Der erste Zug nach Berlin - Gabriele Tergit - E-Book

Der erste Zug nach Berlin E-Book

Gabriele Tergit

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Beschreibung

In ihrer rasant erzählten Satire »Der erste Zug nach Berlin« – erstmals nach dem Original-Typoskript veröffentlicht – nimmt uns Gabriele Tergit mit ins Berlin der Nachkriegszeit. Die junge Amerikanerin Maud hat noch nicht viel von der Welt außerhalb der New Yorker High Society gesehen. Da bekommt sie die Gelegenheit, eine britisch-amerikanische Militärmission nach Berlin zu begleiten, die den Deutschen endlich demokratische Prinzipien näherbringen soll – eine fabelhafte Chance, vor ihrer Hochzeit noch rasch etwas zu erleben. Die chaotische Gruppe versammelt skurrile Charaktere, unter anderem einen falschen Lord, die sich politisch nicht immer einig sind und darüber so manchen Streit austragen. Und die so glamouröse wie naive Maud muss bald feststellen, dass die Deutschen weder ein Interesse an Demokratie haben, noch daran, von ihr und den anderen Alliierten gerettet zu werden. Wie schon Tergits Erfolgsroman »Effingers« wurde »Der erste Zug nach Berlin« neu herausgegeben von Nicole Henneberg, die die Handlung außerdem in einem Nachwort historisch, biografisch und literarisch einordnet.

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Seitenzahl: 201

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Inhalt

[Cover]

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Nachwort

Glossar

Autor:innenporträt

Herausgeberin

Kurzbeschreibung

Impressum

1. Kapitel

Ich muss sagen, es war ein reiner Zufall, dass ich nach Deutschland kam. Mein Onkel Phipps sollte zu der amerikanischen Mission nach Deutschland gehen und ich war gerade da, als Tante Ketta sagte: »Ich denke garnicht daran, nach Berlin zu gehen. Ich habe mich mit der ganzen Bande für Miami verabredet und ich müsste mir lauter andre Sachen für ein kaltes Land anschaffen.«

»Onkel Phipps«, sagte ich, »nimm mich mit. Ich würde rasend gern mitkommen, ich könnte zum Beispiel Fonds für eine Kantine sammeln oder Kleider für Polen oder Bündel für ausgebombte Engländer.«

»Das ist garnicht nötig«, sagte Onkel Phipps, »komm nur mit. Du kannst chauffieren, eine Schreibmaschine zertrümmern und Photos machen. Dafür kann ich dich gerade brauchen.«

»Vergiss nicht, Onkel Karl, ich bin ein selbstständiger Mensch.«

Anfang Mai verabschiedete ich mich von der ganzen Bande und wir gingen noch mal ins Twenty-one. Ich ging in meinem großen Abendkleid von Chanel zum Aerodrom mit einem Pfauenfächer, das Neueste aus Paris. Ich war die Erste, die ihn hatte. Er wird an einer langen Stange von einem der jungen Leute hinter einem getragen. Meinen trug der Sohn vom Governor Perry. Er war der bestaussehende Junge von uns. Und alle beneideten mich. Er sagte, ich sei eine Närrin, nach dem wilden Europa zu gehen, wenn ich in dem schönen New York mit seinem sanften Klima und noch sanfteren Sitten bleiben könnte. Dass ein Mensch aus Vergnügen nach Europa ginge, habe er überhaupt noch nicht gehört. Er will mich heiraten und wir wollen dann sehr viel Geld ausgeben, denn das ist das, was die Regierung verlangt. Von einem bestimmten Verbrauch an werden die Steuern herabgesetzt. Wenn man fein ist, sagt man: »Unser Haus wird wahrscheinlich vier Jahre zu bauen dauern. Wir wohnen jetzt in einem Flügel.« Man lässt sich die Wände bemalen oder mit Figuren bedecken. Gianetto und Rosenbaum, die jetzt so en vogue sind, brauchen für einen geschnitzten Stuhl mindestens ein halbes Jahr, man kann sich vorstellen, wie lange sie für eine Einrichtung brauchen. Niemand, der irgendwas auf sich hält, kauft Sachen, die am laufenden Band angefertigt werden. Es ist garnicht zu sagen, wie teuer die Sachen dann werden. Gianetto und Rosenbaum stellen ihre Rechnungen so aus, dass sie einem aufschreiben: 2000 Dollar für Lohn, 1000 Dollar Entwurf, macht 3000 Dollar. Mit so einer Rechnung geht man zur Steuer und auf die 2000 Dollar Lohn braucht man keine Steuern zahlen. Seitdem werden kaum mehr große Brillanten gekauft, sondern Ketten mit 100 Splittern, die kunstvolle Formen haben. Frauen von Senatoren zum Beispiel tragen nur noch sogenannten ›Gehörn-Schmuck‹, das sind Schmucksachen, die über 500 Arbeitsstunden gekostet haben von der Firma Gehörn. Auch Bilder werden so gekauft. Die modernen Maler dürfen auf jedes Bild die Arbeitsstunden von zwei Studienjahren drauflegen. Infolgedessen ist Rembrandt sehr im Preis zurückgegangen und wir kaufen alle den Henry Porter, der sehr schöne Bilder malt, aber außerdem zwanzig Jahre studiert hat. Die Bilder kosten einen fast garnichts.

Was aber meine Heirat mit Clark Perry angeht, so sind wir schließlich beide erst 19 Jahre alt.

Als ich ins Flugzeug stieg, brüllten sie alle durchs Megaphon und sangen und trugen kleine Papierkappen und kurz und gut, es war himmlisch. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen Cocktail zu trinken. Neben mir saß ein junger Engländer mit einem merkwürdig unbeweglichen Gesicht, sehr groß, sehr schwarz mit einer Pfeife und in der Eiseskälte des späten März ohne Mantel an Deck. Nur einen Schal und Handschuhe. Es war der 53. Lord Dolgelly, der noch gestern ein Mr. Randall gewesen war, aber glücklicherweise war sein älterer Bruder, der Lord, bei einem der Expeditionsversuche mit Raketen zur Minerva, dem kürzlich entdeckten Planeten, zu gelangen, verunglückt. Er sprach nicht, rauchte und machte auch sonst einen leicht idiotischen Eindruck. Mit ihm war ein dicker Amerikaner, Mr. Merton, the rather vulgar brand of the middle west, log cabin and self made and all that. Nachdem er mich zu mehreren Cocktails eingeladen hatte, sagte er: »Miss Phipps, hier gebe ich Ihnen die Telefonnummer von unserm Fleetstreet office. Wenn Sie eine story haben, just ring up, 700–900 Worte höchstens.« So wurde ich eine Journalistin. Wir kamen gegen Abend in London an und übernachteten dort unglücklicherweise. Das Hotel war ungeheizt. Nach dem ersten März heizen sie nicht. Der Portier war höchst unfreundlich, als ich zu ihm sagte: »Ich bringe Ihnen hier Dollars und dafür möchte ich wenigstens ein geheiztes Badezimmer haben.«

Das Frühstückszimmer bestand an zwei Seiten aus rohen Ziegeln. Wenn ich daran denke, wie Tante Ketta geweint hat, weil Monsieur Lepêtre, den sie sich extra aus Paris hat kommen lassen, die Wände einen Ton zu blau gestrichen hat und dass Onkel Phipps dann einen Prozess wegen des Honorars mit ihm geführt hat und dass wir hier vor nackten Mauern sitzen müssen! Onkel Phipps war auch sehr disgusted. Merton sagte, das Hotel sei schwer gebombt worden, trotzdem es eines der elegantesten von London ist, überhaupt sollen in London auch sehr reiche Leute gebombt worden sein, nicht viel natürlich, aber immerhin, und nachdem man das Hotel wieder in Ordnung gebracht hatte, wurde entdeckt, dass im Holz Schwamm sei und so habe man die Mauer freigelegt, and here we are. Hübsch, wenn das typisch für Europa ist. Dabei gibt es noch immer Leute in Amerika, die von der europäischen Kultur schwärmen. Merton sagte, der Portier sei typisch für das, auf was wir vorbereitet sein müssen, er habe Haus und Familie gebombt bekommen und das ganze Hotel mit seinen ahnungslosen Fremden komme ihm blödsinnig vor.

Wir machten einen Spaziergang zum Piccadilly Circus. Er besteht im wesentlichen aus niedrigen Häusern und Reklamen. Die Hauptreklame war ein John Bull mit einem großen Glas Bier, aus dem sich der Schaum bewegte. Darüber stand in Lichtschrift: »British beer is the best.« Daneben war ein Champagnerglas, das durchgestrichen war, und darunter stand: »Drink Whisky instead.« Neben mir stand ein Verkäufer von Veilchen, der rief: »English violets, English violets«, ein andrer rief: »Guaranteed English teddy-bear. If you press him, he growls in English.« Two gigantic illuminated heads took up the whole of one wall of a house: »The Conservatives have the only true British policy.« Unter dem andern stand: »The only true British are the Socialists.«

Wir gingen dort in ein Restaurant, wo die Speisekarte nur bestand aus Cold Mutton, 2 Veg. and Steamed Pudding.

Merton sagte zu dem Waiter: »Nichts anderes?«

»No«, sagte der Waiter, »we are specialising in English food, we have cabbage und steamed pudding, the whole year round.«

»Thank you«, sagte Merton und wir verließen das Lokal wieder, was ganz schlechter Stil in England ist. »Es gibt Soho«, sagte Merton, der England gut kannte, war er doch einer der beschäftigsten und berühmtesten amerikanischen Journalisten, »dort ist das alte Viertel der Leute vom Mittelmeer und sie kochen vorzüglich.« Wir kamen an eine Straße, über die ein riesiges weißes Tuch gespannt war, und darauf stand: »We are British.« Wir gingen von Restaurant zu Restaurant und überall stand auf den Speisekarten, die draußen hingen: Mutton and 2 Veg. Es hatte nur verschiedene Preise zwischen 1/6 bis 7/6. Schließlich gingen wir in eines der teureren Restaurants und Merton fragte den Inhaber, was denn das bedeute, dass man überall nur Mutton and 2 Veg. zu essen bekomme. Er sagte, das sei Vorschrift: »Wir dürfen alle nur noch Mutton and 2 Veg. kochen. Der Verband der englischen Restaurateure hat bestimmt,

Kein ausländischer Koch darf in England arbeiten. Zunächst 10 Jahre lang.Kein Engländer darf im Ausland oder bei einem Ausländer in England kochen lernen.Kein Engländer darf etwas anderes als englisches Essen kochen.Zuwiderhandelnde werden aus dem Restaurantgewerbe ausgeschlossen und zu Ausländern erklärt.

Es wird überhaupt, so sagte der Restaurantbesitzer in Soho, an Stelle von Gefängnis die Strafe der Entziehung der englischen Staatsangehörigkeit angewendet. Nicht nur wer ausländisch kocht, sondern auch wer ausländisch baut, singt, schreibt, zeichnet, malt, unterrichtet, tischlert, schlossert, Fenster einsetzt, chauffiert und tapeziert, kann aus seinem Verband ausgeschlossen und schließlich auch des englischen Bürgerrechts verlustig erklärt werden. Der Verband der Plumber, um ein Beispiel zu geben, hat die selben Bestimmungen wie die Restaurateure angenommen: »Wer Rohre nicht nach außen verlegt oder irgendwie sonst etwas in Tat oder Schrift gegen das Platzen von Rohren unternimmt, wird aus dem Verband der Plumber als ein Schädling ausgeschlossen. Bei gefährlichem Zuwiderhandeln wird er zum Ausländer erklärt. Zu Ausländern Erklärte können nur in Bergwerken oder als Dienstmädchen arbeiten.«

»Sehr interessant«, sagte Merton, »bei uns in Amerika ist es ja ähnlich. Zum Beispiel in den Hotels müssen die Ausländer erst mal für ein Jahr unter der Erde, im sogenannten basement arbeiten, bis man sie wieder ans Tageslicht lässt. Aber Ausländer ist man eben nur 5 Jahre.«

Nachdem wir unser abscheuliches Essen runtergewürgt hatten, ging Merton mit mir in ein Konzert, in eine Ausstellung von Bildern, die in Europa während der deutschen Besatzung gemalt worden waren. Es war überfüllt. Eine deutsche Sängerin sang Volkslieder auf deutsch, französisch, spanisch und italienisch. Das Publikum war sehr begeistert.

»Ulkig!«, sagte Merton, »das sind die Leute, die alle heute morgen von Gauntlett gelesen haben, dass sie sich nicht mehr um Europa kümmern sollen.«

2. Kapitel

Wir frühstückten am Morgen zu vieren: Merton, der scheußlich aussah mit seinem ungekämmten Bart, einem schmutzigen Kragen und einem Anzug voll Schuppen, ich, Mr. Gauntlett und Mr. Bromwich. Ich hatte mir das Modell Kühler Frühlingsmorgen angezogen, ein zitronengelbes Kostüm mit einem königsblauen Mantel und dazu einen gelben Hut von 20 Inch Höhe. Alle drei Herren, sogar Merton, dem man das garnicht zutraute, sahen mich entzückt an, besonders Bromwich, was was heißen will. Bromwich war ein ziemlich alter Mann, mindestens vierzig Jahre alt, aber ich hätte mich trotzdem in ihn verlieben können. Er sah aus wie ein Hollywood-Star, such ones who escape to happiness mit einem jungen Mädchen und ihre ältlichen Frauen verlassen. Bromwich war immer heiter, immer zu Witzen aufgelegt, der beste Gesellschafter. Er las prinzipiell keine Bücher und ging auch nicht ins Theater. Er war der Mann, der den künstlichen Gummi machte, weil er ihn für besser als den natürlichen hielt und weil doch Amerika nicht seine guten Dollars für etwas wegschicken wollte, das es im Lande machen konnte. Wozu sollte es was von Malaya kaufen, wenn Malaya nichts von uns kaufte? Es war kein Zufall, dass er die schönste Frau von Boston zur Frau hatte. Er konnte ihr wirklich was bieten. Man sagte von ihr, dass sie am allerbesten die neuen ökonomischen Regeln zur Anwendung zu bringen verstünde, sie baute und baute, sie schaffte sich jeden Monat einen neuen Pelz an und sie besaß Garnituren von sämtlichen Edelsteinen: Smaragden, Saphiren, Rubinen, Spinelle, Aquamarine, Granaten, Topase. Sie war so angezogen, dass es keinen Mann gab, der sich nicht in sie verliebte. Sie hatte keine Kinder, trotzdem Kinder wieder anfingen in Mode zu kommen. Aber es war jahrelang immer etwas anderes gewesen.

Erst war die Mode völlig unmöglich für andre Umstände, dann konnte man absolut keine erstklassigen Umstandskorsetts bekommen, dann hatte sie solche Freude am Wintersport, dann hatte sie unausgesetzt Dienstbotenwechsel und schließlich ließ sie es endgültig, als sie eine preisgekrönte persische Katze bekam. Zuletzt war sie allerdings von Haustieren abgekommen und sie hielt sich immer junge Panther, die, sobald sie so alt waren, dass sie ein kleines Kind oder andre Tiere totbissen, an den Zoo abgegeben wurden. Sie hatte schon viel Ärger wegen dieser Panther gehabt, aber es sah todschick aus, wenn sie mit ihnen spazieren ging.

Mr. Gauntlett war recht reizlos im Gegensatz zu Bromwich. Er war der Vertreter des Daily und sollte mit uns nach Berlin kommen. Man sah ihm sofort an, dass er missvergnügt war.

Es gab in England nur noch zwei Zeitungen: Wir bekamen sie beide zum Frühstück vom Hotel geliefert. Mr. Gauntlett sagte uns: »Wir erfassen jetzt 25 Millionen Leser von den 30 Millionen Zeitungslesern, die es überhaupt in England gibt. Wir nähern uns mit Riesenschritten dem Ideal der Einheitszeitung. Eine Meinung, eine Zeitung, ein König, ein Gott!«

»Ausgezeichnet!«, sagte Bromwich, »wir haben zwar noch immer fast 1000 Zeitungen in Amerika, aber im Grunde genommen sind das alles die selbe Zeitung. Eine Zentralstelle in New York und eine zweite in San Franzisko beliefern jede ungefähr 500 Zeitungen mit den selben Artikeln. Nur lokale Ereignisse werden individuell berichtet. Wir haben drei Kommentatoren, die von Zeit zu Zeit, nach vorheriger Besprechung in ihren Meinungen von einander abweichen und sich gegenseitig angreifen. Leser lieben das. Sie nennen das Freiheit der Meinung.«

»Das ist aber ein scheußlicher Zynismus«, sagte Mr. Gauntlett, »das würde in England nicht vorkommen. Wir haben eine echte Freiheit der Meinung. Wenn die Majorität nur eine Zeitung lesen will, so ist es völlig berechtigt, dass wir nur eine Zeitung haben. Es ist dies nur ein Beweis für den English common sense, der allen gemeinsam ist.«

»Und wie ist es bei Ihnen mit dem Film«, sagte Bromwich, »verfilmen Sie nicht auch erfolgreiche Bücher?«

»Natürlich«, sagte Gauntlett, »jedes erfolgreiche Buch wird zuerst einmal dramatisiert, dann verfilmt, dann als Hörspiel bearbeitet.«

»Das ist bei uns genauso. Wir nehmen an, dass ein derartiges Thema von rund 40 Millionen Menschen gesehen wird.«

»Sie sollten nicht so zynisch über die Einheitszeitung in England und Amerika sprechen. Stellen Sie sich vor, was diese Entwicklung für ein Glück für die Menschheit ist! In Russland haben sie ebenfalls die Einheitszeitung! Stellen Sie sich vor, es gibt im Grunde nur noch drei Meinungen in der Welt, denn ich glaube nicht, dass der Zustand in Europa, wo einer den andern befehdet, noch lange weitergeht.«

Merton, der ja immer unhöflich ist, sagte: »Das ist das Resultat, dass alle Leute lesen können.« Und dann nahm er den Daily vor, was ich auch tat.

The Daily hatte als Überschrift: »Slogan of the day: Less Europe More Empire. Unser Preisausschreiben für Empireindeedness.

1. Preis: Eine Reise nach Irland

2. Preis: Ein halbes Dutzend silberner Löffel mit den Wappen der Dominions

3. Preis: Ein halbes Dutzend Aschbecher mit den Wappen der Dominions.

Wir bitten unsre Leser, sich an folgendem Preisausschreiben zu beteiligen: Jeder soll alle Dinge aufschreiben, die wir aus dem Empire bekommen können oder auf die wir verzichten können und die noch immer woanders gekauft werden. Die beste Zusammenstellung wird preisgekrönt.

Beispiel 1) Wir verlangen etwas vom Geiste Cromwells: Waren dürfen prinzipiell nur auf englischen Schiffen nach England gebracht werden.

Beispiel 2) We want no trade outside the Sterling area, we do not want American metal, French perfume or English people to go to tour in Switzerland.«

Wir hatten schon vorher große Plakate am Piccadilly Circus gesehen: »Summerholidays in Canada, Winterholidays in India!«

Das Schweizer Reisebüro war geschlossen und ein Riesenplakat war darüber geklebt: »For Winter sports Canada only.«

Die andre Zeitung, The Manchester Times Observer, zitierte in 25 verschiedenen Sprachen, ein Beweis, was sie vom Bildungsgrad ihrer Leser hielt. Sie brachten Anfragen ihrer Leser über den Lebenslauf des El Greco, eine Diskussion, ob man Aussprüche großer Männer verkürzen dürfe, selbst dann, wenn damit der Sinn des Ausspruchs nicht verändert wird, und einen ausführlichen Artikel über Amerika, aus dem ich viel erfuhr, was mir unbekannt gewesen war, und einen Leitartikel über das selbe Thema.

»Warum?«, fragte ich Merton.

»Sehen Sie«, sagte Merton, »der Artikel enthält nur dates and facts. Der Leitartikel enthält das Urteil über diese Tatsachen. Das ist und war das Grundprinzip jeder echten Geschichtsschreibung und The Manchester Times Observer ist heute die einzige Zeitung der Welt, die dieses Grundprinzip auf die Tagesgeschichte anwendet, das Grundprinzip nämlich, Quelle und Kommentar zu trennen, nach dem schon die größten Geschichtsschreiber der Welt, die großen Griechen Polybios und Thukydides, gearbeitet haben. Vor 2000 Jahren, mein Kind!«

Ich hörte gespannt zu und dachte, wie schön es ist, etwas zu lernen.

Bromwich lachte und sagte: »What a highbrow!«

Gauntlett klatschte Bromwich entzückt Beifall.

»Es scheint mir so, dass doch nicht alle Ihre Ideen teilen«, sagte Merton zu Gauntlett. »Miss Phipps und ich waren heute in einem internationalen Konzert, wo Lieder in allen Sprachen gesungen wurden, und daneben war sogar eine internationale Bilderausstellung!«

»You mean that international brothel which they still have the face to call a ›national‹ Gallery! It’s a scandal. While Mussolini was killing our boys, they were showing Botticelli! And during the worst period of the flying bombs, they exhibited some ›unknown German master‹. And if these fellows ever think of England, what do they show us? Malicious critics like Hogarth and Rowlandson. They stimulate a purely artificial taste in art at the expense of the British taxpayer. I speak as the man in the street. This new frontier business – be it France or Italy or Yugoslavia or Poland – means as little to him as did the dismembering of Czechoslovakia. Our frontiers are not at the Rhine. Our frontiers are at Gibraltar on the one hand, in the Mid-Pacific on the other. England is not part of Europe. England is Asian, African, Australian, American but not, not, not European. We, the architects of the German defeat, have a right to our own way of life. We are not going to be forced into Europe. Not we!«

»Er sieht eigentlich recht gewöhnlich aus«, dachte ich, »genau so gewöhnlich wie Merton.«

3. Kapitel

Wir hätten von London bis zur deutschen Grenzenur in einem der englischen Flugzeuge fliegen können, die noch dazu nur eine Klasse haben.

»Das verdanken wir unsern Herrn Idealisten«, sagte Bromwich. Er meinte, dass wir kein amerikanisches Flugzeug benutzen konnten.

Ein Russe, der bei uns stand, missverstand ihn und meinte, das bezöge sich auf das Einklassensystem, und sagte: »Was wollen Sie? Das ist das, was sich die Engländer unter Marx vorstellen. Missverstandener Marx! Ich fahre mit einem Schiff. Das hat noch Erste Klasse.«

»Werden wir auch tun«, sagte Bromwich.

Wir erfuhren, dass wir innerhalb Deutschlands nur mit der Eisenbahn fahren konnten, weil die Sache mit dem Flugverkehr über Deutschland immer noch nicht geklärt war. The British Olive Leaves hatten mit den Red Eagles verhandelt wegen eines Luftmonopols über Westeuropa. Die amerikanischen Peace Pigeons, hinter denen Bromwich stand, waren darüber sehr empört. Bromwich, der freien Wettbewerb aller für die fairste Ökonomie hielt, hatte eine große Subvention erhalten, um der Allerbilligste zu sein, und er erklärte, dass die Verteuerung eines Verkehrsmittels höchst unsozial sei.

Tante Ketta hatte noch am letzten Abend zu Onkel Phipps gesagt, es ginge doch nicht, dass man den Olive Leaves Landerecht in Amerika gäbe. Wie käme denn Amerika dazu? Sie betrachte das als eine Verletzung der staatlichen Hoheitsrechte, die doch jedem Patrioten heilig seien. Es seien immer diese New-comers mit den funkelnagelneuen amerikanischen Pässen, die eben noch immer ihre allegiance zu dem dummen Europa hätten, die Amerika in diese Konflikte ziehen. Und kein Mensch könne wissen, was speziell die Olive Leaves angehe, ob nicht eines Tages ein paar tausend Engländer aus der Luft landen, die amerikanischen Stützpunkte besetzen und sich Amerika zurückholen. Sie habe da ihre großen Verdächte. Die Besetzung durch die Engländer habe nur ein Gutes. Sie würden sofort die Einwanderung sperren. Die hätten einen Sinn für gute Gesellschaft und hüteten sich, Krethi und Plethi in ein Land zu lassen. Tante Ketta sagte, sie wähle als nächsten Präsidenten nur einen, der endlich die blödsinnige Einwanderung aufhebe. Welches Land in der Welt lasse sich das noch gefallen? Und sie sei für Henderson-Brittles: »African to African, Jew to Jew, female bird to male bird and Anglo-Saxon to Anglo-Saxon.«

Wir stiegen also in eine Eisenbahn. Für mich war das höchst amüsant. Es ist viel bequemer als Flugzeug oder Autoreisen. Ich bin natürlich noch nie in einer Eisenbahn gefahren. Man sitzt in bequemen Sesseln, immer drei oder vier auf einer Seite, man hat gute Luft und man sieht die Landschaft, da es ja ganz langsam geht. Wie angenehm muss doch das Reisen vor hundert Jahren gewesen sein, man müsste es wieder einführen. Ich werde unsern Kreis überreden, dass Eisenbahnen das Schickste sind, und wir werden sie alle benutzen.

»Großartig«, sagte Bromwich, der hinter der Upper Western steht, »vielleicht steigen dann Eisenbahnaktien wieder.« Interessant war es auch, dass unser Zug aus holländischen, deutschen, schweizer und italienischen Wagen bestand. Aber das wird nicht mehr lange dauern. Es ist ja auch nicht mit der nationalen Ehre vereinbar. Man wird an jeder Grenze in die Waggons des betreffenden Landes umzusteigen haben.

Unser Wagen, voll von Ausländern, war an einen gewöhnlichen Zug angehängt. In unserm Coupé waren Lord Hawks, der Leiter der englischen Kommission, lang, dünn und sehr alt, rauchte Pfeife, sprach kein Wort und machte auch sonst einen idiotischen Eindruck, der 53. Lord Dolgelly und eine ungewöhnlich schöne Engländerin von etwa 27 Jahren. Sie hatte eine ideale Figur, so wie man sie kaum in einem andern Land findet, und das nennen sie in England stock size! Sie war sehr groß und hatte einen Kopf mit rotblonden Haaren, einem Teint, der von Natur so war, wie sie ihn in Amerika künstlich zu machen versuchen, und große blaugraue Augen. Ein Wunderwerk der Natur! Sie hieß Miss Battle-Abbey und war die Enkelin eines Viscounts, der sozusagen das Manhattan von London besaß und unermesslich reich war, weil er von einem Mann abstammte, der von den Römern als ihr Vertreter für die Verwaltung der Londoner City eingesetzt worden war, als sie abzogen. Da sie dann nie wieder gekommen sind, hatte also dieser Prätor die City als sein Eigentum übernommen. Man kann sich vorstellen, was die Wertsteigerung der Grundstücke und die aufgelaufenen Zinsen in so einer Familie an Reichtum bedeuten. Dolgelly war der Urenkel von einem Berater der Queen Elisabeth, der seinerseits der Enkel von vielen Generationen von Seeräubern war.

Die schöne Miss Battle-Abbey sagte, dass sie sich ungemein auf Deutschland freue: »Eine feste Hand ist die Hauptsache. We had the most wonderful way with all these foreigners in London during the war. We taught them our English ways of life. It made a great impression on them. I know how to handle aliens.«

Merton hatte seinen Hut im Nacken, war in Hemdsärmeln und hatte beide Hände in den Hosentaschen: »That is no time for good works and charitable institutions«, sagte er grob, »the happiness of the world is at stake. You should know that ›to be or not to be‹ is the question for the western democracies.«

Bromwich lächelte Miss Battle-Abbey zu und sagte: »What big words!«

Lord Hawks sagte – seine Lordship öffnete zum ersten Mal seinen verehrten Mund: »The charm of a faultless beauty can achieve a great lot, my dear friend.«

Merton nickte ihm vertraulich zu. Ich hatte das Gefühl, dass Merton dem Lord sympathisch war.

Natürlich war das Hauptthema wie schon im Flugzeug die Ostgebiet-Frage. Es hängt einem schon zum Halse raus. Es gibt ein Komitee in New York, in das ich berufen werden sollte zur Erlösung der Ostgebiete.

Merton erzählte, dass er nach Ostpreußen und Schlesien und der Tschechoslowakei fahren wollte, um sich selbst ein Bild zu machen. Er hatte nicht die Erlaubnis bekommen.

»Wir sind völlig uninteressiert an Europa«, sagte Gauntlett, »und Amerika noch mehr. Es interessiert, es interessiert, es interessiert uns, uns, uns nicht, und wir verlangen, dass gewisse Elemente endlich aufhören sollen, an Russland zu mäkeln.« Dabei sah er den 53. Lord an. »Wir wünschen uns Russland zum Freund. Und wir wünschen nur, dass England so englisch wäre wie Russland russisch ist. Aber gewisse Herren glauben, sie könnten auf Grund ihrer Herkunft es sich leisten, auf Patriotismus zu verzichten. Jeder weiß, dass Sie, Mr. Merton, kein Antifaschist sind. Und was wollen Sie denn allein da viel sehen? Die Polen sind völlig glücklich, genau wie die Jugoslawen, Tschechen, Ungarn, Ruthenen, Slowaken, Bulgaren, Rumänen. Noch nie sind die Balkanvölker so glücklich gewesen. Sie geben einen East European Observer auf englisch heraus. In der Redaktion sitzen ein Serbe, ein Kroate, ein Tscheche, ein Slowake, ein Bulgare, ein Rumäne, ein Ungar, ein Ruthene. Lesen Sie das Blatt, ich bitte Sie, lesen Sie das Blatt. Hier: Fortschritte des Schulwesens in Ostgalizien. Größere Anzahl von Traktoren als Amerika! Volkstänze bei den Baschkiren. Professor Pawlows Versuche.«

»Ich möchte aber selber sehen, was los ist!«, sagte Merton.