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Im Sommer 1914 verbringt der finnische Ich-Erzähler seine Ferien in einem idyllischen Bergdorf in Österreich. Dort lernt er eine Gruppe von Studenten verschiedener Nationalitäten auf ihrer Reise zum Weltfriedenskongress kennen. Obwohl er ihre optimistischen Argumente für den Weltfrieden mit leiser Skepsis betrachtet, beeindruckt ihn der Eifer dieser jungen Menschen. Besonders berührt ihn die Bekanntschaft mit einem Einsiedler, einer lokalen Berühmtheit, der fest an den Weltfrieden glaubt. Beim gemeinsamen Heuen und Schafhüten bringt dieser ihn, den ewigen Zweifler, dazu, über sein eigenes Verhältnis zur Religion und zur Friedensidee nachzudenken. Unterdessen erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, der Konflikt weitet sich innerhalb weniger Tage zum Weltkrieg aus. Das Dorf verfällt in einen patriotisch-militärischen Taumel.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhalt
I
II
III
IV
V
VI
Impressum
Die vorliegende Übersetzung von Juhani Ahos „Rauhan erakko“ basiert auf der Originalausgabe von 1916. Darüber hinaus wurden kursiv markierte Passagen hinzugefügt, die damals von der Zensur entfernt worden waren.
I
Mag es wohl irgendwo sonst so angenehm sein, die Welt zu betrachten und über ihren Gang zu grübeln, wie vor einer kleinen Gaststätte in einem Gebirgstal, auf der Wandbank unter der Dachtraufe? Dort ist es kaum einmal windig und man ist stets vor Sonne und Regen geschützt. Bevor die Sonne so weit sinkt, dass sie unter die Traufe scheinen könnte, wird sie bereits vom Berg verdeckt, und da der Regen unten im Tal fast immer senkrecht fällt, gelangt er von der Seite nicht bis dahin, wo wir sitzen. Ob Regen oder Sonnenschein, immer sitzt dort ein Reisender oder ein Stammgast des Hauses, die Beine unter den Tisch gestreckt, den Rücken an die Wand gelehnt, den Blick nach oben zum Gebirge gerichtet. Selbst die allergewöhnlichsten Gesichter, die allerkältesten und vernünftigsten Augen nehmen dort einen träumerischen, gutwilligen Ausdruck an. Und bevor der Bewohner des Gebirges sich abends zur Ruhe begibt, verbringt auch er dort eine Weile damit, das Leben im Tal vor ihm und die Bewegungen des Alpensees und den Frieden oben im Gebirge zu betrachten, wo ganz zuoberst der Glanz des ewigen Schnees erstrahlt, mal blendend weiß, mal glühend rot.
Dort saßen wir beinahe jeden Tag, einige Reisende – ich bin ein älterer Mann, der seine Urlaubszeit schon seit Jahren mit stillen Bergwanderungen verbringt – zusammen mit den regelmäßigen Gästen des Wirtshauses: dem Pfarrer, dem Postmeister, dem Förster und einigen Bauern von den Nachbarhöfen, die zu einer bestimmten Zeit, kurz vor Sonnenuntergang, eintrafen, um ihr Bier oder ihren Wein zu trinken und sich die Erzählungen der Reisenden anzuhören, ihre Gespräche über die Ereignisse des Tages, über die Weltpolitik und dergleichen mehr. Und es gab ja reichlich Gesprächsstoff und Kannegießerei über die Ermordung des Erzherzogs und das gespannte Verhältnis zwischen Österreich und Serbien …
Vor mir breitet sich die innerste Bucht des Alpensees aus, der zum Talgrund hin schmaler wird. Rundherum ragen die Berghänge nahezu senkrecht auf. Zwischen dem Berg und dem Wasser liegt an beiden Ufern ein Streifen ebenes Land, eine fruchtbare Küste, wo zwischen üppigen Roggenfeldern und duftenden Kleewiesen ein Dorf neben dem anderen sich erhebt, mit von kleinen Wäldern umgebenen Kirchen und Häusern. Gäste des Gebirges aus allen Ländern kommen und gehen – die anderen gehen, ich bleibe, für Tage zuerst, dann für Wochen, wie ich es oft zu tun pflege: Halt zu machen, wenn ich einen Ort gefunden habe, der mir gefällt. Dann scheint es, als könne gerade hier das Ziel meiner ganzen weltlichen Reise sein und als wäre die Welt dort auf den Gipfeln und jenseits der Berge nicht vollkommener und das Leben nicht ergiebiger als hier. Es war, als würde gerade hier das Herz der Welt am wärmsten schlagen, als würde seine Lunge am reinsten atmen und sein Gehirn die klarsten, friedlichsten und glückhaftesten Gedanken hervorbringen, gewissermaßen für mich, zugleich aber auch durch mich. Erst hier und nicht in den Großstädten und Kulturzentren – die ich auf dem Weg hierher besucht hatte und die mich durchaus mit Begeisterung und Bewunderung erfüllt hatten –, erst hier war für mich die Welt so vollkommen, dass man ihr nichts hinzufügen musste. Hier gingen Natur und Kultur Hand in Hand, Arm in Arm – im Tal die Städte mit Fabriken und Institutionen, im Gebirge die karge Natur, die Polargegend in Reichweite. Hier gibt es stetige Abwechslung und Erquickung. Wenn ich von hier weggehe, nehme ich geistige und körperliche Gesundheit mit mir, den Glauben an Glück und Frieden und Wohlergehen und daran, dass alles auf der Welt – zumindest an einem ihrer besten Orte – so ist, wie es sein soll. Das war die ständige Wiederkehr meiner Gedanken. So baute ich wieder und wieder meine Gedanken- und Gefühlswelt auf, wenn sie in Unordnung zu geraten drohte.
Am Fuß des Berges am hintersten Ende des Alpensees befanden sich die Öffnungen zweier Eisenbahntunnel und dazwischen ein in den Fels geschlagenes offenes Gewölbe, durch das die Züge von einem Tunnel in den anderen eilten, so schnell verschwindend, wie sie zum Vorschein gekommen waren. Der internationale Weltverkehr pulsierte dort wie das Blut in der Schlagader. In einigermaßen regelmäßigen Abständen dampfte immer wieder ein Zug in den einen Tunnel hinein und aus dem anderen heraus. Kurz vor dem Eintreffen eines Zuges quoll aus der Öffnung mal schwarzer Rauch, mal weißer Dampf, und ebenso hinterließ ein abfahrender Zug eine Wolke, die kaum verflogen war, wenn sich die nächste bildete.
Es war, als würde das Gebirge dort leben und atmen, als wäre irgendwo in seinem Inneren ein Herz verborgen, das das alte, verdorbene Blut aufsog, um es gereinigt und erneuert zurück in den Organismus der Welt zu pressen, ein unaufhörlicher Wechselstrom von Norden nach Süden, aus der Ebene ins Gebirge und zurück. Diese Bewegung war so regelmäßig wie das Pendel einer Uhr, wie das Pulsieren des Herzens der Natur – das Sprudeln einer unterirdischen Kraft aus einer Quelle, die nicht versiegt, ehe das Leben selbst im Innern des Erdballs erstarrt und ermattet. Sie wirkte mit einer solchen Kraft und Präzision, dass man beim Zuschauen das Gefühl hatte, das Ersticken dieser Schlagader müsse bedeuten, das Leben der ganzen Welt ersticke und gerate in Unordnung. Selbst eine kleine Störung im Betrieb der Züge, eine Lawine, ein Erdrutsch, eine eingestürzte Brücke hatte ja zur Folge, dass alle Glocken läuteten und alle Leitungen heulten, und um sie zu beheben, wandte man alle Kraft auf … Davon und von allem anderen Guten zu wissen, stimmte das Gemüt froh und harmonisch und machte das Dasein sicher. Es war erquickend, darüber nachzudenken, als säße man am Ufer eines Stroms und betrachte das Wirbeln des Wassers.
Es waren wieder neue Menschen in den Gasthof gekommen, eine Gruppe Studenten von einer Universität in der Schweiz, Teilnehmer am Friedenskongress auf dem Weg nach Rom, verschiedener Nationalitäten, Engländer, zwei Deutsche, ein Franzose, ein Russe, soweit ich aus ihrer Sprache schließen konnte, begeisterte, lautstarke junge Leute, die über alles ihre Bemerkungen machten, pausenlos über das sprachen, was sie sahen, zu allem ihre Meinung äußerten. Sie verband außer ihrem Ideal das gemeinsame Ziel der Gebirgsreise, das Bergsteigen in der Gruppe mit demselben Bergführer. Sie hatten bereits mehrere Gipfel erobert und sich hier ein paar Tage ausgeruht. Nun hatten sie vor, eine längere Gletscher- und Gipfelwanderung zu machen und sich, nachdem sie die Berge überquert hatten, von deren Südhängen aus in die ewige Stadt zu begeben.
Vor uns auf dem Tisch stand ein stets fertig aufgebautes Fernrohr, durch das die jungen Männer der Reihe nach die Sehenswürdigkeiten der Umgebung inspizierten. Nachdem der Blick von Berg zu Berg gestreift war, das Wandern des Viehs auf den Alpenweiden verfolgt, das Leben und Treiben in den Bergdörfern am Rand der Steilwand beobachtet hatte, richtete der Betrachter das Teleskop schließlich wieder dahin, wohin es am Anfang gezeigt hatte – um die Züge an der Tunnelöffnung zu verfolgen und zum Zeitvertreib mit der Uhr in der Hand zu zählen, nach wie vielen Minuten ein neuer Zug zum Vorschein käme.
„Es stimmt, was Sie sagten“, gestand mir einer von ihnen, „… dort bewegt sich der Weltverkehr tatsächlich so exakt wie das Pendel einer Uhr – jetzt fuhr der Expresszug nach Rom ab – jetzt kam der Schnellzug nach Berlin –, er bewegt sich wirklich mit fast mathematischer Genauigkeit … alle sieben Minuten heraus und alle sieben Minuten hinein. Und so ist es ja auf der ganzen Welt, von der Kapkolonie bis in Ihr Lappland! In den ferneren Kapillaren bewegt sich das Blut vielleicht langsamer als in den Zentren, aber es bewegt sich doch, dasselbe Blut, regelmäßig, berechenbar, ohne Unterbrechung.“
„Es ist ein schönes Phänomen!“, begeisterte sich ein Zweiter. „Ich finde es nachgerade schön!“
„Regelmäßigkeit, Präzision, Ordnung sind überhaupt die wunderbarsten Phänomene auf der Welt!“, rief ein Dritter. „Je beständiger sie werden, desto harmonischer, desto herrlicher wird die Welt für mich. Wenn das vom Menschen organisierte Leben erst einmal auf der ganzen Welt mit derselben Präzision funktioniert, mit der die Sonne auf- und untergeht …“
„Aber es funktioniert ja schon! Die Sonnenuhr wird von Wolken bedeckt und versagt, aber der Chronometer versagt nie. Die Sonne ist nicht imstande, den Nebel zu vertreiben, in den das Meer einen Überseedampfer hüllt, doch der drahtlose Telegraph tut es bereits.“
„Kann man sich überhaupt eine größere Errungenschaft von Ordnung und Genauigkeit vorstellen als die, dass ein Reisender, der in Wladiwostok aufbricht, sich auf die Minute genau ausrechnen kann, wann er nach der Reise durch Sibirien, Europa, über den Atlantik und den amerikanischen Kontinent in San Francisco ankommt? Das ist ein Triumph der friedlichen Mächte, wie ihn in der Weltgeschichte keine andere Epoche erreicht hat.“
„Man spricht von Gottes heiliger Weltordnung – mit der Betonung auf dem Wort ‚heilig‘“, sagte ein junger Mann, allem Anschein nach ein Deutscher, „aber man sollte von Gottes heiliger Weltordnung sprechen – mit der Betonung auf dem Wort ‚Ordnung‘.“
„Die Erscheinung dort ist als solche höchst ideal!“, rief der zweite Deutsche. „Was dort zwischen den beiden Tunneln geschieht, ist mehr als ein sichtbarer Ausdruck der Weltordnung – es ist ein Abbild der Wirklichkeit gewordenen Weltbrüderschaft, der Zusammengehörigkeit der gesamten Kulturwelt, der Unmöglichkeit von Kriegen und Feindseligkeiten zumindest unter zivilisierten Staaten … es ist das Herz, das dort schlägt.“
„Die Verwirklichung des Traums vom Tausendjährigen Reich auf Erden!“
„Spotten Sie nicht über Träume, Herr Franzose! Sie glauben doch selbst daran, da Sie auf der Reise zum Weltfriedenskongress sind. Die Träume von den Ländern des Glücks werden schneller Wirklichkeit, als man glaubt. Die Verkehrsordnung, in der wir jetzt leben, ist kaum ein halbes Jahrhundert alt – wie wird sie erst in hundert Jahren aussehen! Die unwirtlichsten sibirischen Einöden unseres großen Russland sind dann urbar gemacht, und ihre fernsten Winkel haben Verbindung zu den Lebenszentren in Ost und West, alle Verkehrsgrenzen zwischen Ländern und Staaten sind aufgehoben – ein einziger Fahrplan auf der ganzen Welt! Der Mensch ist in der Welt so zu Hause wie in seinem eigenen Land! Aber das wird zur Folge haben, dass die nationalen Vorurteile verschwinden, dass eine die Völker führende gemeinsame Oberschicht entsteht, die im Interesse der Weltindustrie und des Welthandels die Völker im Geist des Friedens lenkt, und dass die Menschen merken, dass vor allem ihr eigener Vorteil sie zwingt, Brüder zu sein und entsprechend miteinander umzugehen.“
„Dichten wir! Auf Ihr Wohl!“
Der Sprecher lachte auf und schien zuzugeben, dass seine Worte Dichtung waren, doch ein anderer wandte ein: „Warum sollten wir nicht dichten? Ist es keine Dichtung, was bereits existiert: dass wir hier sind und wie wir hierher gekommen sind? Wo waren wir gestern? Ich war in meiner engen, heißen Lesekammer an einer staubigen Straße – ich sprang in den Schnellzug, warf mich auf die Liege, verschlief hunderte Kilometer der Reise und erwachte in einer ganz anderen Welt – hier im Gebirge. Eine Reise, wie man sie früher mithilfe von Reiseberichten, auf den Flügeln der eigenen oder fremder Phantasie machte, unternimmt man nun in der Wirklichkeit in einem Schnellzug, auf einer Federmatratze. Und wenn ich dorthin zurückkehre, bin ich ein neuer Mensch, geistig und körperlich verändert, ebenso wie die Tausenden, die diese Züge befördern. Man hat reine Luft und frisches Blut und Glücksgefühl und Widerstandskraft gegen Verlust und Tod von hier in die verdorbensten Winkel der elendsten Vorstädte gebracht. Wie viel Gesundheit, Reinheit, Nüchternheit, Kraft und Erneuerung trägt diese Schlagader des Verkehrs dort vor uns aus der Lunge des Gebirges in den Organismus des Flachlandes! Unaufhörlich, ohne dass irgendwer den Fluss stören will oder kann! Es ist berauschend großartig! Göttlich! Man sollte die Betonung doch nicht auf das Wort ‚Ordnung‘ legen, sondern auf das Wort ‚heilig‘. Ich kann, ich kann und will nichts anderes sehen, als dass die Menschheit doch schon jetzt in einer Wunderwelt lebt und mit der Geschwindigkeit eines Schnellzugs auf ihr Tausendjähriges Reich zueilt!“
„In dem es keine Störungen geben darf, keine Kriege, keine Krankheiten, keine Pandemien –!“
„In dem auf der ganzen Welt ein gemeinsamer Fahrplan gilt.“
„Nach dem man auch bald fliegen wird.“
„Warum nicht?“
„Auch auf den Mond und zum Mars?“
„Wenn man fähig ist, sich unter Wasser zu bewegen und zu atmen, warum sollte man nicht auch lernen, sich im luftleeren All zu bewegen und zu atmen, mithilfe irgendeiner komprimierten Materie?“
Sie waren in heiterer Stimmung, ein Ideenschlag folgte auf den anderen, sie alle hatten das Bedürfnis, zu glauben und sich zu begeistern, die Wolkenschlösser ihrer Einfälle und ihres rege strömenden Blutes zu errichten, mit der gleichen Spannkraft, mit der der Berg vor ihnen in die Höhe wuchs und erst innehielt, wenn er das blaueste Blau des Himmels erreicht hatte. Sie waren im Urlaub, befreit vom Druck ihres alltäglichen Lebens. Sie mussten sich an den Errungenschaften berauschen dürfen, die ihre Völker jedes für sich geschaffen hatten, einen Turm zum Himmel bauen, so hoch wie die Berge, und von dort das Glück der Menschheit holen – es lag etwas Angenehmes, Mitreißendes und zugleich Beneidenswertes in diesem Gefühl von Befriedigung, Stolz und Trotz, das so häufig hier draußen hervortritt, wo die Menschen sich ihrer Aufgaben bewusst sind, wo der Druck der Machtlosigkeit und der beengten Verhältnisse sie nicht am Sinn aller Bestrebungen zweifeln lässt. Und warum könnten solche edlen Völker nicht tatsächlich ihre höchsten, berauschendsten Pläne verwirklichen! Warum könnten sie mit ihrem Verstand und ihrer Energie nicht alles Denkbare vollbringen, jeden Gipfel erreichen, diese kraftvollen, militärisch abgehärteten, gebildeten, intelligenten, sowohl körperlich als auch seelisch systematisch trainierten Männer … diejenigen, die fähig sind, zu gehorchen und zu befehlen, zu rechnen wie eine Maschine und zu träumen wie eine Hirtenflöte … sich zu fügen, wenn es nötig ist, die Initiative zu ergreifen, wenn es sein muss – sich an ein gemeinsames Seil zu binden und mit vereinter Kraft selbst die schwierigsten Gipfel auf allen Gebieten zu erobern. Die Leine, die jedem von ihnen an der Schulter hängt und die der Gefährte an die Leine des Gefährten knüpft, wenn sie aufbrechen, um die gefährlichsten Gletscherspalten zu überqueren, sich gegenseitig unterstützend, auch sie ist ein Sinnbild für das Band, das die zivilisierten Völker mit ihrer erfolgreichen Tätigkeit verbindet, für die Zusammengehörigkeit, mit deren Hilfe sie alles Bisherige erreicht haben.
Ich vermochte es ihnen nicht so zu sagen, wie ich es gewollt hätte, so sagte ich nur: „Es lebe Ihre Begeisterung und Ihr Glaube, meine jungen Herren!“
„Danke, alter Herr!“, antworteten sie im selben gutwilligen Ton.
Die allabendlichen Bauern waren gekommen und hatten sich zu uns gesellt, an einem Tisch auf der anderen Seite, um ihr Feierabendbier zu trinken. Bald darauf trafen der Pfarrer und der Postmeister ein. Mit wohlwollender, neugieriger Miene hörten sie sich die begeisterten Reden der jungen Männer an. Sie verdrehten gelegentlich die Augen, es war durchaus amüsant, so etwas beim Bier zu hören, auch wenn es sie eigentlich nicht betraf. Die Herrschaften reden so viel … ja … ja … aber lasst sie reden, lasst ihnen ihr Vergnügen, sie zahlen gut, bringen Geld …
Unser Wirt war einer jener zwanglosen, zu allen freundlichen Wirte kleiner Gaststätten im Gebirge, die sich um ihr Hotel und die Bedienung fast allein kümmern, nur von ihren Familienmitgliedern unterstützt, und es zugleich als ihre Pflicht betrachten, ihre Gäste zu unterhalten, immer bereit, ihnen Ratschläge und Informationen über die Sehenswürdigkeiten und Wunder der Umgebung zu geben.
Während er die Gäste bediente, hatte der Wirt mit offenkundigem Interesse das Gespräch der jungen Männer verfolgt und nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich daran zu beteiligen. Als das Fernrohr für kurze Zeit frei war, richtete er es auf einen bestimmten Punkt hoch oben am Berg und sagte: „Ich höre, dass die Herren über das Tausendjährige Reich sprechen. Wenn es die Herrschaften interessiert, können Sie gleich einen Mann sehen, der glaubt, dass das Tausendjährige Reich nicht dereinst kommen wird, sondern dass es bereits angebrochen ist.“
Der Pfarrer räusperte sich und zwinkerte den Bauern zu, als wollte er sagen: Jetzt geht es wieder los!, und die Bauern lächelten verständnisinnig zurück in Erwartung einer Geschichte, die sie bereits kannten.
„Dieser Gasthof ist die einzige Stelle im Dorf, von der aus man seine Wohnstatt sehen kann. Er hat gerade seine Hütte verlassen und geht mit seinem Hund auf dem Pfad nach unten … jetzt ist er hinter einem Felsen verschwunden, kommt aber gleich wieder in Sicht … bitte sehr!“
„Wer ist er?“
„Er ist eine Sehenswürdigkeit“, sagte der Postmeister, „eine der Besonderheiten dieser Ortschaft und vor allem dieser Gaststätte.“
„Zwei Sterne im Baedeker“, spöttelte der Pfarrer und erntete zustimmendes Grinsen von den Bauern.
„Er bedeutet uns etwas.“
Derjenige der jungen Männer, der dem Fernrohr am nächsten saß, blickte hindurch und berichtete: „Da ist tatsächlich am grünen Berghang, knapp über der Baumgrenze, eine aus Steinen aufgeschichtete Behausung, und auf dem Pfad, der von dort nach unten führt, ein barhäuptiger Mann mit langen Haaren, in einer braunen Kutte.“
„Das ist er.“
„Er hat einen großen Hund bei sich … der Hund hält etwas im Maul … es scheint ein Korb zu sein.“
„Er hat weiter unten Ankömmlinge gesehen und geht ihnen entgegen … der Hund trägt Erfrischungen. Das tut er immer“, erklärte der Wirt.
„Ist er ein Bernhardinermönch?“
„Nicht direkt ein Mönch, sondern ein Eremit, ‚der Eremit des ewigen Friedens‘“, sagte der Pfarrer gedehnt.
„Ein heiliger Mann.“
„Der Tolstoi des Gebirges.“
„Wir dürfen nicht boshaft sein, meine Herren“, mischte sich der Wirt ein. Zu unserem Tisch gewandt, sagte er entschuldigend: „Er ist kein wirklicher Eremit, obwohl er fast allein dort lebt, sommers wie winters. Er ist in jeder Hinsicht ein bemerkenswerter Mann. Alle Reisenden, denen es nur möglich ist, besuchen ihn. Er hat Freunde, die jedes Jahr aus Amerika kommen, um ihn zu treffen. Er könnte von ihnen so viel Geld bekommen, wie er nur will, denn unter ihnen sind Millionäre, aber er nimmt keinen Pfennig für sich. Er ist ein guter Mann, unglaublich hilfsbereit und wohltätig. Würde man all die Lasten zählen, die er für uns getragen, die Verirrten, denen er den Weg gewiesen, und die Schafe, die er vor einem Schneesturm gerettet hat … Die hohen Herren und der Pfarrer mögen ihn nicht, weil er ein wenig anders glaubt als sie“, flüsterte er schließlich mir zu, dem Einzigen, der ihm mit ganzem Ohr zuhörte, denn einige der jungen Männer waren bereits aufgestanden und machten sich zum Aufbruch bereit.
„Jetzt kommt er zurück … er trägt einen Rucksack … jemand folgt ihm … und noch einer …“
„Das sind wohl die beiden alten Herren, die heute früh von hier aufgebrochen sind“, sagte der Wirt.
„Und er glaubt, dass das Tausendjährige Reich schon Wirklichkeit geworden ist?“, fragte einer der Gäste, leerte sein Glas und stand auf.
„Und dass es nie mehr Krieg und Streit und Hunger und Teuerung gibt.“
„Das ist seine Überzeugung, Herr Pfarrer. Ist es nicht eine schöne Überzeugung für den, der sie hat? Sollten wir nicht alle versuchen, daran zu glauben, meine Herren? Wie war es denn vor zwei Jahren? Damals befürchtete man einen Krieg, alle glaubten,