Der Fall Lazarus - Rob Reef - E-Book

Der Fall Lazarus E-Book

Rob Reef

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Beschreibung

Heiligabend 1938. Auf dem Weg in die Weihnachtsferien stranden Professor Stableford und Sir Perceval Holmes im Tal von Gore. Der unheimliche Ort, der seit dem Mittelalter für das rege Treiben seiner Untoten bekannt ist, entwickelt sich auch für die beiden Freunde schnell zum Alptraum. Nach einem Zugunglück suchen sie in einem nahe gelegenen Herrenhaus Hilfe und werden dort Zeugen der Entdeckung eines brutalen Mordes. Stableford versucht sich an dessen Aufklärung, doch die Hinweise und Aussagen der Anwesenden sind dermaßen verstörend, dass er ins Zweifeln gerät, ob er diesem Fall allein mit weltlicher Logik beikommen kann.

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Rob Reef
Der Fall Lazarus
Ein Stableford-Krimi aus Devon

Der Fall Lazarus

Der Fall Lazarus

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

DRAMATIS PERSONAE

Impressum

Für Patrick
»Es ist die Aufgabe der Detektivgeschichte, uns zunächst etwas zu bieten, was nicht im Geringsten an einen realistischen Tod erinnert, um diesem dann etwas folgen zu lassen, was nicht im Entferntesten dem Leben ähnelt.«
Edmund George Valpy Knox (Evoe), 1929

Kapitel 1

Eskapismus
John Stableford, Professor für Literatur am Londoner Lazarus College, ließ das Buch auf seinen Schoß sinken und sah aus dem Fenster. Der Zug hatte seine Fahrt verlangsamt und sie passierten jetzt ein kleines unbeleuchtetes Bahnhofsgebäude. Stableford versuchte, den Namen der Station zu erhaschen, doch als sich seine Augen endlich an das Dämmerlicht dort draußen gewöhnt hatten, lag das verlassen wirkende Häuschen samt des kurzen schneebedeckten Bahnsteigs längst hinter ihnen.
»Antrum«, sagte Holmes, als sie plötzlich in einen Tunnel einfuhren. Das künstliche Licht im Abteil ließ das schmale Gesicht seines ihm gegenübersitzenden Freundes merkwürdig fremd und wächsern wirken. »Der Ort, den wir eben passierten«, fuhr Holmes nach einer kurzen Pause fort. »Sie suchten nach dem Stations­namen, nicht wahr?«
Stableford nickte.
»Es ist eine uralte Siedlung, idyllisch am River Lethe gelegen. Die Gegend war einmal für ihre üppigen Mohnfelder bekannt. Bei Sonnenuntergang soll die Landschaft einst förmlich in Flammen gestanden haben.«
Stableford sah Holmes ungläubig an. »Antrum« bedeutete im Lateinischen »Höhle« und war ein Tunnel nicht auch ein unterirdischer Hohlraum? Wenn man Ovid Glauben schenken wollte, lebte Hypnos, der Gott des Schlafes, in einer Höhle, durch die ein Fluss namens Lethe floss und an dessen Eingang Blumen und Kräuter mit einschläfernder Wirkung wuchsen. War es ein Zufall, dass Holmes gerade jetzt diese mythische Landschaft beschworen hatte, oder war Stableford das Opfer seiner klassischen Bildung und der eigenen Müdigkeit geworden und träumte das alles nur?
»Und was geschah dann?«, fragte er etwas unsicher.
»Die Felder wichen einem längst wieder aufgegebenen Militärstützpunkt. Heute liegt das Tal in einem tiefen Dämmerzustand, aus dem es so schnell wohl auch kein Erwachen mehr geben wird.«
Stableford dachte an Harriet und ihre gemeinsame Tochter Charlotte. Wenn alles nach Plan ginge, würde er die beiden am Abend auf Hatton Hall wiedersehen, wo sie, der Einladung von Lord Sampford folgend, das Weihnachtsfest verbringen würden.
Er blickte auf die alte Grabenuhr an seinem Handgelenk. Es war kurz vor halb vier. Dann schloss er die Augen. In ziemlich genau einer Stunde würden sie Tavistock, die erste Etappe auf ihrer heutigen Reise, erreicht haben. Doch wie es von dort weitergehen würde, wusste allein Holmes, der noch am Morgen mit ihrem baldigen Gastgeber telefoniert hatte, da dessen ursprünglicher Plan, die Freunde mit einem Wagen vom Bahnhof abholen zu lassen, aufgrund der winterlichen Wetterverhältnisse unmöglich geworden war.
Stableford hatte schon am Eingang der Waterloo Station, wo sie sich um kurz nach zehn getroffen hatten, von dem Telefonat erfahren und mehrmals versucht, Holmes nach dem Ergebnis dieser Unterredung zu befragen. Doch das aufgeregte Treiben, welches am Morgen vor dem Weihnachtstag in der Halle des Londoner Bahnhofs geherrscht hatte, hatte ein ums andere Mal eine Antwort Holmes’ verhindert.
Als sie schließlich in ihrem Abteil saßen, hatten sie die Frage wohl vergessen. Stablefords neueste Buchveröffentlichung, »Das Rätsel der Inselfestung«, hatte sie auf ein Thema gebracht, das ihre Aufmerksamkeit über Stunden gefesselt halten konnte: das ephemere Wesen des Detektivromans. Und da sie in ihrem Erste-Klasse-Coupé allein waren, konnten sie ungestört darüber diskutieren.
Holmes hatte von Stableford nichts weniger als die Überwindung dieser Flüchtigkeit gefordert. Er nannte seine Geschichten »durchaus kurzweilig« und die Auflösungen der Rätsel »schlüssig«, aber er fragte sich, warum man überhaupt Bücher schrieb, an deren Ende alle im Laufe der Handlung auftretenden Fragen beantworten wurden und die folglich nur von Menschen mit einem sehr schlechten Gedächtnis noch einmal gelesen werden könnten.
Stableford hatte diese »Schwäche« des Genres gut gelaunt eingestanden und sogar für notwendig erklärt, denn er betrachtete den Detektivroman als die kleinstmögliche Form eines Gesellschaftsspiels, bei dem der Autor seine Leser herausforderte. Eine vollständige Auf­lösung und ein festes Regelwerk waren für dieses intellektuelle Kräftemessen viel wichtiger als komplexe Handlungsstränge oder auch voll entwickelte Charaktere.
Holmes hatte dieser Gedanke eingeleuchtet. Er hatte jedoch gefragt, ob gerade die häufig eindimensionalen Protagonisten dem Ruf des Genres nicht schaden würden – eine Befürchtung, die Stableford nicht teilte. Für ihn waren die auf das Katz-und-Maus-Spiel zugeschnittenen Personen tatsächlich nicht viel mehr als Schachfiguren. Und würde sich Holmes wirklich um die Lebensgeschichte eines »Läufers« scheren, wenn es doch eigentlich um den unerwarteten Zug, also die überraschende Auflösung eines logisch unmöglich erscheinenden Rätsels ginge? Holmes hatte dies verneint, allerdings scherzend ergänzt, dass er niemals in dessen Haut stecken wolle.
Ein Wechsel in der Lichtintensität unterbrach Stablefords Versuch, sich die Einzelheiten des Gesprächs weiter in Erinnerung zu rufen. Hatten sie erst jetzt den Tunnel verlassen? Mühsam öffnete er die Augen. Holmes lächelte ihm zu. Sie kannten sich erst seit gut zwei Jahren, aber ihre gemeinsamen Abenteuer hatten sie schnell enge Freunde werden lassen. Stableford war Holmes’ Trauzeuge gewesen und Holmes würde bald Charlottes Taufpate werden.
»Nehmen Sie mir meine Bemerkung noch übel?«
»Welche Bemerkung?«, fragte Stableford erstaunt.
»Nun, Sie sprachen von Schach und logischen Rätseln und ich bezeichnete den Detektivroman daraufhin als ein ideales Vehikel für einen ratioiden Eskapismus.«
»Wie das Lösen eines Kreuzworträtsels?«
»Genau. Ein Kreuzworträtsel mit einem durchgängigen kriminalistischen Thema.«
»So habe ich meine Geschichten nie verstanden. Trotz des Rätsels in ihrem Zentrum sind es für mich Abenteuerromane, die lediglich auf die exotische Bühne verzichten.«
»Also heimische Abenteuerromane?«
»Heimische Abenteuerromane mit festen konventionellen Elementen und einem intellektuellen Kern.«
»Nun, dann liegt hier vielleicht die Chance, das Ephemere zu überwinden und die Lektüre etwas – sagen wir – nachhaltiger zu gestalten, ohne den Kern, also das Rätsel und seine vollständige Lösung, opfern zu müssen.«
»Da bin ich gespannt, Holmes! Solange Sie die Konventionen nicht verletzen, folge ich Ihnen. Detektivromanleser haben nämlich genaue Vorstellungen von dem, was sie erwartet.«
»Gut! Denken Sie etwa an die Abenteuerromane von Rider Haggard oder die Vampirgeschichten von Lytton-Gore! Manche von diesen Büchern enthalten mehr oder weniger versteckte Andeutungen von Utopien oder deren Gegenteil.«
»Dystopien.«
»Wie bitte?«
»Das Gegenteil einer positiven Utopie.«
»Oh, sicher. Wo war ich stehen geblieben?«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie, dass ich in die banale Schilderung einer Verbrechensaufklärung eine weitere Bedeutungsebene einfüge, die sie dem Trivialen und Flüchtigen entreißt.«
»Nun, ja! Wenn Sie das so sagen, klingt es albern, aber meinen Sie nicht auch, dass Ihre Geschichten etwas mehr«, Holmes zögerte einen Moment, »Tiefe vertragen könnten?«
»Ehrlich gesagt, nein! Ich will unterhalten und komme dabei ganz gut ohne einen doppelten Boden aus. Wenn Sie auf der Suche nach allegorischen Tiefen und einem mehrfachen Schriftsinn sind, dann lesen Sie die Bibel!«
Holmes gähnte. »Mir geht es nicht um Botschaften, mein lieber Stableford. Ich plädiere lediglich für eine kontrollierte Mehrdeutigkeit, die es vermag, die Handlung zwischen zwei Lesarten in der Schwebe zu halten, um so auch eine zweite Lektüre Ihrer Bücher als reizvoll erscheinen zu lassen.«
»Aber wie, Holmes?«, fragte Stableford amüsiert.
Sein Freund antwortete nicht.
»Holmes?«
»Entschuldigen Sie! Ich war abgelenkt. Dieses gleißende Zwielicht dort draußen ist für die Augen extrem ermüdend. Das Weiß des Schnees scheint sich förmlich gegen die Dämmerung zu wehren. Worüber sprachen wir gerade?«
»Sie forderten Mehrdeutigkeit und ich fragte, wie ich dies bewerkstelligen soll.«
»Nun, Sie sind der Autor! Aber wenn man beispielsweise die Abenteuerromane betrachtet, dann folgen sie doch alle demselben Muster: Eine Gruppe von Helden bricht zu einer Reise auf und verlässt an einem bestimmten Punkt die uns bekannte Welt, um in einer unbekannten Prüfungen zu bestehen. So ist es auch in den beiden Büchern, die ich auf unsere Reise mitgenommen habe. Sowohl in Rider Haggards ›Sie‹ als auch in Lytton-Gores ›Hinter dieser Tür!‹ erfolgt erst ganz am Ende die klassische Rückkehr in unsere Realität. Könnte man die Art dieses ›Übertritts‹ ins Unbe­kannte und zurück auch in Ihrem Genre nicht einfach ein wenig infrage stellen, um die Binnenhandlung interpretationsfähig zu halten? Etwa durch die Option, dass es sich nur um den Traum eines Protagonisten handeln könnte? Das müsste Ihnen als Literaturprofessor doch gefallen! Hat nicht Shakespeare selbst gesagt, dass wir vom gleichen Stoff wie die Träume sind?«
»Prospero hat das gesagt, aber vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es ihm Shakespeare in den Mund gelegt hat.« Stableford hielt kurz inne und begann dann:
»Wir sind solch Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kleines Leben wird umfasst von Schlaf.«
»Da haben Sie es«, sagte Holmes und gähnte herzhaft. »Lassen Sie Ihre Helden doch im nächsten Buch eine Bahnfahrt machen! An einem bestimmten Punkt schlafen sie ein und erwachen dann in einer leicht surrealen, aber im Großen und Ganzen durchaus noch den Naturgesetzen unterworfenen Welt, um ihr nächstes Abenteuer zu bestehen.«
Stableford blickte auf das Buch in seinem Schoß. Wieder erschienen ihm die Vorgänge während dieser Reise seltsam traumhaft. War es erneut ein bloßer Zufall, dass er gerade jetzt einen fantastischen Roman las, der eben jene von Holmes eingeforderte Ambiguität aufwies, da der Protagonist je nach Lesart träumte oder sich tatsächlich auf dem Weg hinter die Grenzen der kartografisch erfassten Welt befand? Er wollte Holmes davon erzählen, doch der war nun fest eingeschlafen.
Am Fenster zog die scheinbar immer gleiche weiße Schneelandschaft vorbei, die Stableford an unbeschriebene Manuskriptseiten erinnerte, und das goldgeprägte Mandala auf dem Einband seiner Reiselektüre entwickelte ein unheimliches Eigenleben. Es zog ihn magisch an und schien ihn zu magnetisieren. Langsam gewann es an Tiefe und er glaubte zu fallen, während er sich nach und nach in dem runden Ornament verlor.

Kapitel 2

Heiliger Abend
»Sie werden jetzt bald die Station von Crofts’ Privatbahn erreicht haben«, sagte Edward Hatton, der Siebente Earl of Sampford, zu Harriet, während er ihr und seiner Schwester Penelope Tee nachschenkte.
Sein Lächeln wirkte aufgesetzt. Hatte er bemerkt, dass sie seit Einbruch der Dämmerung immer wieder und in immer kürzeren Abständen auf die große Standuhr im Salon geschaut hatte? Wollte er ihr als guter Gastgeber, der er war, durch seine Bemerkung indirekt zu verstehen geben, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte?
Vielleicht lächelt er so gequält, weil er weiß, dass seine Bemühungen vergebens sind, dachte Harriet, denn tatsächlich war sie schon seit den frühen Morgenstunden in Sorge um John und Percy und weit davon entfernt, sich durch gut gemeinte Versicherungen beruhigen zu lassen.
Mit der Kälte, die England vor drei Tagen überrascht hatte, war der Schnee gekommen. Und mit dem Schnee, der gar nicht mehr aufhören wollte zu fallen, das Chaos. Die Post hatte damit begonnen, Briefe und Weihnachtspakete mit Pferden auszuliefern, weil für ihre Automobile auf den vereisten Wegen kein Fortkommen war und viele Straßen durch tiefe Schneeverwehungen einfach aufgehört hatten zu existieren. Manche Gegenden waren nur vom Lieferverkehr, andere schon gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Das Land drohte unter einer immer dicker werdenden weißen Decke zu erstarren und die Wettervorhersage für die britischen Inseln war eindeutig: »mehr er­giebige Schneefälle und weiterhin sehr kalt«.
All dies war Harriet bis zum heutigen Morgen egal gewesen. Sie und ihr Baby waren mit Penelope noch vor dem Wetterumschwung auf Hatton Hall eingetroffen und auch wenn sie vom Zustand des alten Herrenhauses überrascht gewesen war, hatte es für sie keinen Grund zur Klage gegeben. Doch nachdem sie am Morgen rein zufällig Zeugin des Telefonats zwischen Edward und Percy geworden war, hatte sich ihre Stimmung geändert. Edward hatte ernst, ja fast besorgt gewirkt und von Zugausfällen gesprochen, von Zügen, die in Schneeverwehungen stecken geblieben waren, und von der geschlossenen Straße zum Anwesen. Zuletzt war die komplizierte Schilderung eines möglichen anderen Anfahrtsweges über eine Privatbahn im Nachbartal gefolgt, die Edward als ein Schienenoval rund um ein verschlafenes Dörfchen namens Gore beschrieben hatte, was Harriet sofort an die Spielzeugtischbahn eines ihrer Neffen erinnert hatte.
Doch die Reise von John und Percy war sicher alles andere als ein Kinderspiel. Sie waren jetzt »da draußen«, und das machte ihr Angst. Harriet wusste, dass die beiden Männer den Elf-Uhr-Zug von Waterloo nehmen wollten, der um kurz vor halb fünf Tavistock erreichen sollte. Von dort aus hatte Edward einen Taxi-Transfer organisiert, der sie zum Bahnhof von Horrabridge bringen würde. Da sollten sie auf einen gewissen Dr Lake treffen, der mit einem Zug der Great Western Railway aus Plymouth kam und den Weg zum weit außerhalb des Dörfchens liegenden Bahnsteig der Privatbahn kannte. Doch ob die Taxifahrt wetterbedingt stattgefunden hatte, der Zug aus Plymouth durchgekommen und Dr Lake an Bord gewesen war, war ungewiss. Und diese Ungewissheit, die Harriet seit dem Einbruch der Dämmerung mehr und mehr zusetzte, würde bis zur Ankunft von John und Percy bestehen bleiben, denn am Mittag hatte Mr Twiggs, der Butler von Hatton Hall, fast feierlich den Tod der Telefonleitung gemeldet.
Harriet betrachtete den Säugling in ihrem Arm. Die kleine Charlotte schlief friedlich und dieser Anblick beruhigte für einen Moment auch ihre Mutter.
»Ich wusste übrigens gar nicht, dass Sir Walters Eisen­bahn noch in Betrieb ist«, sagte Penelope müde und griff nach einem Stück Teekuchen.
»Das ist sie eigentlich auch nicht, Penny«, antwortete ihr Bruder. »Zumindest nicht offiziell. Aber da die Straße von Tavistock schon kurz hinter Whitchurch nicht mehr passierbar ist und wir von unserer Seite kaum bis nach Sampford Spiney kommen, rief ich ihn gestern Morgen an und fragte ihn geradeheraus, ob er uns helfen könne.«
»Und er sagte spontan zu? Braucht es nicht einige Zeit, um eine stillgelegte Bahn wieder funktionstüchtig zu machen?«
»Bestimmt. Aber erstens wurde sie nie so richtig stillgelegt, da sie Crofts hin und wieder für den Nachschub an Wein und den Transport von Koks benutzt, und zweitens waren die Vorbereitungen schon in vollem Gange. Offenbar war ich nicht der Erste, der ihn um Hilfe gebeten hatte, und er erwartet selbst zwei Gäste, die nur noch mit seinem Zug anreisen können, weil auch die Straße nach Gore am Viadukt gesperrt werden musste. Wie vor sechzig Jahren ist seine Eisenbahn für die Bewohner des Tals nun vorübergehend wieder die einzige Verbindung zur Außenwelt und er lässt sie seit zwei Tagen regelmäßig ihre Kreise ziehen, damit der Schnee nicht auf den Gleisen gefriert.«
»Und wie sollen John und Percy die kleine Bedarfshaltestelle finden? Wenn ich mich richtig erinnere, liegt sie fast eine Meile östlich von Horrabridge mitten in einem Wäldchen.«
»Das Wäldchen gibt es schon lange nicht mehr.«
»Das Wäldchen ist mir egal, Edward! Ich frage mich, wie sie die Station finden sollen. Bei diesem Wetter können wir wohl kaum davon ausgehen, dass sie das Taxi bis dorthin bringen kann.«
»Wir können wohl nicht einmal davon ausgehen, dass der Fahrer diesen Ort kennt. Aber das muss er auch nicht, denn hier kommt Dr Lake ins Spiel. Erinnerst du dich an ihn, Penny?«
»Er hatte eine Praxis in Gore, nicht wahr? Aber das muss viele Jahre her sein.«
»Genau! Und deshalb kennt er den Weg zur Station, denn damals fuhr die Bahn noch regelmäßig. Ich habe mit Crofts vereinbart, dass sich alle Passagiere am Bahnhof von Horrabridge treffen und sich unter der Führung des Doktors dann gemeinsam auf den Weg zu der kleinen Plattform außerhalb des Ortes machen.«
»Er ging nach Plymouth, nicht wahr?«
»Wie bitte?«
»Dr Lake! Er ging nach Plymouth.«
»Ja. Die«, Edward räusperte sich, »Vorfälle machten ihm so zu schaffen, dass er seine Praxis aufgeben musste.«
»Was für Vorfälle?«, fragte Harriet.
»Nun, die Sache mit den Untoten.«
»Den Untoten?«
Edward lächelte. »Es klingt recht anachronistisch, nicht wahr? Aber du hast ganz richtig gehört. Gore hat seit dem Mittelalter einen gewissen Ruf, wenn es um Wiedergänger geht. Nirgends in unserem Königreich gab es so viele Geschichten über sie wie hier. Und der Spuk ist – was dieses Tal betrifft – wohl immer noch nicht ganz vorbei. Man erzählte sich damals, dass Lake von den Einheimischen dazu gedrängt wurde, gewisse Rituale an den Toten vorzunehmen, damit diese ihre Gräber nicht verlassen konnten.«
Harriet starrte ihn an. »Und dieser Dr Lake …?«
»Konnte sich den Wünschen wohl nicht entziehen. Wahrscheinlich hat er in dunklen Nächten zu viele Gräber bei Laternenlicht geöffnet und Dinge gesehen und vielleicht auch selbst tun müssen, die sich mit seiner wissenschaftlichen Weltsicht nicht vereinbaren ließen. Er begann zu trinken und kam schließlich bei seiner Schwester in Plymouth unter. Der Wegzug war seine Rettung. Hast du den Stablefords nie vom Fluch von Gore erzählt, Penny?«
Penelope schüttelte den Kopf.
»Seine erste Erwähnung findet er 1196 in der ›Historia Rerum Anglicarum‹ des Mönches William von Newburgh. Er hat …«
»Edward!«, unterbrach ihn seine Schwester ernst.
»Oh, Penny! Das sind doch alles nur alte Geschichten.«
»Aber vielleicht erzählst du sie uns trotzdem erst, wenn John und Percy eingetroffen sind. Wobei ich Zweifel habe, ob sie tatsächlich heute noch kommen werden.«
»Warum?«
»Weil du mit Percy anstatt mit John telefoniert hast. Ich frage mich, ob komplexe Weg- und Personenbeschreibungen wirklich gut bei meinem Mann aufgehoben sind, und ganz nebenbei auch, ob Dr Lake bei seiner Vita die Führung dieser kleinen Reisegruppe obliegen sollte.«
»Aber er allein weiß den Weg, Penny! Crofts’ Enkelin ist auch mit von der Partie, doch sie ist zu jung, um den Pfad von Horrabridge zur Station zu kennen.«
»Natürlich. Trotzdem frage ich mich, wie Dr Lake auf die Rückkehr nach Gore reagieren wird. Und vielleicht hat er sich das selbst auch schon gefragt und sich erst gar nicht auf den Weg gemacht. Kennst du übrigens den Grund für seinen Besuch?«
»Nein. Ich weiß von Crofts nur, dass er als Gast der Badleys kommt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass er auf seine alten Tage auf ein Wiedersehen mit Mrs Lee-Cummings hofft. Die beiden waren verlobt, als Lake Hals über Kopf das Weite suchte«, sagte Edward zu Harriet.
»Lebt sie denn immer noch bei den Hesketts?«, wollte Penelope wissen.
»Ja.«
»Und du glaubst, dass sie ihm nach all den Jahren seine Flucht verziehen hat?«
Edward zuckte mit den Schultern. »Ich denke lediglich, dass er mittlerweile gefestigt genug sein wird, um eine Handvoll Reisende ein paar hundert Yards über ein Feld zu führen. Immerhin war er einige Jahre in einem Sanatorium und wir können wohl davon ausgehen, dass …«
»Oh, Edward! Du machst es gerade nicht besser. Willst du nicht einmal nachschauen, wo Allen steckt?«
»Allen? Nun, ich bin mir sicher, dass er mit deiner Schwiegermutter Karten spielt. Die beiden kommen wirklich gut miteinander aus. Wäre sie nicht weit über siebzig und Allen dem weiblichen Geschlecht zugetan, könnte ich glatt eifersüchtig werden. Aber ich habe deinen Wink schon verstanden. Ihr wollt allein sein. Vielleicht nur noch so viel, Harriet: Crofts sagte mir, dass die Bahn unter vollem Dampf bis sieben Uhr an der kleinen Plattform auf die Fahrgäste wartet. Dann macht sie sich auf den Weg, um das Tal auf den Rücken der umliegenden Hügel zu umrunden. Hatton Hall ist ihre vorletzte Station. Unser Footman erwartet Percy und deinen Gatten gegen Viertel vor acht mit Sturm­laternen und Brandy auf dem Podest an der westlichen Grenze des Parks. Wenn alles nach Plan verläuft, könnt ihr eure Männer also spätestens um acht Uhr hier in die Arme schließen.«
»Wie viele Stationen gibt es denn?«, fragte Harriet, während sich Edward endlich erhob. Die Antwort interessierte sie nicht wirklich, aber nach der Erwähnung von Untoten und eines scheinbar psychisch labilen Reiseführers hatte sie das Gefühl, dass die kleine Teegesellschaft beisammenbleiben sollte.
»Sechs: Horrabridge, Gore, Graves Manor, Wicked House, Hatton Hall und Badley Dream.«
Harriet sah ihren Gastgeber ungläubig an. »Jetzt willst du mich auf den Arm nehmen, nicht wahr?«
Edward musste lachen. »Die Namen klingen zugegebenermaßen etwas düster, aber sie passen irgendwie zur Geschichte der Gegend. Doch du kannst völlig beruhigt sein, Harriet. Wir sind zwar Teil der Verbindung, aber Hatton Hall liegt – Gott sei es gedankt – auf der dem Tal von Gore abgewandten Hügelseite. Ich kann dir versichern, dass sich über die Jahrhunderte nicht ein einziger Untoter auf unser Anwesen verirrt hat.« Er verneigte sich und verließ den Raum, nur um kurz darauf wieder im Salon zu erscheinen. »Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, den Dienstbotenaufgang zu benutzen.«
»Du bist eben ein Snob«, sagte Penelope scherzhaft.
»Gewiss nicht! Ich verdränge nur gelegentlich, dass die Treppe in der Halle fehlt. Der Verkauf der wert­volleren Möbel und der Bibliothek waren schlimm genug, doch eine Halle ohne einen repräsentativen Aufgang wirkt wie ein Kirchenschiff ohne Altar.«
»Aber du hast unser elisabethanisches Schmuckstück aus Eichenholz doch selbst nach Amerika verscherbelt!«
»Das stimmt. Und es tut mir unsagbar leid, Penny. Mir ist durchaus bewusst, was dir Hatton Hall bedeutet. Anfang Januar werden übrigens die Türen, die marmornen Kaminsimse und das Blei von den Dächern abgeholt.«
»Ich weiß, dass du keine andere Wahl hast, Edward. Es wäre nur leichter für mich gewesen, wenn das Haus unversehrt einen neuen Herrn gefunden hätte. Die Vorstellung, dass von unserem Familiensitz bald nur noch die nackten Fassaden und Schlote übrig sein werden, macht mich traurig.«
»Mich auch, aber es werden nur die Fassaden sein. Die kunstvoll geschnitzten Schornsteinköpfe haben auch schon einen neuen Besitzer gefunden.«
»Du bist unmöglich!«, rief Penelope, doch ihre Mundwinkel zuckten.
»Man nennt es ›Galgenhumor‹, Schwesterherz. Die Preise für diese alten Kästen liegen dermaßen im Keller, dass wir das Haus Stück für Stück verkaufen müssen, um wenigstens einen Teil der Erbschaftssteuer bezahlen zu können.«
Penelope schluckte schwer. »Es sind vor allem die Erinnerungen an unsere Kindheit«, sagte sie leise. »Aber zum Glück können wir die einfach mitnehmen. Weißt du noch, wie Vater die ganze Dienerschaft zu Weihnachten in die Halle bat, um dann feierlich die Kerzen am Baum zu entzünden?«
Edward nickte. »Und wie Mutter und wir am Heiligen Abend Apfelsinen an die Sternsinger verteilten. Wenn ich es mir recht überlege, wurde die Halle tatsächlich nur zur Weihnachtszeit genutzt.«
Harriet war dem letzten Teil des Gesprächs nur oberflächlich gefolgt. Ihre Gedanken drehten sich um Hatton Hall. Dass die horrende Erbschaftssteuer die Existenz hochherrschaftlicher Häuser bedrohte, war ihr nicht neu. Doch hier auf dem Stammsitz der Familie Hatton, der sich in Auflösung befand, wurde diese abstrakte Tatsache für sie real. Schlagartig wurde ihr klar, dass Edwards Einladung zum Weihnachtsfest wohl eher ihr als John gegolten hatte. Sie war da, um Penelope Beistand zu leisten, denn ihre Freundin musste vom Heim ihrer Kindheit Abschied nehmen.
Während die Geschwister weiter in Erinnerungen schwelgten, blickte Harriet einmal mehr zur Standuhr hinüber. Es war kurz vor sieben. Hatten John und Percy den Zug erreicht?
»Weißt du, woran ich zur Weihnachtszeit oft denken muss, Schwesterherz?«, fragte indessen Edward. »An unsere Rodelpartien.«
»Oh ja! Wenn Schnee lag, hat man uns von dem breiten Wirtschaftsweg, der am Haus der Hesketts vorbei bis hinunter zu der Princetown-Weiche führte, gar nicht mehr wegbekommen. Und weißt du, woran ich häufig denke? An die riesigen Feuer vor dem Pavillon zur Wintersonnenwende.«
»Ehrlich gesagt wollte ich euch mit einem überraschen, aber der Weg zum Pavillon ist momentan zu verschneit.«
»Wann war denn die Wintersonnenwende?«
»Mein Gott! Du lebst schon zu lange in London, Penny. Vorgestern Nacht! Die Tage werden endlich wieder länger.«
»Aber die Nächte bleiben stockdunkel«, bemerkte Harriet in Gedanken.
»Wie meinst du das?«
»Ich habe nur gelesen, dass der Neumond auf die Nacht zum 21. Dezember fiel.«
»Oh«, sagte Edward und setzte sich in denselben Sessel, aus dem er sich zuvor erhoben hatte. Er wirkte auf einmal nachdenklich.
»Was hast du?«, wollte Penelope wissen.
»Ich habe mich nur gefragt, wie Crofts den Lokführer und seinen Heizer dazu bewegen konnte, die Bahn wieder in Betrieb zu nehmen.«
»Stimmt etwas nicht mit dem Zug?«, fragte Harriet schnell.
»Oh nein. Die Lok ist alt, aber technisch sicher vollkommen in Ordnung. Doch der 21. Dezember war der Thomastag und wenn der Neumond auf die Thomasnacht fällt, verlassen die Bewohner von Gore in der Regel für zwölf Nächte nicht ihr Haus.«
»Wie bitte?«
»Nun, das Tal von Gore beherbergt ein eigenartiges Völkchen, Harriet. In vielerlei Hinsicht befindet man sich dort immer noch im Mittelalter. Die Leute glauben, dass sich in den zwölf Nächten von der Thomasnacht bis zur Neujahrsnacht die Tore zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten öffnen. Und je dunkler diese Nächte sind, desto wahrscheinlicher wird es, mit der anderen Seite in Kontakt zu kommen. Es ist für die Einheimischen generell keine Zeit zum Reisen, aber wenn der Neumond auf die Thomasnacht und damit auf die erste der zwölf Nächte fällt, bleibt man bis Neujahr daheim.«
»Und woher weißt du das alles?«, fragte Penelope ungläubig. »Ich bin schließlich auch hier aufgewachsen und habe davon noch nie etwas gehört!«
»Wie auch? Wir besuchten zur Weihnachtszeit ja höchstens mal die Crofts’, die Hesketts und die Badleys. Und diese Familien haben derlei Aberglauben sicher nie geteilt. Ich weiß es von Ben Goff. Er betreibt den einzigen Pub in Gore, die Knell. Alle paar Tage zieht es Allen und mich dorthin, wenn wir in der Gegend sind. Es ist so wunderbar altmodisch und nach zwei Pints verlässt man das Tal mit ein paar neuen Anekdoten und einem schaurig-wohligen Unbehagen, wie man es von früher kennt, wenn einem Märchen vorgelesen wurden.«
»Ein guter Vergleich!«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Allen Latimer war unbemerkt durch die immer offen stehende Tür zur Dienstbotentreppe gekommen. Er ließ sich auf der Armlehne von Edwards Sessel nieder. »Und so, wie das Unbehagen aus unseren Kindheitstagen zwischen den Märchenbuchdeckeln blieb, geht es einem auch heute, wenn man das Tal von Gore über den Kamm eures Hügels verlassen hat. Es bleibt zurück, denn die Geschichten um Gore sind dermaßen fantastisch, dass sie jenseits des Tals und in unserem Jahrhundert nichts zu suchen zu haben scheinen.«
»Das wollen wir hoffen«, sagte Penelope müde. »Schläft Elizabeth?«
»Ja. Sie ist mit den Karten in der Hand am Spieltisch eingeschlafen, nachdem sie mir in diversen Kutscherskat-Partien sechs Schillinge abgeknöpft hat.«
Harriet stand auf, legte Charlotte in die alte Wiege, in der auch schon Edward und Penelope als Kinder geschlafen hatten, und ging zur Terrassentür. »Stört es euch, wenn ich ein wenig frische Luft hereinlasse?«
»Ganz und gar nicht«, antwortete Allen.
Sie öffnete die Flügeltüren und blickte in die Dunkelheit hinaus. Der kalte Wind tat ihr gut, denn für ihr Unbehagen gab es keine »Buchdeckel«. Es war an keinen Ort gebunden und es war gewiss nichts Wohliges daran. Auf die Erwähnung von Untoten und die Geschichte von den »zwölf Nächten« hätte sie gerne verzichtet. Und was konnte das überhaupt für ein Dorf sein, dessen Name »geronnenes Blut« bedeutete und dessen einziges Gasthaus nach der »Totenglocke« benannt war? Als die Standuhr plötzlich die volle Stunde schlug, fuhr sie zusammen und wandte sich um.
»Es ist Punkt sieben«, stellte Edward überflüssigerweise fest. »Wenn alles glattgegangen ist, sitzen Holmes und Stableford jetzt im Zug.«
»Und umrunden das Tal der Wiedergänger«, ergänzte Allen leichthin.
»Wiedergänger?« Die Dowager Lady Holmes stand in der Tür zum Dienstbotenaufgang und funkelte Edwards Lebensgefährten an. »Ich bin vielleicht kein junges Mädchen mehr, aber ich verbitte mir solche grotesken Vergleiche!«
»Er sprach über den Fluch von Gore, Elizabeth«, entgegnete Edward schnell. »Ich nehme an, du kennst die Geschichten.«
»Natürlich. Gore war zu meiner Zeit ein beliebtes Ausflugsziel. Man fuhr mit der kleinen Schmalspurbahn einmal um das Tal herum, schlenderte dann durch die prächtige Nekropole, besuchte die kleine Kirche, in der man eine Kerze für die ruhelosen Seelen entzündete, und nahm anschließend den Tee im einzigen Gasthaus des Ortes. Wichtig war nur, dass man das Tal vor Einbruch der Dämmerung wieder verlassen hatte, denn bei aller zur Schau gestellten viktorianischen Gelassenheit wollte man natürlich keinem Untoten über den Weg laufen.«
»Hört ihr das auch?«, fragte Harriet in die Gesprächspause hinein. »Sind das die Kirchglocken von Gore?«
Die alte Dame trat zu ihr und lauschte. Das mono­tone Läuten einer Glocke war jetzt deutlich zu hören.
»Es ist mehr als wahrscheinlich«, sagte sie leise. »Ich kenne diese Gegend gut. Die Glocken von Sampford Spiney ertönen erst zur Christmesse und andere Kirchen gibt es auf Meilen nicht.«
»Elizabeth hat recht«, mischte sich Edward ein. »Wenn der Wind richtig steht, hören wir das Läuten aus dem Tal. Der Schall bricht sich dann an der ›Spöttischen Witwe‹. So heißt die steile Felswand an der Nordseite. Die Häuser der Crofts’ und der Hesketts liegen an ihrem Fuß.«
»Aber warum läuten die Glocken immer weiter?«, fragte Harriet und spürte, wie sich das Unbehagen zurück in ihre Gedanken schlich.
Die volle Stunde war vorbei und der Ruf zur Christmesse noch lange hin. Gab es ein Feuer? Einen Unfall? Vielleicht ein Unglück mit der alten Eisenbahn?
»Man nennt es ›Schreckläuten‹, Harriet«, antwortete Allen ruhig. »Es ist ein alter und sehr abergläubischer Brauch während der ›zwölf Nächte‹. Zu dieser Zeit sind die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten weniger starr und …«
»Edward hat uns davon erzählt«, unterbrach ihn Harriet freundlich. »Aber warum tut man es?«
»Um die bösen Geister fern und die Toten in ihren Gräbern zu halten. Der Pfarrer von Gore hat es uns bei unserem letzten Besuch erklärt.«
»Er ist Stammgast in Goffs Pub«, warf Edward ein. »Und wer könnte es ihm bei der Geschichte dieser Gemeinde verdenken?«
»Sicher niemand. Aber ich verstehe immer noch nicht ganz, was es mit dem Läuten auf sich hat.«
»Es soll das Böse bis zum Sonnenaufgang in Schach halten. Du kennst vielleicht die alten Bräuche zur Winter­sonnenwende: ein Fässchen mit Salz vor die Tür stellen oder zwei Besen kreuzweise über die Schwelle legen.«
Harriet schüttelte den Kopf und musste schmunzeln. Ihr Vater, der Vikar von Upper Biggins, würde derlei abergläubischen Schabernack niemals vor seiner Haustür dulden.
»Nein? Nun, es geht dabei darum, dass der Teufel weithin als großer Rechenmeister gilt und so erpicht aufs Rechnen sein soll, dass er alles andere darüber vergisst und uns in Ruhe lässt, solange er etwas zu zählen hat.«
»Du meinst wie die Salzkörner und die Besenreiser?«
»Ganz genau! Oder eben die Glockenschläge. Der Pfarrer, John Little – oder Little John, wie ihn die Einheimischen nennen –, ist mit einer kleinen Gruppe von mutigen Dörflern von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang dafür verantwortlich. Dabei wird das Läuten dreimal in der Nacht für eine kurze Zeit ausgesetzt, um die Kraft des Bösen zu brechen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Nun, die erste Pause macht den Teufel stutzig. Er vergisst die Anzahl der gezählten Glockenschläge und muss beim Wiedereinsetzen des Geläuts von vorne beginnen. Die zweite Pause bringt ihn fast um den Verstand, doch er wird gezwungen, noch einmal zu zählen. Die dritte Pause aber jagt ihn zurück in Hölle. Zumindest bis zur nächsten Nacht, in der das ganze Spiel von vorne beginnt.«
»Und wie unterscheiden die Gläubigen heute Nacht den Ruf zur Christmesse vom Schreckgeläut?«, fragte Harriet.
»Es gibt keine Christmesse in Gore«, antwortete Edward. »Nicht einmal Sternsinger. Niemand verlässt nach Einbruch der Dämmerung das Haus. Schon gar nicht, wenn der Neumond auf die Thomasnacht fällt. Deshalb war ich ja so überrascht, dass Crofts’ Bahn heute Abend überhaupt unter Dampf steht.«
Bis auf Charlotte, die friedlich in der Wiege schlief, traten nun nach und nach alle zu Harriet und Elizabeth an die offene Terrassentür und lauschten. Die »Spöttische Witwe« war nicht zu sehen, aber die Glocke aus dem Tal leise zu hören: Bam, Bam, Bam. Doch was war das? Ein neues Geräusch hatte sich zu dem Geläut gesellt. Es klang wie das Signal einer Dampfpfeife. Da war es noch einmal! Dann folgte Stille. Und während sich der Teufel über die erste Pause ärgern mochte, war Harriet erleichtert. Das Signal war ein sicherer Beleg dafür, dass die Schmalspurbahn tatsächlich »unter Dampf« stand. Und das war eine gute Nachricht, denn sie wünschte sich nichts mehr als die Ankunft Johns am Heiligen Abend.
»Sie sind auf dem Weg«, bemerkte Penelope und begann, leise die Melodie von »God Rest You Merry, Gentlemen« zu summen.
Edward und die alte Dame taten es ihr gleich und als Allens Bass anschließend die erste Strophe von »The First Nowell« anstimmte, fiel Harriet glücklich ein.

Kapitel 3

Horrabridge Halt
»Traumhaft, nicht wahr?«, fragte Holmes und wandte sich halb zu Stableford um, der hinter ihm durch den tiefen Schnee stapfte.
»Was meinen Sie?«
»Nun, die funkelnden Sterne zwischen den dramatischen Wolkenformen und die wie Perlmutt schimmernde Landschaft vor uns. Haben Sie sich einmal umgeschaut?«
»Ich vermisse den Mond.«
»Sie sind eben ein Miesepeter. Die schmale Sichel steht übrigens dort drüben. Mir kommt es so vor, als würden wir durch eine weihnachtliche Theaterkulisse oder besser noch durch eine Märchenbuch-Illustration laufen.«
Stableford ignorierte Holmes’ schwärmerische Ausführungen. »Ist es noch weit?«, rief er dem alten Herrn zu, der sich ihnen am Bahnhof von Horrabridge vor über einer Stunde als Dr Lake zu erkennen gegeben hatte.
Er führte die kleine Gruppe von Reisenden an, die zunächst dem Lauf einer kahlen Hecke gefolgt waren und nun im Gänsemarsch ein weißes Feld überquerten.
Wie die ersten Buchstaben der ersten Zeile auf einem ansonsten leeren Blatt Papier, dachte Stableford.
»Ich bin mir nicht sicher«, gab der Mann mit heiserer Stimme zurück. »Früher sah hier alles anders aus und die Plattform lag in einem kleinen Wäldchen in der Nähe eines alten Kreuzweges.«
»Plattform?«, mischte sich die hinter Stableford gehende Dame ein, deren Koffer er trug. Sie hatte sich ihnen als Miss Colefax vorgestellt, war hochgewachsen, um die fünfzig und mit demselben Zug wie Dr Lake von Plymouth angereist. »Dann handelt es sich nicht um einen richtigen Bahnhof mit einem anständig geheizten Wartehäuschen?«
»Leider nein«, gab Dr Lake mit Bedauern in der Stimme zurück. »Es ist eher eine simple Holzkonstruktion, die das Ein- und Aussteigen vereinfacht. So war es zumindest damals und ich wüsste nicht, warum sich daran etwas geändert haben sollte.«
»Das hat es nicht«, bestätigte eine schlanke junge Frau mit langen roten Haaren, die hinter Miss Colefax lief und die Gruppe abschloss. »Zumindest sprach mein Großvater von einer Viehrampe.« Sie trug ihren Koffer selbst und hatte sich ihnen am Bahnhof nicht vorgestellt, aber ihr selbstbewusstes Auftreten legte nahe, dass sie oder ihre Familie in dieser Gegend etwas darstellte.
Was genau das sein mochte, war Stableford in diesem Moment aber vollkommen egal. Seine Schuhe waren durchnässt, seine kofferbepackten Hände taub vor Kälte und außerdem fragte er sich seit geraumer Zeit, ob es richtig gewesen war, einem Wildfremden in diese lebensfeindliche weiße Wüste zu folgen. Holmes hatte ihn inzwischen in Lord Sampfords Plan eigeweiht, aber wusste Penelopes Bruder mehr über Dr Lake als sie? Stableford war jedenfalls aufgefallen, dass der Doktor selbst dann traurig aussah, wenn er sich an einem Lächeln versuchte. Dass er sie in dieser gottverlassenen Gegend zu einer »Plattform« bringen würde, erschien Stableford nach den letzten fünfundvierzig Minuten zumindest ebenso wahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass er sich am »Kreuzweg« mit dem Teufel verabredet hatte, um ihm ihre Seelen zu verkaufen.
Stableford hatte gerade damit begonnen, sich diese groteske Szene auszumalen, als hinter einem kleinen Hügel völlig unverhofft ihr Ziel samt einer unter Dampf stehenden Lokomotive mit zwei dunklen Wagons in Sicht kam. Kurze Zeit später standen die fünf Reisenden auf der schneebedeckten Plattform, über die ein eisiger Wind pfiff.
»Es wird aber auch Zeit!«, rief ihnen ein stämmiger Mann zu, der nach ihrer Ankunft der Lok entstiegen war. Er trug einen dunklen Overall und zog seine Mütze vom Kopf, als er die Gruppe erreicht hatte. »Mein Name ist Brand«, sagte er nun deutlich freundlicher. »Ich bin der Lokführer. Bei dieser Kälte müssen wir der alten Milly kräftig einheizen und uns wird langsam die Kohle knapp. Ich möchte Sie also bitten einzusteigen, damit wir sofort abfahren können. Und noch ein gut gemeinter Rat: Nutzen Sie in Ihrem eigenen Interesse den zweiten Wagen! Im ersten riecht es immer noch ziemlich streng, weil wir gestern Morgen die beiden Silvester-Schweine für den Metzger von Gore transportiert haben.«
»Silvester-Schweine?«, fragte Holmes verwundert.
»Oh ja! Sie werden für die Braten zum Jahreswechsel traditionell am 23. Dezember geschlachtet.«
Stableford sah zu, wie die beiden Frauen das erste Abteil des zweiten Wagens bestiegen, und folgte dann Holmes und Dr Lake, die sich zum letzten Abteil aufgemacht hatten. Die Bemerkung der jungen Dame über die Viehrampe ging ihm nicht aus dem Kopf. Ob die Tiere wohl geahnt hatten, welches Schicksal sie am Ende ihrer Reise ereilen würde? Und wie sicher konnten sich Holmes und er sein, die Station von Hatton Hall mit einer Dampflok zu erreichen, die scheinbar aus dem letzten Loch pfiff?
Die drei Männer hatten gerade Platz genommen, als sich der Zug, ohne ein Signal zu geben, ruckartig in Bewegung setzte.
»Kennen Sie Gore?«, fragte Dr Lake, der sich ihnen in Fahrtrichtung gegenübergesetzt hatte, und brachte dabei das Kunststück fertig, mit heruntergezogenen Mundwinkeln zu lächeln. »Wohl kaum«, setzte er schnell hinzu, ohne auf eine Antwort zu warten. »Sonst würden Sie das Tal nicht während der zwölf Nächte besuchen. Ich nehme an, Sie sind Gäste des bekannten Rechtshistorikers Sir Walter Crofts.«
Holmes schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann feiern Sie Weihnachten nicht auf Wicked?«
»Wicked?«
»Wicked House.«
»Oh, nein. Wir nutzen lediglich die Schmalspurbahn, um auf diesem Weg nach Hatton Hall zu gelangen.«
»Lord Sampfords Anwesen! Wie geht es dem alten Knaben? William muss doch mittlerweile weit über achtzig sein.«
»Der Sechste Earl of Sampford ist tot«, antwortete Holmes ernst. »Sein Sohn Edward trägt nun den Titel.«
»Edward, ja. Ich erinnere mich an ihn. Ein aufgeweckter Bursche, der mit Harold, Sir Walters älterem Sohn, gut befreundet war. Damals waren sie natürlich noch Kinder. Edward hatte auch eine Schwester, nicht wahr?«
»Penelope.«
»Richtig. Mich würde interessieren, was aus ihr geworden ist. Ein freches Ding! Aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Sie ging schon mit zehn Jahren regelmäßig mit ihrem Vater auf die Jagd. Ein bemerkenswertes Mädchen!«
»Und eine bemerkenswerte Frau«, sagte Holmes und lachte. »Ich habe das Glück, ihr Ehemann zu sein.«
»Da bin ich sicher«, bemerkte Dr Lake. »Und Sie beide haben das Glück, noch heute Nacht dieses Tal wieder verlassen zu können. Mir ist das leider nicht vergönnt.«
»Dann feiern Sie mit den Crofts?«
»Ja. Wobei ich mich immer noch frage, weshalb ich eingeladen wurde. Miss Colefax besucht ihre Schwester, die auf Wicked angestellt ist. Und die junge Miss Crofts kehrt heim, um das Fest im Kreis ihrer Familie zu verbringen. Margery ist Sir Walters Enkelin, die Tochter von Harold Crofts.«
»Und in welchem Verhältnis stehen Sie zur Familie?«, fragte Stableford mehr aus Höflichkeit.
»Nun, in keinem! Ich kenne sie natürlich, denn ich habe hier viele Jahre praktiziert. Aber wir standen uns nie nahe und ich war von der Einladung tatsächlich mehr als überrascht. Zumal sie erst vorgestern in der Form eines knapp gehaltenen Telegramms bei mir eintraf.«
»Und Sie haben sich bei diesem Wetter dennoch spontan auf den Weg gemacht?«
»Ja. Ich war neugierig und hatte keine anderen Verpflichtungen.«
Während der Unterhaltung hatte der Doktor immer wieder aus dem Fenster geschaut. Stableford wunderte sich darüber, denn seit der Abfahrt hatte zu ihrer Linken ununterbrochen ein Wäldchen die Schienen gesäumt. Doch jetzt war der Blick auf einmal frei.
»Da, sehen Sie!«, rief Dr Lake. »Dort unten liegt Gore.«
Holmes und Stableford blickten hinaus. Tatsächlich erkannte man inmitten des weißen Tals eine kleine Ortschaft mit vielleicht zwanzig zusammengeduckten Häuschen, die sich allesamt an einen trutzigen frühgotischen Turm zu lehnen schienen, der sicher zur Kirche des Dorfes gehörte. Die Szenerie erinnerte Stableford an Miniatur-Landschaften in Schneekugeln. Nur dass es diesem »Idyll« an Beschaulichkeit mangelte.
»Die Lichter hinter den Fenstern wirken so fahl«, bemerkte Holmes, der wohl etwas Ähnliches fühlte.
»Es sind Petroleumlampen«, antwortete Dr Lake. »Die Elektrifizierung von Gore steht noch aus. Aber ich kann Ihnen versichern, dass dieser Ort in mehr als einer Hinsicht aus der Zeit gefallen ist.«
»Märchenhaft, finden Sie nicht, Stableford?«
»Eher mittelalterlich, wenn Sie mich fragen. Aus der Entfernung wirkt das Dorf auf mich unheimlich und unwirklich zugleich.«
»Sie haben ein gutes Gespür, junger Mann! Genau das ist Gore: unheimlich und unwirklich. Darum bin ich weg. Sie kennen die Geschichte des Fluchs von Gore natürlich.«
»Nein«, antwortete Holmes, während Stableford nur den Kopf schüttelte.
»Dann will ich Sie damit auch nicht belasten. Sie verlassen das Tal ja noch heute. Es gibt also keinen Grund, Ihnen unnötig Angst zu machen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich keine Nacht in Gore verbringen würde. Die Häuser der Crofts, Hesketts und Badleys sind davon selbstverständlich ausgenommen. Es sind glückselige Inseln der Aufklärung in diesem verwunschenen Tal.«
»Und der Weg dorthin?«, fragte Holmes amüsiert.
»Nun, ich genieße ja das Privileg Ihrer Gesellschaft. Und wie sagt man so schön? Zu mehreren ist man sicherer, nicht wahr?«