Der Fisch - Ulrich Magin - E-Book + Hörbuch

Der Fisch Hörbuch

Ulrich Magin

3,9

Beschreibung

Der Tod lauert im Bodensee Taucher verschwinden spurlos, eine Fähre sinkt unter mysteriösen Umständen. Carl Ghuimin, der am Bodensee forscht, entdeckt auf dem Echolot etwas, das er für einen riesigen Fisch hält. Als er seine Entdeckung veröffentlichen will, stellt man ihn kalt. Mit einer Journalistin ermittelt er im Geheimen weiter. Anscheinend treibt im Bodensee ein Seeungeheuer sein Unwesen. Doch wo kommt es her? Und was hat es vor? Als Carl die Wahrheit erkennt, ist es fast zu spät, um die Katastrophe noch abzuwenden. Ein Öko-Thriller - packend und beklemmend zugleich.

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Zeit:11 Std. 11 min

Sprecher:Jürgen Holdorf

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Ulrich Magin

Der Fisch

Thriller

Impressum

ISBN 978-3-8412-0713-5

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2008 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Mediabureau Di Stefano, Berlin

unter Verwendung eines Motivs von © Bradley Mason/iStockphoto.com

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

Inhaltsübersicht

Cover

[Impressum]

Prolog

8. September

4. Oktober

1. Teil - Fische

1 - 21. März

2 - 26. März

2. Teil - Lichter

3 - 4. Mai

4 - 23. Mai

3. Teil Stille

5 - 25. Mai

6 - 26. Mai

4. Teil - Vorbereitungen

7 - 27. Mai

8 - 28. Mai

5. - Teil - 0811

9 - 29. Mai

10 - 1. Juni

6. Teil - Jagd

11 - 2. Juni

12 - 3. Juni

7. Teil - Die Tiefe

13 - 4. Juni

14 - 5. Juni

Epilog

10 Jahre später, Sommer

Dank

Lesetipps

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

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Für Susanne und meine Eltern in Liebe

Prolog

Oder die völlige Finsternis des tiefen Meeres: eine Woge über der anderen bedeckt sie, und über der Woge ist die Wolke; eine Schicht Finsternis über der anderen; wenn man die Hand ausstreckt, kann man sie fast nicht mehr sehen.

Sure 24, 40

8. September

Schon seit Stunden hatte kein Fisch angebissen. Der Angler streckte sich und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Vor ihm stand die Büchse mit den Ködern, daneben der immer noch leere Plastikeimer für den Fang. Er sog die kühle Morgenluft ein, schloss die Augen und genoss die Ruhe. Nebel verdeckte das gegenüberliegende Ufer, schwebte über das Wasser auf ihn und sein Boot zu, färbte sich erst rosa, dann orange, schließlich karmesinrot: Die Sonne war aufgegangen, und ihr noch fahles Licht kroch über den See. Die Wellen waren kaum mehr als träge Schlieren, der Kahn schaukelte sanft. Der Angler fasste wieder nach der Rute.

Plötzlich zog es an der Leine. Hart, fest, ruckartig.

Die Schnur war in Sekundenbruchteilen angespannt und riss fast. Da musste ein kapitaler Bursche angebissen haben! Der Angler erinnerte sich, dass er an fast der gleichen Stelle vor ein paar Jahren einmal einen Riesenhecht geangelt hatte. Über eine Dreiviertelstunde lang hatte er mit dem Raubfisch gekämpft, doch es war all die Mühe wert gewesen. Mehr als einen Meter und sechzehn Zentimeter maß der schuppige Bursche von der spitzen Schnauze bis zum Ende der Schwanzflosse, fast vierundzwanzig Pfund brachte er auf die Waage. Und doch – als der Hecht damals anbiss, war das nur ein zaghaftes Zupfen an der Leine gewesen.

Dann ein neuer Ruck, die Leine spannte sich bis zum Zerreißen, die Rute bog sich durch.

Das musste ein Hecht sein, ein starker Kerl, ein Rekordexemplar!

Immer noch straff gespannt, zeigte die Schnur langsam nach vorn, zog die Rute mit sich. Der Angler musste sein Gerät fest umklammern, damit es ihm nicht entglitt. Er fluchte, als er sich dabei an der Hand verletzte.

Was war das nur für ein Fisch? Welcher Fisch hatte eine solche Kraft?

Das Ruderboot knarzte und drehte sich langsam, dann setzte es sich in Bewegung, erst zögerlich und gemächlich, bald immer schneller.

Links und rechts des Bootes schäumten Wellen auf, das Boot begann über das Wasser zu rasen. Der Angler kniete sich hinter die Ruderbank, um einen besseren Halt zu haben. Er fühlte sich, als zöge ihn ein Motorboot.

Die Angelrute fest an sich geklammert, sah der Mann über seine Schulter. Der Wind zerrte an seinen Haaren. Das Boot durchfurchte die Oberfläche des Sees und ließ einen breiten Streifen schäumendes und aufgewühltes Wasser hinter sich. Das Ufer war schon weit entfernt und entfernte sich mit jedem Augenblick weiter von ihm – es glich nur noch einem undeutlichen Strich. Der Angler überlegte, ob er die straff gespannte Leine kappen sollte. Aber dann würde die wild um sich schlagende Schnur ihn vielleicht schwer verletzen.

Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Drei Minuten? Fünf Minuten? Er wusste es nicht zu sagen, er brauchte all seine Kraft, um die Angel zu halten. Was immer es war, das ihn zog, kam für Sekundenbruchteile nahe an die Oberfläche: ein grauer, länglicher Schatten, mindestens doppelt so lang wie sein Boot!

Den Angler übermannte Panik.

Was hatte er da gefangen?

Jetzt schrie er laut um Hilfe, aus einem uralten, ererbten Instinkt heraus, doch er war längst zu weit draußen auf dem See, als dass ihn jemand an Land hätte hören können. Das Rauschen des Wassers übertönte sein Rufen.

Schließlich riss die Angelschnur mit einem lauten Knall. Die Wucht schleuderte ihn nach vorn, er stolperte über die Ruderbank und rammte die Seitenwand des Kahns gegen seinen Magen. Er verlor das Gleichgewicht, dann fiel er über Bord.

Der kalte See schlug über ihm zusammen, er strampelte an die Oberfläche zurück und spuckte hustend Wasser aus. Neben ihm stand schräg das Boot im Wasser. Über die Schlagseite füllte es sich, dann drehte es sich und versank. Das alles geschah schneller, als er es für möglich gehalten hätte.

Dann sah er zum Ufer hin, das zu weit entfernt war, um es schwimmend zu erreichen. Er spürte, wie die Kälte in seinem Körper hochkroch. Eine Welle erfasste ihn, hob ihn an – die Bugwelle einer Fähre.

Der Angler griff nach dem Rettungsring, der ihm zugeworfen wurde. Dann zogen ihn mehrere Leute an Bord des Schiffes.

Sie wollten wissen, was mit ihm geschehen war. Er erzählte, sein Boot sei von einer Welle getroffen worden und dann gesunken. Über den riesigen Fisch, der ihn gezogen hatte, sagte er lieber nichts.

Wegen des Vollbartes, der ihm nach einer Woche Urlaub gewachsen war, erkannte ihn niemand. Es war besser so, dass niemand wusste, dass er Innenminster dieses Landes war, verantworlich für die Sicherheit. Schlagzeilen konnte er nicht gebrauchen.

4. Oktober

Seit sechs Wochen registrierte der Fühler 252 Meter unter der Seeoberfläche die Temperatur des Tiefenwassers und meldete seine Messung über eine Glasfaserverbindung nach oben: 8,5 °C, 8,7 °C, 9,5 °C.

Er tat das automatisch alle fünf Minuten. Tagaus, tagein.

Bis zu diesem Tag.

Um 6.05 Uhr übermittelte das Instrument noch Daten an den Computer, um 6.10 Uhr blieb es stumm, um 6.15 Uhr und um 6.20 Uhr ebenfalls und um 6.25 Uhr desgleichen. Es meldete an diesem Tag und den folgenden Tagen nichts mehr – ob es noch maß, konnte niemand sagen. Dieser Ausfall des Fühlers beunruhigte die Forscher im Institut jedoch nicht sehr. In den letzten sechs Monaten waren nach und nach drei Fühler ausgefallen, sechs funktionierten noch. Gründe für einen Ausfall konnte es viele geben: Vielleicht waren die Geräte fehleranfälliger als gedacht, vielleicht hatten kleine unterseeische Erdrutsche die Verbindungskabel gekappt. Das Budget war jedenfalls nicht hoch genug, um die defekten Instrumente zu ersetzen.

»Verdammter Mist, jetzt auch noch das!«, fluchte der Techniker, als er den Ausfall bemerkte. Ihm war klar, dass nun wieder der Papierkram losging: Antragsformulare für Fördergelder mussten ausgefüllt werden, er musste die Reparaturzeit einschätzen, die Mitwirkung von Fremdfirmen begründen und so weiter.

Er hatte Nachtschicht. So was passierte immer nur kurz vor Feierabend. Seufzend ließ er sich auf seinen Stuhl fallen.

Moment! Da war ja noch die Kamera mit Restlichtverstärker, welche die Entnahme der Wasserproben überwachte. Sie befand sich auf dem Seegrund keine fünfzig Meter vom Temperaturfühler entfernt. In Intervallen von zwanzig Sekunden schoss sie ein Bild, das auf dem Zentralrechner des Instituts gespeichert wurde.

Der Techniker kramte nach der Bedienungsanleitung für das Aufzeichnungsgerät, das die Aufnahmen digital speicherte. Hier war sie ja! Er klickte das Icon auf dem Schirm an und bediente manuell die Rückspulfunktion.

Endlich erschien das Video auf dem Monitor. Die Kamera hatte tatsächlich etwas aufgenommen.

Zuerst war das Bild klar. In der rechten unteren Ecke wurde die Zeit gezählt. 6.06 Uhr. 6.07 Uhr. Nun schaukelte die Kamera, erst nur leicht von Seite zu Seite, dann heftig und immer stärker. Seltsam, dort unten, an dieser Stelle, sollte das Wasser ziemlich ruhig sein. Plötzliche Turbulenzen gab es hier eigentlich nicht. Dann stieg aufgewühlter Schlamm hoch und trübte den Blick, und dann … näherte sich etwas … im Schlammnebel … eine schwarze, fette, vierfingrige Hand.

Das konnte nicht sein!

Der Techniker spulte zurück, fror die Aufnahme als Standbild ein. Was beim ersten Hinschauen klar und deutlich erschienen war, wirkte nun verzerrt und unscharf. Er war sich unsicher: War das wirklich eine Hand oder nur eine vage Form, in die sein Gehirn Muster hineininterpretierte? War es nur eine optische Täuschung, nur dunkle Stellen im trüben Wasser?

Sollten sich doch die Wissenschaftler darum kümmern, die auch sonst für alles eine Erklärung hatten, dachte er. Ihm klang noch ihr Lachen in den Ohren, weil er erzählt hatte, dass er morgens beim Joggen einen Wal vor sich aus dem See auftauchen gesehen hatte. Sicher, er wusste selbst, dass es keine Wale im Bodensee gab – nur: Was er gesehen hatte, hatte er gesehen! Eine nackte Hand in 252 Meter Tiefe war allerdings tatsächlich lächerlich!

Er bestellte einen neuen Temperaturfühler, den ein ferngesteuertes Mini-U-Boot dann, wenn sie wieder über die Mittel verfügten, auf den Seegrund bringen würde.

Jetzt war erst einmal Feierabend. Raus aus dem Keller!

Sie nannten ihn Joe – Joe den Frosch.

Er stand auf einem Fensterbrett und blickte mit seinen Glubschaugen auf das Schaubild, das mit einer Stecknadel an der Wand befestigt war und das zwei Linien zeigte, die in einem scharfen Zickzack nach oben kletterten, wie das Diagramm einer Serpentinenstraße hinauf zu einem Alpenpass. Daneben befanden sich ein Karton Salz und verschiedene Gläser voll Lebensmittelfarbe, mit denen Experimente durchgeführt werden konnten.

Die Kinder starrten alle auf den Frosch. Carl Ghuimin war das gewohnt – es war nicht die erste Klasse, der er im Institut die komplexen Verhältnisse im See, die Auswirkung des Treibhauseffekts auf die unteren Seeschichten und den Gedanken der ökologischen Verantwortung vermittelte.

Die Vorträge fanden in der Bibliothek des Instituts statt. Carl wartete, bis alle sich hingesetzt hatten. Er fuhr sich mit der Hand durch seine struppigen, kurzen Haare und rückte sein Jackett zurecht. Institutsführungen und Referate gehörten zum Job eines Doktoranden. Er mochte Kinder eigentlich nicht, doch er liebte das Lehren. Carl richtete den roten Laserpunkt seines Pointers auf das vom Weltraum aus aufgenommene Foto der Erde, das der Beamer auf die Leinwand warf.

»Weiß jemand von euch, wo der Nordatlantik liegt?« Mit dieser Frage konnte man sie immer kriegen.

Ein Dutzend Hände streckte sich in die Höhe. So war das mit Zwölfjährigen – jetzt wollten sie noch was lernen, in ein paar Monaten kämpften sie bereits mit der Pubertät.

»Der Nordatlantik ist wichtig für den Bodensee, denn unser See ist an dieses große Meer gekoppelt, genauer: an die NAO. Das ist kein Fremdwort und hat nichts mit einem verdrehten Noah zu tun, auch wenn wir den und seine Arche vielleicht bald brauchen könnten. NAO ist eine Abkürzung, ein Fachwort, und meint die nordatlantische Oszillation. Das klingt komplizierter, als es ist. Einfach gesagt, benennt NAO den Unterschied im Luftdruck zwischen zwei Stellen im Nordatlantik. Forscher messen nämlich den Luftdruck in Reykjavik und in Lissabon. Je stärker die Unterschiede im Druck sind – ihr kennt das von der Wetterkarte als Islandtief oder Azorenhoch –, desto größere Stürme entstehen. Im Winter sorgen dann die Stürme für milderes Klima, weil sie die kalte Luft wegpusten. Je höher also der Druckunterschied ist …«, Carl zeigte mit dem roten Laserpunkt des Pointers erst auf Island, dann auf Portugal, »desto mehr Stürme gibt es, desto milder werden die Winter, desto wärmer wird das Erdklima.«

Ein Blick auf die Klasse zeigte Carl, dass nicht jeder der jungen Schüler seinen Ausführungen folgen konnte. Er wollte sich deshalb auf den See konzentrieren – um den ging es schließlich.

»Wenn ihr auf dieses Bild schaut«, nun drehte sich Carl zu den Zickzackkurven an der Wand um, »dann seht ihr zwei aufsteigende Linien. Die eine zeigt den Anstieg der Luftdruckunterschiede im Nordatlantik, die andere die Erhöhung der Durchschnittstemperatur des Wassers im Bodensee. Ihr könnt erkennen, dass das alles ziemlich klettert – die durchschnittliche Temperatur des Seewassers von 4,5 °C 1960 um eineinhalb Grad auf 6 °C im Jahre 2000. Das scheint nicht viel, ist es aber. Man nennt das die globale Erwärmung oder den Treibhauseffekt. Wenn ihr genau hinschaut, bemerkt ihr, dass die Kurve, die die Temperatur des Bodensees anzeigt, etwa ein Jahr der des Nordatlantiks hinterherhinkt. Das kommt daher …«

Carl wechselte das Bild auf dem Beamer. Jetzt war er in seinem Element. Auf der Leinwand konnte man nun eine Art Trog sehen, der durch farbige Striche in drei horizontale Bereiche getrennt war.

»Hier seht ihr einen Querschnitt durch den Bodensee. Oben ist eine rote Schicht Wasser, darunter eine grüne, und das Wasser unten am Seegrund ist blau eingezeichnet.«

Carl blickte auf die Jungen und Mädchen. Er war ein souveräner Redner; gleichwohl genoss er auch die bewundernden Blicke. In vier bis sechs Jahren würden die Schüler ihre Lehre beginnen oder für das Abitur büffeln, würden Sachbearbeiter oder Bankangestellte werden. Ob sich wohl auch zukünftige Wissenschaftler unter ihnen befanden? Oder –

so wie er, als er achtzehn Jahre alt war – Punks, die ihr eigenes Ding durchzogen, die sich nicht um die Meinung der anderen scherten? Würden sie sich, so wie er damals, als Greenpeace-Aktivist engagieren oder nur nach Geld gieren?

Carl liebte den See. Als sich die anderen Jungen für Sport, Autos oder Dinosaurier interessierten, wollte er nur Bücher über Seen lesen. Nicht über das Meer: Haie und Wale ließen ihn kalt. Seen faszinierten ihn, ausschließlich Seen und vielleicht noch große Flüsse. Seen waren das Gedächtnis der Erde, sie steckten voller Geheimnisse.

»Was bedeuten die Farben?«, fragte ein Junge, der wirklich interessiert zu sein schien.

Carl musste schmunzeln. Gut so!

»Nun, diese Farben zeigen Schichten von unterschiedlich warmem Wasser. Das ist wie bei dem Wasserhahn an eurer Badewanne – Blau ist kalt, Rot ist warm, das grüne Wasser ist – sagen wir mal – lauwarm. Unten im See ist das Wasser kalt – oder sollte es zumindest sein. Aber gerade da unten wird es immer wärmer. Ein See ist nämlich nur scheinbar in Ruhe. Tatsächlich toben darin Gewalten, von denen ihr nichts ahnt.«

Carl erklärte Schülern gern die Arbeit von Seenforschern. Er verzichtete dabei auf komplizierte Worte wie Phytoplankton, Zooplankton, Hypolimnion oder Holomixis und versuchte, die komplizierten Verhältnisse im See in einfachen Worten zu schildern. Trotzdem: Er hatte nicht immer bei allen Erfolg.

Ein dickes Mädchen etwa, das in der zweiten Reihe saß, blickte aus dem Fenster auf den Bodensee, der in vielen kleinen Glitzerflecken im Sonnenlicht blinkte. Ihre Wangen waren wie vor Aufregung gerötet, aber Carl war sich bewusst, dass es sicherlich nicht sein Vortrag war, der sie so beschäftigte.

Er ließ sich nicht stören und fuhr fort: »Kaltes Wasser ist schwerer als warmes. Am Ende des Winters sinkt das abgekühlte Oberflächenwasser deswegen bis auf den Seegrund. Und das ist ganz schön viel Wasser. Ihr müsst euch das wie einen riesigen Wasserfall vorstellen. Ungeheure Massen von kaltem Wasser donnern in die Tiefe des Sees. Auch wenn hier die Oberfläche völlig ruhig wirkt, rast dieses kalte Wasser in gewaltigen Wasserfällen die steilen Uferwände innerhalb des Sees hinab und drückt wärmeres Wasser vom Seegrund hoch. Alles wird durcheinandergequirlt. Das ist, wie wenn man mit einem Paddel die Badewanne umrührt. Durch diesen Vorgang kommt frisches Wasser auf den Seegrund, der ganze See hat nur noch eine Temperatur, bis im Frühjahr und Sommer die Hitze eine erneute Schichtung schafft. Unten bleibt es kalt, oben erwärmt es sich erneut. Nun sind aber die Winter zu mild geworden, die Wasserfälle bleiben aus, und der ganze See erwärmt sich allmählich bis in die tiefsten Tiefen. Denn je wärmer das Oberflächenwasser im Winter ist, desto weniger sinkt es. Normalerweise bringt aber das kalte Wasser Sauerstoff in die tiefen Schichten, und ohne Sauerstoff können auch die Fische nicht atmen. Und wenn das Wasser an der Oberfläche immer wärmer wird, begünstigt das das Algenwachstum – ihr kennt das schmierige grüne Zeug am Ufer, das da wuchert, wo es seicht und warm ist.« Er machte eine kurze Pause und schaute in die Runde, bevor er fortfuhr.

»Für gewöhnlich erfolgt an großen Seen so ein complete mixing oder full turnover, die vollständige Umwälzung, die die Wissenschaftler Vollzirkulation nennen, diese völlige Durchmischung des Wassers, ein- oder zweimal im Jahr. Diese Durchmischung des Sees bestimmt – wie gesagt – die Gesamttemperatur des Wassers, das Algenwachstum und die Sauerstoffzufuhr für das Tiefenwasser. Aber hier, am Bodensee, ist die Zirkulation jetzt im 16. Jahr in Folge ausgeblieben. Der ganze See ist also gestört.«

Einige der Schüler schienen schon erstaunt zu sein. Wenn man gerade knapp über ein Jahrzehnt alt war, mussten sechzehn Jahre astronomisch lang klingen.

»Vom Sauerstoff und von vielem anderen ist jedoch das Wachstum von Plankton abhängig. Plankton – das sind winzige Tiere und Pflanzen, die man nur unter dem Mikroskop sehen kann.«

Das dicke Mädchen stierte immer noch gebannt aus dem Fenster auf den glitzernden See. Wie eine Pantomimin zeigte sie plötzlich mit ausgestrecktem Finger auf das Wasser und wackelte nervös auf ihrem Stuhl. Ihr Mund schnappte auf und zu wie bei einem Fisch, der auf dem Trockenen nach Luft japst. Ein paar Schüler sahen sie an und begannen zu feixen.

Dicke Kinder sind nie beliebt, dachte Carl, aber er ließ sich von den Grimassen der Schüler nicht beirren. »Manche Fische können nur leben, wenn eine bestimmte Sorte Plankton da ist. Jetzt haben wir festgestellt, dass sich durch die Erwärmung des Seewassers die Zusammensetzung des Planktons ständig ändert: Arten, die vor zehn Jahren noch zahlreich waren, sind fast ausgestorben, andere Arten, die vor zehn Jahren ganz selten waren, nehmen überhand. Das führt dazu, dass ganze Fischarten im See vom Aussterben bedroht sind – könnt ihr euch das vorstellen?«

Die Schüler zeigten sich weniger beunruhigt, als Carl erwartet hatte. Ihn erschreckte die Vorstellung, dass eine nur minimale Veränderung der Wassertemperatur ganze Fischarten ausrotten konnte – mit unabwägbaren Konsequenzen für das gesamte Ökosystem. Den Kindern schien es gleichgültig zu sein, aus welcher Sorte Fisch man ihre Fischstäbchen formte.

»Aber es ist doch egal!«, schrie ein vorwitziger Junge, offenbar der Coole in der Klasse, der sich schon mehr herausnahm als die anderen, »ist doch egal, welcher Fisch überlebt – es gibt dann immer noch andere Fische!«

»Das stimmt schon«, erklärte Carl. »Aber stell dir einfach mal vor, es geht nicht um zwei Sorten Fische, sondern um Fische und Menschen. Einer stirbt aus, der andere überlebt.«

»Dann würde ich zu den Menschen halten!«

»Ja, doch was ist, wenn die Fische gewinnen?«

Der Junge blickte ihn ratlos an, und Carl nutzte die pädagogische Chance: »Genau deshalb müssen wir etwas für den Schutz und die Erhaltung unserer Umwelt, vor allem aber unserer Seen, und gegen ihre fortschreitende Verschmutzung und Erwärmung tun. Denn glaubt mir: Jeder von uns kann etwas dagegen tun.«

»Wir können nichts dagegen tun!«

General Bilderberger starrte auf den Monitor. Der Schirm blieb schwarz. Es gab nichts zu sehen, die Verbindung war tot. Das ganze System hatte Unsummen gekostet, und nun funktionierte nichts mehr!

Für dieses ganze Computerzeug bin ich zu alt, dachte der General.

Der hochgewachsene Mann mit dem kurz geschnittenen grauen Haar wollte Informationen. Und er wollte sie schnell – schnell und präzise, wie er es gewohnt war. »Was soll das heißen, wir können nichts tun?«

Der Raum lag in Dunkelheit, das einzige Licht stammte von zwölf flackernden Monitoren, die an einer Wand gestapelt standen. Oberflächlich betrachtet zeigten die Bildschirme nur statisches Rauschen, in Wirklichkeit handelte es sich um die von restlichtverstärkenden Spezialkameras übertragenen Videobilder des Grundes, die den unablässig rieselnden Seeschnee zeigten: Staub, Plankton und Reste kleiner Fische, die von oben herabregneten. Stundenlang betrachteten eigens ausgebildete Posten dieses ermüdende Flimmern, tagaus, tagein, in der vagen Hoffnung, den Feind vor die Linse zu bekommen. Bisher vergebens. Es hatte sich noch keiner von den erwarteten fremden Wesen gezeigt. Und nun waren zwei der Augen in die Tiefe blind.

»Die beiden Überwachungskameras«, entgegnete der untergebene Offizier hastig und sah General Bilderberger direkt an, »sind heute vom Netz gegangen. Eine bei minus 80 Metern auf der Mainau-Schwelle, die andere bei minus 120 Metern vor Langenargen.«

»Die Gründe des Ausfalls!«, verlangte Bilderberger.

»Noch nicht bekannt.« Der Offizier ließ sich keine Unsicherheit anmerken. »Ein mechanisches Versagen ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Vermutlich wurden die Kabel durchtrennt. Und …«

»Was und?«, hakte der General sofort nach. Seine Ungeduld war ihm deutlich anzumerken. Bilderberger mochte und erwartete Effizienz. Das hier war ineffizient.

»Wir haben Meldung vom Limnologischen Institut für die Erforschung des Bodensees. Zur selben Zeit stellte der untere Fühler ihrer Thermistor-Kette die Funktion ein.«

Bilderberger hob fragend eine Augenbraue. Er kannte sich in der militärischen, nicht aber unbedingt in der zivilen Technik im See aus.

»Es handelt sich um Ketten von Temperaturmessgeräten. Das Institut hat sie in den ersten 30 Metern alle drei Meter angebracht, dann alle zehn Meter bis hinunter nach minus 252 Meter. Sie hängen von einer Boje herab, senden die Messungen kontinuierlich per Funk an das Institut. Normalerweise geschah das alle zwanzig Minuten, auf unseren Wunsch hin dann alle fünf Minuten.«

»Gibt es einen Zusammenhang mit unseren technischen Problemen?« Bilderberger mochte keine ausufernden Erklärungen, es sei denn, sie stammten von ihm selbst.

»Ein Zusammenhang kann beim derzeitigen Wissensstand weder bestätigt noch verneint werden.«

»Dann schauen Sie nach!« Bilderberger wirkte ungehalten. »Man muss die Kameras doch reparieren können!«, zischte er.

»Das geht nicht auf die Schnelle. Wir können da ja nicht einfach einen Elektriker runterschicken! Zudem …«

Bilderberger sah den Offizier scharf an.

»Wir müssen auch das hier noch analysieren«, sagte der Techniker hilflos, dann drückte er einen Knopf.

Es blubberte und piepte im Lautsprecher, so regelmäßig und präzise, dass es tatsächlich intelligente Signale sein konnten. Das Piepen, ein harter, hochfrequenter Ton, wurde stärker, dann wieder schwächer. General Bilderberger sah auf die Uhr: Der Ton wiederholte sich exakt alle fünf Sekunden. Ein Sonarpeilton wie bei einem U-Boot oder einem Delphin. Ein Delphin im Bodensee? Ausgeschlossen. Ein U-Boot – von wem?

Das Blubbern mochte schon von einem an den Unterwassermikrofonen vorbeiziehenden U-Boot stammen, und doch fehlten die typischen Geräusche der Schrauben.

Bilderberger blickte den Offizier an.

Der Techniker zuckte ratlos mit den Schultern. »Wir sind dran, aber wir können noch nichts Genaues sagen. Das kann alles sein – von einem Fisch bis zu einem ferngelenkten Miniatur-U-Boot.«

»Es geht nicht darum«, stellte Bilderberger klar, »was es sein könnte. Es geht darum, was es ist. Es werden wohl kaum Fische sein! Fische stellen keine Mikrofone ab.«

General Bilderberger war nicht an den See gekommen, um gemocht zu werden, und er saß nicht in diesem winzigen Betonbunker mit all diesen Geräten und blinkenden Konsolen, um sich Freunde zu machen. Er war hier, weil er eine Mission hatte. Aber noch konnte er den anderen nicht sagen, was er bereits wusste. Er war jedoch froh, Mittel in der Hand zu halten, die ihm seine schwierige Arbeit überhaupt ermöglichten. Etwas geschah am Seeboden, und zwar schon seit Jahren. Man hatte Mikro-Erdbeben registriert, die so ungewöhnlich waren, dass das Militär aufmerksam geworden war. Alles wirkte, als führte jemand auf dem Seegrund Bauarbeiten aus – und von dort unterirdisch unter die Uferzone. Bilderberger hatte Gelder erhalten, um den See mit Kameras und Mikrofonen zu überwachen.

Nun aber wurden die Kameras zerstört, und die Mikrofone fielen aus.

Bilderberger hätte nur zu gern gewusst, wer sein Feind war. Es konnten ja wohl kaum kleine grüne Männchen sein.

»Uns könnte es«, beendete Carl seine Führung durch das Institut für die Erforschung des Bodensees, »also leicht so gehen wie unserem Freund da!« Er zeigte auf das Poster, das neben dem Frosch im Wasserglas und neben der Fieberkurve der Nordatlantikerwärmung hing und einen Monstermolch zeigte, unter dem in großen Buchstaben Andrias scheuchzeri stand, die lateinische Bezeichnung für einen längst ausgestorbenen Riesensalamander. »Wir könnten eines Tages von der Erde verschwinden wie dieses Fossil.«

Manche der Kinder sahen ihn mit offenem Mund und erschrockenem Blick an, andere kicherten. Ihm reichte es schon, wenn er sehen konnte, dass er niemanden gelangweilt hatte.

Carl knipste den Beamer aus. »Habt ihr noch Fragen?«

»Das da«, sagte das dicke Mädchen, das so unaufmerksam gewesen war, und zeigte auf das Bild, »das ist ein hässliches Tier. Warum unternimmt niemand etwas dagegen? Das habe ich öfter im Untersee zwischen der Höri und der Schweiz gesehen. Der Molch war so groß wie ein Schiff!«

Carl musste lachen. »Erstens: Kein Tier ist hässlich. Tiere sind anders als wir Menschen optimal an ihre Umgebung angepasst. Und zweitens: Das Tier ist schon lange tot. Vor Millionen von Jahren bereits ausgestorben.«

»Das stimmt nicht!«, erwiderte das Mädchen. »Ich habe es gesehen!«

»Wann denn?«

»Na eben, als Sie gesprochen haben. Das war die ganze Zeit vorm Fenster. Und«, sie hielt inne, drehte den Kopf und deutete mit ihrem dicken Zeigefinger nach draußen, »da ist es schon wieder!«

Die anderen Kinder lachten und stürzten zum Fenster.

»Passt auf Joe auf!«, rief Carl, als er das Glas mit dem Frosch schwanken sah. Es gab Gerangel, dann weiteres Gelächter.

»Du dumme, fette Kuh!«, platzte ein fast genauso dickes Mädchen heraus. »Da ist nichts zu sehen!«

»Tanja ist doof! Tanja ist doof!«, brüllte ein anderes Kind.

Endlich waren die Schüler alle aus der Tür. Schulklassen hinterließen immer Chaos – man konnte schon froh sein, wenn sie keine pubertären Botschaften in die Institutsbänke schnitzten. Carl machte sich daran, zerknülltes Papier (ein Diagramm des Wasserkreislaufs, das er ausgeteilt hatte) vom Boden aufzulesen und von den Tischen zu fegen. Plötzlich fiel ihm die eigentümliche Stille auf.

Es war nicht die Stille, die entsteht, wenn plötzlich Ruhe herrscht in einem überfüllten Raum, sondern die andere Art Stille – das plötzliche Fehlen eines vertrauten Geräusches.

Wo war das Kwaak-kwaak, das Joe gewöhnlich von sich gab?

Carl sah zu dem Glas mit dem Frosch.

Joe war tot! Er lag auf dem Rücken, den Körper im Todeskampf verzerrt, ausgetrocknet. Daneben ein Haufen weißer Körner.

Einer der Schüler musste eine ganze Tüte Salz in das Becken gekippt haben, und das arme Tier war qualvoll verendet. Lurche können nur im Süßwasser existieren, in Salzwasser gehen sie jämmerlich ein.

Waren Menschen so?, fragte sich Carl. Mussten sie alles ablehnen, was irgendwie anders war? War ein Molch denn immer hässlich, ein fettes Mädchen immer nur dumm? Weshalb war es lustig, einen harmlosen Frosch in Todesqualen zucken zu sehen?

1. TeilFische

Und Gott schuf die großen Seeungeheuer …

Genesis 1, 21

1 21. März

Carls klamme Finger pressten sich an den Styroporbecher mit Kaffee. »Hast du die letzte Schicht gehabt?«, fragte er seinen Kollegen Gabriel Iff, der sich im ölverschmierten Overall müde an die Reling lehnte.

»Ja!«

»Und?«

»Gut war es. Acht Kerne, jeder mehrere Meter lang.«

»Alter?«

»Wir sind im postglazialen Bereich. Wir dürften die Sequenz jetzt fast vollständig vorliegen haben.«

»Was Besonderes?«

»Wissen wir erst nach der Analyse.« Wissenschaftler sind immer vorsichtig.

»Aber?« Carl hatte einen seltsamen Ton in der Stimme des Forschers bemerkt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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