Der erste Russe - Lasha Bugadze - E-Book

Der erste Russe E-Book

Lasha Bugadze

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Beschreibung

Es ist die Zeit nach dem verheerenden Bürgerkrieg, mit Mangelwirtschaft, Korruption und Gemauschel. Die junge Generation hat genug von den alten Seilschaften. So auch der Protagonist, ein junger Schriftsteller, der soeben eine satirische Erzählung über die legendäre Königin Tamar aus dem 13. Jahrhundert veröffentlicht hat. Im Zentrum seines Textes steht Tamars unglückliche Heirat mit dem Russen Juri Bogoljubski. Nachdem dieser in der Hochzeitsnacht seine eheliche Pflicht nicht erfüllt, lässt sich Königin Tamar mit dem Segen der Kirche von ihm scheiden. Der "erste Russe" in Georgiens Geschichte wird aus dem Land geworfen. Die Botschaft der Erzählung wird gründlich missverstanden. Der Patriarch, das Oberhaupt der georgisch-orthodoxen Kirche, verlangt einen öffentlichen Widerruf von ihm und als sogar seine Familie und Freunde bedroht werden, steht der Autor vor einer schwierigen Entscheidung. Offenherzig und humorvoll verarbeitet Lasha Bugadze in "Der erste Russe" ein eigenes traumatisches Erlebnis als Schriftsteller und wirft einen Blick hinter die Kulissen der Politik und deren tief greifende Verbandelung mit der Kirche. Die Zeitgeschichte, die er dabei präsentiert, reicht vom letzten Aufbäumen der Sowjetmacht über den Unabhängigkeitskampf, die Saakaschwili-Ära bis hin zum Augustkrieg 2008. "Der erste Russe" ist ein intelligentes und unterhaltsames Lehrstück zu religiösem Fundamentalismus, reaktionärem Nationalismus, Medienmacht und Meinungsfreiheit.

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Es ist die Zeit nach dem verheerenden Bürgerkrieg, mit Mangelwirtschaft, Korruption und Gemauschel. Die junge Generation hat genug von den alten Seilschaften, so auch der Protagonist, ein Schriftsteller, der soeben eine satirische Erzählung über die legendäre georgische Königin Tamar aus dem 13. Jh. veröffentlicht hat. Im Zentrum des Textes steht Tamars unglückliche Heirat mit dem Russen Juri Bogoljubski. Nachdem dieser in der Hochzeitsnacht seine eheliche Pflicht nicht erfüllt, wirft Königin Tamar ihn mit dem Segen der Kirche aus dem Land. Die Satire wird gründlich missverstanden. Der Patriarch, das Oberhaupt der georgisch-orthodoxen Kirche, verlangt einen öffentlichen Widerruf von dem überraschten Autor. Als sogar seine Familie und Freunde bedroht werden, steht er vor einer schwierigen Entscheidung.

Lasha Bugadze verarbeitet auf offenherzige und humorvolle Weise ein eigenes traumatisches Erlebnis als Schriftsteller, wagt einen Blick hinter die Kulissen der georgischen Politik und enthüllt deren tief greifende Verbandelung mit der Kirche. Der erste Russe ist ein brisantes, intelligentes und zugleich hoch amüsantes Gesellschaftsporträt.

»Ich erinnere mich an keinen anderen Autor, der die jüngste Vergangenheit und Literatur in eine solche Synthese gebracht hätte.« Dato Turaschwili

 

 

Inhalt

Vorspann

1 | Geschichtsbuch. Kindheitschronik

Meine Eltern gegen Georgien

Sündenliste. Der Weg der heiligen Nino

Schule. Der Zerfall der Sowjetunion

Das erste Jahr der Unabhängigkeit. Präsidenten

Eine Welt ohne Liebe. Durchsetzungswille im Chaos

Die Kriegsverlierer. Geld in der Tasche des Zugführers

Literarischer Abend. Die Rache am Geschichtsbuch

Der Priester im Flugzeug. Februar 2002

Perversionen. Februar 2002

2 | »Freie Epoche« – Angst vor der Revolution. 2001–2002

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(–2)

(–3)

(–4)

(–5)

(–6)

(–7)

(–8)

(–9)

(–10)

(–11)

(–12)

(–13)

(–14)

3 | »Der erste Russe« – Die ersten Zensoren – Drohungen und Aufruhr. Januar 2002

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(–19)

(–20)

(–21)

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(–23)

(–24)

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(–26)Erster Auftritt im Patriarchat

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(–43)

(–44)

(–45)

(–46)

4 | Revolution – Vierter Auftritt im Patriarchat

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Ich erinnere mich, wie der Mann, der am Eichentisch stand, zwei Dokumente aus der Schublade nahm und lächelnd zu mir sagte: »Das hier«, er legte den Finger auf das linke Dokument, »ist die Erklärung über den Ausschluss aus der orthodoxen Kirche. Wenn du dich nicht öffentlich beim Volk und der Kirche entschuldigst, ist die Heilige Synode gezwungen, dieses Schriftstück zu veröffentlichen, und danach beginnt dein Ausschlussverfahren. Hier steht: ›Er lehnt den lebendigen Gott und die Gesetze der Mutterkirche ab, verhöhnt die Gefühle der Gläubigen, beschimpft und beschmutzt den Glauben orthodoxer Menschen, die Gemeinschaft der orthodoxen Heiligen und das Vermächtnis der Vorfahren der Heiligen.‹ Und hiermit«, er legte den Finger auf das rechte, »bleibst du der Heiligen Synode als verlorener Sohn in Erinnerung, dem Volk und Mutterkirche vergeben haben.«

»Aber nur, wenn wir eine Entschuldigung bekommen«, bemerkte jemand in der Tiefe des Zimmers, der in der dunklen Ecke stehende Archimandrit, »wenn nicht, dann … Anathema.«

»Ist das euer Ernst?«, fragte jemand hinter mir.

»Die Leute sind aufgewühlt«, war die Antwort.

Ausschluss. Anathema. Verlorener Sohn.

Der mit dem Dokument blickte ab und zu verlegen lächelnd zu mir auf, und ich war nicht sicher, ob ihm seine Aussagen selbst unangenehm waren oder er nur einen Tick hatte.

Ich war zu müde und verwirrt, um mit ihm zu scherzen oder höfliche Antworten zu geben.

»Du musst dich öffentlich entschuldigen«, wiederholte der am Tisch ironisch lächelnd und unaufgeregt, »anderenfalls sind die empörten Leute nicht mehr zu beschwichtigen. Heutzutage werden Menschen doch so leicht umgebracht …«

 

1Geschichtsbuch. Kindheitschronik

Meine Eltern gegen Georgien

Meine Eltern hatten von meiner Geburt an nicht mit Lob gegeizt, war ich doch ganze dreiundzwanzig Jahre lang – objektiv betrachtet – lobenswert gewesen. Jetzt jedoch tauchten völlig fremde Leute auf und sagten ihnen, dass dieser dreiundzwanzigjährige Mensch – objektiv betrachtet – nichts tauge und wenn er sich nicht so benähme, wie es sich gehöre, verdiene er nicht einmal die Bezeichnung »verlorener Sohn«.

»Heutzutage werden Menschen ja so leicht umgebracht …«

Auch das bekam mein Vater zu hören. Noch dazu an einem Ort, an dem normalerweise, wenn auch nur anstandshalber, über Tugend gesprochen werden sollte: neben dem Ruhezimmer des orthodoxen Patriarchen.

»Es ist deine Schuld«, sollte der Patriarch später zu meinem Vater sagen, »du hast das Kind nicht ordentlich erzogen.«

Dabei war ich in den Augen meiner Eltern (also auch in denen meines über die Bemerkung des Patriarchen zutiefst verletzten Vaters) – objektiv betrachtet – ein liebes, kluges, gutes, zweifellos ordentliches und begabtes dreiundzwanzigjähriges Kind, ungewöhnlich, schon als Junge allen bekannt als Schriftsteller und somit ein berühmter Jugendlicher, knapp zehn Jahre älter als das junge Land Georgien, ein Kind, dem eigentlich niemand etwas hätte vorwerfen können.

Das Kind meiner Eltern war nicht durch die 90er-Jahre gebrandmarkt: Es streifte nicht zusammen mit den nach Blut dürstenden Kindern der 90er durch die Straßen, sondern schrieb, malte oder sprach (was es seiner Großmutter zufolge schon mit acht Monaten konnte), war ein Karikaturist, konnte jeden beliebigen Menschen parodieren (ohne Rücksicht auf dessen Alter, Geschlecht und Gefühle), sang Opernarien, war in der frühen Kindheit dick (wodurch es nur noch vertrauenswürdiger und sympathischer erschien). Es war begabt, und sein Vater hätte – wenn er die Gelegenheit bekommen hätte oder vielmehr, wenn er sich die Freiheit genommen hätte – jedem, der an seinen Erziehungsmethoden etwas auszusetzen hatte, mit Vergnügen die positiven Eigenschaften des Kindes aufzählen können. Er hätte beispielsweise erzählt, dass es »mit elf Jahren, Eure Heiligkeit, jawohl, mit elf, Hochwürden, mit den Nachbarsmädchen (mit den Mädchen deshalb, weil niemand anderes mitmachen wollte) nichts Geringeres als Goethes ›Faust‹ aufgeführt hat! Versteht Ihr? Mit elf Jahren den ›Faust‹! Bloß eben im Garten, und er selbst spielte Mephisto, den Teufel, Eure Heiligkeit (Entschuldigung, dass ich hier einen der Namen des Teufels erwähnen muss), aber er spielte einen dicken und süßen Mephisto, weil er selbst sehr süß war, sogar beim Darstellen des Teufels, Eure Heiligkeit, wenn er Fausts Geliebter Serenaden vorsang. Übrigens gibt es als Beweis sogar Videoaufnahmen von der Veranstaltung: Es war 1989, Juni, im Hof des Hauses meiner Exfrau, der Mutter meines Kindes, und das Kind rezitiert mit elf Jahren die Texte des Mephisto; ein Scheidungskind, Eure Heiligkeit, aber trotzdem stets mit Aufmerksamkeit bedacht, besonders von den Großmüttern! Es ist ein von den Großmüttern aufgezogenes Kind, die ihm nie etwas Schlechtes und Wertloses beigebracht haben, wie Ihnen unbedacht herausgerutscht ist. Daher ist das etwas anderes – ich bitte um Entschuldigung, es geht hier um ein besonderes Kind. Den Kameramann habe ich, sein Vater, dazugeholt, weil ich merkte, dass da etwas Ungewöhnliches vor sich ging, jawohl, es ist ungewöhnlich, wenn ein elfjähriges Kind ein Theaterstück über eine Abmachung zwischen Gott und dem Teufel aufführt, noch dazu nur mit Unterstützung der Nachbarsmädchen, wenn er mit der Bedeutungsschwere des mit dem Teufel geschlossenen Paktes den ganzen Hof zusammentrommelt, einen von der Tante genähten Frack trägt und uns über die Bedeutung der Seelenrettung aufklärt: Wen sollen wir nicht ordentlich erzogen haben?«

»Schon von Kindesbeinen an ging er auf antisowjetische Treffen«, würden die Großmütter sagen, wenn man sie fragen würde, und eine, die sentimentalste und emotionalste von ihnen, würde sehr entschlossen die Kirchenvertreter angreifen, die das Verhalten des Enkels nun kritisierten: »Mein Enkel war ein durch und durch einzigartiges Kind, sittsam und ordentlich; während andere Kinder schon am ersten Tag ihr Spielzeug kaputt machen (manche können es ja kaum erwarten, dem Teddy oder der Giraffe den Bauch aufzuschlitzen), führte mein Enkel Tetralogien auf, mit den Teddys oder Giraffen, die es in den leer gefegten Spielzeugläden der Sowjetunion nicht zu kaufen gab und die der eine oder andere aus Ländern des sozialistischen Lagers besorgt hatte. Wo andere übermütig wurden und deren arme Eltern schon nicht mehr wussten, womit sie das Kind überschütten könnten, beschäftigte sich dieses Kind von Anfang an mit sich selbst: Es legte sich ein Zeichenbrett auf die Knie, ein Blatt Papier darauf und malte die kompliziertesten Karikaturen, da staunten die Leute! Allein wie seine Gemälde entstanden – bei Menschen (meistens malte er Politiker) begann er mit den Schuhabsätzen und füllte dermaßen schnell und gewitzt das Blatt, dass selbst berühmte Maler verblüfft gewesen wären. Einmal brachte er eine Lehrerin in Schwierigkeiten, vor deren Strenge die ganze Schule zitterte: Die Frau lehrte Deutsch, und als sie anfing, den Kindern irgendeinen Unsinn zu erzählen und die Nibelungen erwähnte, nannte mein neunjähriger Enkel sofort Siegfried, seinen Lieblingshelden, und noch viele andere, von denen die Deutschlehrerin noch nicht einmal gehört hatte. Als er noch ganz klein und noch nicht dick war, nahm ihn der Vater auf die Schultern, und sie hörten zusammen die alten, unter der Nadelberührung kratzenden, aber trotzdem dröhnenden (für mich ein bisschen zu pompösen) Wagner-Schallplatten, das Kind tanzte dem Vater im wahrsten Sinne des Wortes auf der Nase herum! Vater und Sohn waren nicht eine Minute getrennt! Bevor der Sohn selbst lesen konnte, lasen wir ihm Bücher vor, und später ließ er sich den Lesestoff kaum entreißen; er las nicht nur brav Seite für Seite, um zur Belohnung in den Hof gehen zu dürfen (wie die anderen Kinder das taten), und niemand brauchte sich darüber den Kopf zu zerbrechen, womit man ihn beschäftigen könnte. Hatte er sich als Neunjähriger noch einen Welpen gewünscht, kaufte er sich nun auf Kosten meiner Rente zu seinem elften Geburtstag Mozarts Flötenkonzert. Er war ein intellektuelles Kind, aber weder verschlossen noch melancholisch oder boshaft, sondern offen, humorvoll und schon als Kind unterhaltsam. Wir können uns an große Festtafeln erinnern, da saßen viele Leute am Tisch, und dieses Kind, das damit beschäftigt war, andere zu erfreuen, sprach mal mit der von Medikamenten abgestumpften Stimme Leonid Breschnews, mal mit der Stimme Eduard Schewardnadses, den wir alle zu jener Zeit für einen Vaterlandsverräter hielten. Der Vater hatte Verständnis für den Jungen, denn er war wie geschaffen für die Kunst, aber seine Mutter verstand ihn nicht und gab ihn, um den Mann in ihm zu wecken, erst in die Obhut von Skiläufern und Rugbyspielern, dann von Wasserballern, doch das Kind fand keinen Zugang zur kumpelhaften Grobheit der Trainer, denn derartige Ungezogenheit und ungehobeltes Benehmen waren für meinen Enkel noch nie erstrebenswert, und wenn jemand denkt, er habe jemanden beleidigen oder kränken wollen, da irrt derjenige sich gewaltig: Keiner kann behaupten, dieses Kind habe im Laufe seiner dreiundzwanzig Lebensjahre jemals irgendjemanden beleidigt. Das ist eine Ungerechtigkeit!«

Wer weiß, wie viel sie ihnen noch erzählen wollen würde, den Leuten, die uns beim Patriarchen Tbilissis in jenem Raum mit der vergilbten Tapete eingeschlossen hatten und mich mit vorgefertigten Dokumenten mit der Androhung des Kirchenausschlusses oder dem Angebot, als verlorener Sohn zurückzukehren, einschüchtern wollten.

An jenem Tag aber vernahm leider niemand jene Argumente, die meine Vortrefflichkeit bestätigt hätten, die nicht gesprochenen Worte der verzweifelten Großmütter gingen in den Drohungen des Patriarchats unter.

Das Wort »Sünde« war in aller Munde.

Sündenliste. Der Weg der heiligen Nino

Ende der 80er war ich – objektiv betrachtet – frei von Sünde.

Meine Mutter, die versuchte, mich zu körperlicher Aktivität zu mobilisieren (mit Rugby und Skifahren hatte sie bei mir keinen Erfolg gehabt – ich ging hauptsächlich zu den Sitzungen der in der Klasse gegründeten »Nationalen Freiheitspartei« oder widmete mich dem Fernsehen, das während Gorbatschows »Reformen« wiederbelebt worden war), machte mit mir ein eigenartiges, sportlich-religiöses Experiment: Sie schickte mich für drei Tage auf den »Weg der heiligen Nino«, unter Aufsicht meiner vierzehn Jahre älteren Tante.

Einer neuen Tradition folgend, die der Katholikos, Georgiens Patriarch, unter den Reformbedingungen eingeführt hatte, sollten die Leute, sollte die ganze neue Kirchgemeinde, jenen Weg gehen, den die christliche Missionarin der Georgier, die heilige Nino, im vierten Jahrhundert gegangen sein soll, vom Parawani-See in die alte Hauptstadt Mzcheta.

Das war eine große Strecke, ein großes Spektakel und ein großes Abenteuer, das mir weder gefiel noch mich reizte, aber damals hatte ich offenbar noch keine Ambitionen, mich gegen meine Mutter aufzulehnen, und konnte mich daher der dreitägigen Expedition nicht entziehen, zumal sie mich bat, diesen Gang auf dem Weg der heiligen Nino als kulturell-erkenntnisbringenden Spaziergang anzusehen und keinesfalls als sportlich-religiösen (weil ich das Wort »Sport« hasste). Sie belog mich und gaukelte mir vor, ich müsste nicht viel wandern (dabei war das Wandern der eigentliche Sinn der Sache), und falls ich dennoch viel wandern müsste (die Großmütter ereiferten sich, das Kind habe Plattfüße, ihm würden die Füße wehtun), würden sie mich mit dem Auto des Beichtvaters meiner Tante zurückholen (»der Beichtvater meiner Tante« – diese Worte wirkten therapeutisch auf mich). Meine Mutter erwähnte meinen Mitschüler (kein Mitglied unserer schulischen »Nationalen Freiheitspartei«, aber dennoch ein Klassenkamerad), der von seinem mit »Sünden beladenen« Vater auf den Weg der heiligen Nino mitgenommen worden war.

Aber es kam zur Katastrophe: Die Tante wandelte schon eine Woche lang auf dem Pfad, welchen die Heilige, zu der damaligen Zeit zwei Jahre älter als sie, gegangen war. Sie hatte sich unterwegs in Dorfschulen, Flüssen und Seen gewaschen (manchmal mit dem Wunsch oder Vorwand, sich erneut taufen zu lassen), aber dann hatte sie doch die Lust auf die heimische Dusche überkommen, sie hatte sich höflich bei ihrem Priester den Segen dafür geholt und war just in dem Moment nach Hause aufgebrochen, als ich mich – mich auf sie verlassend – zu ihr auf den Weg gemacht hatte.

Ich kam also an und kriegte zu hören: »Deine Tante ist fort. Hier ist nur die Kirchgemeinde.«

Ich war unter fremden Leuten und Geistlichen.

Natürlich weinte ich. Für meine elf Jahre unverhältnismäßig viel, und ich flehte den an, der mich hergebracht hatte (ebenjenen sündenbeladenen Vater meines Mitschülers), das Auto, mit dem wir gekommen waren, solle mich wieder mitnehmen, wenn es zurückführe. Es stellte sich aber heraus, dass dieses Auto (mitsamt seinem Fahrer) kein gewöhnliches Auto war, vielmehr musste es selbst eine Strecke auf dem Weg der heiligen Nino zurücklegen und würde erst dann zurückfahren (falls es den Segen bekäme, mit mir), wenn es mindestens um die zweihundert Kilometer zusammen mit den Betenden zurückgelegt hätte.

Aber wie sollte ich nun diese zweihundert Kilometer überleben und hinter mich bringen?

Das Angenehme war, dass alle mich beruhigten, auch mein Klassenkamerad, der mir unerwarteterweise gleich mitgeteilt hatte, er faste schon seit einem Monat und sei – was die Hauptsache war – noch nicht einmal in die Versuchung gekommen zu masturbieren.

Ich hatte sowieso nicht vermutet, dass er das überhaupt machte, denn ich selbst war in dieser Hinsicht vollkommen frei von Sünde. Wir waren elf, zwölf und ich hatte leichte Zweifel: War bei ihm etwa schon die Pubertät ausgebrochen? Weil ich zeichnen konnte, hatten mich meine Klassenkameraden manchmal gebeten, ich solle »Sex malen«, aber wie hätte ich denn etwas malen sollen, was ich nicht kannte? Ich versuchte es ein paarmal, aber alle bemängelten die Unglaubwürdigkeit meiner Bilder.

Jedenfalls stellte sich heraus, dass mein Klassenkamerad schon seine erste Beichte abgelegt und dem Geistlichen von seiner Hauptsünde erzählt hatte. Er hatte doch nicht etwa gelogen?

Über mangelnde Fürsorge konnte ich mich zumindest nicht beklagen – es schienen alle auf meiner Seite zu sein. Ich aß Fladenbrot, Käse und Tomaten, zeichnete Karikaturen, die mir beruhigende Aufmerksamkeit verschafften, und lauschte den fürsorglichen und rührenden Worten Vater Dawits, des Oberpriesters, was sich therapeutisch auf mein Selbstwertgefühl auswirkte. Ich war froh, dass dieser Mann, der hier die oberste Autorität darstellte, ausgesprochen viel Anteilnahme daran zeigte, dass meine Tante und ich uns so katastrophal verpasst hatten.

Er machte mir Mut genug, dass ich auf die Idee kam, im leeren, akustisch reizvollen Lehrerzimmer der Dorfschule, die von den Pilgern provisorisch als Nachtlager genutzt wurde, so etwas wie eine Arie zu singen (aus dem kürzlich im Hof aufgeführten »Faust«). Ich fühlte mich in dieser Umgebung schließlich sicher und überwand die Angst vor der Fremde, aber dass dies kein passender Ort für Unterhaltung war, darauf wies mich sofort ein junger rothaariger, unrasierter und pausbäckiger junger Mann hin (Vikarsanwärter nennt man solche Leute), indem er die Tür des Lehrerzimmers öffnete, mich aus trüben Augen anblickte und mit einer spröden, brüchigen Stimme einen Verweis aussprach, als wäre er gerade aufgewacht oder hätte lange nicht gesprochen: »Hier wird nicht gesungen, die Leute beten.«

Der rothaarige Mann (oder eher Junge, denn wie ein Erwachsener sah er nicht aus) hatte dunkle Augenringe, und man sah ihm an, dass er im Falle von Widerworten zu strengeren Ermahnungen fähig wäre. Genau wegen solchen »Fremden« wollte ich nicht bleiben. Scheinbar zurückhaltende, aber aggressive Unbekannte, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen.

Natürlich verstummte ich sofort. Der Rothaarige schloss die Tür.

Jetzt war ich wieder unerträglich einsam und schutzlos und wollte deshalb nicht mehr im Lehrerzimmer bleiben, ich öffnete die Tür und ging auf den Flur. Überall lagen Rucksäcke herum. An der Wand lehnten, die Schuhe ausgezogen, in sich selbst versunkene oder einfach nur müde Leute.

Unweit der Schule standen Hütten, die Dorffrauen saßen an den Zäunen und schauten mit einem Lächeln, das Unbehagen ausdrückt, zu dem Priester, der neben einem verrosteten Fußballtorpfosten hockte. Der arrogante Tonfall des Priesters schien den Provinzialismus der Frauen zu unterstreichen, salopp, aber gleichzeitig von oben herab machte er ihnen Vorwürfe: »Nun, wie oft habt ihr wohl eine Abtreibung machen lassen, habt ihr mitgezählt? Zwanzigmal? Vierzigmal?«

Ich wusste schon, was dieses Wort bedeutete, und hielt am Pfosten inne.

»Was gibt es da zu lachen? Ich frage euch ernsthaft!«

Es war noch zur Zeit der Sowjetunion, die Dorffrauen wussten noch nicht, dass Priester solche Fragen zu stellen pflegten. Sie fürchteten sich noch nicht vor deren Gott, hielten sich die schwieligen Finger vor die zahnlosen oder goldzahnbestückten Münder und lachten: »Was der Irre uns für Sachen fragt!«

Der Priester war für sie ein Verrückter.

Aber auch der Priester lächelte – er sprach mit Dorffrauen und wusste, dass er es mit der ungebildeten Sowjetmasse zu tun hatte, noch dazu in der Provinz, in einem meßchischen Dorf; ein Priester zählte zur Elite. So sah er sich selbst, besonders ihnen gegenüber.

»Ihr denkt, Abtreibung ist kein Mord? Marx und Engels können euch dann nicht helfen. Nun, welche von euch ist kirchlich getraut worden? Wer nur standesamtlich getraut ist, wird nicht als Ehefrau gelten, wisst ihr das nicht? So bleibt der Beischlaf sündhaft. Was, ihr glaubt, ich denke mir das aus? Was lacht ihr? Du da, hast du einen Mann?«, fragte er eine von ihnen. Die Frau lachte, winkte ab: »Mensch, lass mich doch in Ruhe.«

»Sag, hast du einen oder nicht?«

»Hat sie, hat sie!«, antworteten die anderen. »Sie hat zwei große Söhne.«

»Hat sie kirchlich geheiratet? Wenn man nicht kirchlich getraut worden ist, dann ist es Hurerei und Schluss. Ich traue dich, wenn du’s noch nicht bist.«

Die Frauen antworteten nicht mehr.

Schon zum zweiten Mal seit meiner Ankunft wurde ich Zeuge einer Geschlechterdiskussion: Erstens hatte mich mein Klassenkamerad wissen lassen, dass er einen Monat »nichts Schlechtes« getan hatte, nun sagte dieser Priester den Dorffrauen, sie seien Sünderinnen, weil sie Kinder geboren hatten, ohne kirchlich getraut worden zu sein. Mir war nicht klar, wer über wen lachte – die Frauen über den Priester oder der Priester über die Frauen?

»Das ist euch doch klar, oder?« Der Priester schaute in meine Richtung und dachte wahrscheinlich, er hätte viel Publikum, aber weil er außer mir niemanden sah, sagte er nur: »Wie soll man diese Leute nur aufklären, wohin soll das noch führen?« Und den Frauen rief er noch nach: »Glaubt ihr wenigstens an Gott?«

Seine Frage wurde vom Wind fortgetragen.

Der Priester stand seufzend auf, obwohl er eigentlich zu jung zum Seufzen war.

Mein Klassenkamerad, sein sündenbeladener Vater und ich übernachteten nicht in der Dorfschule, sondern in einem Bauernhaus, in dem für Gäste vorgesehenen, besonders gepflegten ersten Stock.

Nahezu alle Häuser in georgischen Dörfern haben einen solchen besonderen ersten Stock: Die Bauern selbst schlafen unten in einem kellerlochartigen Halbgeschoss, doch jeder fühlt sich verpflichtet, den ersten Stock möglichst wie einen Schlosssaal auszustatten. Unabdingbare Bestandteile dieses ersten Stocks sind ein muffiger Geruch, ein hohes Bett mit durchgelegenen dicken Matratzen und Schlummerrolle, ein glänzendes Klavier (mit Puppen darauf), auf dem niemand jemals spielt, ein ausziehbarer Tisch und Schwarz-Weiß-Fotos von den toten Eltern (oder Großeltern) an der Wand. Die Toten schauen üblicherweise vorwurfsvoll und finster von der Wand auf einen herab: Denen gefällt es nicht, wenn sich jemand auch nur für einen Tag im ersten Stock einquartiert.

In diesem Haus übernachtete auch mein Beschützer, der Oberpriester Vater Dawit; wenn er zum Abort auf dem Hof ging, übergab er mir ein an einer dicken Kette hängendes Kreuz und nahm es erst zurück, wenn er danach die vom Wasser nassen Hände am Bart abgewischt hatte.

»Sorgst du dich?«, fragte er, wartete jedoch meine Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: »Wir passen auf dich auf, keine Angst, du gehst nicht verloren.«

Ich sagte nichts, obwohl ich mir sehr wünschte, sie würden mir ein Auto organisieren und mich zurückbringen, nach Hause. Gut, dass ich nichts sagte, denn Vater Dawit teilte mir plötzlich eine wichtige Neuigkeit mit: »Morgen ist dein großer Tag, du sollst das Kreuz tragen und unserer Kirchgemeinde vorangehen.«

Ich sollte das Kreuz tragen?

Vater Dawit führte nicht näher aus, was er meinte, er ging zum Halbgeschoss, wo ihn ein Mädchenchor freudig erwartete.

»Vielleicht stellt er dich ganz vorn hin«, erklärte mir mein Klassenkamerad, »an die Spitze.«

Und tatsächlich, als sich die Menschen in Zehnergruppen zum Abmarsch bereit machten, überreichte mir Vater Dawit das ziemlich große hölzerne Andreaskreuz und sagte, ich solle langsamen Schrittes vorangehen.

»So wie du gehst, gehen auch wir«, sagte er.

Anscheinend gab es den Brauch, dass Kinder nach vorn gestellt wurden, auch wenn meine Mutter und meine Tante Vater Dawits Verhalten im Nachhinein mit seiner Beobachtungsgabe und seinen kinderpsychologischen Kenntnissen erklärten: Hätte er mich wie die anderen behandelt, hätte ich mich gelangweilt oder wäre müde geworden, so aber überwog die Begeisterung über die Verantwortung für das Kreuz.

Wie dem auch sei, mein Klassenkamerad hatte sich einen Monat lang zusammengerissen und keine Hand angelegt, und nun latschte er irgendwo hinten in der Masse mit, während mir die Ehre des Vorangehens zuteilwurde.

Es war unglaublich, aber mir folgten so viele Leute (den Weg wiesen mir natürlich die Priester, unter ihnen auch jener, der gestern die Dorffrauen belehren wollte), sogar der rothaarige Priesteranwärter, der mich im Lehrerzimmer wegen des Singens gerügt hatte. Nur wurde das Kreuz mit der Zeit ein bisschen schwer, und der Mönch hinter mir ermahnte mich ständig: »Halte es hoch, Junge, hoch. Dass es jeder sehen kann.« Ich begriff, dass Karikaturenzeichnen und lautes Singen völlig überflüssig gewesen waren, ich konnte anderweitig Aufmerksamkeit auf mich ziehen: Ich hatte das größte Kreuz und dachte, meine Eltern würden verblüfft sein, wenn sie davon erführen.

Das Kind trägt das Kreuz!

Den ganzen Weg hatte ich diese Vorstellung im Kopf, wie begeistert man in der Schule von meinem Auftritt sein würde, was die Mädchen aus der Klasse sagen würden, wie meiner superstrengen Deutschlehrerin der Mund offen stehen bliebe: »Wie, der hat mit dem Kreuz in der Hand das Heer der Gläubigen angeführt?!« Mit welchem Jubel mich die Leute in den nächstgelegenen Siedlungen, sagen wir, in Bordschomi, empfangen, wie mich unsere Führer der Nationalbewegung loben würden – Swiad Gamsachurdia und Merab Kostawa! Sicher hätte mich jener überhebliche Priester, der die Dorffrauen wegen der Abtreibungen beschämt hatte, aufgrund meiner hochmütigen Gedanken gescholten, aber eine Weile träumte ich davon, wie er zum Beispiel auf einer Demonstration einem als Nationalhelden geltenden Dissidenten bekannt gab, wir trügen jetzt aufs Neue das Christentum nach Georgien. »Schauen Sie sich diesen Jungen mit dem Kreuz an!« Ich stellte mir vor, welche Ovationen seiner lauten Verkündung folgen würden. Wir würden uns mit der Demonstration zusammenschließen, ich würde an in Decken eingewickelten Hungerstreikenden vorbei die Stufen emporsteigen und mich mit meinem Kreuz neben die Fahnenträger stellen, meinen Blick über den Pöbel nach hinten zu den Mädchen aus meiner Klasse schweifen lassen, die verliebt von unten zu mir aufschauen würden. Ganz besonders die eine, die ich stumm fragen würde: »Bestimmt bereust du jetzt, dass du mich nicht zum Geburtstag eingeladen hast, stimmt’s?«

Unterwegs tauften die Priester Leute im Mtkwari. In einem der Dörfer, schon kurz vor Bordschomi, hatten Mitglieder unserer Kirchgemeinde eine Diskussion mit irgendeinem bedeutenden Intellektuellen, und es fehlte nicht viel und ein beflissener Oberpriester hätte ihn geschnappt und mit Gewalt zum Fluss geschleppt. Der Heide stellte sich als Physiker heraus, der zusammen mit Frau und Kind in der Nähe von Bordschomi Urlaub machte. Mit ein wenig eigenartigem und blödem Trotz rief er, dass selbst wenn er an die Existenz von Göttern glauben würde, dann nur an die von altgeorgischen, und er behauptete allen Ernstes, das Bekenntnis zum Dali[1]-Kult sei wesentlich wichtiger für das Selbstverständnis der Georgier als der orthodoxe Glaube: »Gerade erwacht der Nationalismus in uns, und deshalb brauchen wir auch einen nationalen Glauben, das ist besser für unser Land!«

Der Heide trug eine Brille mit dicken Gläsern (so eine, die jeder Durchschnittsphysiker Ende der Sowjet-80er hatte) und ein abgetragenes weißes Hemd, unter dem ein lumpiges ärmelloses Unterhemd zu erkennen war. Neben ihm stand eine junge Frau, die Ehefrau, ein zwei- bis dreijähriges Kind auf dem Arm, die verängstigt den skandalösen, patriotischen Ausführungen ihres heidnischen Gatten lauschte. Die Frau merkte, dass ihr Mann möglicherweise bald Prügel beziehen würde.

»Wodurch sollte sich ein Georgier in der heutigen Welt von anderen Nationen abheben? Nur durch die Sprache? Die Schrift? Seine Traditionen?«, fragte der Heide den Oberpriester, der die Diskussion mit ihm vom Zaun gebrochen hatte. »Das reicht nicht. Die Georgier sollten ein vorzeigbares Pantheon der Götter haben, wie wir es schon mal hatten. Natürlich sollte es die Orthodoxie geben, aber warum nicht auch einen Dali-Tempel? Was ist falsch an Armasi[2] – und am Armasi-Kult?«

Der Heide spielte mit dem Feuer: Er diskutierte über den Armasi-Kult mit den Leuten, die einen Monat lang dem Weg jener Heiligen folgten, die ebendiesen Kult zerschlagen hatte.

»Er ist besessen«, sagte jemand.

»Das waren Götzen, sollen die Georgier etwa Satan preisen und ihrer eigenen Religion abschwören?«, schrie ihn der Oberpriester an.

»Man sollte preisen, wen man will, und Religionsfreiheit haben: Man kann in die Kirche gehen oder in die Armasi-Tempel. Für die Welt wäre das interessant zu sehen, sie würden sagen: Wie seltsam, diese historische Nation scheint einen eigenen alten Glauben zu haben.«

»Ist das Christentum etwa nicht alt?« Der Oberpriester ließ nicht locker.

»Lass ihn doch, der ist besessen«, sagten andere.

»Christen sind wir erst seit dem vierten Jahrhundert – genauer gesagt, ihr seid es.« Der Heide brachte den Oberpriester absichtlich zur Weißglut und maßregelte gleichzeitig seine Frau: »Warte, lass mich mit diesen Leuten reden, geht ihr schon mal heim, legt euch schlafen. Schaut mal, wie lange schon halten uns die Ausländer für Russen, fast zwei Jahrhunderte. Und viele wissen bis heute nicht, dass wir eine völlig andere Nation sind … Wir und Russen! Auch die Sprache ist eine andere, die Schrift und die Kultur, kann dann nicht auch die Religion eine andere sein? Warum sollten wir Orthodoxe sein oder Katholiken, wenn wir den Amirani haben!«

»Ich werde dem eine Tracht Prügel verpassen«, murmelte ein Mann neben dem Oberpriester, die Frau fasste ihren Heiden bei der Hand und zog ihn wie ein kleines Kind in Richtung eines heruntergekommenen Landhauses, dabei fing das Kind an zu weinen, aber auch der Oberpriester gab auf, obwohl die Taufe seiner Meinung nach der Kulminationspunkt der Diskussion gewesen wäre.

Der heidnische Physiker war die Ausnahme, denn es wurden alle getauft, denen wir unterwegs begegneten, und deren Familienmitglieder gleich mit – meistens Kinder, Enkelkinder und wegen der Sowjetzeit ungetauft gebliebene Großeltern. Unser pflichtbewusster Oberpriester sagte: »Früher tauften die Eltern ihre Kinder, jetzt taufen die Kinder ihre Eltern.«

In Bordschomi sahen wir uns Tausenden Heiden gegenüber: Schullehrer, ehemalige Parteisekretäre, ehemalige Parteifunktionäre, ehemalige und immer noch aktive Oktoberrevolutionäre, Pioniere, Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Helden der Arbeit, Dorfintelligenzler, Chauffeure und Ärzte …

Sie ließen sich zu zehnt, ja zu Hunderten taufen. Sei es ein Bach, Wasserfall, Kanal oder Fluss, überall standen halb nackte Leute Schlange. Die Frauen gingen im Kleid ins Wasser, die Männer zogen sich ab der Taille aufwärts aus, krempelten die Hosenbeine hoch oder entkleideten sich komplett. Die Priester gingen bis zur Gürtellinie ins Wasser und tunkten (das Wort – tunken – mochten alle) die umstehenden Männer, Frauen und Kinder ohne Umschweife, gekonnt, eilig und irgendwie unfeierlich unter. Sie standen mit durchnässten, beschwerten Soutanen mitten im Wasser und wiederholten freudig, würdevoll und seufzend ein und dieselben Worte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen!« Für viele war es noch ungewohnt, sich zu bekreuzigen, sie schienen sich unbehaglich zu fühlen, wussten nicht, wohin mit ihren Händen, hielten sie mal hoch oder legten sie auf die Brust und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.

Ein allgemeiner Enthusiasmus griff um sich, in den Menschen erwachte ein neuartiger Instinkt. Es war, als wenn sie Teil von etwas Bedeutendem und Besserem würden.

Die alten Frauen und Männer näherten sich jetzt schüchtern lächelnd den im Wasser stehenden starken Riesen mit den nassen Haaren und Bärten (als Täufer brauchte man offenbar eine Menge Kraft), die ihnen neue Bedeutsamkeit schenken sollten. Manche hielten die Taufe sogar für einen Teil von Gorbatschows Reformen und vermuteten, wer sich dem allgemeinen Enthusiasmus nicht anschließe, würde es im weiteren Leben schwer haben. Wer fürchtete, in der Minderheit zu sein, wollte jetzt auf der Seite der Mehrheit stehen, wo sich wiederum die wiederfanden, die jahrzehntelang gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zur Kirche unterdrückt worden waren.

Es gab Leute, die ließen sich vier-, ja fünfmal taufen. Sie liefen mutig ins Wasser und baten die gleichen Priester um ein neuerliches Untertunken. Sie gingen in Gruppen, mit der Familie, ihren nackten Kindern, gebrechlichen Rentnern und auch skeptischen Familienmitgliedern (meist Ehemänner, die von ihren Frauen genötigt worden waren). Selbst wenn einer nur mitgekommen war, um der Taufe eines Verwandten zuzusehen, wurde er nicht dem Heidentum überlassen – sein Kopf wurde garantiert ebenso untergetaucht.

In Mzcheta, in der Nähe von Swetizchoweli, fielen am allgemeinen Tauftag so viele Leute über den Mtkwari-Fluss und den Aragwi-Fluss her, dass im Wasser kein Platz mehr zum Stehen war.

Zum Taufen hatte man auch meinen Großvater mitgenommen, ein extrem passives Mitglied der Kommunistischen Partei und Direktor des wissenschaftlich-technischen Büros des Instituts für Arbeitsschutz, der noch einige Nachbarn mitbrachte. Sie ließen sich gemeinsam in den Fluten des Aragwi taufen.

Von meiner Taufe wusste ich nur aus Erzählungen, denn damals war ich noch kein Jahr alt, und mir hätte auch keiner davon erzählt, hätte nicht der Bart meines jungen Paten Feuer gefangen. Er war Maler, genauso wie mein Vater, und ein aufmüpfiger Student. Er war von der Kunstakademie geflogen, weil er in der Sioni-Kathedrale Messdiener gewesen war, und unheimlich erschrocken über den kleinen Brand (vielleicht dachte er, es seien vom Heiligen Geist gesandte Feuerzungen). Es war der Mann, der sechs Jahre nach meiner Taufe versuchte, ein Tu-134-Flugzeug aus der Sowjetunion zu entführen, und dabei unter ungeklärten Umständen tödlich verletzt wurde.

Jetzt jedoch, immer noch in der Nähe von Bordschomi, dort, wo der Mtkwari-Fluss flacher wurde und sich die Prozessionsteilnehmer zum zweiten, fünften oder zehnten Mal taufen ließen, fand auch ich mich unerwartet im Wasser wieder. »Komm herein, komm tiefer herein«, sagte der nasse, pflichtbewusste Priester, ein Hüne mit zerzaustem Bart- und Kopfhaar. Ich, Enkel meiner Großmütter und ein anspruchsvolles und skeptisches Kind, ging sogar bis zur Hüfte hinein. Der Priester fackelte nicht lange, sobald ich bei ihm war, legte er die Hand auf meinen Kopf und drückte mich fast schon grob und beängstigend unter Wasser. Er tauchte mich, wartete einen Moment, sagte etwas (dasselbe, was er immer sagte), zog mich wieder hoch, tunkte mich noch tiefer und ließ mich noch ein bisschen länger unter Wasser; so lange, dass ich genug Zeit hatte, mich zu fürchten, und so kräftig, dass jeglicher Widerstand zwecklos war. Ich hatte ein seltsames Gefühl: Es war, als verlöre ich unter Wasser das Bewusstsein, für eine Sekunde, anderthalb Sekunden, und erst als ich wieder hochgezogen wurde, kehrte ich als höfliches, ruhiges Kind zum Ritual zurück. Diese neuerliche Taufe blieb mir in Erinnerung, weil ich schon groß war und kein einjähriges Kind wie bei meiner ersten Taufe 1977.

An ebenjenem Ufer des mit taufwilligen Leuten gefüllten Mtkwari stieß meine von meiner Pilgerreise und meinem Heldentum begeisterte Mutter zu uns, ebenso meine Tante und meine über deren Verantwortungslosigkeit verärgerte Großmutter (insgesamt war ich vierzig Kilometer mit dem Kreuz in der Hand gelaufen).

Da ich aber das Kreuz nicht aufgeben wollte, jedoch auch nicht mehr laufen konnte (»Das Kind hat Plattfüße, wollt ihr, dass es unterwegs zusammenbricht?«, hatte meine Großmutter verärgert gerufen), einigten wir uns letzten Endes auf einen Kompromiss: Vater Dawit erteilte mir großzügig die Erlaubnis, das Kreuz ein paar Tage später beim Einzug der Gläubigen in Mzcheta zu tragen, ich solle bis dahin nach Hause zurückkehren und darüber nachsinnen, welchen Weg ich zurückgelegt hatte.

Niemand strahlte in diesem Augenblick mehr Autorität für mich aus als dieser Mann.

Meine Mutter hatte sich zwar wirklich Sorgen gemacht, war aber trotzdem zufrieden mit ihrem Erfolg: Ich hatte für einige Tage nicht ferngesehen, war noch einmal getauft worden, hatte keine Angst gehabt, mit Kleidern ins Wasser zu gehen, hatte mich ein bisschen verändert (dachte sie zumindest) und ein teilweise sportliches, teilweise naturnahes (also männliches) Leben geführt.

»Wieder vorn zu gehen wäre wohl ein bisschen vermessen«, sagte sie, »lass uns einfach nach Mzcheta aufbrechen und ihrem Einzug zuschauen.«

Komisch, aber irgendwie wollte ich gar nicht mehr weg; in den anderthalb Tagen hatte ich mich an den Rhythmus und die Abläufe der langen Prozession gewöhnt, an die Taufen unterwegs, die Diskussionen, das Wohlwollen und die Begeisterung, die uns in den Dörfern entgegenschlugen, und, was die Hauptsache war, an das Gefühl der eigenen Wichtigkeit, mit dem ich nach Achaldaba kam. Ich hatte etwas erlebt, das mich zumindest ein wenig von meinem vorgestrigen Ich unterschied. Meine Tante und ich tauschten wieder – ich kehrte nach Hause zurück, sie zum Prozessionszug. Genauer gesagt, kehrte ich weniger nach Hause zurück als vielmehr zu jener Welt, die ich vor anderthalb Tagen verlassen hatte – zu denselben Stimmen, die der unter den Reformen wiederbelebte Fernseher von sich gab, demselben Geruch, der während des Sommers in den Wohnungen hängt. Drei Tage später, bevor ich darüber meine Reise vergessen konnte, folgte ich den (für unsere Familie typisch) enthusiastischen Frauen nach Mzcheta, wo die Prozession auf dem Weg der heiligen Nino im Hof des Nonnenklosters Samtawro enden sollte.

Der Mann, dessen Foto heutzutage religiöse Kalender, kirchliche Infostände und gläserne Spendenbüchsen von Klöstern oder verschiedenen Stiftungen in Supermärkten ziert, wohnte damals in einer Turmzelle neben Samtawro und verströmte Fischgeruch. Zumindest glaubte ich, dass es Fischgeruch war, weil er zwar kein Fleisch aß, aber Fisch liebte, in Wirklichkeit aber, so wurde mir gesagt, sei es ein »spezifischer Geruch« gewesen, wie ihn nur ein Einsiedlermönch, ein heiliger Narr, haben konnte.

Von ihm hieß es, er habe einst seinen sowjetischen Pass öffentlich verbrannt, Lenin – auch dies öffentlich! – als Satan bezeichnet und sei deswegen in die Psychiatrie eingewiesen worden. Der heilige Narr hatte zwei Särge gekauft – einen für sich, einen für seine betagte Mutter, er traute sich, alles zu sagen, und ungeachtet dessen, dass er manchmal unhöflich war und Leute beleidigte (zu einer Frau sagte er in meiner Gegenwart: »Verpiss dich, du Verführerin«), fanden ihn alle sympathisch. »Wie süß«, sagten sie und schlugen sogleich ein Kreuz, damit diese zärtliche Vertraulichkeit nicht als Sünde ausgelegt würde.

Als die Prozession der heiligen Nino dem Ende zuging und Vater Dawit mit der feierlichen Liturgie begann, sprang ausgerechnet jener Mann, der heilige Narr Gabriel, auf das Kirchenpodest, legte sich die riesigen Pranken auf die Brust und rief erst strahlend, dann erzürnt, der Teufel habe auf einem weißen Flügel gespielt und er, der Mönch, habe der Versuchung zu tanzen nicht widerstehen können.

»Er spielte und spielte, und ich konnte einfach nicht aufhören, ich, ein erwachsener Mann und Mönch, ich lachte und tanzte!«

Es schien, als habe keiner unten in der Menschenmenge erwartet, dass die Prozession solch einen Ausgang nehmen würde, zumindest ich nicht, denn bis dahin war mir noch nie ein tanzender alter Mann untergekommen.

»Wo kommt ihr her? Welchen Weg seid ihr gegangen?« Der Mönch, der offenbar gar nicht so alt war, wie er aussah, lächelte aus dem zahnlosen Mund. »Wer seid ihr?«

Vater Dawit trat gehorsam beiseite und ließ wie ein schuldbewusster Schüler den Kopf hängen.

»Was hat mir der Teufel angetan, und was wird er euch wohl antun, ihr armen Sünder?«, schrie der Mönch und schwebte tanzend auf den Altarraum zu. »Er ist nicht schwach, nein, sehr stark ist er, wenn er mich tanzen ließ, mich, einen Mönch, was wollt ihr dann schon gegen ihn ausrichten?«

Vater Dawit versuchte ihn höflich und so gut er konnte zu beschwichtigen, obwohl der Besessene mit den Händen fuchtelte und so etwas wie ein Knurren von sich gab. Dann aber breitete er theatralisch die Arme aus und legte ihm den Kopf an die Brust, unter den Bart. »Heilige Nino«, sprach er, »heilige Nino«, wiederholte er noch zwei- oder dreimal und schlug ein Kreuz. »Noch ist sie nicht erschienen. Die ganze Nacht hat mich der Teufel tanzen lassen …«

Der Mönch neigte betont demütig und verglichen mit seinem vorherigen Benehmen erstaunlich gehorsam vor Vater Dawit den Kopf.

»Gott segne euch«, sagte jemand hinter mir.

Diese Worte waren dermaßen unpassend, dass plötzlich von allen Seiten ein Zischen erklang:

»Pssssst …«

Das war alles total interessant, zumindest interessanter, als ich gedacht hatte, aber ich wollte trotzdem weg von hier: Diese unbehagliche Atmosphäre, dieser lächerliche und beängstigende Narr, diese Menschenmassen … Es gab so viele Eindrücke, und ich konnte die Geschehnisse hier und auf dem Weg der heiligen Nino überhaupt nicht einordnen. War es wirklich erhebend und positiv, oder passierte hier etwas unerträglich Unnatürliches und Verstörendes um uns herum? Einerseits hatte es mir gefallen, das Kreuz des Apostels Andreas zu tragen und in meinen Träumen auf einer antisowjetischen Demo von Swiad Gamsachurdia oder Merab Kostawa gelobt zu werden, andererseits konnte ich den dummen Physiker nicht vergessen, den Heiden, und seine eingeschüchterte, bleiche Frau mit dem weinenden Kind auf dem Arm, die ihren diskussionsfreudigen Mann am Ende hilflos und verängstigt von der sie umringenden Menschenmenge weggezogen hatte.

Zum meinem Glück endete die Liturgie bald. Meine Mutter, Tante und andere Leute waren jedoch plötzlich der Ansicht, Vater Dawit könne es als Zeichen von Missachtung werten, wenn man ohne Beichte und Abendmahl gehen würde.

»Ist es verwerflich, keine Beichte abzulegen?«, fragte meine Mutter.

Auch ich sollte die Beichte ablegen – die erste Beichte meines Lebens, die der krönende Abschluss eines Marsches über Dutzende Kilometer sein würde, aber ich wusste wirklich nicht, was ich hätte sagen sollen, denn im Gegensatz zu meinem Klassenkameraden hielt ich mich für völlig frei von Sünde – das war ich tatsächlich – und ich hatte keine Vorstellung davon, was zur Hölle ich Vater Dawit auftischen sollte.

Sollte ich mir etwa ihm zuliebe Sünden ausdenken?

»Unmöglich, dass du keine Sünden hast«, sagte die Kommilitonin meiner Mutter, wie alle ihre Geschlechtsgenossinnen unterschwellig verliebt in Vater Dawit, »horch in dich hinein!«

Ich wurde wütend, weil ich mich unter Druck gesetzt fühlte, ganz besonders von meiner Mutter, die so tat, als wäre sie auf meiner Seite, aber gleichzeitig dachte, es könne mir nicht schaden zu beichten. Und außerdem, so sagte sie, könne ich Vater Dawit damit eine Freude machen. Also musste ich mit diesem Mann über irgendetwas reden, damit er sich gebauchpinselt fühlen würde. Wie ich mich schämte, seine Zeit zu verschwenden und ihm irgendwelchen Unsinn aufzutischen: Ich hätte meine Mutter gekränkt, ein Mädchen zum Weinen gebracht, sei frech zu meinem Großvater gewesen …

»Faulheit ist eine Sünde, zum Beispiel«, sagte eine Frau, die auf einem Stein saß und glasige Augen hatte. »Völlerei, Gefräßigkeit …«

Sie zählte Wörter auf, deren Bedeutung ich nicht kannte. Ich war furchtbar verwirrt, weil ich krampfhaft versuchte, mich an Sünden zu erinnern (oder mir welche auszudenken), um einer Beichte würdig zu sein. Ich dachte, ich könnte einfach die Sünden eines anderen aufschreiben – zum Beispiel die meiner Großmutter, die als Kind Katzenbabys ertränkt hatte.

Der Vorschlag, die Sünden aufzulisten, machte die Sache nicht einfacher.

Generell waren damals viele bestrebt, den Geistlichen möglichst viel über ihr Privatleben zu erzählen (am meisten diejenigen, die in Wahrheit gar kein Privatleben hatten), die Leute füllten Seite für Seite mit winzigen, schiefen Buchstaben – sie schrieben und schrieben alle unmöglichen und möglichen Sünden auf, begangene oder nur imaginäre, angelastete oder echte.

Diejenigen, die so einen weiten Weg zurückgelegt und sich jetzt zur abschließenden Liturgie zusammengefunden hatten, legten sich nun Büchlein auf die Knie und sinnierten fleißig über ihre Vergehen. Manche schrieben »Meine Sünden«, andere »Sündenliste«.

Meine Mutter wollte mir beim Schreiben meiner Sündenliste helfen, doch dann fiel mir gerade noch eine echte Sünde ein. Ich hatte mit dem neuen Videorekorder des Nachbarn einen Ausschnitt eines Pornofilms (über das zügellose Leben Katharinas II.) gesehen. Und so schrieb ich zwei Worte ordentlich auf das reine Blatt Papier:

Meine Sünden

Ich fügte eine Nummerierung hinzu:

1.

2.

3.

Dann bekam ich doch Skrupel, eine echte Sünde aufzuschreiben, zerknüllte das Blatt und wandte mich mit einer zurechtgelegten Bitte an Vater Dawit: »Vater Dawit, ich bin das erste Mal hier und bitte Euch um Hilfe.«

Das bedeutete, der müde Priester, der wahrscheinlich nicht einmal wusste, dass ich die Beichte nur als Zeichen der Wertschätzung ihm gegenüber ablegen wollte, musste sich nun Fragen einfallen lassen, die er einem sündigen Kind stellen konnte.

Vater Dawit saß mit gelangweilter Miene neben einer hohen Kommode und schien zu faul, um über meine Sünden nachzudenken.

Endlich überwand er sich und fragte: »Verärgerst du deine Eltern?«

»Ja«, erwiderte ich erfreut.

»Faulenzt du?«

»Ja.«

»Sagst du schlimme Wörter?«

»Ja.« (Dabei tat ich das gar nicht.)

»Hast du jemandem Kummer bereitet? Sagen wir, einem Freund?«

»Ja.«

»Wie?«

»Ja.«

»Wie, hab ich gefragt. Erzähl.«

»Ähm, nun ja … Ich weiß nicht mehr … Gleich fällt’s mir wieder ein …«

»Kommen dir manchmal schlechte Gedanken? Zum Beispiel über einen Menschen, der dich verärgert hat? Dass ihm etwas Schlimmes zustoßen sollte …«

»Ja …«

»… dass er sterben sollte, mal angenommen.«

»Ja … Nein … »

»Tja …«, sagte er nachdenklich.

Irgendwie befürchtete ich, er würde mir jetzt die Frage stellen, mit der er meinen Klassenkameraden dazu gebracht hatte, seine Hauptsünde zu offenbaren. Und wenn er das täte, würden mir garantiert jene sündigen Gedanken in den Sinn kommen, die mir, seitdem ich die pikanten Episoden aus dem Leben Katharinas II. auf Video angeschaut hatte, nicht aus dem Kopf gingen.

Er fragte jedoch nichts dergleichen, sagte nur: »Möchtest du selbst nicht noch etwas hinzufügen?«

Was hätte ich hinzufügen sollen? Ich hatte mich in keiner Weise einer solchen Sünde (wenngleich ich immer noch so meine Zweifel hatte, dass mein Klassenkamerad sie wirklich begangen hatte) schuldig gemacht, an Katharina jedoch wollte ich prinzipiell nicht erinnert werden. Ich weiß eigentlich nicht genau, warum ich Vater Dawit allen Ernstes entgegnete: »Ich habe furchtbare Angst vor Außerirdischen, alle sprechen davon, und ich möchte wissen, gibt es die nun wirklich oder nicht?«

Die Frage war so dermaßen idiotisch und nicht altersgemäß, dass Vater Dawit plötzlich aufhorchte, mich etwas verdutzt musterte (wahrscheinlich versuchte er mein Alter zu schätzen) und bedächtig, mit gesenkter Stimme stockend antwortete: »Weißt du, das musst du auf alle Fälle meiden, auf alle Fälle …«

Was? Die Außerirdischen oder die Gedanken an Außerirdische? Ich war verwirrt.

Ich kniete nieder, Vater Dawit legte die Hand auf meinen Kopf und las ein Gebet.

Ich fühlte, wie er in der Luft über meinem Kopf ein Kreuz schlug.

Schule. Der Zerfall der Sowjetunion

Es ist 1989, ich renne durch den staubigen Schulflur, eine Lehrkraft jagt mich und schreit mir nach, ich solle das Pionierhalstuch umbinden.

Die Lehrkraft atmet schwer – Kinder zu jagen und gleichzeitig anzuschreien macht ihr zu schaffen.

Die Sowjetunion liegt in den letzten Zügen, unsere Schule gilt im Vergleich mit neuartigen und sowjetischen Schulen als relativ liberal, die Pionierhalstücher verbrennen wir schon seit zwei Jahren öffentlich im Schulhof, unsere junge Lehrkraft verfällt in eine solche Hysterie, dass ein Infarkt nahe scheint.

Er brüllt über alle Flure, Klassenräume und alle fünf Etagen: »Bindet die Halstücher um, oder es rollen Köpfe!« Wir aber – die Anführer der örtlichen Nationalbewegung und der »Nationalen Freiheitspartei« – rennen verängstigt herum und sind verwundert, dass uns unsere Lehrkraft, wo niemand die sowjetischen Gesetze befolgt, hartnäckig bittet, das rote Halstuch zu tragen!

Dieser Mann ist ein Despot, ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er einen Klassenkameraden um den Trinkbrunnen jagte. Von seinem Gebrüll gefriert uns das Blut, er ist der letzte Mensch, der bis zum Sanktnimmerleinstag schreien wird: »Ohne Halstuch ist nicht erlaubt!«

Wie peinlich wäre es, wenn er einen von uns Parteiführern erwischen und wie jenes arme Kind vor dem Schulgebäude herumjagen würde! Ich bin der Vizepräsident, vor mir rennt mein Präsident – Klassenkamerad und Dichter –, mein Namensvetter. Wenn dieser Mann uns einholt und einem von uns einen Fußtritt verpasst, müssen wir die Partei auflösen.

Was juckt uns das verwirrte, brüllende Sowjet-Überbleibsel, was ist nicht erlaubt? Was ist nicht erlaubt, Herr Dimitri, Sie pseudomodernisierte, pseudomoderne Lehrkraft? Haben Sie Angst, Ihren Posten zu verlieren? Wozu Halstücher, wenn schon alles erlaubt ist?! Die Sowjetunion zerfällt, die Zeitungen drucken unzensierte Skandalnachrichten. Verbotene historische Fakten nehmen wir so auf, als ginge es um unsere Gegenwart: Lenin hat Syphilis gehabt, Stalin hat Hitler geheime Informationen verraten, Gorbatschows Frau Raissa heißt in Wirklichkeit Rebekka, Breschnew lässt sich von der Wunderheilerin Dschuna kurieren, seine bulgarische Wahrsagerin Wanga hat ihm vor zehn Jahren den Zerfall des Imperiums vorausgesagt, die Bolschewiken haben mehr als zwanzig Millionen Menschen erschossen, während der Verlesung des Vertrages zum Anschluss Georgiens an Russland sind die georgischen Adligen in der Sioni-Kathedrale eingeschlossen worden, der ehemalige Generalsekretär Andropow ist in Wirklichkeit der amerikanische Musiker Glenn Miller gewesen …

Auf drei Fernsehsendern (von denen nur ein einziger einheimisch ist – der Erste Kanal Sowjetgeorgiens) laufen neue Sendungen, wir sehen zum ersten Mal Filme aus dem Horror- und dem seichten Erotikgenre im Fernsehen: Im ersten Fall zersägt eine Frau einen maskierten Mann, im zweiten Fall kniet eine Frau vor einem Mann, öffnet seine Hose und … Und ich bin nicht nur vom unerwarteten Inhalt der Sendungen, sondern auch vom Wandel der Zeiten schockiert und höre nebenbei meinen gebannten Vater sagen: »Au Mann, die sind ja völlig verrückt geworden.«

Meine Großmutter steht mit der Antenne in der Hand beim alten Fernseher und versucht, das flimmernde Bild in den Griff zu kriegen, sie kann die Antenne kaum still halten und schaut auf einem Bein stehend zum Fernseher, aber das Bild ist trotzdem gestört, und sie drischt erbarmungslos und schimpfend auf den Fernseher ein. Es ist ein Paradoxon: Der Schlag bringt den Fernseher zur Besinnung, das Bild wird deutlich.

Der Zerfall der Sowjetunion wird durchs Fernsehen beschleunigt: Alle reden. Alle reden über alles. Alles ist erlaubt, liebe Lehrkraft, du Speichellecker und überflüssiges Überbleibsel, wozu Pionierhalstücher? Die Leute setzen Naturgesetze außer Kraft. Wir, Parteiangehörige und Parteilose, sitzen vor dem Fernsehbildschirm und schauen uns an, wie der Wunderheiler Longo eine Leiche zum Leben zu erwecken versucht: Es ist die Nachtausgabe der Nachrichten, alles spielt sich in einem Leichenschauhaus in Moskau ab, der Tote liegt auf einer Bahre, am Kopfende steht der Wunderheiler Longo und streckt die Hände nach ihm aus, an der Wand stehen die eingeschüchterten Pathologen. Longo wedelt mit den Händen, schnauft laut (seinem Schnaufen lauschen mit angehaltenem Atem zweihundertfünfzig Millionen Sowjetbürger), geht immer näher an den Verstorbenen heran … Und plötzlich – es ist unglaublich! – (»Er ist auferstanden«, sagt mein Vater, eher wütend als erstaunt, »die machen die Leute verrückt«) –, hebt auch die Leiche die Hände, richtet sich auf … Den Pathologen rutscht das Herz in die Hose. Gibt es etwa die Auferstehung von den Toten? In der Sowjetunion, während der letzten Regierungsjahre Michail Gorbatschows werden die Toten wieder zum Leben erweckt. Longo erhält Briefe: »Lassen Sie Nikolaus II. wiederauferstehen«, »Erwecken Sie Stalin wieder zum Leben, er wird die Ordnung wiederherstellen …«

An die Psyche der Kinder denkt keiner; als die Sowjetunion ihrem Ende zugeht, schreibt uns niemand vor, wir sollen nicht mehr fernsehen, pünktlich schlafen gehen, zeitig aufstehen, denn jetzt ist es unmöglich, nicht fernzusehen. Vor nicht allzu langer Zeit gab es Filme aus dem Westen nur einmal pro Woche zu sehen, samstags, in der Sendung »Illusion«, und die schönsten und neuesten nur am Vorweihnachtsabend oder zu Ostern, damit die Leute nicht in die Kirche strömten, wie es schon populär geworden war. Man war in der Zwickmühle: Geh ich zum Gottesdienst, oder schau ich »Illusion«? Geh ich in die Kirche, oder entscheide ich mich für den (zensierten) »Paten«? Damals entschieden sich viele gegen die »Illusion«, fühlten sich nicht mehr verpflichtet, zum achtzehnten Mal »My Fair Lady« anzuschauen, und gingen, zum Leidwesen des Kremls, zu Ehren des Gottes der orthodoxen Georgier in eine funktionstüchtige Kathedrale und schlossen sich auf diese Art der Nationalbewegung an. Die wichtigste und verlockendste Sendung war »Video-Video«, in der die Leute erstmals den »Killer-Cyborg« und die Abenteuer des Muskelprotzes Rambo zu sehen bekamen. Das war das letzte Lockmittel der sterbenden kommunistischen Regierung, das ZK versuchte die Leute mithilfe des Fernsehgottes von den Kirchen wegzulocken, aber zu spät: Uns hielt schon nichts mehr zu Hause, weder ein »Rambo« noch ein teuflisch erscheinender »Jesus von Nazareth« konnte die Demonstrationen verhindern.

Welches Elternteil hätte es gewagt, uns zum Schlafengehen zu ermahnen? Was wäre gewesen, wenn man uns nicht die Freiheit gegeben hätte, so viele neue Dinge zu sehen?

In der Schule verfolgt uns die Lehrkraft, auferstanden wie jene Leiche, und versucht vergeblich, uns zum Umbinden des Halstuchs zu zwingen, nur weiß er selbst nicht, welche Gesetze er durchsetzen will. Wer zu Hause ist, sitzt immer noch vorm Fernseher und lauscht den Befehlen eines auf dem Bildschirm leuchtenden, gewaltigen rundköpfigen Mannes und einzigartigen Wunderheilers: »Ich zähle bis zehn, und euch wird Müdigkeit überkommen.«

Auf dieses Gesicht warten freudig erregt die Kranken (in der Sowjetunion ist jeder krank); die Sendung dieses Mannes läuft zur sowjetischen Primetime – nach der Hauptnachrichtensendung »Wremja«. Die Sendezeit ist einzig seinem Wassermelonenkopf und seinen wie vor Ekel verzogenen Lippen gewidmet. In den tristen Wohnungen beginnt eine tolle Zeremonie: Fünfzig Frauen und Männer fortgeschrittenen Alters, die einen magischen Wunderheiler sehen möchten, nehmen freudig ihre Plätze ein. Diesen Minuten haben sie den ganzen Tag über entgegengefiebert, und nun setzen sie ihre schmerzenden Organe dem neuen Tele-Heiler aus: Magen-Darm, Herz-Kreislauf, Gelenke …

Im Gegensatz zu Longo besteht die Mission des Melonenkopfes nicht in der Auferweckung der Toten zum Leben, sondern in der Heilung lebender Toter. Sieh an, der taucht auch auf – mit an der Stirn zerzaustem kastanienbraunen Haar (»Färbt er das?«, fragt jemand) und mit von fettiger Salbe gelblich glänzenden Wangen. Der Wunderheiler gibt uns auf Russisch zu verstehen, dass er bis zehn zähle und alle in einen heilenden Schlaf fallen würden, und dieser Schlaf sei rein und habe heilende Eigenschaften.

Er zählt langsam, in einem gebieterischen, ruhigen Bariton: »Die Augen werden kleiner … vier, fünf …« Einige sind schon eingenickt. Ruhiges Schnaufen. »Neun, zehn …« Totale Hypnose: in den Nacken gesunkene Köpfe, offene Münder, ein paar Tropfen Speichel, albtraumfreies Schnarchen. Den ganzen Tag über warten sie freudig schwatzend und denken darüber nach, wo sie den charismatischen Bis-Zehn-Zähler hören sollen (ein Ritual ist ebenfalls, zu überlegen, bei welchem Nachbarn während der Wunderheiler-Sendung geschlafen wird), er ist noch nicht mal bis zehn gekommen, und schon schlummern alle. Das millionenfache Zuschauerglück währt nur wenige Sekunden.

Wie prämortalen Auswurf spuckt die Sowjetunion Zauberer aus, Leute, die Außerirdische gesehen haben, und ebenso Leute, die mit den Seelen der Toten sprechen können. Jemand tritt im Fernsehen auf und erzählt entweder, er habe einen Außerirdischen beim Schildkrötensee gesehen oder eine herumspazierende Seele auf dem Plechanow-Prospekt. Auf einer Demonstration heißt es: »Freunde, der KGB hat seine Wunderheiler und vom Teufel Besessenen ausgesandt, um uns einzuschüchtern. Aber wir haben keine Angst, ihre Hypnose wirkt auf uns nicht mehr!«

Wie sollen die Wunderheiler denn wirken? Sollen sie die Bürger von den Demonstrationen nach Hause zerren? Sollen die Zaubermitarbeiter des Geheimdienstes den Zerfallsprozess der Sowjetunion aufhalten?

Das sind ernste Angelegenheiten, darüber witzelt keiner. Nicht umsonst waren mir bei Vater Dawit die Außerirdischen eingefallen: Vor Außerirdischen habe ich Angst. In der Schule bin ich zwar Vizepräsident der »Nationalen Freiheitspartei«, aber, so oder so, nächstes Jahr werde ich zwölf, und deshalb beunruhigt mich vieles, unter anderem auch dieser Mann, der pathologisch brüllende Herr Dimitri, der uns jetzt schlagen möchte und einer wandelnden Leiche gleicht. Jener Leiche, die vor einigen Tagen bei »Wremja« auferstanden war.

Die Lehrerschaft, Intelligenzlerschaft, Professoren- und Lehrerschaft, Wissenschaftler- und Künstlerschaft und alle anderen Körperschaften in der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik ermahnen die Bürger, sie sollen zu Hause bleiben und nicht durch die Straßen streifen. Das Zentralkomitee warnt uns, die sowjetische Miliz warnt uns, die Sicherheitsorgane warnen uns: Es wird eine Tragödie passieren!

Wir gehen in eine deutsche Schule, unsere Schule ist nicht wie andere Schulen – hier wird »Deutsch – intensiv« gelehrt (obwohl der Lerneffekt eigenartig ausfällt: Wir können keinen einzigen zusammenhängenden deutschen Satz sprechen). Wir haben junge (unsowjetische) Lehrer, keine Lenin-Porträts an den Wänden, nur welche von Goethe, Schiller und Wolfgang Borchert (dem Lieblingsdichter unseres Direktors). Wir haben kein Parteikomitee, keine »Rote Ecke« der Komsomolzen (eine Art Sowjet-Kapelle, die es fast in jeder Schule außer in unserer gibt), an den Wänden der Klassenzimmer hängen quietschbunte Plakate und Kalender aus der DDR, keine sowjetischen Losungen wie »Ehre der Arbeit« und »Ehre der Kommunistischen Partei«. Stattdessen an allen Wänden die bunte Aufschrift: Deutsch – intensiv. Das Einzige, was unsere Schule mit den sowjetischen gemeinsam hat, ist ein grimmiger Wachmann und die mit einem Schlüssel abgeschlossenen Toiletten. Es war eine ziemlich große Summe dafür ausgegeben worden, dass stabile (DDR-)Klobecken angeschafft werden konnten, deshalb darf niemand ins Bad, damit die Klo- und Waschbecken ihr unbeflecktes Aussehen behalten. Das Betreten der Toilette durch Schüler kommt deren Verschmutzung gleich: Sie werden sich auf das Klobecken stellen, wer heranreicht, wird ins Waschbecken pinkeln, die Wände werden mit anzüglichen Schmierereien verziert werden (zum Beispiel mit der georgischen Drei-Buchstaben-Bezeichnung für Penis), deshalb liegen die Toilettenschlüssel vermutlich bei der Lehrkraft oder dem Verwaltungsleiter in der Schublade, und außer ihnen wird keiner je erfahren, wer wo pinkelt. Unangenehm wird es nur dann, wenn Nullt- und Erstklässler pinkeln müssen. Die Kinder zappeln, zerren an der Hand der Lehrerin und schreien: »Frau Lehrerin, Frau Lehrerin, ich muss mal klein« (keiner sagt, wenn er groß muss, groß zu müssen ist peinlich). Aber die Lehrerin stellt sich taub, tut so, als höre sie nichts, denn sie hat keine Ahnung, wo ein Erstklässler klein machen soll (den Nulltklässler lässt eine tüchtige Erzieherin letztendlich zum Fenster hinauspinkeln), deshalb versuchen die Schüler es sich entweder zu verkneifen oder sind gezwungen, sich in den Pausen ein sicheres, verschwiegenes Plätzchen zu suchen.

Die Umgebung der Toilette ist ein konfliktreicher Ort. Genau dort, zwischen Lehrerzimmer und Toilette, streitet jetzt die Lehrkraft mit unserer dreiundzwanzigjährigen Erzieherin, die wir damals für sehr alt hielten. Diesmal ist aber nicht der Gang zur Toilette das Streitthema, sondern der zur Demo. Es kursiert das Gerücht, die Lehrkraft habe unsere Lehrerin beleidigt, angebrüllt und zum Weinen gebracht. Wir, die Klassen 7a, b und c, gehen schon seit mehr als zwei Wochen mit unserer Erzieherin zu den Demos, unser Mitschüler, der junge Dichter und Präsident der »Nationalen Freiheitspartei«, versucht jedes Mal, sich zwischen Swiad Gamsachurdia und Merab Kostawa zu postieren, er reicht den Nationalhelden bis zur Hüfte. Danach wiederholt er auf der Schultreppe die Parolen, die er vor dem Regierungsgebäude aufgeschnappt hat: »Boykott den Sowjetwahlen!«, »Lasst uns öffentlich die Pionierhalstücher verbrennen!«

»Wenn ihr das tut, dann breche ich euch die Hände!«, ruft die Lehrkraft, von deren Sorte eine zur gleichen Zeit wahrscheinlich, sagen wir, litauischen, aserbaidschanischen, ukrainischen und russischen Sechst-, Siebtklässlern hinterherrennt, weil das riesige Land überall gleichartig und gleichzeitig zerfällt. Die Lehrkräfte schreien auf verschiedenen Sprachen die gleichen Worte: »Bindet die Halstücher um, sonst brechen wir euch die Hände!«, und millionenfach rennen Kinder verschiedener Nationalitäten, Sprachen, Länder und Vergangenheiten durch die nach Sägemehl riechenden sowjetischen Schulflure – sei es in Tbilissi, Vilnius, Baku, Moskau, denn der Aufruhr ist überall in der Sowjetunion gleich. Millionen Kinder schauen ein und denselben Trickfilm – die unermüdliche Jagd des Wolfes nach dem Hasen. Die Trickfilmmusik kennen Millionen Kinder und werden sie immer wiedererkennen – auch in der Zukunft, wenn die Sowjetunion nicht mehr existiert und die Millionen keine gemeinsame Gegenwart mehr haben.

Jetzt rennen wir vor unserer Gleichartigkeit, den gemeinsamen Gewohnheiten und Regeln davon. Wir rennen vor der Anweisung davon, die in Millionen Schulkindern Hass gegen ihre eigene Notdurft aufkommen lässt (bzw. gegen die Streichholzschachtel, die warm von den zu analysierenden Substanzen darin zur Stuhlprobe dient); wir rennen vor der Anweisung davon, uns allesamt in der ganzen Sowjetunion zweimal im Jahr auf Kopfläuse untersuchen zu lassen, vor der Anweisung, plötzlich in ein komisches Krankenhaus gebracht und von einem Arzt mit Gummihandschuhen an den angstvoll zusammengezogenen Eiern betatscht zu werden – offenbar mit dem Ziel, bei niemandem etwas rachitisch nach oben oder unten Gekrümmtes durchgehen zu lassen (einer meiner Mitschüler musste bis zum Nachmittag bleiben, woraufhin irgendjemand aus der Elternschaft verbreitete, das Kind habe offenbar nur ein Ei).

Die Lehrkraft schreit unsere Erzieherin an: »Schulausfall ist nicht erlaubt, es ist nicht erlaubt, diese Nichtsnutze zur Demonstration mitzunehmen, sehen Sie denn nicht, was draußen passiert?! Es ist nicht erlaubt, die Eltern zu belügen – die Eltern schicken die Kinder zur Schule und nicht auf Demos!«

Lüge! Sogar die Eltern gehen zu Demonstrationen! Die Eltern nehmen uns mit, jetzt ist es nämlich wichtiger, auf Demos zu gehen als auf den Weg der heiligen Nino – es gibt keinen besseren Treffpunkt. Hier geht es uns besser, und wir können mehr bewegen als auf dem Weg der heiligen Nino.

Die Lehrkraft wird hysterisch: »In der Stadt sind Panzer, die Armee ist einmarschiert, das ist der falsche Zeitpunkt für Provokationen, bindet die Halstücher um, stachelt nicht alle auf! Wollt ihr, dass die Schule mit Panzern eingenommen wird?«

Offenbar macht er sich Sorgen um uns. Demnach rennt er uns nicht wütend, sondern beunruhigt nach.

Er hat recht: Auf den Straßen in der Nähe des Regierungsgebäudes stehen Panzer und behelmte Sowjetsoldaten. Die Soldaten sprechen kein Georgisch (georgisch ist nur die Miliz), es kommt uns vor, als läge den Soldaten eine eigenartige, grünliche Farbe auf dem Gesicht. Manche behaupten: »Man flößt denen irgendwas ein, die sind unter Hypnose.« Wieder Hypnose. In der Stadt steht eine fremde Armee.

Am neunten April telefoniere ich meinen Eltern hinterher und finde meine Mutter letztendlich bei einem Freund zu Hause: »Wo bist du? Verbringst du die Nacht dort? Kommst du nicht heim?« Sie waren auf einer Demo gewesen, hatten aber keinen Platz zum Stehen gefunden und waren zu einem Freund gegangen. Platzmangel hatte ihnen das Leben gerettet: Am neunten April, in der Morgendämmerung, startet die Sowjetarmee einen Angriff auf die Demonstration, sie töten die Menschen mit Spaten und Giftgas. Das jüngste Todesopfer ist ein sechzehnjähriges Mädchen, das älteste – eine siebzigjährige Frau. Insgesamt einundzwanzig Tote.

Der neunte April ist eine unserer »Urängste«: Im Fernsehen werden verstümmelte Leichen gezeigt, um die Psyche der Kinder macht sich niemand Gedanken, in Tbilissi wird die Sperrstunde verkündet, ab und zu fährt irgendjemand mit dem Auto vorbei und schreit verzweifelt: »Die Panzer kommen!«, die Sowjetsoldaten töten einen jungen Mann wegen Verstoßes gegen die Sperrstunde – er wird von einer Kugel in den Hinterkopf getroffen, russische Panzer werden von den Balkonen der Hochhäuser mit Kartoffeln, Äpfeln und Tomaten beworfen. Die Soldaten schauen von unten auf die Hochhäuser, wollen sehen, wer die Kartoffeln wirft, vielleicht können sie den Fenstern mit Kugeln Angst einjagen, die Kartoffelwerfer verstecken sich hinter den Balkonen. Diesmal töten die Soldaten niemanden – sie gehen weiter, schwarz gekleidete Frauen vor der Tür des alten Patriarchats kreischen: »Sie bringen uns wieder um, wieder werden hundert Georgier in den Himmel kommen!« Ich habe Angst und schlafe bei meinen Großeltern im Bett, Großvater versucht die ganze Nacht, die »Stimme Amerikas« mit seinem Radio zu empfangen. Die »Stimme Amerikas« verkündet uns unter Rauschen und Lärm die Geschehnisse in unserer Stadt: »Einundzwanzig Menschen – Frauen und Kinder – fielen mit Spaten und Giftgas bewaffneten Sowjetsoldaten zum Opfer. Die offizielle Presse schweigt. Die Zeitung ›Kommunist‹ schreibt, in der Sozialistischen Republik Georgien gebe es einen Arbeiterstreik.« Gorbatschow entsendet seinen Außenminister Eduard Schewardnadse in die trauernde Republik, und auch der trauert, als er auftritt: »Ich habe geweint, alle weinten.« Alle fragen sich, wer den Befehl zum Angriff auf die Demonstration erteilt hat. Wenn alle weinen, wer hat dann gemordet? Der Staatspräsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, erhält den Friedensnobelpreis.