und Jerry Ostriker. Und es gibt jüngere Wissenschaftler, wahre Gläubige, Skeptiker und sogar Ketzer. Durch ihre Geschichten erlangen wir einen außergewöhnlichen Einblick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines der größten Rätsel der Wissenschaft.

Der Elefant im Universum zeigt, dass die Suche nach Dunkler Materie eine fortlaufende Forschungsarbeit ist; daher auch die Fülle an wissenschaftlichen Interpretationen. Doch eines Tages werden alle Teile dieses Puzzles ihren Platz finden. Schließen wir uns also unter Schillings galaktischer Führung dem Feldzug der führenden Wissenschaftler an, um den Geheimnissen dieser unbekannten, uns in ihren Bann ziehenden Materie auf den Grund zu kommen und uns nebenbei an den Rätseln unseres Universums zu erfreuen.

EINLEITUNG

Im Jahr 1995 gaben Astronomen die Entwicklung von hochempfindlichen Spektrografen bekannt, mit denen es möglich sein sollte, die Geschwindigkeiten von Sternen präzise zu messen. Ich ging davon aus, dass diese Geräte innerhalb weniger Jahre dazu genutzt werden würden, um extrasolare Planeten zu entdecken: Detektieren die Spektrografen winzige periodische Störungen in der Geschwindigkeit eines Sterns, könnte es einen massereichen Planeten in der Nähe geben, dessen Gravitation die Bewegung des Muttersterns im All beeinflusst. Also beschloss ich, mit der Recherche für ein neues Buch über die Suche nach Exoplaneten zu beginnen und hoffte, dass ich in den letzten Kapiteln eine bahnbrechende Entdeckung würde beschreiben können.

Als Michel Mayor und Didier Queloz im Oktober desselben Jahres ihre Entdeckung von 51 Pegasi b bekanntgaben – dem ersten nachgewiesenen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems, der einen sonnenähnlichen Stern umkreist – war mir klar, dass ich mich beeilen musste. Den größten Teil des Jahres 1996 arbeitete ich an kaum etwas anderem. Mein (niederländisches) Buch Tweeling aarde (Zwillingserde) wurde Anfang 1997 veröffentlicht. Es war eines der ersten Bücher über die Anfangszeit der Entdeckungen extrasolarer Planeten.

Eine ähnliche Geschichte spielte sich etwa 20 Jahre später ab. Anfang 2015 begann ich mit der Recherche für ein Buch über Gravitationswellen – winzige Wellen im Gewebe des Universums selbst, die durch energiereiche Ereignisse wie kollidierende Schwarze Löcher verursacht werden. Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie sagte Gravitationswellen bereits vor Jahrzehnten voraus und seither waren Wissenschaftler auf der Suche nach ihnen. Als ich mit meinen Recherchen begann, wusste ich, dass in wenigen Monaten fortschrittliche Gravitationswellendetektoren in Betrieb gehen würden – neue Versionen des Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory (LIGO) in den Vereinigten Staaten und des Virgo-Detektors in Italien. Es sah so aus, als wäre eine Entdeckung nicht mehr als ein paar Jahre entfernt.

Tatsächlich folgte die erste direkte Beobachtung von Gravitationswellen im September 2015 und wurde im Februar 2016 der Welt bekannt gegeben. Wieder legte ich alles beiseite, um das Buch so schnell wie möglich fertigzustellen. Ripples in Spacetime (Wellen der Raumzeit, erschienen unter dem Titel „Einsteins Ahnung“) wurde im Sommer 2017 veröffentlicht.

Als ich Anfang 2018 damit begann, für ein neues Buch über Dunkle Materie zu recherchieren, sagte ich den Astro- und Teilchenphysikern bei meinen Interviews halb im Scherz, dass ich jeden Tag eine revolutionäre Entwicklung auf diesem Gebiet erwarte. Wäre es nicht großartig, wenn mein Buch das erste wäre, das über die lang erwartete Lösung des Rätsels der Dunklen Materie berichtete? Das Erste, das darlegen würde, was dieses mysteriöse Zeug, das angeblich das Gleichgewicht des Kosmos ausmacht, eigentlich ist?

Tja, das ist leider nicht geschehen. Deshalb hier der Spoiler: Wenn Sie die letzte Seite dieses Buches erreicht haben, werden Sie immer noch nicht wissen, woraus der größte Teil des materiellen Universums besteht. Aber das wissen auch die Wissenschaftler nicht. Trotz jahrzehntelanger Spekulationen, Recherchen, Studien und Simulationen bleibt die Dunkle Materie eines der größten Rätsel der modernen Wissenschaft. Dennoch werden Sie nach der Lektüre dieses Buches viel über das seltsame Universum erfahren haben, in dem wir leben, und über die Art und Weise, wie Astronomen und Physiker ihm seine Geheimnisse entlocken.

Dunkle Materie fordert unsere Vorstellungskraft heraus. Wie ein unsichtbarer Klebstoff ist sie das, was das Universum zusammen- und am Laufen hält. Ohne sie würden Galaxien auseinanderfallen, Galaxienhaufen sich auflösen und der Weltraum hätte sich längst bis ins Unendliche ausgedehnt. Die Dunkle Materie ist das Wichtigste, was es da draußen gibt, und doch haben wir erst in den letzten Jahrzehnten von ihr erfahren; eine Ahnung von ihrer wahren Natur hat bis heute niemand.

Zumindest haben wir dank der Arbeit Hunderter engagierter Wissenschaftler schon gelernt, was sie nicht ist. Dunkle Materie ist kein Ozean aus ultradunklen Zwergsternen. Sie ist kein alles durchdringender Schleier aus trübem Gas im intergalaktischen Raum. Dunkle Materie ist auch keine Ansammlung von Schwarzen Löchern, zumindest nicht die „normale“ Art, die Astronomen langsam zu erforschen beginnen. Und Dunkle Materie besteht noch nicht einmal aus Atomen und Molekülen, wie wir sie kennen. Sie ist etwas ganz und gar Seltsames und Exotisches.

Dunkle Materie formte das Universum, in dem wir leben. Sie ist das Gerüst für den Bau der kosmischen Struktur. Sie ermöglichte die Bildung von Galaxienhaufen, Galaxien, Sternen, Planeten und schließlich von uns Menschen. Doch trotz der zahlreichen Fachgebiete und Wissenschaftler, die sich mit diesem Rätsel befassen, scheinen wir es nicht wirklich lösen zu können. Es gibt Andeutungen und Behauptungen, Indizienbeweise und Wunschdenken – aber bis heute keinen einzigen überzeugenden Nachweis und keinen Hinweis auf die wahre Identität der Dunklen Materie.

Die Geschichte der Suche nach Dunkler Materie reicht bis in die 1930er-Jahre zurück, obwohl das Rätsel an sich erst vor etwa 50 Jahren allgemein als solches anerkannt wurde. Damals begannen Astronomen, sich über die hohen Rotationsgeschwindigkeiten in den äußeren Teilen von Spiralgalaxien wie unserer eigenen Milchstraße zu wundern. Bald darauf traten Teilchenphysiker auf den Plan, denn es wurde klar, dass das Rätsel nicht gelöst werden konnte, ohne eine völlig neue Form der Materie zu bemühen. Und wegen ihrer zentralen Rolle bei der Entwicklung des Universums wurde diese neue verborgene Materie auch zu einem heißen Thema in der Kosmologie, die sich der Erforschung des Universums auf den größten Skalen widmet. Sie sehen: Die Dunkle Materie ist ein wahrhaft multidisziplinäres Forschungsgebiet, das Beobachter, Theoretiker, Experimentatoren und die Entwickler von Computermodellen seit Jahrzehnten beschäftigt.

Da so viele Menschen über einen so langen Zeitraum an diesem Problem gearbeitet haben, ist es schier unmöglich, allen in diesem Buch gerecht zu werden. Schließlich ist Der Elefant im Universum weder ein technisches Buch noch erhebt es den Anspruch, die endgültige Geschichte auf diesem Gebiet zu sein. Vielmehr bietet es einen umfassenden Überblick über die Erforschung der Dunklen Materie in ihrer ganzen verwirrenden Vielfalt. Persönliche Geschichten vieler Hauptakteure geben einen Vorgeschmack auf den Einfallsreichtum, die Beharrlichkeit und die manchmal nötige Hartnäckigkeit von Wissenschaftlern, die ihr Berufsleben der Lösung der großen Rätsel der Natur gewidmet haben.

Im Laufe des Buches begleite ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, zu abgelegenen astronomischen Observatorien und unterirdischen Laboren. Wir werden an wissenschaftlichen Konferenzen teilnehmen und mit Nobelpreisträgern und promovierten Forschern sprechen. Unsere Reise deckt ein breites Spektrum von Themen rund um die Dunkle Materie ab. Obwohl die meisten der 25 Kapitel als eigenständige Geschichten gelesen werden können, habe ich ihre Reihenfolge so gewählt, dass der volle Umfang dieses Rätsels sowie seine Entwicklung deutlich wird.

Im ersten Kapitel wird der Physiker James Peebles vorgestellt, der als „Vater“ des populären Modells der kalten Dunklen Materie (CDM) gilt und der für seine Beiträge zur theoretischen Kosmologie mit dem Nobelpreis für Physik 2019 ausgezeichnet wurde. In Kapitel zwei gibt ein Besuch im unterirdischen Gran-Sasso-Labor in Italien einen ersten Vorgeschmack auf den experimentellen Ansatz zur Lösung des Rätsels der Dunklen Materie. Denn die Forschung an Dunkler Materie findet nicht nur in Computersimulationen und Konferenzbeiträgen statt. Derzeit stellen Dutzende von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt die Theorie auf den Prüfstand, in der Hoffnung, das Rätsel zu lösen.

Nachdem ich Ihren Appetit mit dieser Einführung in Theorie und Praxis ein wenig angeregt habe, reisen wir in Kapitel drei ein Jahrhundert zurück. Dort entdecken wir die ersten Anzeichen dafür, dass etwas in unserem Verständnis des materiellen Inhalts des Universums nicht stimmten kann. Viel später, in den 1970er-Jahren, erkannten die Physiker, dass Galaxien wie unsere eigene Milchstraße ohne riesige, mehr oder weniger kugelförmige Halos aus Dunkler Materie nicht stabil sein können (Kapitel vier). Pioniere wie die Astronomin Vera Rubin begannen zu verstehen, dass die hohen Rotationsgeschwindigkeiten von Galaxien nur erklärt werden können, wenn sie aus viel mehr bestünden, als man auf den ersten Blick sieht (Kapitel fünf).

Heute ziert Rubins Name ein brandneues Teleskop: Das Vera C. Rubin Observatory soll im Jahr 2024 in Betrieb genommen werden. Nach seiner Fertigstellung wird es eines der leistungsstärksten Observatorien auf der Erde sein; ein Instrument, das für die Messungen der Wissenschaftler, die dreidimensionale Verteilung von Galaxien im Weltraum zu kartieren, von zentraler Bedeutung ist. Dieses Projekt ist ein wichtiger Aspekt der Erforschung von Dunkler Materie und Gegenstand von Kapitel sechs. In Kapitel sieben befassen wir uns dann mit dem Ursprung der Elemente, um herauszufinden, warum Dunkle Materie nicht aus gewöhnlichen Atomen und Molekülen bestehen kann. Die entscheidende Rolle der Radioastronomie beim Nachweis der Existenz von Dunkler Materie ist das Thema von Kapitel acht. Damit ist der erste Teil des Buches, der sich weitgehend auf die astronomische Forschung konzentriert, abgeschlossen.

Teil II beginnt zunächst mit zwei Kapiteln, die von der wachsenden Überzeugung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre handeln, dass der geheimnisvolle Stoff aus sich relativ langsam bewegenden („kalten“) Elementarteilchen bestehen muss. Solche Teilchen passen bemerkenswert gut in die Theorie der Supersymmetrie – ein vielversprechender Kandidat für die lange gesuchte Weltformel, der Theorie von Allem. So begann die Dunkle Materie auch in der Teilchenphysik eine wichtige Rolle zu spielen.

Kapitel elf beschreibt Computersimulationen, die die Entwicklung von großräumigen Strukturen im Universum zeigen. Sie scheinen eine Erklärung für den Inhalt der Dunklen Materie zu liefern: schwach wechselwirkende massereiche Teilchen (engl.: Weakly Interacting Massive Particles, kurz: WIMPs). Doch gerade als sich die WIMP-Hypothese herauskristallisierte, begannen einige Wissenschaftler daran zu zweifeln, dass die Dunkle Materie überhaupt real ist. Ihre Theorie der modifizierten Newtonschen Dynamik (engl.: Modified Newtonian Dynamics, kurz: MOND), die in Kapitel zwölf behandelt wird, geht von einem völlig neuen Verständnis der Schwerkraft aus – die Jäger der Dunklen Materie jagen vielleicht doch nur einem Hirngespinst hinterher.

In den Kapiteln 13 und 14 lernen wir den Gravitationslinseneffekt als mächtige Beobachtungstechnik kennen – die Ablenkung des Lichts durch die Schwerkraft massereicher Objekte. Mithilfe dieses Effekts wurde nicht nur die MOND-Theorie widerlegt, sondern er hilft den Wissenschaftlern auch dabei, die alternativen Kandidaten für Dunkle Materie zu finden: die MACHOs (Massive Compact Halo Objects). Leider verlief die Suche nach MACHOs bisher nahezu ergebnislos. Stattdessen tat sich in den späten 1990er-Jahren ein anderes Geheimnis auf: die Dunkle Energie. Wissenschaftler erkannten, dass sich der leere Raum immer schneller ausdehnt – eine direkte Folge der Dunklen Energie. Diese Entdeckung und was sie für die Gesamtkomposition des Universums bedeuten könnte, ist das Thema der Kapitel 15 und 16.

Die Dunkle Energie und die Theorie der kalten Dunklen Materie wurden in ein einziges kosmologisches Modell integriert, das als Lambda-CDM bekannt ist, wobei der griechische Buchstabe Lambda (Λ) für die Dunkle Energie steht. Untersuchungen des kosmischen Mikrowellenhintergrunds (manchmal auch „das Nachglühen der Schöpfung“ genannt) liefern starke Belege für dieses Modell. Und mehr noch: In Kapitel 17 wird beschrieben, wie diese Reliktstrahlung mit der gegenwärtigen großräumigen Struktur des Universums verglichen werden kann, um ein detailliertes Bild der kosmischen Entwicklung zu erhalten, in der die Dunkle Materie eine unverkennbare Rolle spielt. Auch wenn wir immer noch nicht wissen, was Dunkle Materie ist, haben wir erkannt, dass sie ein wichtiger Bestandteil der Kosmologie ist.

Teil III befasst sich mit der aktuellen und zukünftigen Suche nach Dunkler Materie sowie mit einigen der Herausforderungen, denen sich die Kosmologen heute gegenübersehen. In den Kapiteln 18 und 19 erfahren Sie von Hightech-Experimenten, die versuchen, Teilchen der Dunklen Materie direkt aufzuspüren. Dazu nutzen die Forscher hochempfindliche Instrumente, die – zum Schutz vor kosmischer Strahlung – in tiefen Höhlen und Tunneln installiert sind, da sonst die Messungen gestört würden. Überraschenderweise kann die kosmische Strahlung verräterische Fingerabdrücke von zerfallenden Teilchen der Dunklen Materie tragen – das Thema von Kapitel 20.

In den Kapiteln 21 und 22 werden einige besorgniserregende Probleme beschrieben, die in letzter Zeit in Bezug auf das Lambda-CDM-Modell aufgetreten sind. Noch weiß niemand, wie schwerwiegend diese Probleme sind, doch die Theoretiker sind bereits drauf und dran, eine Reihe von alternativen Ideen und Hypothesen zu erforschen, von denen einige in den Kapiteln 23 und 24 vorgestellt werden. Das letzte Kapitel versucht, einen Blick in die Zukunft zu werfen, wobei es jedoch unmöglich ist, vorherzusagen, welches zukünftige Experiment oder Observatorium das Rätsel der Dunklen Materie endgültig lösen wird. Hoffen wir, dass es nicht weitere 100 Jahre dauert!

Als Wissenschaftsjournalist, der sich auf alles jenseits der Erdatmosphäre spezialisiert hat, liegt mein Fokus vermutlich etwas stärker auf der Astronomie als auf der Teilchenphysik. Dennoch habe ich mich bemüht, beide Bereiche ausgewogen vorzustellen. Außerdem habe ich bewusst mehr Gewicht auf vergangene Entwicklungen, bewährte Ideen und aktuelle Experimente gelegt als auf neue, spekulative Theorien, unbestätigte Ergebnisse und mögliche zukünftige Experimente. Wenn derartige Neuheiten tatsächlich von Dauer sind, werden Sie zweifellos in einem zukünftigen Buch darüber lesen.

Die Jagd nach der Dunklen Materie geht weiter. Obwohl sie noch nicht abgeschlossen ist, hat sie uns bereits ein tieferes Verständnis einer Vielzahl astronomischer und physikalischer Phänomene gebracht – von sich schnell drehenden Galaxien, Gravitationslinsen und der großräumigen Struktur des Universums bis hin zur Geburt von Atomkernen beim Urknall und verräterischen Mustern im Nachglühen der Schöpfung. Und diese Jagd hat auch andere vielversprechende Theorien hervorgebracht, die Spekulationen über Supersymmetrie und noch unentdeckte Bewohner des Teilchenzoos anheizen. Auf der Suche nach der wahren Identität des Hauptbestandteils des Universums haben die Wissenschaftler einige der am besten behüteten Geheimnisse der Natur gelüftet und die atemberaubende Komplexität des Universums enthüllt, in dem wir leben.

Teil I

Das Ohr

1. MATERIE, ABER NICHT WIE WIR SIE KENNEN

Phillip James Edwin Peebles, der im Jahr 2000 emeritierte Inhaber der Albert-Einstein-Professur für Naturwissenschaften an der Princeton University, Mitglied der American Physical Society und der Royal Society, Nobelpreisträger für Physik 2019 und Pate der Theorie der kalten Dunklen Materie, erhebt sich langsam von seinem Schreibtisch und geht zu einem Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand. Dort nimmt er zwei leere Plastikflaschen zur Hand.1

Er bläst Luft über die Öffnung der größeren Flasche. Ein leises, flirrendes Geräusch erfüllt den Raum. Dann setzt er die kleinere Flasche an seine Lippen. Ein weiteres Geräusch in einer viel höheren Tonlage erklingt. „Es ist dasselbe Prinzip“, sagt Peebles mit dem für ihn typischen sanften Lächeln auf den Lippen. „Jede Größe bevorzugt ihre eigene Frequenz und umgekehrt.“

Moment mal! Für etwas so Einfaches bekommt man doch keinen Nobelpreis, oder? Nun, man bekommt ihn doch, wenn man das Prinzip erfolgreich auf Schallwellen im neugeborenen Universum überträgt. Wenn man nachweisen kann, dass Galaxien ohne eine große Menge mysteriöser Dunkler Materie nicht stabil sein können. Und wenn man damit dann den Grundstein für unser derzeitiges Standardmodell der Kosmologie legt.

Und so erhielt Peebles am Dienstag, den 8. Oktober 2019, um 5 Uhr morgens den magischen Anruf von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Er teilte sich den Preis – „für theoretische Entdeckungen in der physikalischen Kosmologie“ – mit zwei anderen, erhielt jedoch die Hälfte des Preisgeldes von insgesamt 910.000 Dollar. „Großer Gott!“, sagte seine Frau Alison, als sie die Neuigkeiten hörte. Anschließend machte sich Peebles auf seinen täglichen, eine Meile langen Weg von seinem Haus zu seinem Büro im zweiten Stock von Jadwin Hall, und sein 84-jähriger Kopf war voll von Gedanken.

Dabei hatte es sich James Peebles eigentlich nie vorstellen können, Kosmologe zu werden. Der kleine Jimmy, geboren 1935 in der kanadischen Stadt Saint Boniface (heute gehört sie zum Großraum Winnipeg), war ein Tüftler – ein Daniel Düsentrieb, der die Seiten von Mechanics Illustrated genau studierte, elektrische Apparate baute, mit Schießpulver experimentierte und sich in Dampflokomotiven verliebte. Klar, er ging hinaus, wenn die Nordlichter am Winterhimmel von Manitoba ihren stillen Tanz aufführten, und natürlich wusste er, wie man den Polarstern findet. Aber wirklich erobert hatte die Astronomie seinen technikversessenen Geist eigentlich nie. Als er als Doktorand dann zum ersten Mal etwas über Kosmologie lernte, fand er es „äußerst langweilig, unüberlegt und unglaubwürdig“, wie er dem Astronomen Martin Harwit einmal sagte.2

Doch das sollte sich ändern, nachdem er im Herbst 1958 in Princeton ankam. Peebles war Doktorand in der Forschungsgruppe des brillanten Physikers Robert Dicke. Jeden Freitagabend organisierte Dicke Seminare, in denen Studenten, Postdocs und Professoren frei über jedes wissenschaftliche Thema diskutieren konnten, das ihr Interesse weckte. Anfangs eingeschüchtert durch die Kenntnisse der anderen über Quantenphysik oder die Allgemeine Relativitätstheorie, lernte Peebles diese informellen Treffen mit der Zeit immer mehr zu schätzen – und das nicht nur wegen des gelegentlichen Biertrinkens danach. Robert Dickes Begeisterung für die Kosmologie erwies sich als ansteckend.

1962 beendete Peebles seine Dissertation über die Frage, ob die Stärke der elektromagnetischen Kraft mit der Zeit variierte. Er blieb in Princeton und arbeitete als Postdoc mit Dicke und zwei weiteren Postdocs, David Wilkinson und Peter Roll, zusammen. Auf einem verwaschenen Foto aus den 1960er-Jahren, das er während seines Nobelvortrags zeigte, sieht man Peebles groß und schlank, mit dunklem, glattem Haar, einer Brille und einem isländischen Pullover. Doch nicht nur optisch lag ein weiter Weg zwischen der Hochschule und der Nobelpreis-Gala in Stockholm.

Abb. 1: David Wilkinson (links), James Peebles (Mitte) und Robert Dicke (rechts) in den frühen 1960er-Jahren mit dem Empfangsgerät, das sie zur Untersuchung des kosmischen Mikrowellenhintergrunds gebaut hatten.

Peebles’ Karriere als physikalischer Kosmologe begann an einem schwülen Tag im Sommer 1964. Auf dem stickigen Dachboden des Palmer Physical Laboratory in Princeton entfaltete Dicke seine ehrgeizigen Pläne zur Suche nach der Strahlung, die vom neugeborenen Universum übriggeblieben war – eine primordiale Feuersbrunst, die Millionen von Grad heißer war als jeder Dachboden. Die Wissenschaftler waren sich sicher, dass die Strahlung dieses lang zurückliegenden Ereignisses da draußen war – man müsste sie nur finden. Und so wurden Wilkinson und Roll damit beauftragt, die für den Nachweis der Strahlung erforderliche Ausrüstung zu bauen. „Also, Jim“, sagte Dicke, „warum beschäftigst du dich nicht mit der Theorie, die hinter all dem steckt?“

Und so berechnete Peebles, wie das heiße Plasma des frühen expandierenden Universums – ein Durcheinander aus elektrisch geladenen Teilchen – mit der energiereichen Strahlung interagiert haben musste, um eine dichte, zähe Ursuppe zu bilden, die mit niederfrequenten Schallwellen schwappt und vibriert. Später, etwa 380.000 Jahre nach dem Urknall, als die Temperaturen so weit gesunken waren, dass sich neutrale Atome bilden konnten, „entkoppelten“ Materie und Strahlung voneinander: Die Eigenschaften des einen beherrschten nicht mehr das Verhalten des anderen. Und während sich die Strahlung nun ungehindert im Universum ausbreiten konnte – und zu dem schwachen kosmischen Hintergrundglühen abkühlte, nach dem Dicke suchte –, blieb die Materie mit einem Muster von Verdichtungen und aufgelockerten Gebieten zurück: Regionen, in denen die Dichte nur ein klein wenig höher oder niedriger als der Durchschnitt war, und mit Ausmaßen, die von den Frequenzen der ursprünglichen Schallwellen bestimmt wurden.

Die Größe hängt also mit der Frequenz zusammen und umgekehrt, wie Peebles mit seinen zu Musikinstrumenten umfunktionierten Plastikflaschen demonstriert hatte. Das gleiche Prinzip gilt für das Universum als Ganzes und erzeugt dieses verräterische Muster, das die Physiker als baryonische akustische Oszillationen bezeichnen. Im Laufe der Zeit sollte sich die Materie in überdichten Regionen dann weiter zu Galaxien zusammenballen. Das ist der Grund dafür, warum Galaxien nicht zufällig im dreidimensionalen Raum verteilt sind: Sie neigen dazu, dort aufzutauchen, wo die frühen akustischen Wellen die dichtesten Materieanhäufungen hinterlassen haben. Mit anderen Worten: Die derzeitige großräumige Struktur des Universums ist auf Ereignisse zurückzuführen, die kurz nach dem Urknall stattfanden.

Doch das ist eine komplizierte Angelegenheit, die Sie vielleicht erst einmal wieder vergessen sollten – wir werden in Kapitel 17 auf die baryonischen akustischen Schwingungen zurückkommen. Im Moment genügt es zu sagen, dass Jim Peebles um seinen 30. Geburtstag herum ein Talent dafür entwickelte, die gewaltigsten Überlegungen anzustellen – zwar nicht unbedingt über das Leben, dafür aber über das Universum und den ganzen Rest. Dafür muss man nicht erst 42 werden.

Peebles war noch nicht einmal beunruhigt davon, dass die Radioingenieure Arno Penzias und Robert Wilson der Princeton-Gruppe mit der Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung zuvorgekommen waren. In den Bell Laboratories im nahegelegenen Holmdel, New Jersey, machten Penzias und Wilson die Entdeckung nämlich bereits im Jahr 1964, nur wenige Monate nachdem Dicke sein Team einberufen hatte. „Nun, Jungs, ich glaube, wir wurden überholt“, sagte ein enttäuschter Dicke zu ihnen, nachdem er den Anruf über die Entdeckung erhalten hatte. Aber Peebles erinnert sich, dass er aufgeregt war. Die Entdeckung bedeutete, dass er und seine Kollegen sich nicht nur mit bloßen Spekulationen beschäftigten, sondern dass es da draußen tatsächlich etwas gab, das untersucht werden konnte.Und so war Peebles vom Kosmologie-Fieber gepackt worden, das ihn seither nicht mehr losgelassen hat. Schon bald hielt er sogar Vorträge über ein Thema, das ihm zuvor außerordentlich langweilig und unglaubwürdig erschienen war. Sein Buch Physical Cosmology wurde im Herbst 1971 veröffentlicht, ein Jahr bevor er zum ordentlichen Professor ernannt wurde.3 Die erste Ausgabe steht im Bücherregal neben seinem Schreibtisch – in der Nähe einer Albert-Einstein-Actionfigur.

Physical Cosmology – Physikalische Kosmologie. Seit Jahrhunderten, nein, seit Jahrtausenden wurde die Entstehung und Entwicklung des Universums im Ganzen als etwas Metaphysisches betrachtet. Ein Universum, das auf dem Rücken von Elefanten und Riesenschildkröten ruht, ein göttlicher Schöpfungsakt in nicht allzu ferner Vergangenheit. Doch schließlich begannen sich die mythologischen Nebel zu lichten; die sakralen Geschichten machten Platz für wissenschaftliche Untersuchungen und physikalische Erkundungen. Die Kosmologie wurde zu etwas, das man anfassen, auseinandernehmen, verstehen und bestaunen konnte. Und man konnte sich sogar in sie verlieben – wie in eine Dampflokomotive.

Ein halbes Jahrhundert später beugt sich der Nobelpreisträger Phillip James Edwin Peebles, ein hochgewachsener Mann in blauen Jeans und einem moosgrünen Pullover, über seinen Computermonitor und nimmt seine Brille ab, um die winzigen Zeichen auf dem Bildschirm zu erkennen. Er sucht in archivierten wissenschaftlichen Abhandlungen und verliert sich in historischen Details. In den letzten fünf Jahrzehnten ist so viel passiert. So viele bahnbrechende Entdeckungen und so viele Sackgassen. So viele Rätsel! Aber vor allem die allmähliche Erkenntnis, dass unser Universum, ja sogar unsere Existenz, von einer geheimnisvollen Substanz beherrscht wird. Von einem rätselhaften Stoff, der in Ermangelung eines besseren Verständnisses als Dunkle Materie bezeichnet wird. Um es frei nach Star Trek zu sagen: „Materie, Jim, aber nicht wie wir sie kennen.“

Dabei gab es bereits in den 1930er-Jahren Andeutungen und Hinweise. Aber erst in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren sprang die Dunkle Materie auf die Bühne, wie ein überraschender Protagonist, der im dritten Akt auftaucht und dann die Handlung des Stücks dramatisch verändert. „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen lässt.“

Die Details müssen noch warten, doch so viel sei gesagt: Es gibt zahlreiche Erkenntnisse, die nur in einem Universum voller Dunkler Materie Sinn ergeben. Peebles’ eigene Forschungen über die Häufung von Galaxien im Weltraum, lange bevor Astronomen in der Lage waren, zuverlässige dreidimensionale Karten zu erstellen, erwiesen sich als vielversprechend. Seine theoretischen Arbeiten, die er zusammen mit dem Princeton-Kollegen Jeremiah Ostriker durchführte, schienen darauf hinzuweisen, dass die Stabilität von Scheibengalaxien nur dann gewährleistet ist, wenn sie von großen Halos aus Dunkler Materie umgeben sind. Wenig später wiesen Vera Rubin und Kent Ford von der Carnegie Institution of Washington als Erste (waren sie das?) überzeugend nach, dass die äußeren Teile von Galaxien viel schneller rotieren, als es ohne Dunkle Materie der Fall wäre.

Und es gab immer detailliertere Beobachtungen der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung, der Reststrahlung des neugeborenen Universums, die sich so glatt wie eine Babyhaut entpuppte. Dieses unerwartete Ergebnis brachte Peebles 1982 dazu, sein Modell der kalten Dunklen Materie vorzuschlagen. Doch hier ergibt sich ein Problem: Entweder war das heiße Plasma des frühen Universums zu gleichmäßig verteilt oder die heutige großräumige Struktur des Kosmos ist zu klumpig. Man kann nicht alles haben: Die schwache Gravitationskraft, die in einem sich ständig expandierenden Universum wirkt, bringt einen niemals vom glatten Dort und Damals zum klumpigen Hier und Jetzt.

Es sei denn …

Es sei denn, Dunkle Materie ist etwas wirklich Seltsames. Zum Beispiel eine neue Art von Teilchen, das auf die Schwerkraft reagiert, aber nicht auf andere fundamentale Naturkräfte wie Elektromagnetismus oder die starke Kernkraft; nicht an das heiße Strahlungsbad des frühen Universums gekoppelt und langsam genug – „kalt“ genug, wie man in der Teilchenphysik sagt –, um sich zu einem unsichtbaren Gerüst zu verklumpen, lange bevor die kosmische Hintergrundstrahlung überhaupt freigesetzt wurde. Ein kosmisches Spinnennetz aus unbekanntem Material, das später gewöhnliche Atome anzog, die dann die leuchtenden Galaxien und Haufen bildeten, die wir heute sehen. Kalte Dunkle Materie.

„Theoretische Entdeckungen in der physikalischen Kosmologie“ – dafür wurde die Hälfte des Nobelpreises für Physik 2019 verliehen. Sicher, in den vier Jahrzehnten, seit Peebles die kalte Dunkle Materie vorgeschlagen hatte, wurde die Theorie populär und ein wesentlicher Bestandteil von dem, was heute als Lambda-CDM-Modell bekannt ist. (Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Modells ist die Dunkle Energie, die nicht weniger geheimnisvoll ist als die Dunkle Materie und in Kapitel 16 behandelt wird). Doch Peebles ist keiner, der damit prahlt. Er meint, er habe allen Grund, bescheiden zu sein.

Zunächst einmal, sagt er, rangierten theoretische Entdeckungen nach „echten“ Entdeckungen an zweiter Stelle. Die andere Hälfte des Physik-Nobelpreises 2019 ging an die beiden Astronomen Michel Mayor und Didier Queloz, die 1995 den ersten Planeten außerhalb unseres Sonnensystems fanden, der einen sonnenähnlichen Stern umkreist. Wenn das mal keine „echte“ Entdeckung ist. Oder was ist mit dem Higgs-Teilchen, das 2012 gefunden wurde? Gravitationswellen, 2015. Das waren einmalige Ereignisse, bei denen Wissenschaftler bestätigten, was ansonsten nur (sehr wohl überlegte) Spekulation war. Doch die Theorie der kalten Dunklen Materie ist nichts dergleichen.

Zweitens stand Peebles, zumindest eine Zeit lang, weniger hinter seiner Theorie als andere Physiker. Besonders als das Modell der kalten Dunklen Materie noch in den Kinderschuhen steckte, fühlte er sich unwohl angesichts des enthusiastischen Entgegenkommens der Kosmologen. Persönlich nahm er das Modell nicht so ernst, jedenfalls nicht damals. „Hey Leute, ich versuche nur, das Problem der Glätte zu lösen, und das ist das einfachste Modell, das mir einfällt und zu den Beobachtungen passt. Wie kommt ihr darauf, dass es richtig ist? Ich könnte auch andere Modelle entwickeln.“ Tatsächlich hat er das sogar getan und einige dieser anderen Modelle brauchten überhaupt keine Dunkle Materie. Aber zugegebenermaßen haben sie den Test der Zeit nicht bestanden. Die kalte Dunkle Materie schon.

Und zum Dritten erkennt Peebles die Grenzen seines Modells. Wir haben vielleicht diese wunderbare Theorie, dieses Lambda-CDM-Modell, die sowohl die Eigenschaften der kosmischen Hintergrundstrahlung als auch die Verteilung der Galaxien im Universum erklärt. Aber sie ist voller Löcher. Wie Peebles mir erklärte, ist die Dunkle Materie nur eine Art Behelfslösung, und jetzt sitzen wir mit diesem lächerlichen Zeug fest, das wir uns selbst ausdenken und von Hand in unser Verständnis des Universums einbauen mussten. Wir brauchen die Dunkle Materie, aber wir wissen nicht, was sie ist. Es gibt einfach zu viele offene Fragen.

Was nicht heißen soll, dass wir nichts über Dunkle Materie wissen. Ihre Fingerabdrücke sind überall zu finden und wir werden ihnen im weiteren Verlauf des Buches nach und nach begegnen. Und indem wir untersucht haben, wie dieser geheimnisvolle Stoff seine Umgebung beeinflusst, haben wir zumindest einige Fortschritte beim Verständnis seiner Eigenschaften gemacht.

Aber trotzdem erscheint die Situation von Zeit zu Zeit einfach seltsam und schier unglaublich. Es ist zwar nicht sonderlich erstaunlich, etwas Neues im Universum zu finden, aber wie konnten wir 85 Prozent des gesamten gravitativ wechselwirkenden Materials da draußen übersehen, wie die Dunkle-Materie-Forscher behaupten? Haben wir sie nicht einfach von Hand eingefügt, wie Peebles sagte, um unsere Beobachtungen zu erklären? All diese astrophysikalischen Fingerabdrücke mögen ein überzeugender Beweis sein, aber wie lange sind wir noch bereit dazu, auf den unwiderlegbaren Nachweis zu warten? Wie gekünstelt ist unsere Lösung? Wie hypothetisch ist unsere Theorie?

Was, wenn es die Dunkle Materie gar nicht gibt?

Ich muss gestehen, dass ich hin und wieder Zweifel hege. Dunkle Materie, Dunkle Energie, die rätselhafte inflationäre Geburt des Universums, des Multiversums, um Himmels Willen – das alles scheint mir zu weit hergeholt, zu erfunden. Die Natur kann doch nicht so verrückt, hinterlistig und grausam sein, oder? Oder fehlt es mir einfach an Vorstellungskraft? Die Unfähigkeit zu akzeptieren, dass die Natur nicht gezwungen ist, meine Erwartungen zu erfüllen? Bin ich wie Peter Pan, der nicht erwachsen werden will und weiterhin an Tinker Bell glaubt, an das einfache, verständliche Universum, das ich als Kind kennengelernt habe?

Die Sache ist: Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie (obwohl ich sie nicht ganz verstehe) oder die Existenz von Neutrinos, um nur zwei Beispiele zu nennen, schockieren mich hingegen überhaupt nicht. Aber hätte ich im 19. Jahrhundert gelebt und von der Relativitätstheorie und ihren Auswirkungen gehört – Schwarze Löcher, Gravitationswellen, Raumkrümmung und Verlangsamung der Zeit: Hätte ich irgendetwas davon ohne überzeugende Beweise geglaubt? Wenn mir jemand gesagt hätte, dass zig Milliarden von ungeladenen, fast masselosen Teilchen – Neutrinos – jede Sekunde mit Lichtgeschwindigkeit durch meinen Körper fliegen, wäre ich dann nicht in Gelächter ausgebrochen? Aber Einsteins Theorie aus dem Jahr 1915 wurde vier Jahre später bestätigt und Neutrinos wurden zum ersten Mal 1956 entdeckt; in dem Jahr, in dem ich geboren wurde. Beide gehören zu dem Universum, mit dem ich aufgewachsen bin. Das Universum, das ich mittlerweile akzeptiere. Was die neueren und ebenso kontraintuitiven Launen der Natur angeht, bin ich vielleicht einfach zu konservativ.

Dennoch müssen wir vorsichtig sein. Wissenschaftler haben sich schon früher geirrt. Und zwar sehr oft, um ehrlich zu sein. Der Weg zu einem besseren und vollständigeren Verständnis des Universums ist übersät mit verworfenen Theorien und falschen Annahmen, die sich länger gehalten haben, als sie sollten.

Der Grund dafür ist, dass Wissenschaftler ein konservatives Völkchen sind. Selbst angesichts widersprüchlicher Beweise ändern sie lieber eine bestehende Theorie, um sie an die widersprüchlichen Daten anzupassen, als sie über den Haufen zu werfen. Es sei denn, es wird eine noch erfolgreichere Theorie entwickelt.

Nachdem der niederländische Physiker Christiaan Huygens im 17. Jahrhundert seine Wellentheorie des Lichts veröffentlicht hatte, gingen die Wissenschaftler beispielsweise lange Zeit davon aus, dass der „leere“ Raum von etwas ausgefüllt sein muss, das als Äther bezeichnet wurde – ein Medium, in dem sich die Lichtwellen angeblich ausbreiteten. Als spätere Experimente die ersten einfachen Vorstellungen über diese geheimnisvolle Substanz widerlegten, verwarfen die Physiker das Konzept nicht, sondern passten es an, damit es besser mit den Beobachtungen übereinstimmte. Schlussendlich hatten sie sich selbst in eine finstere Ecke befördert, in der der Äther eine unendliche, transparente, masselose, nicht-viskose, aber unglaublich starre Flüssigkeit sein musste. Erst als Einstein 1905 mit seiner Speziellen Relativitätstheorie den magischen Äther überflüssig machte, schafften die Wissenschaftler ihn ab.

Etwas Ähnliches geschah im späten 18. Jahrhundert, als die Chemiker widerwillig zugeben mussten, dass es so etwas wie Phlogiston nicht gab. Man nahm an, dass dieses feuerähnliche Element bei der Verbrennung bestimmter Stoffe freigesetzt werde. Ein Stoff konnte nur so lange brennen, wie er Phlogiston freisetzen konnte; die Tatsache, dass Feuer stirbt, wenn ihm die Luft ausgeht, wurde so verstanden, dass eine bestimmte Menge Luft begrenzt viel Phlogiston aufnehmen kann. Die verlockende Idee wurde um 1700 von dem deutschen Chemiker Georg Stahl propagiert und hatte eine große Anhängerschaft, selbst als Experimente ergaben, dass einige Metalle, wie Magnesium, beim Verbrennen schwerer wurden (eine bizarre Erkenntnis, wenn man bedenkt, dass – nach der Theorie – notwendigerweise ein Teil der Materie freigesetzt wurde). Die Befürworter der Phlogiston-Theorie schlossen hingegen daraus, dass das mysteriöse Zeug eben einfach ein negatives Gewicht haben müsse! Sie gaben schließlich auf, als der französische Chemiker Antoine Lavoisier 1783 überzeugend nachwies, dass die Verbrennung ein chemischer Prozess ist, für den Sauerstoff benötigt wird – ein Element, dessen Eigenschaften erst zu diesem Zeitpunkt bekannt wurden.

Und zu guter Letzt kann ich nicht widerstehen, das bekannteste Beispiel dafür zu nennen, dass Wissenschaftler auf das falsche Pferd gesetzt haben: Ptolemäus’ Theorie der Epizykel. Ausgehend von zwei (zumindest für die antiken Griechen) sehr plausiblen Annahmen – nämlich, dass sich die Erde im Zentrum des Universums befindet und dass sich die Himmelskörper in perfekten Kreisen und mit konstanter Geschwindigkeit bewegen – entwickelte Ptolemäus sein cleveres geozentrisches Weltbild. Dem Gelehrten aus dem zweiten Jahrhundert zufolge bewegte sich ein Planet auf einem kleinen Kreis (einem Epizykel), dessen leerer Mittelpunkt die Erde auf einer größeren Kreisbahn umkreist, die Deferent genannt wird.

Um mit den beobachteten Bewegungen der Planeten am Himmel übereinzustimmen, benötigte Ptolemäus’ Modell eine große Anzahl von Epizykeln sowie weitere Erfindungen, wie z. B. eine willkürliche Verschiebung des Mittelpunkts eines Deferenten von der Erde. Dennoch überlebte das komplizierte und schwerfällige Modell nicht weniger als 14 Jahrhunderte, bis uns Nikolaus Kopernikus und Johannes Kepler schließlich das heutige heliozentrische Weltbild servierten, in dem sich die Planeten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf elliptischen Bahnen um die Sonne bewegen.

Und hier sind wir nun. Wir haben die Dunkle Materie noch nie gesehen, aber wir glauben, dass sie existieren muss. Dennoch sollten wir uns immer der stillschweigenden Annahmen bewusst sein, die in unsere Argumente einfließen. Und wir sollten uns stets über die Anzahl der Korrekturen und Verbesserungen Gedanken machen, die wir uns erlauben einzuflechten, um unsere theoretischen Räder am Laufen zu halten. Wir wollen doch nicht wieder von Epizykeln in die Irre geführt werden, oder?

Das ist ein beunruhigender Gedanke. Entweder gibt es da draußen jede Menge Dunkle Materie, die sich auf frustrierende Weise der Entdeckung durch die hochempfindlichen Instrumente von heute entzieht. Oder all diese fleißigen Wissenschaftler jagen einem Phantom hinterher.

Jim Peebles ist nicht zuversichtlich, dass wir jemals eine endgültige, definitive Antwort auf die Frage nach der Dunklen Materie oder gar einer Weltformel finden werden. Und selbst wenn wir zu einer solchen allumfassenden Beschreibung der Natur kämen, wäre nicht garantiert, dass wir sie mit dem realen Universum abgleichen könnten, sagt er. Warum sollte uns die Natur überhaupt einen Beweis liefern? Sicher, in der Vergangenheit waren wir ganz erfolgreich dabei, die nötigen Beweise zu finden, um Theorien zu belegen oder zu widerlegen, aber das könnte sich in Zukunft durchaus ändern. Vielleicht werden wir an eine Grenze stoßen, ab der es unmöglich ist, die benötigten Beweise zu finden. Dieser Gedanke beunruhigt ihn hin und wieder: die schreckliche Möglichkeit, dass wir am Ende eine völlig in sich konsistente Theorie haben, die wir nicht überprüfen können. Leider gibt es keine Garantie dafür, dass dies nicht passiert.

Peebles lässt sich jedoch von der Tatsache, dass er die Lösung des Rätsels der Dunklen Materie vielleicht nicht mehr erlebt, nicht entmutigen. In seiner Nobelpreis-Vorlesung sagte er: „Ich freue mich, viele interessante Forschungsfragen, die ich nicht lösen konnte, an eine jüngere Generation weiterzugeben.“4 Zwei Monate zuvor hatte Peebles in einem Interview mit Adam Smith, dem Chefredakteur der Nobelpreis-Website, die Hoffnung geäußert, dass diese jüngere Generation von der Entdeckung der Natur der Dunklen Materie überrascht sein werde. „Das ist mein romantischer Traum: dass wir wieder einmal überrascht werden.“5

Ob in astronomischen Observatorien, in Laboren für Teilchenphysik oder in Weltraumforschungsinstituten auf der ganzen Welt: Überall arbeiten viele Hunderte junger, brillanter Wissenschaftler hart daran, Jim Peebles’ romantischen Traum wahr werden zu lassen. Sie sind nicht nur bereit dazu, sich überraschen zu lassen, sondern begierig darauf.

Es sieht ganz so aus, als ob die Dunkle Materie gekommen ist, um zu bleiben. Und jetzt wollen wir wissen, was sie ist.

2. PHANTOME DES UNTERGRUNDS

Junji Naganoma sitzt an seinem Schreibtisch und studiert Diagramme und Zahlen auf seinem Computerbildschirm. „Business as usual“, könnte man meinen. Aber dies ist kein gewöhnliches Büro. Der Schreibtisch ist umgeben von Regalen, Kisten und aufgestapelten Kartons. Naganoma trägt einen Schutzhelm und einen Parka – es sind höchstens zehn Grad Celsius und es gibt kein Tageslicht. Naganomas „Büro“ ist eine 100 Meter lange Höhle, die von Scheinwerfern an den feuchten Wänden schwach beleuchtet wird und von Rohren und Kabeln durchzogen ist. Riesige Gerätschaften, deren Funktion sich auf den ersten Blick nicht erschließen lässt, stehen hier und dort herum und Servicetunnel, die breit genug sind, damit Lastwagen hindurchfahren können, verbinden die Höhle mit zwei weiteren von ähnlicher Größe. Der gesamte Komplex liegt unter mehr als einem Kilometer Fels in den italienischen Apenninen.

Willkommen in den Laboratori Nazionali del Gran Sasso, dem größten unterirdischen Physiklabor der Welt!1 In Halle B bauen Wissenschaftler und Techniker aus 24 Ländern XENONnT auf, die neueste und empfindlichste Version ihres Experiments zum direkten Nachweis von Teilchen der Dunklen Materie. Naganoma, ein Postdoktorand aus Japan, prüft die Testergebnisse in einem behelfsmäßigen Reinraum; die Kisten enthalten Dutzende zerbrechliche Photomultiplier-Röhren, die von einer deutschen Universität hergestellt wurden und bereit zum Einbau sind. Während meines Besuchs Ende 2019 steht XENONnT kurz vor der Fertigstellung.2 Während Sie dieses Buch lesen, sammelt es bereits aktiv Daten, um unsichtbaren Dingen auf die Spur zu kommen.

Die Astronomie hat eine lange Historie, wenn es um die Entdeckung neuer Dinge geht, von denen wir vorher nichts wussten. Im Laufe der Zeit – vor allem nach der Erfindung des Teleskops vor etwas mehr als vier Jahrhunderten – wurde unsere kosmische Inventurliste immer länger. Astronomen entdeckten Monde im Orbit um Jupiter, Planeten im äußeren Sonnensystem, zig Milliarden Sterne, interstellare Gaswolken und unzählige Galaxien, die unserer eigenen Milchstraße ähneln. Aber all diese kosmischen Bewohner kann man sehen, entweder mit einem klassischen „optischen“ Teleskop oder mit Instrumenten, die Röntgenstrahlen, ultraviolettes Licht oder Radiowellen aufspüren – Frequenzen des Lichts, die nur von speziell entwickelten Empfängern erkannt werden können.

Unsichtbare Dinge aufzuspüren, ist etwas anderes. Sie können nur gefunden werden, wenn sie in ihrer sichtbaren Umgebung Spuren hinterlassen, indem sie die Eigenschaften oder das Verhalten dieser Umgebung beeinflussen. Der Inhalt eines versiegelten Kartons auf meinem Dachboden ist unsichtbar, aber ich weiß, dass etwas da drin ist, denn es macht den Karton schwerer und schwieriger zu bewegen. Ein Magnet, der unter einem Tisch versteckt ist, erzeugt verräterische Muster in Eisenspänen auf der Tischplatte. Griffin, der treffend benannte Protagonist in H. G. Wells’ Science-Fiction-Roman Der Unsichtbare (1897), hinterlässt Fußabdrücke im Schlamm, die für jeden sichtbar sind.3 Ganz nach dem Motto: „Es gibt mehr, als das Auge sehen kann.“

In den Weiten des Universums ist es in der Regel die Schwerkraft, die Spuren hinterlässt und damit den Forschern das Vorhandensein von etwas Unsichtbarem suggeriert. Die Auswirkungen der Schwerkraft sind relativ leicht zu erkennen, da die Schwerkraft einzigartig im Universum ist. Sie ist die einzige weitreichende Kraft in der Natur, die immer anziehend wirkt. Je mehr Masse, desto mehr Schwerkraft, desto stärker die Wirkung. (Im Gegensatz dazu kann die elektromagnetische Kraft, die auf geladene Teilchen wirkt, sowohl anziehend als auch abstoßend sein und auf größeren Skalen heben sich ihre Effekte normalerweise auf.) Die Schwerkraft bestimmt die Bewegungen der Planeten, die Struktur der Galaxien und die Entwicklung des Universums als Ganzes. Und natürlich die Art und Weise, wie Äpfel von Bäumen fallen, wie Isaac Newton bemerkte, als er sich im Garten seiner Familie erholte, einige Jahre vor der Formulierung seines Gravitationsgesetzes im Jahr 1687.

Indem sie die Auswirkungen der Schwerkraft genau untersuchten, kamen Astronomen dem Planeten Neptun, dem Weißen Zwergstern-Begleiter des Sterns Sirius, extrasolaren Planeten und dem supermassereichen Schwarzen Loch im Zentrum unserer Milchstraße auf die Spur. Wie der unsichtbare Griffin hinterließen all diese Objekte ihren Fußabdruck im kosmischen Schlamm und offenbarten so ihre Existenz.

Doch was geschieht, wenn man zwar die Spuren im Schlamm sieht, aber es nicht gelingt, den Unsichtbaren zu entdecken? Das macht erstmal nichts, denn man weiß ja, dass er dort sein muss. Indem man seine Fußabdrücke noch genauer untersucht, lernt man immer mehr über ihn. Nehmen wir das Beispiel der Exoplaneten: Basierend auf ihren Beobachtungen schließen Astronomen nicht nur auf die Zeit, die ein Planet für einen Umlauf um seinen Mutterstern benötigt, sondern auch auf die Entfernung zu diesem Stern (und daraus auch auf die Oberflächentemperatur des Planeten) und können sogar die Masse des Planeten abschätzen. Dazu müssen sie den Planeten nicht direkt gesehen haben; seinen gravitativen Einfluss zu untersuchen, reicht völlig aus.

Auch im Gran-Sasso-Labor versuchen die Wissenschaftler, etwas über die unsichtbare Materie zu erfahren, indem sie ihren sichtbaren Fingerabdruck untersuchen. In diesem Fall wird der Fingerabdruck jedoch nicht durch die Schwerkraft erzeugt. Die Forscher in der Höhle suchen nach Teilchen der Dunklen Materie, die, wenn es sie gibt, zwar eine Masse besitzen, aber nicht durch ihren Gravitationseinfluss nachgewiesen werden können. In der Größenordnung einzelner Teilchen ist die Schwerkraft nämlich nur schwach. Ihre Auswirkungen zeigen sich nur auf großen Skalen, wenn sich die anziehenden Kräfte großer Ansammlungen von Teilchen addieren. Ein einzelnes Teilchen der Dunklen Materie wird also nie genug Anziehungskraft ausüben, um sich allein dadurch bemerkbar zu machen. Da aber Teilchen, einschließlich der mutmaßlichen Teilchen der Dunklen Materie, eine Masse haben, könnte es möglich sein, sie durch ihre extrem seltenen Kollisionen mit Kernen „normaler“ Materie – wie Xenon, dem Element, das die Wissenschaftler in Gran Sasso verwenden – nachzuweisen. Eine Wechselwirkung zwischen einem Teilchen der Dunklen Materie und einem Xenon-Kern erzeugt einen winzigen Lichtblitz, den die Wissenschaftler nachzuweisen hoffen. Daher die Photomultiplier-Röhren.

Experimente wie das in Gran Sasso haben allerdings einen kleinen Haken. Dieselben Lichtblitze treten nämlich auch auf, wenn ein Atom von weniger mysteriösen subatomaren Geschossen getroffen wird: von der kosmischen Strahlung. Kosmische Strahlung ist der energiereiche Bote aus dem Weltall. Die meisten dieser Strahlungsteilchen sind Protonen, die Kerne von Wasserstoffatomen. Beim Eintritt in die Erdatmosphäre stoßen sie mit Atomen und Molekülen von Stickstoff und Sauerstoff zusammen, bevor sie die Oberfläche unseres Planeten erreichen. Das Ergebnis ist ein „Schauer“ von Sekundärteilchen, die die Oberfläche erreichen.

Wenn man nach Wechselwirkungen mit Dunkler Materie sucht, sind diese sekundären Teilchen der kosmischen Strahlung eine Quelle für experimentelles Rauschen. Und wie wir alle wissen, ist es in einer lauten Umgebung schwer, eine Stecknadel fallen zu hören. Hier kommt der Apenninen-Kalkstein ins Spiel. Denn während die Dunkle Materie problemlos einen Kilometer Gestein durchdringen kann (schließlich interagiert das seltsame Zeug nur selten mit normaler Materie, sonst hätten wir es schon längst entdeckt), werden die meisten sekundären Teilchen der kosmischen Strahlung – hauptsächlich negativ geladene Myonen – effektiv aufgehalten. Was die Teilchenwechselwirkungen angeht, ist das Gran-Sasso-Labor also extrem „leise“.

So weit, so gut. Aber wie finanziert, baut und verwaltet man ein unterirdisches Labor, das so groß wie eine mittelalterliche Kathedrale ist? Welche Strippen gezogen werden mussten, wusste damals, im Jahr 1980, der Kernphysiker Antonino Zichichi ganz genau: Italienische Politiker dachten über den Bau eines Autobahntunnels unter den Apenninen nach, um eine schnelle Verbindung zwischen Rom am Tyrrhenischen Meer und der Adria an der Ostküste zu schaffen. Zichichi, der damals Präsident des Italienischen Instituts für Kernphysik (INFN) war, schlug vor, noch ein wenig weiter zu graben. Ein großes unterirdisches Physiklabor in der Nähe des Tunnels würde Italiens führende Position auf diesem Gebiet festigen.

Und tatsächlich funktionierte es genauso, wie es sich Zichichi erhofft hatte. Der Tunnel wurde 1984 fertiggestellt und das INFN-Labor im folgenden Jahr eingerichtet. Bereits 1989 lief das erste unterirdische Experiment, bei dem – leider erfolglos – nach magnetischen Monopolen gesucht wurde, seltsamen hypothetischen Teilchen, die vom Urknall übriggeblieben sein sollen. In den Folgejahren wurde die Anlage auf gewaltige 180.000 Kubikmeter erweitert und rund 1100 Wissenschaftler aus aller Welt arbeiten an den Experimenten.

Der Gran-Sasso-Tunnel liegt östlich der mittelalterlichen Stadt L’Aquila (der Adler), der Hauptstadt der italienischen Region Abruzzen.4 Die Autostrada 24 schlängelt sich von Rom nach L’Aquila durch eine so abwechslungsreiche Landschaft und durchquert dabei so viele Nationalparks und Naturschutzgebiete, dass sie auch als Strada dei Parchi (Straße der Parks) bekannt ist. Als ich selbst in L’Aquila ankam, wurde ich schmerzlich daran erinnert, dass die natürliche Schönheit ihren Preis hat. Die Apenninen – das geologische Rückgrat Italiens – sind ein Erdbebengebiet und große Teile des berühmten Stadtzentrums von L’Aquila wurden in den frühen Morgenstunden des 6. Aprils 2009 durch ein „Terremoto“ der Stärke 6,3 zerstört – über 300 Menschen kamen ums Leben.

Davon erholt sich L’Aquila nur langsam. Die Skyline wird von Baukränen dominiert, aber viele der jahrhundertealten Kirchen warten noch immer auf ihren Wiederaufbau. Die steilen Kopfsteinpflasterstraßen sind voll mit Betonmischern und Schubkarren, in der Luft liegt ein ständiges Klirren und Hämmern. Überall stehen Pylone und Absperrungen. Die meisten Häuser sind in Gerüste und Schuttnetze gehüllt. Es ist ein deprimierender Anblick und ich kann mir kaum vorstellen, welche Ausdauer und Entschlossenheit nötig sind, um eine Stadt wieder aufzubauen, nur um auf das unvermeidliche nächste Beben zu warten. Plötzlich erscheint mir die Beharrlichkeit von Teilchenphysikern, die nach Dunkler Materie suchen, im Vergleich dazu zwecklos und verschwenderisch.

In der Nähe des Wahrzeichens von L’Aquila, der Fontana Luminosa, einem beleuchteten Brunnen mit zwei bronzenen Frauenskulpturen, holt mich Auke Pieter Colijn ab, um gemeinsam mit mir die restlichen zehn Kilometer zu den oberirdischen Büros des Labors am Westhang des Gran-Sasso-Massivs zu fahren. Colijn ist der technische Koordinator von XENONnT. Er ist auch derjenige, der sich den seltsamen Namen des Experiments ausgedacht hat. Das frühere Dunkle-Materie-Experiment des Gran-Sasso-Massivs verwendete etwa eine Tonne flüssiges Xenon als Dunkle-Materie-Detektor und hieß deshalb XENON1T. Die Xenonmenge für das neue Experiment stand jedoch lange Zeit nicht fest, sodass Colijn den Namen XENONnT vorschlug, wobei n für eine beliebige Zahl steht. Die Xenonmenge des Experiments betrug schließlich acht Tonnen, aber der schräge Name blieb.

Colijn ist ein großer, schlanker und gelassener Physiker Ende 40, der seine Zeit entweder am niederländischen Nationalen Institut für subatomare Physik, an den Universitäten Amsterdam und Utrecht oder im Gran-Sasso-Labor verbringt. In Italien kennen ihn die meisten seiner Kollegen einfach als AP, da sein niederländischer Name so schwer auszusprechen ist. Nachdem Colijn und ich einen kurzen Besuch in den „externen Einrichtungen“ des Labors gemacht haben – einer losen Ansammlung von Büros, Werkstätten und einer Kantine, in der fantastischer Espresso serviert wird – fahren wir wieder auf die A24, um von östlicher Richtung durch den Traforo del Gran Sasso (Gran-Sasso-Tunnel) zu fahren. Wenige Minuten später befinden wir uns unter 1400 Meter dichtem Fels, sicher abgeschirmt von lärmenden kosmischen Strahlungsteilchen. Aber Moment mal, wo ist das Labor?

Es befinde sich auf der Nordseite der Autobahn, erklärt mir Colijn, und es sei nur vom Westtunnel aus zugänglich. Er folgt einer Ausfahrt zum „Nerd-Kreisverkehr“ – dem einzigen Weg zurück zum Tunnel und zum Eingang der unterirdischen Anlage. Ein ziemlich frustrierender Umweg, wenn man mal seinen Schraubenzieher vergisst, scherzt er. Nachdem wir eine Sicherheitsschleuse passiert und das Auto geparkt haben, beginnen wir unsere Höhlenwanderung mit festem Schuhwerk und Schutzhelmen.

Hier hoffen die Physiker also, das Rätsel der Dunklen Materie zu lösen, sage ich mir. Wenn ihre Theorien richtig sind, sind die Phantomteilchen überall um uns herum – man muss sie bloß einfangen.

Es ist unerwartet still in den drei riesigen Kavernen, die senkrecht zum Autobahntunnel ausgerichtet sind. Im Durchschnitt arbeiten zu jeder Zeit um die zwei Dutzend Menschen unter der Erde, aber die Anlage ist so überwältigend groß, dass man sie kaum bemerkt. Jede düstere Halle ist etwa 100 Meter lang, 20 Meter breit und 18 Meter hoch. Wo man auch hinkommt, hört man das leise Brummen von Geräten und Maschinen, unterbrochen von dem gelegentlichen lauteren Rumpeln riesiger Ventilatoren und Klimaanlagen.

Aber Gran Sasso hat noch mehr zu bieten als XENONnT. Unsere Höhlenwanderung führt uns um die Tanks des Borexino-Experiments herum und wir stehen staunend vor dem Large Volume Detector. Das sind zwei riesige Anlagen zur Erforschung von Neutrinos – schwer fassbare, ungeladene subatomare Teilchen, die eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Rätsels der Dunklen Materie spielen könnten (siehe Kapitel 23).5 Wir kommen an einer Vielzahl anderer physikalischer Experimente vorbei, einige von bescheidener Größe, andere so groß wie ein Haus. Sie tragen gekünstelte Akronyme als Namen, wie CUPID, VIP, COBRA und GERDA, und verrichten alle eifrig ihre Arbeit: hier ein zischendes Ventil, dort eine vibrierende Zeigerscheibe und überall Gestelle mit Computerausrüstung und flackernde Kontroll-LEDs.6

Mit seinen fremden Geräten, der gespenstischen Atmosphäre inmitten dieser unheimlichen Trostlosigkeit, wirkt das unterirdische Labor wie ein verlassenes außerirdisches Frachtschiff oder wie die postapokalyptischen Überreste einer geheimen Militärbasis. Was werden wohl zukünftige Archäologen von unseren Zielen und Motiven halten, wenn sie in Tausenden von Jahren auf diesen seltsamen Ort stoßen?

Schließlich erreichen wir XENONnT in Halle B. Obwohl ich bereits viele Bilder gesehen habe, ist das Experiment in der Realität nicht weniger beeindruckend. Unmittelbar neben einem riesigen zylindrischen Tank zieht das auffällige, rechteckige, dreistöckige Kontrollgebäude mit seinen futuristischen Glaswänden die Blicke auf sich. An einer Seite des Kontrollgebäudes führt eine Treppe hinauf, während die andere Seite an den Tank grenzt. Die Glasstruktur scheint so transparent zu sein wie das Universum für die Dunkle Materie selbst. Die kryogene Ausrüstung, mit der das flüssige Xenon auf –95 Grad Celsius gehalten wird, befindet sich auf der obersten Ebene, der Kontrollraum und die Datenerfassungssysteme sind auf der zweiten Ebene untergebracht.

Die Xenon-Lagerung und die Reinigungsinstrumente befinden sich im Erdgeschoss – all das, um diese mysteriöse Materie aufzuspüren, über deren Existenz sich niemand so recht im Klaren ist.

Abb. 2: Das XENON-Experiment im Gran Sasso National Laboratory, Italien. Links steht der riesige Wassertank, in dem der Detektor untergebracht ist, rechts das Kontrollgebäude.

Die Außenseite des zehn Meter hohen Tanks ist mit einer riesigen Plane bedeckt, auf die ein Foto des Innenraums gedruckt ist. So entsteht der Eindruck, dass auch der Tank selbst transparent wäre. Der Tank enthält 700.000 Liter Wasser, worin der Detektor hängt. Dieser besteht aus einem weiteren Behälter, der mit etwas mehr als acht Tonnen ultra-reinem und ultra-kühlem flüssigem Xenon gefüllt ist. Am oberen und unteren Ende des Behälters befinden sich Platten, an denen Hunderte von empfindlichen Photomultipliern angebracht sind, die das schwache und kurze Aufblitzen von ultraviolettem Licht detektieren sollen, das ausgesandt wird, wenn ein Xenonkern von einem Teilchen der Dunklen Materie getroffen wird. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, den Blitz zu entdecken, sind die Innenwände des Wassertanks zusätzlich mit Teflon verkleidet, das ein hohes UV-Reflexionsvermögen besitzt.

Mit besonders großer Sorgfalt wird darauf geachtet, dass alle Wechselwirkungen zwischen Teilchen vermieden werden, die ein Signal erzeugen könnten, das dem ähnelt, was die Wissenschaftler von der Kollision eines Xenonkerns mit einem Dunkle-Materie-Teilchen erwarten. Selbst 1400 Meter festes Gestein reichen nicht aus, um jedes einzelne Myon der kosmischen Strahlung aufzuhalten: Eines von einer Million dringt bis zu dieser großen Tiefe vor und wechselwirkt mit dem Gestein. Dann werden Neutronen erzeugt, die schnell das Experiment stören können. Denn auch durch sie werden, sobald sie auf einen Xenonkern treffen, UV-Blitze ausgesandt. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum sich das Instrument in einem großen Tank mit gereinigtem Wasser befindet: Wasser ist ein effizienter Absorber für Neutronen.

Hinzu kommt die natürliche Radioaktivität, bei der schwere Atomkerne allmählich in leichtere zerfallen und dabei Alphateilchen, Elektronen und energiereiche Gammastrahlenphotonen aussenden. Alle diese Zerfallsprodukte verursachen ein Hintergrundrauschen in den Messungen. Aus den Schweißnähten des Xenonbehälters treten ständig radioaktive Radonatome aus. Spuren von radioaktivem Krypton finden sich buchstäblich überall auf unserem Planeten, seit wir beschlossen haben, Atomwaffen zu testen und einzusetzen. Und kommerziell gekauftes Xenon enthält immer winzige Mengen an radioaktivem Tritium. Um die unerwünschten Auswirkungen dieser Verunreinigungen zu minimieren, wird das flüssige Xenon in der riesigen Destillationsanlage im transparenten Gebäude neben dem Tank kontinuierlich gereinigt.

Die Idee für das Nachweisverfahren (mehr über die Einzelheiten erfahren Sie in Kapitel 18) stammt aus dem späten 20. Jahrhundert. Das XENON-Projekt wurde 2001 von Elena Aprile ins Leben gerufen, einer italienischen Physikerin an der Columbia University, die laut Colijn „eine ziemliche Marke“ ist. Die ständig wachsende internationale Kollaboration baute immer größere Detektoren, vom ersten Drei-Kilogramm-Prototyp bis zum aktuellen Acht-Tonnen-Ungetüm. So konnte die Empfindlichkeit des Experiments mit jedem Schritt erhöht werden. Aprile selbst ist noch immer die Leiterin des Projekts.

Colijn erzählt mir auch von dem großen Konkurrenten von XENONnT, einem ähnlichen Experiment namens LUX-ZEPLIN, das in der Sanford Underground Research Facility in South Dakota läuft. Der Leiter des Projekts, der Physiker Richard Gaitskell von der Brown University, arbeitete einige Jahre lang mit Aprile an XENON zusammen, doch 2007 ging die Zusammenarbeit in die Brüche. Die meisten der an XENON beteiligten US-Gruppen beschlossen, gemeinsam mit Gaitskell ihren eigenen Detektor zu entwickeln. Und dann ist da noch PandaX, ein großes Xenon-Experiment zum Nachweis Dunkler Materie in einem Untergrundlabor im chinesischen Jinping, ein weiterer Anwärter auf den ersten direkten Nachweis Dunkler Materie.

Trotz Jahrzehnte ohne Ergebnisse und trotz der befremdlichen Atmosphäre des Ortes inspiriert mich der Besuch der Laboratori Nazionali del Gran Sasso. Hier und in den wenigen anderen Laboratorien dieser Art setzen brillante Physiker die empfindlichsten Instrumente ein, die die Menschheit je gebaut hat, um zu erforschen, was ihrer Meinung nach der am häufigsten vorkommende und zugleich geheimnisvollste Bestandteil des Universums ist. Das Engagement dieser Forscher ist beeindruckend, ihre Zuversicht ist ansteckend. Natürlich stehen wir kurz davor, diese bahnbrechende Entdeckung zu machen – wenn nicht mit XENONnT oder seinen Konkurrenten, dann wahrscheinlich mit einem der anderen, kleineren Experimente zur Dunklen Materie in Gran Sasso, die Namen wie DarkSide, CRESST, DAMA und COSINUS tragen.7 Wenn sich diese eigensinnigen Teilchen nur endlich dazu entschließen würden, sich zu offenbaren – und sei es auch nur kurz, indem sie eine winzige, aber nachweisbare Spur auf unseren Hightech-Gerätschaften hinterlassen.

Oder ist es vielleicht doch nur die Jagd nach einem Phantom? Könnte es sein, dass alle unsere Bemühungen vergeblich sind? Sind wir zum Scheitern verurteilt, entweder weil kein Detektor diese verborgenen Teilchen jemals isolieren könnte oder weil es sie vielleicht gar nicht gibt? Unser Tag in Gran Sasso ist zu Ende. Während wir zum Auto gehen und dann aus dem Tunnel ins Sonnenlicht fahren, frage ich Colijn nach seinen Gedanken zu diesem möglichen Szenario, zur Frustration, die die Physik der Dunklen Materie mit sich bringt. Was ist, wenn man sich seine ganze Karriere lang auf einer aussichtslosen Jagd befindet?