Der Engelherd - Olga Martynova - E-Book

Der Engelherd E-Book

Olga Martynova

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Beschreibung

Was wäre, wenn Engel um uns wären? Würde das etwas ändern? Es geht um die Liebe in Olga Martynovas neuem Roman. Um die Liebe zwischen dem Schriftsteller Caspar Waidegger und der jungen Laura, die über ihn ihre Doktorarbeit schreibt. Es geht um die Frage, wie frei oder gefangen wir sind. Um Waideggers behinderte Tochter. Um Familie und Verantwortung also und die Frage, was normal ist und was verrückt. Es geht aber auch um unsere Vergangenheit, die in die Gegenwart ragt. Um eine Schauspielerin, deren Tochter von Euthanasie-Ärzten ermordet wird. Um Schuld also geht es. Und es geht um Engel, die entsetzt auf unsere Grausamkeit starren, die rätseln über unser Tun und uns nicht beschützen können. Es geht also um alles in Olga Martynovas neuem, federleicht geschriebenen Roman. Und weil alles verloren wäre ohne die Literatur, geht es auch darum: das Wunder des Erzählens.

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Seitenzahl: 371

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Olga Martynova

Der Engelherd

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

MottiJournal eines EngelsüchtigenIm späten Frühling, fast schon im SommerIm SommerVom Sommer bleibt noch viel übrigIm späten Sommer, bald schon im HerbstDer in diesem Jahr milde Herbst ist daNun schon im Herbst, fast schon im WinterIm Winter

ÜBER FLEDERMÄUSE: Sie schreien, so laut wie ein Bohrhammer in der benachbarten Wohnung, wenn du deinen Morgenschlaf und die Nachbarn ihre Renovierung haben wollen. Aber du hörst ihren Ultraschall nicht. Sie nehmen deine Frequenzen wahrscheinlich auch nicht wahr, wie könnten sie anders deine Nähe ertragen. Oder doch? Dann sind sie besser dran als du. Oder schlechter. Es gibt bestimmt auch viele kleine und große Wesen um dich herum, die du nicht nur nicht hörst, sondern auch nicht sehen kannst, weil sie in anderen Wellen des Lichtspektrums erfassbar wären als die, die du wahrnimmst. Auch dein Berührungssinn bleibt von manchem Wesen unberührt, und der seine von dir. Raumsparend. So passen mehr Weseneinheiten in eine Raumeinheit. Fjodor Stern

 

Warum, wenn es Engel gibt, obliegt keinem die Aufgabe, Dinge, die erst in der äußersten Hölle vorkommen dürften, hier auf Erden zu verhindern? Christine Lavant

 

Wer hinnimmt, dass die eigenen Angehörigen halböffentlich ermordet werden, der bleibt gleichgültig, wenn später sechs Millionen Juden in den Tod deportiert werden und zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Lagern verhungern. Götz Aly

 

Über Goldzähne spricht man nicht. Frei nach Franz Mon

Journal eines Engelsüchtigen

Im Mittelalter waren Vogelherde keine Seltenheit. Mancherorts bestanden sie bis ins 19. Jahrhundert. Die armen Leute fingen sich in schlechten Zeiten das Federvolk zum Verzehr, in guten Zeiten auch als Singvögel. Die Reichen fanden darin Kurzweil, auf Vogelfang zu gehen. Sogar der Hochadel war dem nicht abgeneigt, sich am Vogelherd zu erholen, denken wir nur an die Ballade von Heinrich von Sachsen, dem künftigen König:

Herr Heinrich sitzt am Vogelherd

Recht froh und wohlgemut, usw.

Engelherde hingegen sind fast keinem ein Begriff.

Ein Engelherd ist eine Vorrichtung zum Fangen von Engeln. Er benötigt nicht so viel Raum wie ein Vogelherd, der als licht bewaldeter Hügel eingerichtet wird (dementsprechend hieß er ursprünglich »Vogelerde«) und genügend Platz für Weindrosseln, Wacholderdrosseln und Singdrosseln, also für alles, was man Krammetsvögel nennt, bietet, und auch für Hänflinge, Zeisige, Goldammern, Stieglitze, Dompfaffen und Buchfinken. So viele Quadratmeter brauchen Engel nicht. Bekanntlich sind sie körperlos und können alle auf einer Nadelspitze Platz finden. Aber was sollen sie auf der Nadelspitze? Sie können zur gleichen Zeit überall sein. Das ist genau das, was den Fang der Engel so schwierig macht. Der geht so: Eine Nadel wird mittels eines besonderen Mechanismus über einem kugelförmigen Engelherd aus einem trüb gewordenen Silberspiegel gehalten, in der Nähe eines Ortes, wo sich ein Mensch oder einige Menschen auf der Spitze des Glücksgefühls befinden. Der eigentliche, natürliche Engelherd ist dieser Ort, der um Größenordnungen geräumiger als jeder Vogelherd sein kann, aber der Name wurde auch auf die kugelförmige Falle übertragen. Was den Vögeln Hanfsamen, Ebereschenbeeren und Regenwürmer sind, sind den Engeln die Gefühle der Menschen. Sie bekommen sogar ein bisschen Körperlichkeit, um an menschlichen Angelegenheiten teilhaben zu können. Die Kunst des Engelfängers ist zu arrangieren, dass die Freude eines oder mehrerer Menschen zur passenden Zeit in Leid umschlägt. Eine andere, raffiniertere Methode ist vorauszusehen, wann die entstandene Freude zu Leid wird und im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. Der unsichtbare Engel schreit auf, auf diesen Aufschrei hin fliegt die Nadel in das Herz des Engels, und dieser fällt in die Falle herab, die sofort zuschnappt, ähnlich wie das Schlagnetz beim Vogelfang. Im trüben Silberspiegelglas werden Engel sichtbar, deshalb werden sie in ähnlichen kugelförmigen Silberspiegeln gehalten. »Engelherd« nennt man sowohl eine Engelfalle als auch einen Engelkäfig.

Ein musterhaftes Beispiel für einen gelungenen Engelfang ist die in Faust verliebte Margarete mit all ihrem überirdischen Glück und darauffolgenden Elend (der Engelfang ist für Mephistopheles ein Nebengeschäft). Manchmal kann auch das kollektive Leid von großen Menschenmengen als Köder dienen. Die meisten der Engel sind mitleidsvoll, obwohl sie oft als gleichgültig gelten. Letzteres ist ein Trugschluss, der deshalb gemacht wird, weil sie sich in nichts einmischen dürfen, nur die ihnen gegebenen Aufgaben erfüllen, die manchmal recht grausam sind und für die in der Regel sanften Engel unbegreiflich. Ihre quadratischen, runden und rautenförmigen Augen sind voll kristalliner Tränen. Aber was können sie machen, sie sind lediglich die Boten. Die einfachere Fangmethode ist daher, den Engelherd in der Nähe eines Ortes einzurichten, wo viele Menschen gepeinigt werden. Massenmordorte zum Beispiel sind sehr dafür geeignet. Der Engelfang ist eine äußert gefährliche, kostspielige und heimlich betriebene Sache. Das Engelsammeln können sich nur sehr wenige leisten. Für gewöhnlich sitzt ein einsamer Engelsammler abends vor der dunklen Spiegelkugel und versinkt in engelische Trauer. Sein einst vom eigenen Missgeschick verhärtetes und verkrustetes Herz schmilzt im tränenden Nebel. Solche Kugeln sind die stärkste Droge, die es geben kann, mit dem höchsten Abhängigkeitsgrad. Kein Wunder, dass es von alters her ein Sprichwort gibt, das vor dieser Sucht warnt:

Wer klebt an einem Engelherd,

Der wird nicht glücklich auf der Erd.

Einige erjagte Engel werden als Lockengel verwendet. In der Art, wie ein Vogler einer Blaumeise die Hornhaut ausglüht, werden Engel von den Englern geblendet (wie sie das bei körperlosen Engeln schaffen, verriet bis heute kein einziger). Die Aufgabe der gequälten Vögel ist, nachdem ihre Käfige aus der Vogelfanghütte in die Luft getragen werden, mit unerhörter Lautstärke zu singen und andere Vögel herbeizulocken. Die geblendeten Engel tasten mit unerhörter Leidausstrahlung nach ihren Artgenossen. Dieses Verfahren gilt selbst innerhalb des illegalen Bundes der Engelfänger als illegal und ist vom Bund verboten.

Ich kaufe bei solchen Englern nicht, auch wenn das nicht so schlimm ist, wie es klingt: Für Engel gibt es weder Zeit noch Raum. Das heißt, jeder von den Gefangenen ist zugleich woanders, wo er (mit menschlichen Begriffen gemessen) früher war oder später sein wird. Alles, was mit ihm geschieht, geschieht gleichzeitig. Das bedeutet nicht, dass Engel nicht leiden oder dass sie sich nicht freuen. Dies tritt nur eben zugleich ein. Wir aber können über Engel nur so erzählen, als würden sich Ereignisse zeitlich ablösen, wie wir, die Bewohner der Zeit, es gewohnt sind. Die Schlussfolgerung, den Engeln passiere somit nichts Neues, wäre allerdings falsch: Wenn etwas passiert, dann gesellt sich dieses Ereignis zur übrigen Gleichzeitigkeit der Engel.

 

Mich, einen einsamen Engelsammler, kostet es immer mehr Mühe, mich von meinem Engelherd zu trennen. Ich mache das nur deshalb, weil ich für diese meine Leidenschaft viel Geld brauche, eine Menge, die ich hier sitzend nicht beschaffen kann. Selbstverständlich ist das nicht das Geld, womit ich für meine Engel bezahle. Aber das Geld verhilft mir zu der geheimen Währung, die zwischen den Engelfängern und Engelsammlern zirkuliert und deren Beschreibung ich nicht einmal meinem persönlichen Journal anvertraue. Ich bin nicht arm, aber wie gesagt, meine Leidenschaft ist kostspielig. Und selbst wenn ich wüsste, wie ich sie mir abgewöhnen könnte, wüsste ich nicht, wozu.

Im späten Frühling, fast schon im Sommer

***

Kann es sein, dass jener Nachmittag der Anfang von allem war, was ihm jetzt passiert?, wird sich Caspar Waidegger viel später fragen und gleich auflachen, weil ohnehin jeder beliebige Nachmittag am Anfang der darauffolgenden Geschehnisse steht. Dennoch. In einer verschneiten Nacht wird er glauben, sich daran zu erinnern, dass eines sonnigen Mittags alle auf seiner Terrasse auf eine besondere Weise leicht angespannt waren. Diese Anspannung, wenn auch vom getrunkenen Sekt nicht verursacht, wurde von ihm jedoch zu schnell gelockert. Das bemerkte er, als ihm Fabian Kranichpferd auf etwas, woran er sich nicht mehr erinnern können wird, antwortete:

»Es gibt keine Geschichte, es gibt nur die Art, sie zu erzählen. Wer besser erzählt, der bestimmt, was stimmt.«

Anneliese Eichenperger lächelte zustimmend, in ihrer resoluten aber milden Manier. Der junge Mann gefiel ihr.

Caspar Waidegger quittierte den Spruch mit einem schnellen Aufblick (nach seinem Ermessen war der Junge zu flink): »In Ihrem Alter war auch ich dieser Meinung. Oder fühlte mich zumindest dazu verpflichtet.«

Anneliese Eichenperger nickte. Der alte Freund gefiel ihr sowieso.

Fabian Kranichpferd dachte, dass Caspar Waidegger eitel und anmaßend wie eine Litfaßsäule war. Das hinderte ihn allerdings weder daran, sich zu ermahnen, dass er selbst hätte zurückhaltender sein sollen, noch daran, eine ungeschickte Antwort zu geben: »Ja. Wie gesagt. Vielen Dank. Dass Sie dem Gespräch zugestimmt haben. Was ich noch unbedingt fragen wollte …«

Caspar Waidegger antwortete etwas zerstreut, aber wohlwollend: »Bitte sehr, Herr … Kranichpferd. Laura hat mich darum gebeten, wie hätte ich ihr ›nein‹ sagen können?«

Laura Schmitz fragte sich hinter dem geschmeichelten Lächeln, was das sollte, diese Altherrencourtoisie, die offensichtlich nur unterstrich, wie unbedeutend sie für ihn war. Man behandelt die langjährige Freundin nicht auf solche Weise (noch entschiedener: Ein Mann behandelt seine langjährige Freundin nicht auf solche Weise). Andererseits war CW insgesamt netter geworden. Sie durfte mehr Zeit mit ihm verbringen, was ein Glück war, das sie mit Argwohn genoss. Nicht gerade Glück, sondern das, was sie sich seit Jahren, ohne darauf zu hoffen, gewünscht hatte und was ihr zu viel bedeutete, als dass sie das schlicht als Glück hätte betrachten können. Auch »mit Argwohn« traf nicht zu. Sie hatte nur keine treffendere Bezeichnung für den Verlust ihres traurigen Gleichgewichts.

Als Fabian sie gefragt hatte, ob sie ein Interview mit CW organisieren könnte (»Du kennst ihn doch persönlich, stimmt’s?«), waren ihre Wangen und ihr Rücken warm und (wenigstens der Rücken für niemanden sichtbar) rot geworden: »Er gibt keine Interviews. Grundsätzlich. Nie.« Aber Fabian bekam meistens, was er wollte. Er spürte, was, wo und wie angebracht sein würde, und man mochte ihn. Das Wochenmagazin, das für einen wie ihn ein unerreichbares Ziel zu sein schien, hatte er endlich dadurch überzeugen können, dass er in der Lage wäre, mit Caspar Waidegger ein Interview zu verabreden (umso miserabler fühlte er sich, dass er um eines Bonmots willen ausgerechnet diesen Waidegger verärgert hatte).

Laura hatte seine Bitte fast ungewollt erfüllt; nur weil sie in CWs Gegenwart zuweilen in eine dumme Verlegenheit geriet, hatte sie Fabian erwähnt, bloß um nicht zu schweigen. »Bring ihn mit zum Samstagmittag nächste Woche, wenn es ihm nichts ausmacht, das öffentlich zu machen, damit er mich keine Extrazeit kostet«, hatte CW gesagt. Manchmal lud er für den Samstagmittag eine kleine Anzahl Freunde zu sich ein. Wie er selbst erklärte, »um nicht endgültig zu verwildern«. Das war sein Ausdruck: »eine kleine Anzahl Freunde«. Eigentliche Freunde hatte er zwei: Anneliese und Dieter. Ansonsten waren das immer verschiedene Menschen (»eine kleine Anzahl«), die ihn aus irgendeinem Grund gerade interessierten. In letzter Zeit war Laura fast jedes Mal dabei.

Am Montag davor verschickte er die Einladungen. Die vier oder fünf Auserwählten in der Stadt D. fühlten sich die ganze Woche entsprechend: auserwählt. Er wusste das und wurde ein wenig davon abhängig: die Macht zu haben, ein paar Menschen das Gefühl des Auserwähltseins zu verleihen. Auf der Terrasse seines Hauses, die im Winter verschlossen und zu einem Wintergarten wurde, gab es an solchen Samstagmittagen Kanapees, Obst, Tee, Kaffee und Sekt.

»Was wollten Sie noch unbedingt fragen?« Caspar Waidegger blickte auf die Uhr, um zu zeigen, dass das die letzte Frage sein würde, und Fabian Kranichpferd erkundigte sich, ob Herr Waidegger »unseren Lesern«, vor allem »unseren Leserinnen« (O nein, bin ich blöd!, dachte Fabian), »ich meine, unseren Leserinnen und Lesern« (er versuchte sich durch einen leicht ironischen Unterton zu retten) verraten könne, was er mit einer Szene in seinem letzten Buch meine, in der eine Frau sich scheiden lasse, nachdem ihr Mann zum zehnten Mal den Hochzeitstag vergessen habe, und in der sie aufzähle, was er sonst noch versäumt habe, zum Beispiel habe er ihr nie eine einzige Blume zum Valentinstag geschenkt und immer vergessen, ihren Kanarienvogel zu tränken. Ob er damit eine Satire auf unsere Gesellschaft meine und ob die Formalitäten, die von der kapitalistischen Industrie wie Blumen- oder Juwelenhändlern unterstützt werden, nach und nach die echten Gefühle ersetzen würden, die letzte Frage sozusagen, bitte. Aus Vorfreude, dass das Gespräch bald zu Ende sein würde, wurde Caspar redselig:

»Nein, nein, ganz im Gegenteil, auch gerade darauf deutet der Kanarienvogel hin (übrigens ist das bei mir ein Wellensittich), der doch keine Formalität, sondern ein hungriges Lebewesen ist, nicht wahr? Und was ist wiederum schlimm an Formalitäten? Sie helfen Menschen, einander zu zeigen, dass sie es gut miteinander meinen. Wir sollten das eigentlich jeden Tag tun, lieb zueinander sein. Aber wir schaffen das nicht jeden Tag, wir haben zu viele Sorgen und Aufgaben, wir leben leider nicht im Elfenland, auch bis zum nächsten Valentinstag haben wir noch etwa ein Dreivierteljahr zu warten.« Fabian Kranichpferd schaltete sein Aufnahmegerät aus und fragte, ob er den Text zur Autorisierung per E-Mail schicken dürfe (das Honorar sollte, wenn das Hörensagen über dieses Magazin stimmte, seinen Juni retten).

»Bitte per Post, ich besitze keinen Computer«, sagte Caspar und dachte daran, dass er nie jemandem etwas zum Valentinstag geschenkt hatte. Und dass jetzt einige Frauen dieses Interview lesen und dabei glauben würden, er hätte ausgerechnet ihnen nie etwas zum Valentinstag geschenkt, den anderen aber sehr wohl. Warum hat er nicht ehrlich geantwortet, dass er solche Dinge für geschmacklos und spießig hält (weil der feine Pinkel von ihm gerade eine solche Antwort erwartete?)?

Laura sagte sich, dass CW sie etwas mehr als eine Katze beachtete und nicht einmal davor zurückscheute, in ihrer Gegenwart darüber zu sprechen, dass er anderen Frauen Valentinsgrüße zukommen ließ. Sie merkte nicht, wie dieser Gedanke ihr Gleichgewicht wieder stabilisierte, und sagte sich, glimpflich in die gewohnte Unsicherheit zurückgebracht, dass sie in diese Gesellschaft in keiner Weise gehörte und dass sie hier übrigens die einzige war, die einen mehr oder weniger normalen Familiennamen hatte. Fabian schien im Gegenteil bestens hierherzupassen, auch mit seinem Nachnamen, genauer gesagt, seinem Künstlernamen, wie eigens für diesen Mittag ausgedacht. Es ging ihm gut, er erlaubte sich sogar, das Gespräch fortzusetzen:

»Darf ich noch etwas fragen, was mich persönlich interessiert, nicht für die Zeitung, wie man so sagt: Was denken Sie über Unterhaltungsliteratur? Gibt es heute diese Grenze zwischen der elitären Kunst und der Unterhaltung überhaupt noch?«

Caspar ärgerte sich, dass er weiterzuarbeiten hatte, dass er diesem Interview überhaupt zugestimmt hatte, und versuchte, sich kurz zu fassen: »Das Experiment mit der Liaison zwischen der ernsten und der trivialen Kunst ist nicht gelungen. Es wäre jedoch falsch, die triviale Kunst zu verachten. Versuchen Sie mal, einen richtigen Kitsch-Roman zu schreiben. Sie werden sehen, dass das gar nicht so einfach ist.«

Er sagte nicht das, was er dachte. Sein eigentlicher Gedanke war der Wunsch, ein Buch zu schreiben, das kitschig wie das Leben selbst (und nicht wie die kitschige Kunst) wäre, was er für unerreichbar hielt. Das Leben in seiner Blödheit hielt Caspar Waidegger für unschlagbar.

Anneliese Eichenperger war in ihrer herzlichen, aber autoritären Manier, die ihre Rechte der uralten Freundschaft bestätigen sollte, nun anderer Meinung: »Mein liebes Casperle, nichts ist einfacher als das: Du musst den Leuten entweder das zeigen, was sie sich wünschen, das heißt, woran es ihnen angeblich fehlt, oder das, wovor sie Angst haben. Am liebsten beides zugleich. Du zeigst gutgekleidete – im Idealfall werden die Markennamen genannt –, schön aussehende, scheinbar sorglose Menschen, die trotzdem Sorgen und unlösbare Probleme haben. Du kannst es, sagen wir, ›Zwischenfall am See‹ nennen und so anfangen:

Zwischenfall am See

Sie saß auf der Terrasse ihres Sommerhauses und starrte mit ihren riesigen blaugrauen Augen auf die riesige blaugraue Seeoberfläche. Wenn er auch heute nicht erscheinen wird, wird das endgültig heißen, dass etwas Schlimmes passiert ist, diesen Gedanken konnte man im traurigen Ausdruck ihres Gesichts erraten, das im Schatten ihres breitkrempigen Hutes …«

Anneliese hielt inne: »Gibt mir jemand die Marke, schnell, welcher Hut?«

Caspar, dem das Spiel bereits gefiel, kannte keine Hutproduzenten, aber Dieter Kehrbein reagierte sofort: »Stetson!

… ihres breitkrempigen ›Stetsons‹.«

Birgit Kehrbein korrigierte ihren Mann mit gut (wie sie dachte) verborgener Gereiztheit: »Aber nein doch, das geht nicht, das ist eine Männermarke! Das weiß doch jeder!«

»Chanel?«, schlug Fabian Kranichpferd vorsichtig vor.

Patrizia Steinland von der Musikredaktion des hiesigen Rundfunks wusste besser Bescheid: »Mayser! Eine große Firma mit Geschichte. Das ist repräsentativ genug und nicht so trivial wie Chanel!«

Fabian machte ein schutzlos verlegenes Gesicht, und Anneliese nahm ihn gleich in Schutz:

»Nein, nein, wir brauchen eben das, was ›trivial‹ wäre. Chanel, sagen Sie? Gut, von mir aus.«

Patrizia Steinland bewegte verstimmt ihre Lippen und schwieg.

»… diesen Gedanken konnte man im unruhigen Ausdruck ihres Gesichts erraten, das im Schatten ihres breitkrempigen Chanel-Hutes noch blasser zu sein schien, als es ohnehin war.

Casperle, willst du jetzt übernehmen?«

»Gut, warum nicht:

Die Gartentür am Ende des Pfades öffnete sich. Eine im Gegenlicht verdunkelte Gestalt näherte sich schnellen Schrittes der Terrasse. ›Mon Dieu, endlich!‹, flüsterte sie. Aber das war nicht er. Das war ein unbekannter Mann in –

nicht Chanel?«

Anneliese lachte.

»Burberry?«, sagte Birgit Kehrbein, die gerade am Überlegen war, was sie ihrem Mann zur Silberhochzeit schenken würde.

»Vielleicht brauchen Männerfiguren keine Markenwaren?«, fragte Ferdinand Marx, der Intendant des Stadttheaters, der immer betont leger gekleidet war, aber umso gepflegter sahen seine ergrauten Locken und rosigen Fingernägel aus.

Anneliese hob die Winkel ihres bordeauxgeschminkten Mundes einsichtig nach oben, führte ihre hohen Augenbrauen nachdenklich zusammen und zog schließlich ihre großen Augen schlau schmal: »Uniform!«

Caspar stimmte zu: »Jawohl«, und setzte fort:

»Das war ein unbekannter Mann in Uniform, der ihr seinen Ausweis zeigte, in dem sie nicht lesen konnte, weil sie ihre ohnehin von Kosmetik gestressten Augen mit dem häufigen Weinen der letzten Tage zu sehr beansprucht hatte.

 

– Sie sind Fräulein S., nehme ich an?

– Ja, warum? Wer sind Sie?

Er hob ihr seinen Ausweis vor die Nase:

– Kennen Sie Leutnant K.?

– Warum?

– Ich stelle hier die Fragen. Kennen Sie ihn?

– Kennen Sie ihn? Ja oder nein?

– Was ist passiert? Ist ihm …? Ist er …?

– Sie kennen ihn also. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?

– Ich weiß es nicht so genau. Vor zehn Tagen vielleicht. Oder ist es länger her … Warum?

– Erzählen Sie mir bitte, was war. Was hat er Ihnen gesagt? Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt?

– Warum ich? Warum fragen Sie ausgerechnet mich? Er ist nur ein Bekannter. Was ist los?

– Gut. Ich sage es Ihnen. Er hat sich das Leben genommen. Vor …

Der Mann schaute auf seine …

Gebt mir dann auch die Uhrenmarke!«

Anneliese sah die Runde fragend an.

Fabian wagte wieder einen Vorschlag: »Rolex?«

Da glaubte Patrizia Steinland, endlich den Ball bekommen zu haben: »Omega! Die James-Bond-Marke!«

»Der Mann schaute auf seine Omega:

– Vor genau vier Stunden. In seiner Brusttasche war ein Brief, der an Sie adressiert war. Und Ihr Foto, wie ich jetzt sehe. Sie sind eine schöne Frau.«

Caspar sah sich um: »Wer will fortsetzen? Sie, vielleicht?«

Fabian zeigte sich geschmeichelt, aber ein wenig überrumpelt, und nahm die Einladung an:

»Ihr wurde dunkel vor Augen. Der eben noch hellblaue Seespiegel zerfiel in schwarze und braune Drei- und Vierecke.«

»Nein! Auf keinen Fall! Das ist zu viel!«, Anneliese protestierte, wollte aber Fabian nicht in die Rolle des Spielverderbers zwingen und nahm großzügig den ersten Teil seines Vorschlags: »›Ihr wurde dunkel vor Augen‹ ist gut und reicht völlig. Machen Sie nun bitte weiter!«

»Ihr wurde dunkel vor Augen. Als sie sagte, sie wisse nicht, wann sie den Leutnant K. zum letzten Mal gesehen hatte, log sie, es ging den Fremden doch keinesfalls etwas an. Aus Angst, seinen Anruf zu verpassen, hatte sie in den letzten Tagen das Haus kaum verlassen und stundenlang auf die hohe Telefongabel gestarrt, die dem Apparat eine Ähnlichkeit mit einem schweigenden Hirschkäfer verlieh, der mit seinen Mundwerkzeugen eine ebenso schweigende Hörer-Raupe emporhielt.

 

– Den Brief dürfen Sie lesen, aber nicht behalten.«

»Damit bin ich einverstanden, aber das mit dem Telefonapparat ist wieder eine Spur zu kapriziös«, Anneliese beendete das Spiel, und Fabian Kranichpferd bremste seine Phantasie, die gerade im Aufschwung begriffen war, und entschuldigte das kapriziöse Telefon mit Lächeln und hochgezogenen Schultern. Er bereute, dass er diese Beschreibung des alten Telefons, das er im Arbeitszimmer des Gastgebers bemerkt hatte, so nutzlos preisgab, anstatt sich das Bild zu merken und später zu benutzen, obwohl – warum nicht, er konnte das noch immer tun, somit hätte er schon den ersten Satz für das Waidegger-Porträt: »Caspar Waidegger bittet uns auf die Terrasse, wir gehen durch das beeindruckende Ambiente seines Arbeitszimmers, auf dem großen Holztisch steht das echte alte Telefon aus den vermutlich 30ern, das einem Hirschkäfer ähnelt …«

Das waren deshalb Mittage, weil Caspar späte Gäste nicht mochte, auch sich ausdehnende Gespräche nicht, die mit jedem getrunkenen Glas immer tiefsinniger wurden. Seine Haushaltshilfe hatte die Anweisung, ab 14.30 Uhr langsam mit dem Abräumen zu beginnen, damit auf natürliche Weise das Gefühl entstehen würde, der Mittag ginge zu Ende. Als sie auf die Terrasse trat, erinnerte er sich, dass ihm Laura etwas über die russische Herkunft ihres ungehobelten Protegés erzählt hatte. Er wollte ihm noch schnell etwas Nettes sagen, um seine Ungeduld – wann wird er endlich gehen? – zu verbergen, und ihm fiel nichts Besseres ein, als dem Jungen seine Haushaltshilfe vorzustellen: »Sie sprechen doch Russisch? Angelja kommt aus Litauen.« Hundertfünfzig Millionen Menschen sprechen Russisch, würde Fabian antworten, wäre das dem Hausherrn und der kleinen hübschen Frau mit einer Laufmasche im Strumpf gegenüber nicht unhöflich. In Litauen spricht man nicht Russisch, sondern Litauisch, die Sprachen sind nicht einmal verwandt, das sagte er ebenfalls nicht. Er lächelte die Frau freundlich an. Angelja lächelte schüchtern und abweisend zurück.

Laura schielte misstrauisch auf Angelja, weil ihr alle Frauen in der Gesellschaft von CW verdächtig schienen, und bedankte sich für die Einladung.

Casper begleitete sie bis zur Gartentür und versprach, gegen Abend anzurufen. Sie nickte und lächelte ihr eigenartiges Lächeln, der linke Mundwinkel ging nach oben und der rechte nach unten, als vereine ihr schmales Gesicht die beiden Masken: Komödie und Tragödie.

Laura ging und stellte sich den großen Frühsommerabend vor, der von dem vergeblichen und selbstvergessenen Warten auf CWs Anruf erfüllt wird. Sie hatte nie den Mut gehabt, ihn als Erste anzurufen. Genauer gesagt, sie hatte einmal den Mut gehabt, aber seine verwunderte Stimme (so fragt man Sie in teuren, aber schlechtgeführten Hotels, wo Sie erschöpft einkehren, um nach dem Weg zu fragen, ob man für Sie etwas tun kann) hatte auf sie so unbehaglich gewirkt, dass sie ihn nie wieder anrief, nur dann und wann ihr Taschentelefon aus der Tasche holte. Das schwarze Display spiegelte ihr eigenes Gesicht, was ihre Liebe, sagte sie sich, ihre einsame Liebe in eine fast narzisstische Sehnsucht verwandelte.

Journal eines Engelsüchtigen

Ein Engel serviert für die anderen, die im kugelförmigen Engelherd gefangen sind, ein kleines Frühstück.

Engel, die ja völlige Körperlosigkeit genießen können, treiben Theater, indem sie so tun, als hätten sie Körper und würden essen und trinken und Ähnliches. Kann sein, dass sie glauben, sie würden die Menschen auf diese Weise besser verstehen. Der Engel eines kleinen Frühstücks schneidet Luft in grobe warme Scheiben und versucht, eine Geschichte zu erzählen. Aus der Sicht der Menschen, hätten sie diese Gespräche der Engel überhaupt hören können, wären Engel nahezu sprachlos, stammelnd, stotterig, unzusammenhängende Töne von sich gebend. Hätte ein unvorbereiteter Mensch seinen Schutzengel sehen können, wäre er in Panik geraten, als jemand, der unentwegt von einem muhenden und fuchtelnden Psychopathen begleitet wird. Genauso sinnlos kommt den Engeln die menschliche Rede vor, aber alles ist übersetzbar. Auch die jeweilige Sprachlosigkeit in die jeweilige Sprache.

Ein unvorbereiteter Mensch, dem das Lallen der Engel ins Menschliche übersetzt würde, würde meinen, diese Gespräche seien nur Klatsch. Er würde denken, Menschenleben würden für Engel eine Seifenoper darstellen. Er würde sich irren: Engel suchen nach Rechtfertigungs- oder Anschuldigungsmöglichkeiten für ihre Schützlinge bzw. deren Widersacher. Vieles verstehen sie in Menschenleben nicht, die Wahrheit ist: Sie verstehen gar nichts. Deshalb tauschen sie sich aus: Sie hoffen, auf diesem Weg den Sinn der beobachteten Taten und Worte entschlüsseln zu können (und uns Engelsammlern hilft das, Engel zu begreifen. Als Nebeneffekt erfahren wir einiges über die Menschen, die Schützlinge unserer Engel sind. Freilich interessieren sich die meisten von meinen Kollegen nicht fürs Menschliche. Ich hingegen liebe es, Menschen durch Engelaugen zu sehen).

Der Kleines-Frühstück-Engel bemüht sich, die unbegreiflichen Menschendinge zu erfassen, was nur in einer unvollkommenen Übersetzung ins Menschliche wiedergegeben werden kann. Zu den Hauptschwierigkeiten der Übersetzung aus dem Engelischen gehören zeitliche Angaben. Meistens verzichte ich auf sie. Manchmal verwende ich sie, aber lasse die grammatikalischen Zeiten aus. Wer nach mir kommt, soll versuchen, es besser zu machen.

»Das ist nämlich so. Also. Fräulein L. liebt Herrn C. Sie wartet auf seine Anrufe. Anstatt zu lesen, sich mit einer Freundin zu treffen, ins Kino zu gehen oder, was wissen wir Engel, was sie alles machen, sitzt sie und beobachtet ihre Telefone. Ihre Telefone sind ihr wie Haustiere, um die sie sich ständig kümmern muss, ob das eine aufgeladen ist, oder ob der Hörer des anderen richtig auf der Gabel liegt, ob sie bei der geschlossenen Tür das Läuten hören würde, ob sie das Biest in ihrer Tasche dabei hat, je nachdem, welche Apparate dort, wo sich die Geschichte jeweils befindet, gängig sind. Wenn sie pinkeln muss, dann nimmt sie das Telefon mit und legt es neben die Kloschüssel auf den Kachelboden. Wenn es noch keine tragbaren Telefone gibt, bleibt sie jeden Abend zu Hause und sorgt dafür, dass alle Türen offen sind, sie will nicht riskieren, dass sie, während sie kocht oder sich duscht, seinen Anruf verpasst. Wenn es noch gar keine Telefone gibt … Aber das erzähle ich ein andermal.«

Ein Engel, der selten spricht, der ein Glas mit einem darin schwimmenden Mädchenkopf umarmt, sagt überraschend:

»Und Herr C. ruft natürlich nie an.«

Ein Engel, der glaubt, eine silberne Glocke zu sein, sagt:

»Doch. Er ruft an. Manchmal. Deshalb hat sie immer das Gefühl, es lohne sich zu warten.«

***

Aber Caspar vergaß nicht, Laura anzurufen, wenn auch sehr spät am Abend, weil er das Zeitgefühl an Annelieses Fräulein S. verloren hatte.

Zwischenfall am See

– Den Brief dürfen Sie lesen, aber nicht behalten.

 

Ist das das Beweisstück? Wofür?, dachte sie. Was kann er wissen? Sie hatte in der Tat ein furchtbares (streichen!, dachte Caspar, ich bin nicht verpflichtet, Annelieses stilistischen Vorstellungen zu folgen) Geheimnis, das zugleich ein großes (streichen! denen des jungen Strebers mit dem närrischen Namen umso weniger) Problem war. Der Brief konnte nichts verraten, weil er (K., den Namen zu denken fiel ihr schwer) nichts davon wusste. Sie wartete seit Tagen darauf, dass er kommt, um das mit ihm zu besprechen. Sie war sich mit jedem Tag immer sicherer geworden, dass ihm etwas zugestoßen war. Den Brief zu lesen, kostete sie viel Anstrengung, als zerfielen die Buchstaben unter ihren Augen zu Staub:

»Mein Engel, verzeih mir. So ist es besser. Verzeih mir, dass ich Dich in dieser grausamen Welt allein lasse. Aber Dich mitzunehmen wäre noch grausamer. Ich wünsche mir, dass du glücklich bist, das ist mein letzter und einziger Wunsch, du brauchst bloß durchzuhalten, bis alles auf jene oder diese Weise vorbei sein wird. Verzeih mir. Ich liebe Dich. Dein und von nun an Dein auf Ewigkeit!«

 

– Wenn Sie uns verraten würden, was »vorbeigehen« muss, Fräulein S.? Das würde uns wahrscheinlich weiterhelfen.

– Ich habe nicht die geringste Idee, was das sein könnte.

– Sie scheinen ihn doch gut gekannt zu haben, Fräulein S.?

– Nein. Überhaupt nicht. Dieser Brief wundert mich, ehrlich gesagt. Ich verstehe nicht, warum er an mich adressiert ist.

– Und Ihre Ohnmacht?

– Wissen Sie, Herr …?

Er hob ihr seinen Ausweis vor die Nase.

– Wissen Sie, Herr W., für Sie gehört das gewiss zum Alltag. Für mich aber ist die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines Menschen ein Schock. Wie hat er das gemacht?

– Es bin immer noch ich, der hier die Fragen stellt. Mit Verlaub. Hat Leutnant K. Ihnen gegenüber seinen Unwillen, den Militärdienst an der Front zu leisten, geäußert?

– Warum sollte er? Wir haben uns kaum gekannt.

– Und Ihr Foto? Und der Brief?

– Ich bin Schauspielerin. Das ist kein Foto, das ist eine Autogrammkarte, die jeder kaufen kann. Eine Autogrammkarte, sehen Sie das nicht? Sehen Sie, Herr . . .? Ach ja, verzeihen Sie mir bitte meine Zerstreutheit, Herr W., wissen Sie, dass wir Schauspieler Verehrer haben, die sich in einer seelischen Nähe zu uns dünken? So ist unsere Kunst. Sie verführt. Wir können nichts dafür, dass jemand unsere Fotos in der Brusttasche aufbewahrt, dass jemand seine letzten Worte an uns richtet. Dass jemand uns duzt. Fragen Sie mich nicht, warum er mich in diesem Brief duzt. Ich weiß es nicht.

Ihr war egal, ob Leutnant W. ihr glauben würde oder nicht. Sie wollte allein sein, sie wollte weinen, sie wollte nachdenken, sie wollte keine Fremden in ihr Leben hereinlassen.

– Sie haben sich gefasst, Fräulein S., wie ich sehe. Sie sind eine gute Schauspielerin. Ich empfehle mich jetzt und lasse Sie mit Ihren feinen Gefühlen allein. Aber ich fürchte, wir werden uns wiedersehen müssen.

***

Caspar dachte wieder an Laura, nachdem er bemerkt hatte, dass das Licht bereits einzuschalten war. Aus dem schnell dunkler werdenden Garten flog eine Hausmutter (wie Cordula alle Nachtfalter nannte) herein und nahm an der Wand Platz. Er rief Laura an, dankbar, dass sie seine Unfähigkeit, bei der normalen oder wenigstens verabredeten Tagesordnung zu bleiben, duldete und verstand. »Entschuldige«, sagte er, »ich musste etwas zu Ende denken und ein paar Absätze schreiben, was ich nicht geschafft habe, aber es wird heute nicht mehr gehen, ich vermisse dich, kommst du?«

***

Der klopfende Nachbar hörte endlich auf zu klopfen, und Laura sagte sich, sie müsse sich mit dem Denken beeilen und das Ergebnis möglichst schnell aufschreiben, bevor er wieder anfange.

Sie machte sich Pfefferminztee und dachte, statt an CWs Bücher zu denken, was sie für ihre Doktorarbeit hätte tun sollen, bloß an CW: dass sie von ihm als bequemes und kostenloses Callgirl ausgenutzt wurde. Sie verstärkte die kränkende Wirkung dieses Gedankens mit der Vorstellung, er rufe sie erst an, wenn alle anderen abgesagt hätten; dann fragte sie sich, ob er die Grenzen ihrer Unterwürfigkeit ausloten wolle, und widerlegte diese Hypothese damit, dass sie ihm zu egal sei, als dass er an ihr etwas hätte ausloten wollen. Sie stellte sich vor – das Telefon in Reichweite –, wie sie ihm sagen würde: »Es tut mir leid, ich schlafe schon.« Oder wie sie ihm sagen würde: »Es tut mir leid, ich muss noch ein paar Seiten schreiben, weißt du, ich habe nächste Woche ein Gespräch mit meinem Doktorvater.« Oder wie sie ihm sagt, sie habe ein paar Freunde eingeladen und könne jetzt nicht raus. Oder sie sagt ihm, sie sei mit ein paar Freunden unterwegs. Oder: Sie habe jetzt zu tun, auch morgen, auch nächste Woche, sie würde ihn anrufen, wenn sie wieder Zeit haben würde, und dann wird sie ihn nie anrufen. Das beruhigte sie auf eine traurige Weise, und sie ärgerte sich beinahe, dass das unbekümmerte Klingeln des Telefons diese einlullende Imagination störte, aber als sie CWs Stimme hörte, wurde sie zu einem genauso unbekümmerten Wesen und war schon unterwegs zu ihm, mit ihrem alten Fahrrad, das sie von ihren Eltern zu ihrem 18. Geburtstag geschenkt bekommen hatte (im Rucksack ein kleiner Kosmetikbeutel und ein Buch). Sie lächelte in die sich abkühlende Sommernacht hinein. Ihren nackten Armen tat die Frische gut. Sie war schon in der spärlich beleuchteten Allee zwischen ihrem Stadtteil mit den alten und neuen Bauten und Kneipen und Läden und den selbst zu dieser Stunde nicht ganz leeren Plätzen, wo Teenager sich in allen möglichen ihr unbekannten Sprachen Geschichten erzählten und auf Deutsch fluchten, und CWs lautloser Villengegend. Am Ende der Allee erschien ein Radfahrer. Sein nackter übergroßer Körper schwebte ihr entgegen, drohend weiß im Mondlicht. Sie hörte seine angriffslustige tiefe Stimme, noch ohne einzelne Wörter erkennen zu können. Ansonsten war die Straße leer, kein Auto, keine verspäteten Gassigänger, nichts und niemand. Die Nachtvögel verstummten, angesteckt von der Angst, die sie durch Lauras Hautporen aufsteigen spürten. Sie hatte keine Möglichkeit, ihm auszuweichen, es gab keine Seitenstraße, fürs Umkehren war es zu spät. Er war schon so nah, dass sie verstehen konnte, was er schrie:

»Sie treiben mit uns ihr grausames Spiel! Sie brauchen unser Leid und unsere Ängste, sie fressen unseren Schmerz und unseren Kummer! Habt keine Angst! Nur so können wir ihnen widerstehen! Sie setzten uns in die Welt hinaus wie Vieh auf die Wiese! Sie züchten unsere Gefühle, um sie zu verzehren! Habt keine Gefühle! Nur so können wir ihnen widerstehen!«

Als der weißlich schimmernde Mann nur in Unterhose und Sandalen vorbei war und seine Worte wieder undeutlich wurden, blieb ihr sein geschwollener, wie von einer Wasserleiche, Leib im Kopf. Und Restzittern in den Knien. Die Vögel wurden wieder hörbar.

 

Laura kam, und Caspar war wieder lieber nach Alleinsein. Andererseits wusste er, dass er sie dann vermissen würde (so was Blödes, wie Dieter gerne widersprüchliche Lagen kommentierte). Nach jedem abgeschlossenen Buch überfiel ihn eine leichte Desorientierung, und so gesehen war an seinem geschwächten Realitätssinn nichts, was er nicht früher erlebt hätte. Er wollte in sein Buch zurück wie ein Neugeborener zurück in den Mutterleib will, in den Leib der später gehassten Mutter. Wofür gehasst? Nur dafür, dass sie ihn gebar? Oder gab es andere Gründe, die er nicht auffassen konnte? Er hatte sich manchmal überlegt, ob er einen Therapeuten aufsuchen sollte, um das herauszufinden. Als seine Mutter noch am Leben gewesen war, war es ihm unangebracht erschienen. Nach ihrem Tod war der Hass verschwunden, nur die unangenehme, das Schuldgefühl ausstrahlende Erinnerung an ihn war geblieben. Kann ein Therapeut durch diese schuldbewusste Leere hindurch etwas erkennen? Die vereinzelten Bilder seiner frühen Kindheit waren unglaubwürdig normal: Sie lächelt und kauft ihm Eis oder pflückt für ihn Beeren im Garten. Vielleicht war es noch nicht zu spät? Nur dafür, dass sie mich gebar?, würde er den Therapeuten fragen.

In der Nacht weckte ihn ein Traum auf: Er läuft mit einem Blechkessel einen Bahnsteig entlang, sein Zug fährt schon, er schafft es nicht, ihn einzuholen. Am Bahnsteig steht ein Blasorchester, aus den Trompeten fliegen braunflüglige Hausmütter heraus. Dieser harmlose Traum hatte die Nachwirkung eines Albtraums. Caspars Haare bewegten sich auf seinem verschwitzten Kopf wie Algen auf dem Meeresgrund. Laura flüsterte im Schlaf einige undeutliche Worte und schlief weiter. Er lag bis zum Morgengrauen schlaflos neben ihr, ging mehrmals auf die Toilette, pinkelte, ohne Licht anzumachen, um der Sauberkeit willen im Sitzen. Vögel, Frösche und Zikaden hatten eine Volksversammlung und wetteiferten um irgendeine Entscheidung, die – wer weiß? – vielleicht auch auf die Weltordnung insgesamt ihre Auswirkung haben würde.

 

Wie jedes Mal hier wurde Laura von den orchesterartigen Tönen aus dem Badezimmer geweckt. CW sang unter der Dusche, schnaufte, putzte sich posaunisch die Nase, klatschte seinen nassen Körper ab, als verbrauche er die gesamte Ausgelassenheit, die ihm für den ganzen Tag zugeteilt wurde, gleich unter der Morgendusche. Laura schlug das mitgebrachte Buch auf.

 

Sogar nach dem Duschen und trotz des Singens verspürte Caspar eine Trägheit, die die Begleiterin seiner jungen Jahre gewesen und später verschwunden war, an die er sich in letzter Zeit aber wieder erinnern musste. Fesselte nicht sie ihn immer mehr an Laura? Die sanfte, willenlose, vor jeder Tat bereits ermattete, gleichsam insgesamt mattierte Laura könnte für ein allegorisches Bild, »Trägheit«, Modell sitzen. Ihn rührte, dass sie einen langen Morgenschlaf brauchte, als wäre sie immer noch ein Teenager. Er wollte sie nicht stören und ging ins Arbeitszimmer.

Die Morgensonne beleuchtete den Staub auf den Büchern (Angelja hatte die strenge Anweisung, auf seinem Schreibtisch nichts anzurühren, das war das Erste, was er jeder Haushalthilfe sagte; seine erste Schreibmaschine hatte das Dienstmädchen seiner Mutter kaputtgereinigt). Je nach Dichte der Staubschicht konnte man sehen, welche Bücher am längsten unberührt geblieben waren und warteten, bis er die Stelle, derentwegen er das jeweilige Buch aus dem Regal genommen hatte, nicht mehr brauchen würde. Sie alle waren aus verschiedenen Anlässen geholt worden, aber, wie es ihm erst an diesem Morgen einfiel, nach einer gewissen Logik zusammengestellt. Sie waren von Menschen geschrieben worden, die keinen richtigen Platz im Leben, kein Gleichgewicht, keine Verankerung gefunden hatten. Sie hatten in der Regel keine Familien gegründet, keine Kinder gezeugt, natürlich keine Bäume gepflanzt und keine Häuser gebaut. Manche hatten nicht einmal eine Geliebte (einen Geliebten) gehabt, oder solche und auf solche Weise gehabt, dass das ihr Leben noch entwurzelter machte; wenn sie verheiratet gewesen waren, dann überdurchschnittlich unglücklich. Wieso hatten ihn Bücher solcher Autoren angezogen, ohne dass er sich dessen bewusst gewesen war? War auch aus seinem Leben ein ähnlich misslungenes Schicksal geworden? Kann man das selbst beurteilen, sieht man das von innen? War er dafür von Anfang an bestimmt gewesen, war es sein Irrtum gewesen zu glauben, dass er ein normales Leben führen könne, das heißt damals, als er jung gewesen war? War das Cordulas Irrtum gewesen? Bezahlte die unschuldige Maria für die Dummheit ihrer Eltern? Mit der tüchtigen Martha hatte er Gott sei Dank nichts zu tun. Oder leider nichts zu tun. Er wandte sich von dem auf seinem Schreibtisch angesammelten fremden Unglück ab und der offenen Schlafzimmertür zu und stockte vor der Perfektion des nackten Rückens der nicht mehr schlafenden, sondern lesenden Laura:

 

Auch sie wird von der Morgensonne beleuchtet, wie sie auf der Seite liegt, den Kopf in die Hand gestützt. So liegend hat jede Frau eine erhabene runde Hüftlinie, sogar die knabenhafte Laura. Ihm fällt ein, dass die beiden Mulden beidseitig der Lendenwirbelsäule höher über den Pobacken sind, als er sie in seinem letzten Buch sein ließ. Mit Entsetzen fragt er sich, wieso er dann »Ausbeulungen in den Pobacken oben« und nicht »oberhalb der Pobacken« geschrieben hat. Freilich ist nicht Laura sein Modell gewesen. Haben bei jener anderen Frau die Grübchen tiefer gelegen? Soll er jetzt versuchen, sie zu erreichen und um ein Treffen zu bitten? Sie würde staunen, und es würde bestimmt peinlich sein, sie würde denken, er wolle an die gewesene Beziehung wieder anknüpfen, und es würde ja auch tatsächlich so aussehen, wenn sein Anliegen wäre, ihren nackten Rücken sehen zu wollen. Er nimmt den schweren Velázquez vom Regal: Dessen Venus vor dem Spiegel hat ihre Lendengrübchen tiefer als Laura, genau wie er sie in seinem letzten Buch beschrieben hat. Also! Die Frage ist, wessen Fehler das nun ist, des großen Malers und seiner oder des Körperbaus der in seinem Bett liegenden Frau aus Fleisch und Blut. Er schlägt noch weitere Alben auf: Bei Rubens sind alle Körper sowieso ein Chaos aus Mulden und Beulen. Die Odalisque von Lefebvre hat ihre Lendengrübchen genauso hoch wie Laura. Unverschämt. Natürlich war der Franzose im Darstellen nackter Frauen viel geübter, er hat kaum etwas anderes gemalt. Trotzdem sind alle korrekten Akte dieser Welt im Vergleich zur schwindelerregenden Venus von Velázquez langweilig. Die Gesetze der Kunst sind höher als die Gesetze der Natur, die sowieso von Jahrhundert zu Jahrhundert umgeschrieben werden. Caravaggios Amor als Sieger mit dem kaum merklich versetzten Geschlecht ist ein klarer Beweis dafür. Erst diese Versetzung macht ihn zu Kunst und verwandelt die niedere Erotik in die höhere. Ebenso verletzen die Flügel des Knaben, über die niemand weiß, wie sie geschaffen wurden, alle Gesetze der Farbenlehre. Er schließt die Augen und stellt sich verschiedene Frauenrücken vor, auch fotografiert, gezeichnet und gemalt. Die Grübchen springen auf und ab. »Ich gehe Zigaretten holen«, sagt er dem Rücken mit den zu hohen Lendengrübchen. »Ich habe noch welche«, antwortet Laura, wie immer hilfsbereit und freundlich, er sagt: »Ich kaufe noch Brötchen zum Frühstück«, und geht, verstimmt, weil dieses Gespräch sein Grübchen-Grübeln gestört hat, wo war ich gerade?

An dem Kiosk in seiner Straße vorbei geht er zu einem anderen, durch den Park, über die Wiese. Alle sich sonnenden Frauen auf ihren Badelaken und Gymnastikmatten tragen ihre Grübchen lauraartig hoch, merklich oberhalb der Badehosen, die freilich alle sehr schmal sind. Manche haben dazu eine breitflügelige Tätowierung: als ruhten Fledermäuse auf ihren Lenden (Martha erzählte ihm einmal, mit einer missbilligenden Kopfbewegung auf ein Mädchen in tiefsitzender Jeans deutend, das Muster heiße »Arschgeweih«). Hat er es also falsch beschrieben? Die Weltliteratur und die Malerei sollen von lauter Missgestalten bevölkert sein, die von den Dichtern und Künstlern als Schönlinge und Schönheiten verkauft werden. Im Himmel der Meisterwerke werden aus diesen merkwürdigen Kreaturen entstellte Engel: mit verrenkten Gliedern, mit Nasen und Nabeln, die an der Körperachse versetzt sind, sie lächeln sinnlos und betasten mit gespreizten Fingern die entgleitende Welt, wie es Maria oft tut, sie verschränken die Flügel statt der Beine und sitzen und sinnen im Vorzimmer der Engelschaft, unfertige Engel, noch hässlich, mehr Vögel als Engel.

Er bemüht sich, nicht daran zu denken, wie die Stelle mit den Lendengrübchen zu korrigieren wäre. Es ist zu spät, das Buch ist raus, die Stelle für die weiteren Auflagen zu verbessern würde bedeuten, aller Welt zu zeigen, dass er nicht weiß, wo sich die Grübchen befinden (dass ich nicht lache, aller Welt! Aller Welt ist das so was von egal! Trotzig antwortet er sich: Ich schreibe für die Ewigkeit. Der ganzen Ewigkeit zu zeigen, dass ich nicht weiß, wo sich die Grübchen befinden). Darüber hinaus und auf jeden Fall und sowieso und ohnehin: Die Möglichkeiten eines Schöpfers zu bestimmen, was mit seiner Schöpfung geschieht, sind begrenzt. Sogar wenn die Figuren ihrem Autor zu verstehen geben können, dass sie sich um seine Aufmerksamkeit bemühen, können sie kaum die Bestätigung bekommen, dass er das bemerkt. Die vermeintliche Gewalt des Autors über seine Geschöpfe wird vom Diktat der eigenen Logik des Werkes (und der jeweiligen Figur) unterbunden. Auch sonst im Leben: Würde der liebe Gott es noch so sehr wollen (aus welchem Grund auch immer), wie könnte er Laura denn von ihrer sanften Unterwürfigkeit befreien? Caspar bleibt stehen, erstaunt, dass er zugleich an Laura und an das erst gestern durch Annelieses Laune entstandene Fräulein S. denkt, als wären sie ein und dieselbe Frau. Um sein Stehenbleiben zu rechtfertigen, öffnet er die eben gekaufte Zigarettenschachtel, zieht eine Zigarette heraus, sucht nach einem Feuerzeug, findet Streichhölzer (drei frohe Türken im Turban werben im Schneidersitz für eine Kneipe in Frankfurt am Main). Er macht das alles langsam, während er zwei sich überlappende Frauenbilder mühsam auseinandernimmt, bis er sieht, dass sie eigentlich keine Ähnlichkeit aufweisen. Darf er Fräulein S. ab jetzt als sein Eigentum betrachten oder hat sich der flinke Junge sie ebenso gemerkt? Über solche Typen pflegte seine Mutter zu sagen: Sein Rollenfach wäre »netter Schwiegersohn«.

Eine Frisbeescheibe landet vor seinen Füßen, er beugt sich zu ihr hinunter und sieht im Aufrichten die spielende Familie, noch junge Eltern, drei Söhne, ein Mädchen in Matrosenkleid im Rollstuhl, das im Mund einen Fächer aus bunten Plastiklöffeln hält und sich nach allen Seiten wendet. Zu ihren Füßen liegt ein roter Cockerspaniel. Sie ist älter als die anderen, ein Erstling. Maria, auch ein Erstling, ist ein Einzelkind geblieben (Halbeinzelkind, sein Einzelkind, nicht Cordulas), wessen Wille das war, dass ich meine Tochter für Jahre aufgab, das kann man heute nicht mehr sagen, ist auch nicht mehr wichtig. Es war natürlich Cordula, die alles entschieden hatte, aber wieso beschäftigt mich das, als wäre es noch immer von Bedeutung, wessen Wille das war. Dass sie so geboren wurde, ist ein Ziegelstein, der vom Dach auf den Kopf eines Passanten (meinen und Cordulas) fällt, kann jedem passieren, gegen den Zufall sind auch Götter nicht gewappnet. Wenn dir ein Ziegelstein auf dem Kopf landet, stirbst du, aber wenn dir zum Beispiel ein Stein aus der Hand eines spielenden Buben das Auge herausschleudert, bleibst du am Leben und hast mit den Folgen zu tun, genauso wie wenn dir Maria geboren wird. All das hat eines gemeinsam: Du findest weder den Sinn dafür noch den Grund.

Das Beispielauge ist einem japanischen Englischlehrer herausgeschleudert worden, dessen Kind blöde ist. Eine Gleichung, die man nicht lösen kann: Auf der einen Seite steht ein in sich geschlossenes sinnloses Zeichen des Unglücks und auf der anderen ebenso. Die sinnlosen, in sich geschlossenen Zeichen können Ursache für weitere Unglücksfälle sein: Die Frau des Englischlehrers wird Alkoholikerin. Das ist kein grundloses, in sich geschlossenes Unglück, weil es einen Grund hat: ein Baby, das blöde ist. Jedoch bleibt das erste Unglück für immer ohne Grund. Was gehen sie mich an, dieser Japaner, sein Kind, seine Frau, was haben sie mit diesem meinem Morgen, mit diesem Spielrasen, mit der wartenden Laura, mit dem Jetzt und Hier zu tun? Sind sie? Gibt es sie? Ich weiß, dass sie nur Phantasiegestalten aus dem Kopf noch eines Japaners sind, den es wirklich gibt und dem tatsächlich so ein Kind geboren wurde. Aber was für einen Unterschied gibt es für mich zwischen dem einäugigen Englischlehrer, der von Kenzaburo¯ O¯e erfunden wurde, und dem Schriftsteller Kenzaburo¯ O¯e, der den Englischlehrer erfand? Sind sie beide nicht jetzt und hier meinem Kopf entsprungen? Sind sie. Auch Kenzaburo¯ O¯e mit seinem Unglück, das er nicht verdrängte, sondern immer und immer wieder in seinen Büchern variierte und einen namenlosen Schreck in einen Sohn verwandelte, den er lieben lernte