Vom Frühling und von der Einsamkeit - Gabriele Tergit - E-Book

Vom Frühling und von der Einsamkeit E-Book

Gabriele Tergit

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Beschreibung

Die Gerichtsreportagen, die Gabriele Tergit ab 1924 für den Berliner Börsen-Courier, ab 1925 für das Berliner Tageblatt und ab 1929 auch für die Weltbühne in der ihr eigenen literarischen Sprache schrieb, bilden das Herzstück ihrer journalistischen Arbeit. Tergit verstand den Gerichtssaal als Bühne, auf der sich bei jeder Verhandlung ein neues Stück abspielte. Dabei interessierte sie vorrangig der sonderbare Einzelfall, der interessante, merkwürdige, tragische Charakter des Tatbestands und der Angeklagten. Und doch beobachtete sie in jedem Fall, der bei Gericht verhandelt wurde, stets das Ringen der gesellschaftlichen Kräfte im Hintergrund, die soziale Misere, die die Menschen erst zu verbrecherischen Taten treibt. Kein historischer Bericht, keine Chronik zeigen die Weimarer Republik und die Zwischenkriegszeit klarer, hellsichtiger und vielschichtiger als Tergits journalistische Arbeiten, aus denen Nicole Henneberg - Herausgeberin der bisherigen Neuausgaben von Tergits Werk bei Schöffling & Co. - eine üppige Auswahl getroffen hat.

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Seitenzahl: 411

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

[Cover]

Titel

Die Sittlichkeit auf der Leiter

Der Mann, der die Zeit verstand

Jahrgang 1903

Kaffeehaus und Falschmünzerei

Das hypnotisierte Mädchen

Das umstrittene Datum

Die Tragödie der alten Jungfer

Der Mord am Scharmützelsee

Der Held im Spiegel

Gereiztheiten

Swetana, das Mückenmittel

Der Überfall auf die Chinesen

Die falsche Dollarnote

Brandstiftungen

Russische Falschmünzer vor Gericht

Der Invalide

Die große Hilflosigkeit

Nachtgestalten

Die »Perle«

Der Radiomeineid

Die unnatürliche Tochter

Viel Lärm um einen Auflauf

Völkische »Helden«

Die Doppelgängerin

Der Angeklagte Peters

Versunkene Zeiten

Die große Rede eines kleinen Mannes

Moabiter Bilderbogen

Gotteslästerung

Das internationale Papier

Der Kampf um die Fahne

Rassereinheit am Richtertisch

Paradoxa

Politik in der vierten Klasse

Die Schönheit

Die Schuldnerin

Der Reiter auf dem Regenbogen

Der Fall Machan-Kolomak

Gestalten aus dem Femeprozess

Der alte Kutscher und die »neue Zeit«

Die weibliche Psyche

Nach dem Urteil im Prozess Kolomak

Montag und Donnerstag Überfall

Zwischen Tür und Angel

Der gesteinigte Nebenbuhler

Alfred Döblin vor Gericht

Zwei rote Rosen …

Tegel – Klein-Kleckersdorf

Das Rendezvous

Kampf um eine Wohnung

Bigamie

Die Teufelsnadel

Die Teufelsnadel

Syndikus der Taschendiebe

Vier Wochen Gefängnis …

Hexenverbrennung

Wochenmarkt

Paragraph 218

Die Spitzel-Zentrale

Ein falscher Name und eine vergessene Lenkstange

Geist auf Raten

Der Erfinder

Kamel in Beige

Angeklagter Stinnes

Berlichingen contra Bajonette

Weh’ dem, der liebt

Die Toten-Klage

Gretchen-Tragödie

Musikerbörse

Die Heiratsschwindlerin

Kindesmord aus Irrtum

Zweierlei Deutsch

Kleiner Telefonkrieg

Zigeunerweisen

Der politische Sprachschatz

Die Dame

Moabiter Bilderbogen

Moabiter Addition

Nach dem Urteil

»Helden« der Straße

Die alte Waschfrau

Wut

Kommunisten vor Gericht

Die natürliche Mutter

»Wohltäter« aus Wut

Modernes Märchen

Kantinen im Monde

Paragraph 218 …

»Ich mache alles mit den Beinen.«

Der Prozess der Fleißerin

Der Bar-Mixer

Helden der Straße

Die »Dada« der Prominenz

Mutter – Tragödie

Atmosphäre der Missbilligung

Paragraph für Erpresser

Die Berliner Rasse

Gastspiel in Potsdam

Zwei Detektivinnen

218 ohne Not

Geist und Kriminalität

Begräbnis der Liebe

Plünderung oder Mundraub?

Am Rande des Gerichts

Sensation! Sensation!

Nachspiel

Wer schießt aus Liebe?

Atmosphäre des Bürgerkriegs

Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit

Armes Kind …

Frauen im Gerichtsgebäude

Felsenecke

Sklareks, die sympathischen Menschen

Wer schwindelt Heirat?

Bürgerkriegsgericht

Die Kronzeugin

Freigesprochen

Landarbeiter

Deutsche Besprisornis

Brolat

Der erste Tag im Veit-Harlan-Prozess

Zum Harlan-Prozess

Nachwort von Nicole Henneberg

Anmerkungen

Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit 1924–1949

Autorenporträt

Herausgeberporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Vom Frühling und von der Einsamkeit

Die Sittlichkeit auf der Leiter

Ein junger Galizianer J., klein, schnodderig und tüchtig, hatte ein Wohn- und Schlafzimmer bei zwei Damen G., Beamten- oder Offizierstöchtern die in der Mitte der vierzig stehen, gemietet.

Die G.s wollten den J. aus der Wohnung haben, um anderweitig zu vermieten. Als Grund der Exmissionsklage gaben sie an, dass J. Damenbesuche erhalten habe, im Wesentlichen von Fräulein St., die seit fünf Jahren als seine Braut gilt. Vor dem Mieteinigungsamt wird sie gefragt, ob sie jemals die ganze Nacht über bei J. geblieben sei. »Nein, wohl bis 10, 11 Uhr«, sie habe ihm im Geschäft geholfen, aber nicht die Nacht über. Nur darum hatte es sich vor dem Mieteinigungsamt gehandelt. Was bis 11 Uhr geschehen, war gleich. Die Klage wurde abgewiesen. J. blieb wohnen. Fräulein G. aber hat sie beobachtet. Nun steht Fräulein St. des Meineids angeklagt vor dem großen Schwurgericht in Moabit. Sie ist 30 Jahre alt, das richtige süße Mädel, mit blonden Locken, unvorbestraft, eine fleißige Angestellte, eine treue Tochter.

Die Angeklagte, die voll Scham ihr Verhältnis zögernd zugibt, bleibt bei ihrer Aussage. Sie sei mit dem J. verlobt.

J. tritt auf. Vors.: »Sind Sie mit der Angeklagten verlobt?« J.: »Nein« – er verbessert sich, er habe die Absicht, sie zu heiraten. »Ja, ich hatte auch andere Damenbesuche.«

Nun kommen die Fräulein G. Die eine ist mager und groß, mit einer langen, dünnen Nase und kenntnislosen, erstaunten Augen. Mit dem Faltenrock, der bis zum Boden reicht, dem langen englischen Mantel, dem Stehkragen die Verkörperung der sittlichen Entrüstung. Die Schwester ist fett mit einem Mopsgesicht.

Die G. und der J. sind Angehörige zweier Planeten, gezwungen durch die Wohnungsnot, Tür an Tür zu hausen. Fräulein G. sah J. und seine Braut im Bett liegen.

Vors.: »Wie konnten Sie das beobachten?«

Zeugin: »Durch die Scheibe.« Vors. »War die so niedrig?«

In dem feinen Deutsch des gebildeten Bürgertums erzählt die Dame: Die Tür hatte Oberlicht. Sie nahm sich eine Leiter um Mitternacht, die Nachttischlampe brannte, und sie erkannte die St. Die andere G. ist dabei laut auf und ab gegangen, damit das Aufstellen der Leiter nicht gehört werde. Diese Beobachtung aber haben sie nicht dem Fräulein St. vorgehalten, nicht vor dem Mieteinigungsamt erwähnt. Sie haben davon geschwiegen. Dann aber sind die G. umhergegangen und haben Zeugen gesucht.

Einen Säufer, einen längst entlassenen Portier, suchen sie nach vier Jahren auf. Einem Arbeiter haben sie auf seine Antwort, er habe öfter früh eine Dame aus dem Haus kommen sehen, gesagt: »Sie können ruhig sagen, dass es die St. war, denn sie ist es gewesen.« Eine Portiersfrau sah die St. drei-, viermal im Jahre 1920 frühmorgens das Haus verlassen. Die vergrämte Mutter der Angeklagten tritt für ihr Kind ein, nie sei sie die Nacht weggewesen, sie »hofft«, der J. werde sie heiraten.

Die Lebenserfahrung spricht dagegen, so führt der Staatsanwalt aus, dass bei einem fünf Jahre dauernden Verhältnis die St. nie nachts da blieb. Das eidliche Zeugnis der G.s und der Portiersfrau zeigt sie des Meineids schuldig. Auf der Heiligkeit des Eids beruht die Rechtspflege. Er beantragt zwei Jahre Zuchthaus, den bürgerlichen Tod.

Die Geschworenen erkennen auf schuldig und sechs Monate Gefängnis. Die Verurteilte schreit auf. Die Mutter stürzt sich verzweifelt auf die Damen G. Der Geliebte, der offensichtlich Angst vor dem Standesamt hatte, will nun das Geschöpf, das aus Scham einen Meineid schwur und nun in hilfloser Angst vor dem Gefängnis schreit, stützen.

Die beiden Fräulein G. gehen, überzeugt von ihrer Tugend, erhobenen Hauptes davon. Wo aber steht in dieser Weibergeschichte das Erlebnis, das die Fräulein G. zu dem machte, was sie sind, das sie aufstehen hieß, die dürren Verwelkten, gegen das Leben?

(BBC, 3. Oktober 1924)

Der Mann, der die Zeit verstand

Der Hochstapler Oertel-Eggloffstein

Er wurde 1894 in Dresden geboren. Sein Vater, Freiherr von und zu Egloffstein, war völlig degeneriert, krank, hatte eine krankhafte Liebe zu Tieren, war leichtsinnig und füllte den kleinen Zollbeamtenposten mehr schlecht als recht aus. Er legte den Adel ab und nannte sich Oertel. Also von Blut entartet, wächst der Sohn heran, ein Sorgenkind von früh auf, versagt bereits auf dem Gymnasium, schwindelt, lügt und niemand hält ihn, rings um ihn ein entarteter1 Stamm. Eine geisteskranke Tante überschüttet ihn mit Geschenken, mit Geld, da bricht er, ein halbes Kind noch, bei ihr ein, er soll in Fürsorgeerziehung kommen, der unvernünftige Vater verhindert es. Seine Zerfahrenheit, seine Unstetheit nimmt immer mehr zu, er hält es auf keiner Lehrstelle aus, ist Automobilbesitzer, Reitlehrling im Zirkus, er kennt kein Pflichtgefühl, verlässt sich auf die Tante, die immer wieder Geld gibt, bis der Siebzehnjährige 15000 Mark als Erbschaft erhält. Ein Vagabund, reist er umher, taucht überall im Reich auf, in Wien, auf dem Balkan. In München lernt er ein Barmädel kennen, völlig ohne Voraussicht, impulsiv und spontan fährt er mit ihr nach London, lässt sich dort trauen. Die Familie entzieht ihm mehr und mehr ihre Hilfe. Die Krankheit kommt hinzu. Im Kriege ist er Armierungssoldat. Dass man sich im Allgemeinen auch durch Arbeiten ernährt, scheint ihm unbekannt. Er lebt vom Schwindel.

Nicht wie wir begnügt er sich mit einer Maske sein Leben lang, sondern trägt immer neue Gesichter, wandelt sich in immer neue Gestalten. Er ist der Fliegerleutnant Baron von Lüttichau für Bankdirektoren; Dollaramerikaner für Gräfinnen, die ihre Wohnung vor der Beschlagnahme retten wollen; amerikanischer Arzt für den Apotheker; Baron Egloffstein für kleine, liebende Mädchen; der drohende Beamte für Steuerhinterzieher; und so dicht ist die Haut, in die salamandergleich er schlüpft, dass er sie für angewachsen hält:

»Die beiden Brüder Eppstein haben mich, als preußischen Offizier, so geärgert, dass ich sie betrügen wollte«, sagt er. »Wie«, erwidert der Vorsitzende, »Sie sind doch gar kein preußischer Offizier. Sie sind doch nur Armierungssoldat gewesen.« Oertel stutzt, bis ihm einfällt, dass er wirklich nur Armierungssoldat gewesen ist. Es ist die Göttin, die Phantasie, die ihn begleitet und die auch noch in dieser kranken und verzerrten Gestalt das Interesse in Anspruch nimmt, denn die Zuneigung der Menschen gehört nicht dem Korrekten und Vernünftigen, sondern der Unvernunft und dem Wahn, seit es bei den Griechen einen göttlichen Lügner gegeben.

Oertel ist immer im Affekt, immer in Hochspannung, wie andere minder Nervöse vor seeligster Erwartung oder im Rausch. Er posiert, macht sich interessant, geht im Untersuchungsgefängnis auf Krücken, kein Mensch weiß, warum, ist gutmütig und hilfsbereit, schickt vom erbeuteten Geld spontan seiner Frau, dem kleinen Jungen vom Friedrichshagener Mord eine Tafel Schokolade, ist ritterlich gegen seine Mitangeklagten. Dabei besitzt der halt- und willenlose Schwindler eine große Suggestionskraft. Er war revolutionärer Generalkommandant von Dresden, konspirierte gegen Erzberger, ist jetzt völkisch; merkwürdig fast, dass er keine größere politische Rolle spielte. Blufft die skeptischen Pfleger in Herzberge, tritt mit vollendeter Dreistheit in das Zimmer eines Untersuchungsrichters, verbeugt sich, erklärt, dass der Landgerichtsdirektor die Akten fordere, erhält sie, verlässt mit ihnen den Raum und lässt sie verschwinden. Er springt von Handlung zu Handlung, immer in bedrängter Lage, hält er nur an einem fest, seinem Recht auf den Adelstitel. Wenn ihm dieser auch vielleicht unbilligerweise entzogen wurde, so ist er dennoch kein Michael Kohlhaas, der aus erlittenem Unrecht anarchisch geworden wäre. Es wäre kaum zu verstehen, warum über diesen Nervenschwächling, diesen unnützen Schelm, dieses durch und durch kranke, entartete Bündel Mensch so viel geschrieben wird, wenn es sich wahrhaft nur um Oertel handelte. Aber ein Hochstapler ist ja der Spiegel der Mentalität einer Zeit.

Man tritt als falscher Waldemar auf, wenn es sich lohnt, Markgraf von Brandenburg zu sein, und man ist Amerikaner, wenn die Jazzband zum Totentanz der Mark und zum Shimmy um den Dollar kreischt. Was herrschte in dieser Zeit von 1914 bis 1921? Angst vor den Spartakisten, also wieder Respekt und Kotau vor der Uniform, dem Schützer des Staates, Angst vor der Steuer, Angst vor der Wohnungsbeschlagnahme, Angst vor dem Vermögensschwund. Der Hochstapler benutzte also die kleinen Ängste der Menschen, sein gesteigertes Selbstbewusstsein konnte gegenüber der verbreiteten Krankheit, dem Minderwertigkeitskomplex, Erfolge erzielen.

Klein und dürftig erscheinen auf dem Hintergrund des ungeheuren Betrugs dieser Jahre die intellektuellen Urkundenfälschungen und Betrügereien des Oertel, die aufzuklären ein ungemein menschlicher und kluger Richter scharfsinnig sich mühte. Klein und dürftig, nicht wegen der Größe des Objekts, sondern weil dieser Oertel des Geistes dieser Zeit nicht zu spotten vermochte, nicht etwa kühn moralfrei unter Amoralischen sich bewegte, sondern das gute Leben, bestehend aus Genussmitteln und Frauen, sein Ziel wie das der Bekämpften war. Der große Betrüger der Betrügenden fehlt der Zeit, denn wir vergessen, dass nur die Dilettanten vor Gericht stehen, die Meister aber auf goldenen Thronen sitzen.

(BBC, 18. November 1924)

Jahrgang 1903

Unterschlagung, Betrug, Urkundenfälschung

Ein bleiches, ganz junges Bürschlein mit großen, schwarzen Augen und den hintergebürsteten glatten, schwarzen Haaren steht in der Anklagebank. November 1903 geboren, das heißt 1918 knapp fünfzehn Jahre alt.

1923 wurde er wegen unlauteren Wettbewerbs zu 100000 Mark oder sechs Monaten Gefängnis verurteilt, wird von zwei Staatsanwaltschaften gesucht. Von der einen wegen Diebstahls. Jetzt ist er der Unterschlagung, des Betruges und der schweren Urkundenfälschung angeklagt. Im Beginn des Jahres 1924 trat er als Provisionsreisender in eine Radiogesellschaft ein. Er verdiente ungefähr 150 Mark im Monat. Dann aber verkaufte er Apparate, ohne das Geld abzuliefern, kassierte Beträge für Montage ein, erschwindelte sich Apparate von Ingenieurfirmen und handelte mit ihnen weiter und versuchte, dies schriftlich mit der gefälschten Unterschrift eines Prokuristen seiner Firma zu tun.

»Junger Mensch«, sagte der Richter, »wo soll denn das hinführen, das ist ja der direkte Weg ins Zuchthaus.«

Das viele Geld brauchte er für ein Mädchen. Das Mädchen gibt an, sie sei lesbisch gewesen, habe nichts von ihm gewollt. Der Angeklagte schließt halb die Augen und sagt in einem Ton, gemischt aus mildem Wissen und Stolz: »Ich bin Kokainist, Herr Vorsitzender.«

Er wird zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Hinter diesem Typus steigt das Bild der Zeit auf: Der Vater im Krieg, der Junge in den Hungerjahren unterernährt an Körper und Seele, der Sturz der Autorität wirkend auf einen Fünfzehnjährigen, und aus dem Hexenkessel der Inflation dann aufsteigend der giftige Brodem, gemischt aus Geldgier, Gift und Lastern. Jahrgang 1903.

(BBC, 28. Dezember 1924)

Kaffeehaus und Falschmünzerei

Ein Prozess aus der Inflationszeit

Zwei Gestalten aus dem Ghetto stehen in der Anklagebank. Der eine, ein kraftvoller, junger Mann, der neunzehnjährig 1922 als gelernter Schneider zu Verwandten nach Berlin kam, der andere ein vollkommen Verstörter. Zwei ihrer Helfer sind aus der Haft entflohen. In der Neuen Königstraße lernte man sich kennen, in der Münzstraße setzt es sich fort. Einer kommt, Februar 1924, bietet Dollars an, die er von einem Bankangestellten am Hackeschen Markt erhalten hat, ein Dritter kauft sie und bittet, da er nicht schreiben kann, den Angeklagten, mit in ein Café zu kommen, wo zwei armenische Studenten kaufen wollten. Die Händler und die Studenten ziehen von dort in ein anderes Café.

Die Armenier erhalten 300 Dollar gegen 2130 Mark. Drei Tage später wiederholt sich der Vorgang. Als der Angeklagte gerade dabei ist 1000 Dollar aufzuzählen, kommen Beamte und verhaften die beiden. Die Dollars sind gefälscht. Der Angeklagte behauptet, dies erst durch die Polizei erfahren zu haben. Er sei nur des Schreibens wegen mitgegangen. Der zweite sitzt apathisch da. In dem völlig deformierten Gesicht rollen nur zwei unheimliche, schwarze Augen. »15 Mark haben sie mir gegeben«, sagt er auf die Frage des Vorsitzenden. Der Sachverständige, Professor Strauch, hält ihn nicht für verhandlungsfähig. Er ist ein schwerer Psychopath, litt an Haftpsychose, hatte Tobsuchtsanfälle. »Blut, Blut«, stöhnte er dann, »sie haben mir meine Familie ermordet.«

Der Vorhang teilt sich, und hinter dem üblen Treiben im Rauch des Cafés zwischen Markthalle, Börse und Polizei hocken die winzigen Häuser im polnischen Dorf mit verschlossenen Läden und verrammelter Tür, die der Kolbenschlag eines tierischen, brüllenden Haufens zersplittert.

Professor Strauch fährt fort: »Nichts davon ist aber wahr. Der Vater ist im Irrenhaus gestorben, der Bruder aus dem Fenster gesprungen.«

Der Staatsanwalt beantragt gegen den Einzigen, der aus der Falschmünzergesellschaft übrig bleibt, drei Jahre Zuchthaus. Der Rechtsanwalt plädiert auf Freisprechung, da dem Angeklagten nichts bewiesen sei; sonst könne höchstens auf Beihilfe erkannt werden.

In der Beratungspause flattert die Familie, sieben, acht Köpfe, ängstlich und besorgt um den Rechtsanwalt. Der Angeklagte wird unter Anrechnung der achtmonatigen Untersuchungshaft zu 1 Jahr und 4 Monaten verurteilt.

(BBC, 31. Dezember 1924)

Das hypnotisierte Mädchen

Die verschwundene Uhr und der große Unbekannte

Ein junges Mädchen, ein liebliches blondes Ding, unvorbestraft, zweiundzwanzigjährig, hat eine goldene Uhr gestohlen. Sie war Bankangestellte, wurde abgebaut, ist jetzt Arbeiterin bei Siemens. Ihr Vater hat eine Schuhmacherwerkstatt. Sie erzählt: »Abends, gegen neun Uhr, ich war gerade im Begriff, schlafen zu gehen, klopfte es an mein Parterrefenster. Ich ging hinaus, weil ich dachte, es wäre mein Freund. Aber da stand ein fremder Mann vor mir. Er sagte, ich solle ihm nur einmal in die Augen sehen. Ich verbat mir die Belästigung, da packte er mich an den Handgelenken und hielt meinen Kopf mit dem Kinn hoch, damit ich ihm in die Augen sehen musste. Er sagte, ich solle auf die Straße gehen und mich ansprechen lassen und Dinge entwenden. Darauf bin ich in der Kastanienallee herumgelaufen, er folgte mir immer, aber es sprach mich keiner an. Er sagte, ich sei zu ungeschickt. Im November kam er wieder und bedrohte mich, wenn ich nichts täte. Ich könne auch die Dinge wegwerfen, er würde sie schon finden. Auf seinen Befehl fuhr ich von der Schwedter Straße nach dem Kurfürstendamm, wurde Ecke Joachimsthaler angesprochen. Der Herr und ich gingen in ein Café in der Meinekestraße, dann in eine Weinstube in der Kaiserallee. Ich habe nichts getrunken, plötzlich, ich weiß nicht, wie es kam, nahm ich die Uhr von dem Herrn und lief davon, warf die Uhr fort, der Herr lief mir nach, brachte mich in das Restaurant zurück und ließ mich feststellen.«

Vors.: Was erzählen sie uns denn da, das ist doch Schwindel?

Die Angeklagte schüttelt nur still den Kopf.

Darauf kommt der Zeuge, der Bestohlene. Es ist ein forscher Kaufmann. Er erzählt den Diebstahlsvorgang. Die Uhr war nicht mehr auf der Straße zu finden.

Vors.: Im Polizeibericht steht: Sie machte ein künstliches Gedränge und nahm mir die Uhr fort. – Was soll das heißen?

Zeuge: Ach Gott, ich sagte, das Mädchen habe sich an mich geschmiegt, dafür hat der Wachtmeister »künstliches Gedränge« hingeschrieben … Im Übrigen hatte ich und der Wirt sofort den Eindruck, das Mädchen habe unter Hypnose gehandelt.

Vors.: Wieso?

Zeuge: Der Wirt sagte, mit uns zusammen sei ein unheimlicher Mensch hereingekommen und habe das Mädchen so seltsam angesehen, außerdem hat sie uns auch in Trance dasselbe erzählt.

Vors.: In Trance? Wann war sie denn in Trance?

Zeuge: Ja, der Wirt und ich beschäftigten uns viel mit Hypnose, und da wir sofort den Eindruck hatten, sie habe nicht von sich aus gestohlen, schläferten wir sie ein, woraufhin sie uns eine Geschichte erzählte von einem Mann …

Vors.: Die haben wir eben gehört.

Der Sachverständige erklärt, dass Verbrechen in posthypnotischem Zustand nur in den Berichten der Zeitungen existierten. Es habe noch kein einziger Fall nachgewiesen werden können. Die Geschichte von dem wildfremden großen Unbekannten sei höchst unwahrscheinlich. Dagegen sei es möglich, dass das nervöse, sehr labile und phantastische Mädchen gutgläubig so gehandelt habe.

Auf Fragen des sehr feingeistigen Vorsitzenden meint der Sachverständige, es sei auch möglich dass die Zeugen durch ihr sogenanntes In-Trance-Versetzen ihr die ganze Geschichte erst nachträglich eingeredet hätten, was bei nervösen Frauen ein Leichtes sei, doch sei wohl sicher die ganze Tat ein Ausnahmefall im Leben dieses sonst so ordentlichen Mädchens. Das Gericht erkannte dann auch auf zwei Wochen Haft und Bewährungsfrist.

(BT, 29. Januar 1925)

Das umstrittene Datum

Viel Lärm um nichts

In Kaukehnen wohnt ein Forstbeamter, der Berlin nicht grün ist. Er sucht Konflikte mit Behörden. Ein gewöhnlicher Mensch sendet Briefe eingeschrieben. Er lässt durch Zustellungsurkunde bestellen. Ein verwickelter und höchst ungewöhnlicher Weg. Und es kam, wie es kommen musste. Ein Brief vom 9. März wird reklamiert. Er ist angekommen, bloß die Zustellungsurkunde ist nicht da. Eine neue füllt ein Hilfspostschaffner am 11. April aus, er schreibt: »heute, den 9. März«. Der Forstbeamte verklagt den Postschaffner wegen falscher Beurkundung.

Die Amtsanwaltschaft stellt das Verfahren ein, die Beschwerde an die Staatsanwaltschaft bleibt unerhört, das Kammergericht beschließt den Prozess. Was hilft’s, eine Urkunde wurde falsch datiert. Recht muss Recht bleiben. Und nun sitzen ein Vorsitzender und Beisitzer, zwei Schöffen, drei Referendare, ein Staatsanwalt und ein Rechtsanwalt in schwarzen Talaren und weißen Krawatten zu Gericht. Vorsitzender: »Es ist ein schwerer Fall. Dürfen Privatpersonen überhaupt auf dem Wege der Zustellung Briefe senden?«

»Jawohl«, sagt der liebenswürdige Postdirektor, der als Sachverständiger fungiert.

»Ha«, sagt der Staatsanwalt, »von einer vereinfachten Zustellung muss ein Duplum ausgestellt werden.«

»Nein«, sagt der Postdirektor, »im Gegenteil, von einer vereinfachten Zustellung darf keine Ersatzurkunde ausgestellt werden. Duplum gibt es überhaupt nicht.«

Der Vorgesetzte des Postschaffners kommt: »Wir lassen immer von vereinfachten Zustellungen Ersatzurkunden ausstellen.«

Vorsitzender: »Der Herr Postdirektor hat soeben gesagt, dass gerade das Umgekehrte richtig ist.«

Der Staatsanwalt springt auf: »Der Zeuge muss wegen Verdachts der Mittäterschaft unvereidigt bleiben.«

Wie aber ist es mit dem Datum, musste »heute« durchgestrichen werden oder nicht? Man streitet. Aber auf keinen Fall darf eine Urkunde zurückdatiert werden.

Der Rechtsanwalt wälzt die Postverordnung. Plötzlich springt er auf: »Nach den Paragraphen 20 und 35 der Postordnung ist die Anklage zu Unrecht erhoben worden. Das Datum ist richtig. Die Urkunde musste vordatiert werden, nur heute war zu durchstreichen. Privatpersonen aber dürfen keine Urkunde erhalten, darin irren Sie sogar, Herr Postdirektor, außerdem dürfte sie aber nur der Briefträger abgeben. Es fiel also außerhalb seiner Zuständigkeit, also auch dieserhalb fehlt die Voraussetzung des § 348.«

Der Staatsanwalt beantragt Freisprechung. Amtsanwaltschaft, Staatsanwaltschaft, Kammergericht, Postbehörden hätten mit dem Datum des 11. April eine rechtlich erhebliche Tatsache falsch beurkundet und wären also mit Gefängnis nicht unter einem Monat zu bestrafen gewesen. Nur der 23-jährige Angeklagte handelte nach dem Gesetz.

Der Vorsitzende erklärt demnach: »Der Angeklagte wird auf Kosten der Staatskasse freigesprochen. Wir haben den Antrag für unbegründet gehalten, wir sind durch die vorgesetzte Behörde zu diesem Prozess gekommen.«

Was aber wird der Herr in Kaukehnen am Stammtisch zu der Wirtschaft in Berlin sagen, wo Menschen, die falsche Daten in Urkunden setzen, freigesprochen werden?

(BT, 14. Februar 1925)

Die Tragödie der alten Jungfer

Die Lehrerin Stegemann vor Gericht. Zu acht Monaten Gefängnis verurteilt

Vor dem Amtsgericht Pankow begann heute der Prozess gegen die 53-jährige Lehrerin Stegemann, die sich mit einem 13-jährigen Schüler vergangen hat.

Vor einem unendlich vornehmen Verhandlungsleiter, dem Amtsgerichtsrat Mühlhaus, der es wohl verstand, die Lebensbeichte dieser armselig Verirrten abzunehmen, stand eine ganz magere, kleine Person mit einem spinösen Vogelgesicht, die typische alte Jungfer der Witzblätter. Ein einfaches Leben zieht vorüber, sie lebte bis vor zwei Jahren, das heißt bis zu ihrem 51. Lebensjahre, ein gutes Kind, bei ihren Eltern. Die Mutter verwöhnte sie, bis zu ihrem 16. Lebensjahre zog sie sie an. Sie besuchte die Volksschule, später die höhere Mädchenschule, und machte ihr Kindergärtnerinnenexamen und lebte weiter bei den Eltern. 1922 wurde die Mutter krank. »Es war nicht mehr schön bei uns, während es früher sehr schön war, sodass ich nie Sehnsucht hatte, mich zu verheiraten.« Die Mutter stirbt, sie verträgt sich nicht mehr mit dem Stiefvater und muss, ein verlassenes Kind, mit 50 Jahren sich auf eigene Füße stellen. Sie flattert, ein törichter Vogel, in die Baracken in Pankow. Sie beichtet ihre Liebesgeschichten. Da ist ein Mann, jünger als sie, der ihr einen Heiratsantrag machte, die Eltern waren nicht dafür, und die Eltern waren ihr lieber. Er hat sie anzufassen versucht, »so am Arm, aber das mochte ich nicht.« Einen Lehrer hat sie angebetet. »Nächst meinen Eltern war er mein liebster Mensch.«

Da ist eine Freundin, die sie ihrem Willen untertan macht, sie wurde ganz verwirrt durch sie. »Die war pervers, sagte mein Arzt. Aber das ist doch ein guter Mensch, antwortete ich.« Dann ist es aus mit Erlebnissen. Bei der späteren Frau von Schönebeck war sie Erzieherin. »Ich fand sie sehr oberflächlich und mochte sie nicht.« Und so fremd dem Dasein, völlig verstiegen, der Tod ihres Hundes wird ausführlich erzählt. Naiv wie eine 14-Jährige, lernt sie den Otto, den 13-jährigen Jungen, kennen. Und nun verwirren sich, nie zu enträtseln, mütterliche und frauliche Gefühle. »Die anderen Leute waren nicht nett«, sie war ja die reichere mit ein bisschen Wäschevorrat und die Gebildetere. Otto war verständig. Er hat zu ihr gesagt: »Sie sind immer so allein, Fräulein Stegemann, das tut mir sehr leid, und wenn ich daran denke, dann muss ich weinen.« Und die hilflose Frau nimmt diese Redewendung eines Kindes für die verstehende Güte des Mannes und schwärmt wie für den Lehrer, so für diesen Knaben; er habe ihrem Ideal entsprochen. Er würde etwas Großes werden. Aber alles dies war »reine Liebe«. Und mit der Scheu und der Unwissenheit einer reinen Frau schildert sie die Verführung durch den Knaben und das Beisammensein mit ihm. Sie wünscht sich ein Kind, aber kein gewöhnliches, sondern eines, aus dem etwas Großes würde, ein Dichter oder Maler; alle Ängste des ganz jungen Mädchens durchleidet sie. Der Knabe, ein hübscher 14-Jähriger, der Friseurlehrling ist, bezeugt das Gegenteil; er schildert gröber, einfach männlicher, und stellt sich als den Verführten hin. Über den Zeitpunkt sind beide verschiedener Meinung. Der Lehrer des Knaben gibt diesem ein glänzendes Zeugnis, nur zweifelt er daran, ob es wahr, dass er seine verblüffenden Aufsätze immer selber machte, oder ob nicht doch Fräulein Stegemann ihm geholfen habe, und dieser Frau steht das Lob des verirrt geliebten Kindes höher als ihre Rettung: »Nein, er hat die Wahrheit gesagt, die Arbeiten sind von ihm allein.« Und ihr Gesicht strahlt. Genau so gut wie für den Knaben, sind die Leumundszeugnisse für sie.

Der Sachverständige Dr. Magnus Hirschfeld2 führt aus, dass es sich bei der Angeklagten um einen Fall von schwerer Verdrängung handelt. Ausschluss der freien Willensbildung im Sinne des § 513 liege nicht vor, doch sei die Zurechnungsfähigkeit infolge schwerer Hysterie und klimakterischer Seelenstörung zweifellos herabgesetzt.

Der Staatsanwaltschaftsrat Tilling kommt zu einem »Schuldig« und prägt das Schlagwort für diese Verhandlung, die Angeklagte gehöre vor das Jugendgericht. Das Geschöpf einer vergangenen Epoche, die die einfachsten biologischen Tatsachen mit 50 Jahren in der Baracke erfahren hat. »Denn im Bürgerstand hält jeder seine Ehe heilig.«

Die Angeklagte wird wegen Vergehens gegen die Paragraphen 174 und 176 (Verführung Minderjähriger und Verkehr zwischen Lehrer und Schüler) unter Zubilligung mildernder Umstände zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Für fünf Monate erhält sie Bewährungsfrist. Sechs Wochen werden ihr auf die erlittene Untersuchungshaft angerechnet.

(BT, 21. Februar 1925)

Der Mord am Scharmützelsee

Am Ostersonnabend 1924 fuhren zehn junge Mitglieder der kommunistischen Jugendgruppe Wedding nach Buckow, zu gleicher Zeit drei Pfadfinder; sie treffen sich am Bahnhof Buckow, ein Pfadfinder, ehemaliger Bismarck-Bündler4, will einen der Kommunisten, den er kennt, begrüßen, der verweigert ihm die Hand: »Vom Bismarck-Bund sind zwei von uns im vorigen Jahr erstochen worden, da müssen wir blutige Rache nehmen. Ihr Faschisten steckt ja alle unter einer Decke.« Die Pfadfinder, voll Angst, machen Buckow unruhig, gehen zur Polizei, zum Bürgermeister, zum Landjäger, bitten um Schutz, den sie aus Zufallsgründen nicht erhalten. Am Sonntagmorgen verstecken sich die drei bei einem Rittmeister von G.

Am Nachmittag kommt es zu einem Zusammenstoß, bei dem der eine Pfadfinder Braatz durch einen Dolchstoß in den Rücken getötet wird. Wie kommt es zu diesem Zusammenstoß? Wo liegt die Schuld? Drei junge Menschen, 18-, 19- und 20-jährig, sind angeklagt nicht des Totschlags, denn dieser ist nicht geklärt worden, sondern als Rädelsführer der kommunistischen Sekte, des Landfriedensbruches.

Die Angeklagten und die kommunistischen jugendlichen Zeugen stellen die Sache folgendermaßen dar: Sie lagen friedlich auf einer Wiese am See, als zwei Wanderer vorbeikamen und ihnen erzählten, der Bismarckbund liege oben und wolle sie angreifen. Kurze Zeit darauf kam auch ein Menschenhaufe, zwei Förster, vier Pfadfinder und Stahlhelmleute5, Bürger aus Buckow. Gerade an der Wiese schwenkten die Förster in eine Schlucht ab, verboten, dass jemand nachkäme, und sofort nach ihrem Weggange kam es zu einem Handgemenge, bei dem nach wenigen Minuten der Pfadfinder tot am Boden lag.

Zum Revierförster und seinen Gehilfen, beide Stahlhelmbündler, aber kommen ebenfalls zwei Ausflügler und erzählen: Leute mit einer roten Fahne seien da, die wollten mit ihnen abrechnen. »Da forderte ich ein paar Leute zu meiner Unterstützung auf, vier junge Pfadfinder folgten uns, Buckower Bürger und Berliner Ausflügler.« Plötzlich direkt an der Wiese, auf der sich etwa fünfzig bis sechzig kommunistische Jugendliche angesammelt hatten, sieht er Leute in der Schonung: »Ich wollte die Leute von den Höhen runterholen und verbot, dass uns jemand auf diesen Dienstweg folge.« So verlassen die Förster den Trupp, den sie anführten, und als sie nach wenigen Minuten wiederkommen, war das Unglück geschehen, die Pfadfinder waren von den Kommunisten angegriffen worden.

Der Pfadfinder Münchow vermochte sich in die Schlucht zu den Förstern zu retten, die nun mit ihren drohenden Revolvern zu spät Ruhe schafften. Es blieb unklar, warum sich die vier Pfadfinder, zu deren Ausrüstung im Übrigen der Dolch gehört, die, wie sie immer wieder betonen, nach der ersten Anrempelung Schutz bei der Polizei suchten, ja abreisen wollten, sich direkt in die Höhle des Löwen – zu den Kommunisten – begeben haben. Und wie sie die Förster, die doch die jungen Menschen zu dem Zug zu der Wiese veranlasst hatten, in dem kritischen Moment im Stich lassen konnten? Die Kommunisten, mit Gummiknütteln bewaffnet, die Pfadfinder mit Dolchen, um einen Ausflug zu machen, Erwachsene, die schüren, und keiner, der zum Frieden mahnt, und zuletzt liegt am Ostersonntag ein junger blühender Mensch tot auf dem Rasen, wie ein Jahr vorher, 1923, im gleichen Buckow zwei Kommunisten erstochen sind. Der Osterausflug wird zu einem »Gefecht an den Bollersdorfer Höhen«. Aus den widersprechenden Zeugenaussagen lässt sich kein Bild gewinnen, und der eigentliche Übeltäter, der Rohling, der den Andersgesinnten seiner eigenen Klasse ersticht, bleibt unentdeckt.

Das Urteil des Schöffengerichts Wedding lautete gegen den Angeklagten Jeske auf Freisprechung, gegen Kaminski und Ebeling wegen schweren Landfriedensbruchs auf zwei Jahre Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft von zehn Monaten.

(BT, 14. März 1925)

Der Held im Spiegel

Er trägt einen hellen Sportanzug, aus einem gediegenen Stoff gefertigt, mit dem patentierten deutschen Lederknopf, darunter eine kornblumenblaue Sportweste, lederne Gamaschen bis zum Knie, was der ganzen Gestalt etwas Kühnes, Reiter- und Herrenmäßiges verleiht, und darüber einen bildschönen Klischeekopf für Prospekte erster Schneiderfirmen. Er ist Installateur, angeklagt nächtlicher Ruhestörung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt.

Angeklagter: »Ich kann nur erzählen, was man mir erzählt hat, weil ich total betrunken war. Ich hatte wenig Arbeit und unternahm, als ich endlich einen Auftrag bekam, mit mehreren Handwerksmeistern eine kleine Bierreise.«

Vorsitzender: »Wann hatten Sie denn damit angefangen?«

Angeklagter: »Na, so um halb 10 Uhr vormittags.«

Vorsitzender: »Bis um halb 1 Uhr nachts? Denn um diese Zeit war doch der fragliche Vorfall.«

Angeklagter: »Tja, man trinkt die Arbeit ein, das ist im Baugewerbe so.«

Vorsitzender: »Um halb 1 Uhr nachts sollen Sie am Kaiserdamm gelärmt und den Schupo angegriffen haben?«

Angeklagter: »In vino veritas! Herr Vorsitzender, wenn man getrunken hat, da handelt man erst so recht nach seinem Herzen. Wir kamen an dem Laden von so’nem Parfümeriefritzen vorbei.«

Vorsitzender: »Wir wollen lieber Drogerie sagen.«

Angeklagter: »Da stand ein Schupo davor. Herr Vorsitzender, der Inhaber nennt sich Fritz Lede, und noch vor einem halben Jahr hieß er Sally Levy, und die Polizei stellt sich noch vor so’nen Laden! Da muss einem doch die Galle hochkommen. Ich habe verschiedene Bemerkungen gemacht, wobei es zu einer Schlägerei kam (Und triumphierend fährt er fort:) Dabei habe ich dem Schupo den Revolver aus der Tasche gezogen, ohne dass er es merkte, aber ich habe es ihm gesagt: He, du willst ein Soldat sein, stehst hier zehn Minuten ohne Waffe, da haste den Dreck wieder, ich brauche ihn nicht.«

Vorsitzender: »Erlauben Sie mal, das ist doch nur eine Frage der zufälligen körperlichen Kraft, wenn Ihnen das gelingt, dafür kann der Mann doch nichts.«

Angeklagter: »Herr Vorsitzender, ich bin drei Jahre Soldat gewesen, mein Hauptmann hätte mich aufgehängt, wenn mir das passiert wäre!«

Zeuge, der Wachtmeister, ein ruhiger Württemberger: »Ich habe ihm den ruhestörenden Lärm verwiesen, da schlug er mich sofort mit dem Stock über die linke Hand, dass sie blutete, fiel auf mich und bei dem Ringen, meine linke Hand war ja gebrauchsunfähig, zog er mir den Revolver heraus, hielt ihn mir vor, und es ist nur meiner Geistesgegenwart zu verdanken, dass nicht mehr passierte, denn der Revolver war scharf geladen, ich entriss ihn ihm sofort.« Die übrigen Zeugen bestätigen diese Aussage.

Der Amtsanwalt beantragt wegen Lärms, gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt und Beleidigung, es fiel ein Schimpfwort während der Szene, 500 Mark. Der Angeklagte aber beginnt eine groß angelegte Verteidigungsrede: »Ich habe jahrelang für die völkische Sache gekämpft, und wenn ich dann vor einem solchen Laden stehe, in vino veritas! so Juden, von denen das ganze Unglück kommt, und da pflanzt sich noch’n Schupo davor auf, wenn ich sehe, wie das deutsche Volk von Kutisker, Barmat6 und anderen ausgenutzt worden ist und wie dann solche Leute ihre Namen ändern und wie der Justizminister …« Er greift in die Tasche und will ein Zeitungsblatt herausziehen.

Vorsitzender: »Also, halten Sie hier keine Volksreden. Sie haben den Wachtmeister K. angegriffen und verletzt.«

Der Amtsrichter führt in der Urteilsbegründung aus: Das Ganze kam vom Ärger über den Namenswechsel eines Geschäftsinhabers, vor dem der Schupo stand. Trunkenheit sei der ungeeignetste Zustand für politische Betätigung. – Der Angeklagte wird zu 500 Mark Geldstrafe verurteilt.

Während aber der Richter zur Besonnenheit mahnt, zieht der Held einen kleinen, runden, weißen Beinspiegel aus der Tasche und besieht aufmerksam sein Gesicht. Und es erhebt sich die Frage: was würde aus allem Heldentum, wenn es keine Spiegel gäbe?

(BT, 24. März 1925)

Gereiztheiten

Idyll aus einem völkischen Café

Ein Kapellmeister ist wegen Beleidigung angeklagt. Er ist Anfang der vierzig, eine große, prachtvolle Erscheinung, seit 1897 gelernter Militärmusiker.

»Nach dem Kriege«, erzählt er, »habe ich mich selbständig gemacht und spiele in einem Café am Kurfürstendamm täglich von 4 bis halb 1 Uhr als Kapellmeister. Ich bin angewiesen, ›Fridericus Rex‹, ›Deutschland hoch in Ehren‹ und ähnliche Lieder zu spielen, und da werde ich fast täglich provoziert. An dem fraglichen Tage kam ein junger Mann zu mir und sagte, ich solle auch heute provoziert werden. Am Abend nach dem Schluss des Konzerts, ich war in Uniform, bat mich ein Leutnant an seinen Tisch. Als wir dort saßen, setzten sich auch richtig an den Nebentisch fünf Musiker der Reichswehr in völlig betrunkenem Zustande. Plötzlich stand einer auf, kam auf mich zu und sagte: ›Hören Sie, können Sie mir mal eine Frage beantworten?‹ Im selben Augenblick wusste ich, dass das die Leute waren, die mich provozieren wollten, und sagte: ›Ich gebe keine Antwort.‹ Später entstand dann noch ein Streit, bei dem die Reichswehrleute mich beschimpften, und ich sagte im Verlauf dieses Streites: ›Sie können mir den Buckel langstreichen.‹ Aber sonst nichts.«

Die fünf Zeugen sind junge Musiker, die an die Hochschule abkommandiert sind, um zu Militär-Musikmeistern ausgebildet zu werden. Sie behaupten übereinstimmend, nicht betrunken gewesen zu sein. Sie haben sich über die Lorbeerkränze auf dem Podium geärgert, auf deren schwarzweißroten Schleifen stand: »Unserm lieben Musikmeister a.D. gewidmet« mit Unterschriften von verschiedenen vaterländischen Verbänden. Sie zweifelten nach der nicht guten Art seines Dirigierens an seiner Berechtigung, den Musikmeistertitel zu führen. Sie haben sich dann über eine musiktheoretische Frage, den Übergang von C-Dur zu c-Moll gestritten, wobei einer von ihnen sagte: »Lassen wir es doch durch den Ludwig schlichten«, und aufstand, an dessen Tisch ging und ihn darum bat, der erwiderte: »Frechheit.« Etwa zehn Minuten später beim Hinausgehen habe er ihnen »Lump oder Lumpen« nachgerufen, darauf sei der Fragesteller wieder hingegangen und habe sich als Reichswehrmann vorgestellt: »Ihr könnt mir den Buckel langrutschen mit eurer Reichswehr«, sagte der Angeklagte.

Vier Zeugen beschwören, dass die musiktheoretische Frage ernst gemeint gewesen sei, nur der Letzte spricht ganz nebenbei von dem Scherz, den sich ein Kamerad erlaubt habe. Der Entlastungszeuge, der Leutnant a.D., sagt, der Angeklagte habe die Frage, da er ja gewarnt war, sofort als Provokation aufgefasst. Als die Reichswehrleute hinausgingen, entstand eine allgemeine Schimpferei, bei der die Worte Affe, Idiot fielen, auf die der Angeklagte erwiderte: »Ihr könnt mir den Buckel langrutschen.« Gegen die Reichswehr als solche sei bestimmt nichts gesagt worden.

Das Gericht kam zu der Ansicht, dass hier der § 198 anzuwenden sei. Da auf das Wort Lump, von der Seite des Angeklagten, der Affe und Idiot von der anderen Seite fiel, auf den das Buckellangrutschen folgte, wurde der Angeklagte wohl für schuldig befunden, aber auf Kosten der Staatskasse freigesprochen.

(BT, 17. April 1925)

Swetana, das Mückenmittel

Ein ehemaliger Landwirt hatte keine Arbeit, kein Geld, aber einen herrlichen Namen für eine nicht existierende Sache erfunden, und so teilte er durch Inserate während der Preisausschreibenwoche des Frühjahrs 1924 mit, dass die Swetana-Parfümerie jedem, der die Lösung des Rätsels und 3,30 Mark einsende, das ideale Sommermittel gegen Mückenstiche und Hautjucken, das millionenfach im Ausland bewährte »Swetana«, in eleganter Packung schicke. Außerdem würden Gewinne in Höhe von 100000 Mark ausgelost werden.

Drei Wochen Sommeraufenthalt, eine Wohnungseinrichtung, Teppiche, Standuhren lockten. Das Rätselraten, das keines war, begann.

Und das Geld strömte hinzu. In Zeiten heftigster Geldnot hatten der Herr und sein Tippfräulein nichts weiter zu tun, als Briefe zu öffnen, die alle 3,30 Mark enthielten. Mit diesem Gelde wurde eine Fabrik gekauft, die das Mückenmittel aus verdünnten, parfümierten Salmiakgeist, das 30 Pfennig wert war, herstellte. Auch mancherlei Preise, etwa im Werte von 4000 Mark, wurden angeschafft. Bald reichte eine Hilfskraft nicht mehr aus. Büroräume in der Friedrichstraße wurden dazugemietet und vier Angestellte öffneten und registrierten die 22000 Briefe, die im Ganzen einliefen, sodass der »Fabrikant« nahe an 70000 Mark in den Krisenmonaten April, Mai, Juni 1924 einnahm.

Aber der Gerissene kam an einen noch Gerisseneren, an einen Bankier, über dessen Bank die Geldbeträge liefen. Um dem Schwindler zu imponieren, mietete der andere Schwindler eine neue Wohnung. Der Bankier verkaufte fürs Erste einen wertlosen GmbH-Mantel der Sapron-Gesellschaft für 9000 Mark, löste dann seine Wechsel nicht ein und verschwand, wie der »Fabrikant« meint, mit etwa 20000 Mark nach Holland. Er aber, dem der Briefträger ein Vermögen ins Haus gebracht, stand ohne Geld da, denn er hatte verdienen wollen ohne Wissen vom Gelde, ohne Wissen von seiner Verwertbarkeit. Er war drei Monate Miete schuldig, Angestelltengehälter und Inserate. Er flüchtete von Wohnung zu Wohnung, schlief sogar im Asyl. Jetzt steht er in der Anklagebank mit seinen großen, roten Händen, den schmalen Schultern und breiten Hüften. Er macht einen gewöhnlichen, unintelligenten, aber soliden Eindruck, wie alle Zeugen bestätigen, dass er arbeitete, keine Passion hatte und einfach in einem möblierten Zimmer lebte. Ein eintägiger Ausflug nach Swinemünde und ein neuer Anzug sind die einzige Ausschweifung, die ihm nachgewiesen wird.

70000 Mark sind diesem Manne in der Hand zerronnen.

Das Gericht verurteilte ihn zu sechs Jahren Gefängnis wegen Betruges, unerlaubter Veranstaltung eines Lotteriespieles und Preiswuchers.

Zwei alte Damen aber fanden das Mittel gut gegen Kopfschmerzen und machten eine Nachbestellung …

(BT, 7. Mai 1925)

Der Überfall auf die Chinesen

Das gerichtliche Nachspiel. Drei Monate Gefängnis für die Angreifer

In den Großstädten des neuen und des alten Kontinents finden sich Viertel, in denen Chinesen wohnen. Sie arbeiten friedlich, sind Händler, haben ihre Restaurants, in denen sie mit Stäbchen merkwürdige, uns ungewohnte Dinge essen und Mah Yong spielen. In Berlin wohnen sie, einfache, stille Leute, in der Kleinen Markusstraße, einer Straße, die, wie man weiß, nicht gerade einen guten Ruf genießt. Am 12. April, einem Sonntag, griffen zwei Arbeiter, sichtlich betrunken, mehrere Chinesen ohne Grund an; die flüchteten in einen Hof, warfen mit Steinen, durch die mehrere Passanten getroffen wurden. Das Überfallkommando wurde alarmiert, führte die Chinesen ab. Als zwei von ihnen zurückkamen, stürzte sich einer der von einem Stein getroffenen Passanten, der im Übrigen auch schwer betrunken war, auf den einen Chinesen und misshandelte ihn. Der andere flüchtete, ein junger Bursche kam hinzu und schlug mit auf den Chinesen ein, bis er bewusstlos am Boden lag. Er war vierzehn Tage im Krankenhaus.

Vier Angeklagte sitzen auf der Anklagebank. Alle sind Arbeiter. Zwei sind jung, zwanzigjährig, bisher unbescholten, der dritte, den der Stein traf, ist vom Schicksal schwer mitgenommen, durch Genickstarre ertaubt und des größten Teils seines Sprachvermögens beraubt. Der vierte, schwer Vorbestrafte, ist nach allen Zeugenaussagen nicht an der Schlägerei beteiligt gewesen, doch soll er an dem liegenden Chinesen »rumgefummelt« haben, was darauf schließen lässt, dass er es war, der ihm 100 Mark, die er bei sich gehabt hatte, stahl. Der misshandelte Chinese ist ein Mandschure, der nur Mandschurisch versteht. Der Dolmetscher, ein chinesischer Student, versteht seinerseits nur Nordchinesisch, sodass man als zweiten Vermittler einen Mandschuren hatte, der auch Nordchinesisch verstand.

Der Kriminalassistent des maßgebenden Polizeireviers bestätigte, dass die Chinesen stille, friedliche Fremde seien, über die keine Klagen laut würden. Die beiden älteren Angeklagten dagegen sind wohl höchst fleißige Arbeiter, der eine verdient als Steinsetzer 66 Mark die Woche, der andere arbeitet doppelte Schicht und schläft so manchmal nur vier bis fünf Stunden, aber sie benutzen ihren Sonntag zu nichts anderem, als sich sinnlos zu betrinken.

Der Staatsanwalt nahm gemeinschaftliche Misshandlung an. Die Angeklagten hätten besonders gesündigt, weil sie einen Ausländer überfallen hätten, der friedlich seinem Erwerbe nachgeht, was dann allen Volksgenossen vorgeworfen wird. Er beantragte neun Monate Gefängnis. Das Urteil lautete für die drei Täter auf je drei Monate Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft von sechs Wochen. Der vierte wurde trotz seines heftigen Leugnens als des Diebstahls überführt angesehen und zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, welches Urteil er auch annahm.

Der Zuhörer gewann aus diesem Prozess über einen rohen Exzess die Überzeugung, dass der Alkohol an allem schuld war. Warum gilt er eigentlich als strafmildernd?

(BT, 17. Juni 1925)

Die falsche Dollarnote

1914 war er 10 Jahre alt. Er ist klein, farblos, verpickelt, schwächlich, wie Menschen werden, die als Kinder schlecht gepflegt und ernährt wurden. Er behauptet, Kellner gelernt zu haben, gibt Adressen, nichts stimmt. Sicher ist nur, dass er zweimal vorbestraft wurde, 1921 wegen Betrugs, 1922 schraubt er Lampen samt Fassung aus den Treppenhäusern, wofür er sechs Monate Gefängnis erhielt. Fest steht ferner, dass er am 28. September 1924 in einer eleganten Bar am Kurfürstendamm Sekt trank und eine Hundertdollarnote wechseln ließ, was er wenige Tage später mit einem zweiten dieser angenehmen Zettel noch einmal im Westen und einmal in der Friedrichstadt wiederholte.

Beim vierten Male, ebenfalls in einem sehr eleganten Lokal, hatte der Kellner nicht genug Geld, der Lebejüngling bat, in die Wechselstube auf dem Potsdamer Bahnhof zu schicken, die Kosten trüge er. Dort erkannte man die Note als falsch. Er wurde verhaftet, brach zusammen und erzählte: die Noten hätte er von »Tutti« erhalten, einer eleganten Frau, deren Mann schwer krank sei. Er hatte sie in einem Café am Potsdamer Platz kennengelernt und traf sich mit ihr in üblen Quartieren um den Alexanderplatz. Sie war etwa 35 Jahre alt. Er konnte weder ihren Namen noch ihre Adresse angeben. Trotzdem glaubte man ihm die »Tutti«, und er wurde in erster Instanz freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft aber legte Berufung ein.

So stand er zum zweiten Mal vor dem Richter und verwickelte sich in endlose Widersprüche. Vors.: Was haben Sie denn mit dem vielen Geld gemacht? – Angekl.: Ich habe mir verschiedene Kleidungsstücke gekauft. – Vors.: Früher sagten Sie, Sie hätten das Geld Tutti wiedergegeben und für Ihre Bemühung, das Geld zu wechseln, 80–100 Mark bekommen. Haben Sie Geschwister? – Angekl.: Nein. – Vors.: Sie verlangten doch mehrmals in der Untersuchungshaft Sprecherlaubnis für ihre Schwester. – Angekl.: Na, das war meine Braut. Für Bräute kriegt man doch keine Sprecherlaubnis. – Vors.: Wo haben Sie denn als Kellner gelernt? – Angekl.: Bei B. – Der Oberkellner von B. als Zeuge: Er war niemals bei uns. Wir haben gar keine Lehrlinge. – Vors.: Sie scheinen uns doch hier für komplette Narren zu halten. Wollen Sie uns nicht endlich sagen, ob Sie zur Zeit der Tat arbeiteten? –

Angekl.: Ich sagte es doch schon. Im Restaurant F. war ich Kellner. – Zeuge Kriminalassistent: Da verkehrt alles durcheinander. – Sachverständiger für Falschmünzerwesen springt auf: Das ist ein bekanntes Falschmünzerlokal!

Tutti versinkt, und der Staatsanwalt beantragt 2 Jahre 6 Monate Gefängnis. Das Urteil lautet auf 2 Jahre Gefängnis und fünf Jahre Ehrverlust.

Das elende, verhungerte Bürschlein, das 1200 Mark, die es in vier Tagen erwarb, für Anzüge und Sekt hinauswarf, wurde sofort im Gerichtssaal verhaftet. Interessant ist, wie die Psychologie der historischen Inflationsepoche so nachwirkt, dass noch im September 1924 Kellner in Luxuslokalen nicht stutzen, wenn ein elend aussehender, blutjunger Mensch Hundertdollarnoten wechseln lässt.

(BT, 24. Juni 1925)

Brandstiftungen

I.

Zwei Brüder mit ihren Frauen stehen in der Anklagebank. Der ältere ist Hundedresseur, der jüngere Kaufmann. Der jüngere erstand ein Haus in einem Dorf bei Berlin für 6000 Mark, das er mit 2000 Mark bar bezahlte und mit 30000 Mark versicherte. Die Brüder hatten einen wunderschönen Plan: »Mir geht es schlecht, euch geht es schlecht«, sagte der ältere, »ihr verreist ein paar Tage, und ich zünde inzwischen das Haus an.« Aber die 45,50 Mark für die Prämie waren nicht da. Sie verkauften also schnell einen Schrank, und der Pläneschmied fuhr sofort, denn es war bereits der 31. Oktober, nach Berlin in die Versicherung und drängte noch nach 5 Uhr den Vertrag dem Beamten auf. Und mit wahrhaft unzweckmäßiger Hast trat der jüngere Bruder mit seiner 19-jährigen Frau am gleichen Tage die besprochene Reise nach Hamburg an, aber die ordentliche Hausfrau blieb trotz Brandstiften eine gewissenhafte Bürgerin, sie gab ihre gesamte Wäsche zum Waschen, schrieb sie auf und verwahrte den Zettel in ihrer Handtasche. So weit klappte alles, aber Brandstiftung will verstanden sein. Zwei Tage darauf bemerkte man im Dorfe, dass verkohlte Vorhänge an den Fenstern hingen. Man forschte nach und fand vier hübsch und sorgfältig mit Benzin und Petroleum präparierte Winkel. Balken und Gardinen waren verkohlt, aber es hat offenbar nicht brennen wollen, woraus man ersieht, dass Pläne schmieden leichter ist als einen Brand entzünden. Vor Gericht leugnete der eine Bruder und gestand der andere, aber dies war gleichgültig, denn die Tat war klar, und so wurden die zwei bis dahin unbestraften Leute zu zweieinhalb und drei Jahren Zuchthaus verurteilt.

II.

Ein ordentlicher Arbeiter, dem es aber immer elend ging, hatte an der Wende der vierzig sich von seiner gleichaltrigen Frau abgewandt und ein junges Ding geliebt, das 19-jährig ein Kind bekam und mit ihm zusammen bei einer Wirtin wohnte, die sie draußen haben wollte. Sie bekam das auch schließlich fertig, ohne dass das Mädchen mit dem neun Monate alten Säugling ein Obdach hatte. »Ich will es ihr anstreichen!«, rief sie, als sie aus der Wohnung ging. »Ich werde der Frau die Bude anstecken.« Einige Zeit später brannte eine Matratze, die dort in dem dichtbewohnten Hause auf dem Korridor stand.

Der Mann, der schwer im Felde verwundet wurde, war nun als Anstifter, und das farblos blonde schmale Mädchen wegen Brandstiftung angeklagt. Sie leugneten, aber die Bekundungen der Zeugen sprachen gegen das Mädel. Zuletzt wurde die Frau des Angeklagten vernommen. Sie nahm, nachdem es von der Wirtsfrau hinausgeworfen worden war, das Mädchen mit dem Balg auf. Es stellte sich heraus, dass ihre Wohnung aus einer Stube und einem Korridor bestand. In der Stube schlief die Frau, das Mädchen, das Kind und eine Schlafgängerin, der Mann auf dem Korridor.

Der Vorsitzende, der offensichtlich spürte, dass hier bürgerlich ethische Maßstäbe nicht ausreichten, fragte zögernd: »Wieso haben Sie die Geliebte Ihres Mannes aufgenommen?« – »Sie hat drei Nächte auf der Treppe geschlafen, das Wurm war schon ganz blau gefroren. Fräulein kommen Sie rein, habe ich da gesagt, Sie können nicht umkommen. Das war Christenpflicht. Meine Kinder sind tot«, fügte sie hinzu. – »Was soll denn nur werden?«, fragt der Vorsitzende. – »Ich habe immer hart gearbeitet, hatte Nachtschicht, ich konnte mich um meinen Mann nicht kümmern. Wenn es nun schon so ist, sollen sie meinetwegen heiraten; ich lasse mich scheiden.«

Ganz am Anfang der Verhandlung stand die Frage des Vorsitzenden an die Angeklagte: »Auf demselben Korridor wie die Matratze stand doch Ihre gesamte Habe?« – »Ja«, antwortete das Mädchen.

Ein Gegensatz zweier Weltanschauungen ist formuliert: Die Kleinbürgerin, die, falls die Sache mit den 30000 Mark so nicht klappt, wenigstens die Wäsche retten will, und die Proletarierin, die völlig ihr bisschen Habe vergisst. Daneben steht diese Alternde, die weiß, dass die Lebensnot sie zwang, ihren Mann zu vernachlässigen, und die trotzdem unverbittert einer Jungen die Hand reicht, ja, sie sogar aufnimmt, weil man keinen Menschen zugrunde gehen lassen darf. So zwecklos und so rein können wahrscheinlich nur Menschen handeln, die aus Fülle oder Mangel jenseits des Besitzes stehen.

Der Mann wurde freigesprochen, das Mädchen zu neun Monaten Gefängnis verurteilt.

(BT, 30. Juni 1925)

Russische Falschmünzer vor Gericht

Emigrantenschicksale

Falsche Pfundnoten

Im Jahre 1920 kam die Flut der russischen Menschen hergestürzt über Europa. Sie wurden, Überlebende einer Sintflut, in die hohen Häuser der Weltstädte gespült. Sie veränderten das Gesicht unserer Stadt. Und mit all ihrer Schwermut waren die Frauen elegant, wussten sich zu schmücken, gründeten die Männer Zeitungen. Buchläden, 84 an der Zahl, Theater, Restaurants, in denen es Balalaikakapellen gab und Tänzerinnen und in denen man sich daran erlaben konnte, dass am Nebentisch Iwan Karamasow saß.

Aber nicht alle fanden, nachdem im Weltleben des Krieges, der Revolution, der Pest und des Hungers der Mensch den Mitmenschen anfiel und vernichtete, den Weg in die europäische Zivilisation zurück.

Falschmünzer aus russischen Emigrantenkreisen standen gestern vor zwei Schöffengerichten in Moabit.

Der eine wurde 1886 in Moskau geboren: der Vater war Eisenbahnbeamter. Er besuchte das Gymnasium in Moskau, wurde Ingenieur, machte 1915 sein Examen, hatte ein elektrotechnisches Büro in Moskau, eine Fabrik in Tula, war reklamiert und hatte bis zum Ausbruch der Revolution 15000 Mark Vermögen erworben.

Er floh zuerst nach der Ukraine, dann nach der Krim, wo die Familie Weingüter in Jalta hatte; alles wurde konfisziert. 1920 kam er nach Konstantinopel, wo er einen Film verkaufen wollte, fuhr von dort nach Triest, Wien, Berlin, aber aus dem Verkauf wurde nichts. Die Seinen aber waren in Russland von Mitteln entblößt; sein sechsjähriger Sohn hatte tagelang durch den Wald marschieren müssen, die Frau war vergewaltigt worden.

Da traf er seinen Freund M. den Sohn eines berühmten Malers, der erzählte ihm, dass er ein Verfahren erfunden habe, um das berühmte Wasserzeichen der englischen Pfundnoten nachzuahmen, auf dem fast allein der Schutz des englischen Geldes beruht. Noch kann er sich nicht entschließen, derartiges Geld anzunehmen, da erhält er einen neuen verzweifelten Brief seiner Frau, Verhaftung und neuer Missbrauch drohen. Nun nimmt er auch Hilfe in dieser Form an. M. schenkte ihm 20- und 50-Pfundnoten. Im Ganzen verbrauchte er nach und nach im Laufe eines Jahres 25000 Mark. Der größte Teil ging nach Russland und wurde ausgegeben, um Visa für seine Familie, aber auch für Lackstiefel und Zigaretten, zu erhalten. Um die Noten zu wechseln, fuhr er nach Zürich und Danzig, nach Frankfurt a.M. und London. Hier kam man ihm auf die Spur. Er versteckte den Rest, fünfzehn 20-Pfundnoten, hinter einem Anschlag in seinem Hotelzimmer, ein Tapezierer fand sie dort, freute sich über den Fund und entdeckte bald, dass er selber betrogen war.

Der berühmte Maler M., der zu drei Jahren Zuchthaus wegen Falschmünzerei bereits verurteilt worden war, stand als Zeuge vor Gericht. Er ist eine hünenhafte Erscheinung, mit einem Kopf, den man nur als Schädel bezeichnen kann, von grauen Haaren überwallt und einem mächtigen Vollbart. »Wir gewährten Ihnen damals mildernde Umstände«, sagte der Vorsitzende, »um der Gräuel willen, die Sie in Russland erduldeten.«

Durch wie viel Elend muss dieser Mann gegangen sein, bis er auf die Idee kam, das technische Verfahren zu erforschen, um die englischen Wasserzeichen herzustellen, »um die echten Wasserzeichen herzustellen«, wie er es ausdrückt, was ihm in einer Weise gelang, dass der zuständige Dezernent erklärte, »es waren die besten Falschnoten, die wir bisher hatten, sodass auch Bankdirektoren sie nicht erkannten«. Er bestätigte die Angaben des Angeklagten. Der Antrag des Staatsanwalts lautete gegen ihn, den im Übrigen auch England fordert, auf fünf Jahre Zuchthaus. Das Gericht erkannte auf 2½ Jahre.

Der Kranke

Vor einem anderen Gericht standen vier Angeklagte wegen Vertreibens falscher Dollarnoten in der schlimmsten Inflationszeit. Es sind vier verschiedene Typen des russischen Völkergewimmels. Der erste ist ein geborener Russe – »staatenlos«, lautet die schwere Antwort auf die betreffende Frage –, ein halbes Kind, war er eine Zeitlang hier allein und von den Älteren mitgeritten worden.