Der Fluch der Grinsekatze - C. H. Teal - E-Book

Der Fluch der Grinsekatze E-Book

C. H. Teal

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Beschreibung

Die 17-jährige Schülerin Alice zieht mit ihrem Vater in das abgelegene Dorf Hillsbright. Während die meisten Einwohner sie entweder meiden oder ihr fiese Streiche spielen, nimmt sich ihre Schulkameradin Hazel ihrer an. Sie erzählt Alice, dass sich mit ihrem Auftauchen ein alter Fluch abermals zu erfüllen droht: Der Fluch der Grinsekatze. Was Alice zunächst für einen dummen Volksglauben hält, wird nach ihrer Begegnung mit der Grinsekatze zum bitteren Ernst. Rasch erkennt sie, dass der Fluch nicht nur ihr Leben bedroht, sondern auch das der Menschen, die sie liebt.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

05/2022

 

Der Fluch der Grinsekatze - Ankunft

 

© by C. H. Teal

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Creativ Work Design, Homburg

106186907 Bilddatennachweis: Larissa Kulik1211207515, 1500012110 Bilddatennachweis: Julia Raketic

Lektorat: Anja Gröne

Korrektorat: Antonia Grafweg

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: privat

 

Coverbild ›Cataleya – Der Drache in dir‹

© 2021 by Creativ Work Design

Stock-Fotografie-ID: 1144576959, Bildnachweis: Denis-Art

Stock-Fotografie-ID: 502933463, Bildnachweis: RazoomGames

Coverbild ›Spiel der Mächte – Erwachen‹

© 2019 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Coverbild ›Halbwesen – Diener zweier Welten‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Die Welt hinter den Zeilen‹

© 2022 by Creativ Work Design, Homburg

Shutterstock-Nr. 1554268784, Bildnachweis: titanlee

 

ISBN 978-3-96741-151-5

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

C. H. Teal

 

Der Fluch der Grinsekatze

 

Ankunft

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy

 

 

Neustart

Die Macht eines Namens

Die Grinsekatze von Hillsbright

Besuch im Wunderland

Alice Harris

Auf eigene Faust

Im Auge der Gefahr

Unbeteiligt

Der Tunnel

Fluchtpläne

Das Spiel

Aufopferung

Der Hutmacher

Das Ende einer Wette

Nachwort

Danksagung

Die Autorin

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Die Grinsekatz’ ist hier, siehst du sie bei mir?«

 

Neustart

 

Tropfen spritzten in hohen Bögen aus den Pfützen und das laute Prasseln des Regens lärmte mit meinen platschenden Schritten um die Wette. Durchs Gartentor stürmte ich zurück zum Haus, hechtete die Stufen zur Haustür hoch und schloss sie auf. Sofort schlug mir wohlig warme Luft entgegen. Ich trat über die Schwelle und tränkte die Fußmatte im Flur mit Regenwasser. Entnervt wischte ich mir die dicken Tropfen aus dem Gesicht. So hatte ich mir den Start in meinen ersten Tag an der neuen Schule nicht vorgestellt. Mein Dad kam aus dem Badezimmer, musterte mich und sah missbilligend auf die Wanduhr über der Küchentür.

»Du kommst zu spät zur Schule, Alice.« So viel zum Offensichtlichen. Bierbauch voran trat er zur Garderobe, um seine Uniformjacke überzuziehen. Schnaubend rollte ich mit den Augen und drehte meine langen Haare aus.

»Hab den Bus verpasst.« Ich schnappte mir einen Schirm aus dem Ständer und hielt ihn in die Höhe. »Und den hab ich auch vergessen.«

»Wenn du den nächsten nimmst, kommst du vielleicht noch zeitig.« Dad rieb sich über den Schnauzbart und setzte seine Polizeimütze auf.

Ich rückte meine Schultasche zurecht und verschränkte die Arme vor der Brust. »Eher nicht, der nächste kommt erst in einer halben Stunde. Dann komme ich garantiert zu spät. Kannst du mich absetzen?«

Mein Dad stemmte kopfschüttelnd die Hände in die Seiten, dann griff er sich seinen Schlüsselbund und deutete mit einem Nicken zur Tür. »Officer Fountainberry, Abmarsch!« Dankbar atmete ich auf, salutierte und sank wenige Momente später tief in den trockenen Autositz. Dad schaltete den Scheibenwischer ein und manövrierte den Wagen aus der Einfahrt.

Hillsbright war ein kleines Dorf im Osten der Grafschaft Cheshire und lag abgeschieden von jeglicher modern-westlicher Zivilisation. Und wenn ich klein sage, meine ich winzig. Die alten Häuser waren zum Teil stark sanierungsbedürftig. Dagegen schien unser Haus wahrlich modern. Alles wirkte unzeitgemäß – fast wie in diesen Teilzeit bewohnten Erlebnisdörfern, die verschiedene historische Epochen nachahmten. Einerseits fand ich Hillsbright aufregend, hier war alles so anders als in der Stadt, andererseits hatte ich Bammel vor dem, was mich in einem solchen Winzdorf erwarten würde.

Fakt ist: Meine Mum hätte mich garantiert zur Schule laufen lassen, wäre sie noch bei uns gewesen. Doch das entsprach nicht Tante Noras Idealen, und da sie sich nach Mums Tod um uns gekümmert hatte, hielt Dad sich auch weiterhin an Noras mütterliche Erziehungsratschläge. Laut Noras Erzählungen kam ich an eine gute Schule. Besser als meine alte, an der die Schüler mit den reichsten Eltern und den leersten Köpfen das Sagen hatten. Dort gehörte Mobbing zum guten Ton und ich war eines der Opfer gewesen, weil meine Eltern Gucchi und Rolex bloß aus den Schaufenstern kannten. Ich passte nicht zur Großstadtelite und ihren Ansprüchen an die High-Society. Gut, dass wir jetzt nicht mehr in der Großstadt wohnten. Noch einmal ließ ich mich nicht so rumschubsen. Das hatte ich mir fest vorgenommen.

Dank meines Dads sprang ich gerade noch rechtzeitig aus dem Wagen, als die Klingel ertönte. Mit einem knappen »Beeil dich!« scheuchte er mich aus dem Wagen und ich rannte eilig über den Hof, um nicht noch nasser zu werden. Tropfend kam ich in der Eingangshalle an, fluchte und schaute zurück über den Platz. Unser Wagen war fort und wieder stand ich ohne Schirm da. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass er meinem Dad auf der Arbeit gute Dienste leisten würde, und wandte mich meinem Schicksal zu.

Das Innere der Schule war kaum größer als das Äußere des Gebäudes vermuten ließ, und der offensichtlich neue Anstrich der Fassade täuschte nicht über die baufällige Grundsubstanz hinweg. Alte Holztreppen, furchtbare grüne Fliesen – gefiel mir! Das Sekretariat fand ich problemlos, gingen doch nur wenige Türen vom Foyer ab.

Die hakennasige Dame hinter dem wuchtigen Pult erhob sich mit erwartungsvoller, strenger Miene. »Ms Gregory?« Sie rückte ihre Brille mit den schiefen Halbmondgläsern zurecht.

»Nein, Fountainberry«, korrigierte ich sie und trat zögerlich näher. »Alice Fountainberry.«

Ihre Augen weiteten sich, als hätte sie einen Geist gesehen. Sie zog ihren Kopf ein Stück zurück, blinzelte mehrmals und durchsuchte dann eilig einige Unterlagen auf ihrem Tisch. Dabei schielte sie mehrmals prüfend zu mir nach oben, als wollte sie sich vergewissern, dass ich tatsächlich da war. »Ihre Fächer haben Sie bereits gewählt, korrekt?«

»Ja, richtig.«

Sie wandte sich nickend wieder dem Chaos vor ihrer Nase zu. Komische Frau. Ziellos sah ich mich um. Die Wände waren mit gerahmten Fotos der Abschlussjahrgänge übersät. Ich suchte nach Bildern von stolzen Schülern mit Pokalen oder Medaillen, fand aber keine. An meiner alten Schule waren Mannschaftssportarten, Turniere und Wettbewerbe das saisonale Highlight. Dort gab es nichts Erstrebenswerteres, als an der Wall of Fame mit anderen erfolgreichen Vorzeigeschülern um die Wette zu grinsen.

»Ms Fountainberry?« Die Sekretärin reichte mir mit zittrigen Händen einige Unterlagen. »Ihr Stundenplan. Oben steht der zuständige Beratungslehrer. Ihre erste Stunde findet in Raum B-36 im ersten Stock statt. Wenden Sie sich während der Mittagspause vertrauensvoll an Mr Thompson. Er wird Ihnen alles Weitere erläutern.« Sie ratterte ihre Erklärung herunter, als wäre sie auf der Flucht. Dann drehte sie sich weg, um betont geschäftig in ihren Papieren zu wühlen. Wie überaus höflich.

»Okay … Danke.« Ich seufzte, machte kehrt und schloss die quietschende Tür hinter mir. Auf dem Flur huschten vereinzelte Schüler an mir vorbei und rissen mich mit ihrer Hast aus meinen Gedanken. Ich legte selbst einen Zahn zu und nahm auf der Treppe ins Obergeschoss gleich zwei Stufen auf einmal. Dort suchte ich hektisch nach dem richtigen Raum. Die Tür zum Mathematikunterricht war bereits geschlossen und mein Puls beschleunigte sich. Ich schluckte und klopfte an.

Nach einem dumpfen »Ja?« trat ich vorsichtig ins Klassenzimmer. Vor der altmodischen Tafel stand ein junger Lehrer und starrte mich erwartungsvoll an. Ich strich mir eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Verzeihung. Alice Fountainberry, ich bin die Neue.« Getuschel flutete den Raum und ich gab mir Mühe, es zu ignorieren. Neu zu sein war im ersten Moment immer doof.

Der Mathelehrer beäugte mich auffällig von oben bis unten und grunzte unfreundlich. »Sie sind zu spät.« Na, der war ja richtig sympathisch.

»Ja, stimmt.« Ich lächelte tapfer. »Ich habe meinen Bus verpasst.« Erstmals wagte ich es, zu den Schülern zu linsen. Die meisten sahen mich abschätzig an oder hatten murmelnd die Köpfe zusammengesteckt, andere schauten geradezu schockiert. Stimmte etwas mit meinem Aussehen nicht? Kurz musste ich daran denken, dass ich im Traum mal im Schlafanzug zur Schule gegangen war. Ich zwang mich, nicht prüfend an mir hinabzublicken.

»Woher kommst du?« Ein Junge aus der letzten Reihe schaukelte kaugummikauend mit seinem Stuhl und betrachtete mich kritisch.

»Dem Wunderland, woher sonst?«, tönte es irgendwo aus der Mitte. Wunderland-Witze in Cheshire – wow, wie originell!

Tief durchatmend ignorierte ich den Zwischenruf und versuchte mich an einem möglichst festen Tonfall. »Birmingham. Wir sind in den Ferien hergezogen.«

Der Lehrer ergriff abfällig wieder das Wort und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zum Pult. »Sie werden sich daran gewöhnen müssen, dass wir hier auf dem Land sind, Alice. Hier fahren wenig Busse.« Er setzte sich auf seinen Stuhl, griff sich einen Stift und notierte etwas. Ob er mich aufschrieb, weil ich zu spät war? Ohne mich noch einmal anzusehen, wies er mit dem Kugelschreiber in Richtung eines freien Platzes.

»Setzen Sie sich neben Ms Cornwell!«

Freundlichkeit und Offenheit sahen anders aus. Toller erster Eindruck, den er mir da von dieser Schule vermittelte! Genervt steuerte ich den mir zugewiesenen Platz in der zweiten Reihe an. Hinter mir gackerte jemand, gefolgt von einem Flüstern: »… ist dann wohl die Nächste.«

Ich drehte mich um und sah direkt in das Gesicht einer Blondine, die mich nicht weniger herabwürdigend anglotzte als der uncharmante Lehrer zuvor. Ich sagte nichts, checkte aber aus Gewohnheit meinen Stuhl auf Furzkissen, Reißzwecken und Kaugummis. Solche Scherzkekse gab es schließlich überall.

Kaum hatte ich mich meiner Jacke entledigt, fragte mein neuer bester Freund von seinem Pult aus: »Alice? Stimmt mit Ihrem Stuhl etwas nicht? Sollen wir Ihnen einen neuen besorgen?«

Meine Wangen glühten. Was ein Arschloch! Finster stierte ich nach vorne und setzte mich. »Nein, alles bestens.«

»Gut, dann können wir ja endlich mit dem Unterricht fortfahren. Schlagen Sie Ihre Bücher auf Seite 15 auf – Mr Reece, wenn Ihres mal wieder von Kobolden geklaut wurde, sehen Sie bei Ihrem Nachbarn mit rein.« Der kräftige Schüler ließ die erhobene Hand sinken. Ich packte mein Buch aus, schlug die Seite auf und wagte es dann erst, vorsichtig meine Sitznachbarin anzusehen. Ms Cornwell war klein und zierlich. Sie hatte kupferbraunes Haar bis knapp unters Kinn. Flüchtig spähte sie zu mir hoch und unsere Blicke trafen sich. Ich erstarrte. Ertappt!

Freundlich bleiben, erinnerte ich mich selbst. Immerhin wollte ich nicht, dass es so weiterging, wie es an der alten Schule aufgehört hatte. Ich klebte mir ein verkrampftes Grinsen aufs Gesicht, obwohl mir nach den letzten Minuten wirklich nicht danach zumute war.

»Hi«, flüsterte ich. »Ich bin Alice.« Smalltalk? Total meine Stärke. Sie öffnete den Mund, aber bevor sie etwas erwidern konnte, richtete unser Mathelehrer das Wort an sie.

»Ms Cornwell! Kommen Sie nach vorne und lösen Sie für uns an der Tafel die Aufgabe drei.« Ohne mich noch einmal anzusehen, schnappte sie sich wortlos ihr Buch und stand auf. Meine Augen blieben an der ausgebeulten Jeans und der langen Strickjacke hängen. An meiner alten Schule wäre sie dafür garantiert gemobbt worden, aber hier trug kaum jemand Markenklamotten. Ein Indiz dafür, dass in Hillsbright der Status und das Vermögen der Familie keine Rolle spielten. Das war immerhin beruhigend.

Die Minuten vergingen, wurden langsam zu Stunden, und ich bemerkte mit wachsendem Unwohlsein, dass keiner meiner Mitschüler irgendein Interesse an mir zeigte. Als wir die Räume zur zweiten – und später zur dritten – Schulstunde wechselten, gingen die anderen mir sogar aus dem Weg. Niemand bot mir Hilfe an, nicht einmal, als ich meine offene Tasche auf dem Flur fallen ließ. Umgekehrt trat aber auch keiner auf die herausgefallenen Schulsachen. Im Gegenteil, alle machten einen großen Bogen darum. Das war nicht das Verhalten, das ich mir anhand Tante Noras Erzählungen über das freundliche Landleben ausgemalt hatte.

Ms Cornwell begegnete mir in der dritten Stunde wieder. Lokalgeschichte. Dort saß sie zwar nicht allein, aber als ich an ihr vorbeilief, lächelte ich sie trotzdem an. Hallo, schau wie nett ich bin! Ich musste zusehen, dass ich mir Freunde machte. Freunde gaben Sicherheit. Freunde sorgten dafür, dass andere einen in Frieden ließen.

Doch als Reaktion erntete ich nur ein Kopfschütteln. Hieß das, dass sie nichts mit mir zu tun haben wollte? Dann eben nicht. Ich hockte mich allein auf einen Platz in der letzten Reihe und stützte seufzend den Kopf auf die Hand. Die Lehrerin war bereits damit beschäftigt, Notizen an die Tafel zu schreiben. Unterdessen füllte sich der Raum und ich schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Der Regen fiel nunmehr in feinen Fäden vom Himmel und die Luft war drückend. Die Wolken zogen vorüber und ich träumte mich zurück in mein neues Zimmer. Zurück zu meinen Zeichnungen, mit denen ich mir die Zeit vertrieb und die nicht ihren Kopf schüttelten, wenn ich sie anlächelte. Meine Mum war Künstlerin gewesen und Dad sagte immer, ich hätte ihr Talent.

»Setzen Sie sich neben Alice!«

Mein Kopf schnellte hoch. Bis auf den Stuhl an meiner Seite waren alle Plätze bereits belegt.

»Boah, nee.« Der Kerl stöhnte und blieb inmitten des Raumes stehen. »Kann sich da nicht wer anders hinsetzen?«

Den Mitschüler erkannte ich als den wieder, der mich in der ersten Stunde nach meiner Herkunft gefragt hatte. Bomberjacke, hochgewachsen. Er war nicht dick, aber muskulös, trug ein T-Shirt von Linkin Park und hatte die hellen Haare nach oben gegelt. Zudem erkannte ich einen Bartansatz. Ein ganz Großer also. Kerle wie ihn kannte ich zur Genüge – und ich konnte sie nicht ausstehen, weil sie andere herunterputzen mussten, um sich selbst besser zu fühlen.

Die Lehrerin wandte sich mir zu. »Alice, sind Sie giftig?«

Ich stutzte. »Ähm, nein? Nicht dass ich wüsste.« Meine Worte bekräftigte ich mit einem Kopfschütteln.

Der Mitschüler moserte, setzte sich aber in Bewegung und warf stinkig seine Tasche auf die Bank neben mir. »Ja, geil. Neben den Creep.« Seinen Stuhl rückte er an die äußerste Tischkante. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve plumpste er darauf. Ich verschränkte die Arme. Großartig! Was war denn los mit den Menschen an dieser Schule? Die einen verhielten sich wirklich, als wäre ich giftig, und die anderen hatte man scheinbar geradewegs aus Birmingham importiert.

Während die Lehrerin mit ihrem Unterricht begann, spielte ich verdrossen an meinen Fingernägeln. Immer wieder spürte ich, dass der Typ neben mir mich ansah. Nach geraumer Zeit fragte er mich mit gesenkter Stimme: »Bist du’n Emo?«

Überrumpelt schaute ich in sein Gesicht. Okay, ich war nicht sicher, ob ich froh darüber sein sollte, dass überhaupt ein Gleichaltriger mit mir sprach, oder wütend, weil er sich offenkundig über mich lustig machte. Ebenso wenig verstand ich, warum er mich als Creep und Emo bezeichnete. Mit meinen stinklangweiligen braunen Haaren sah ich fast zu normal aus. Abgesehen von dem schwarzen Mascara trug ich auch kein dunkles Make-up, das mich vielleicht als eines von beidem ausgezeichnet hätte, nur Jeans und ein einfaches grünes Shirt mit weißem Aufdruck. Es war ungewohnt, dass es hier keine Schuluniformen gab, aber wenigstens schien meine Kleidung sich nicht sonderlich von der der anderen zu unterscheiden. Was seine Frage natürlich noch lächerlicher machte.

»Bist du ein Idiot?« Meine Zunge war schneller als mein Gehirn. Ich hatte im letzten Schuljahr offenbar zu viele Gelegenheiten gehabt, mich in Schlagfertigkeit zu üben.

Entgeistert sah er mich an. »Wow, wenn ich du wäre, hätte ich keine so große Fresse.«

Ich biss mir auf die Lippe und ruderte zurück. »Wie kommst du darauf, dass ich ein Emo bin?« Vielleicht erfuhr ich jetzt ja, welches Problem er und die anderen mit mir hatten, obwohl mich keiner von ihnen kannte. Ich musste meinen Gedankengang von zuvor korrigieren, wenn ich’s mir recht überlegte: Das Verhalten wäre selbst an meiner alten Schule komisch gewesen, immerhin war das der allererste Schultag und ich hatte bisher kaum den Mund aufgemacht. Woher also die Ablehnung?

Er zuckte mit den Schultern. »Scheinst ja selbstmordgefährdet zu sein. Oder du bist diejenige, die dämlich ist. Sonst wärst du ja wohl nicht nach Hillsbright gezogen.« Abwägend betrachtete er mich, gab schlussendlich aber den Versuch auf, aus meinem Gesicht schlau werden zu wollen. »Hey, dein Ding, mir passiert hier ja nix«, sagte er und wandte sich zurück nach vorne. Damit war das Gespräch für ihn beendet. Wachsende Fassungslosigkeit durchströmte kribbelnd meinen Körper. Wusste er irgendetwas, was ich nicht wusste? Was sollte das denn heißen, ihm passierte nichts? Wollte er damit sagen, dass mir etwas passieren würde? War das eine Art Kampfansage?

Bitte nicht. Unruhe machte sich in mir breit, doch ich atmete sie weg, wie ich es an meiner alten Schule bereits perfektioniert hatte. Ich ließ mich nicht fertigmachen, nicht schon wieder.

»Ich bin weder suizidal noch dämlich«, zischte ich. Aus dem Augenwinkel schielte ich zu unserer Lehrerin, die in ihrem Buch den Text verfolgte, den ein Mitschüler vorlas. »Und sollte das gerade eine Drohung sein?«

Mein Sitznachbar schnaubte belustigt. »Keine Drohung, ’ne Vorwarnung.«

»Weil ich in Hillsbright wohne?«, wiederholte ich ungläubig und versuchte zu verstehen, was er mir sagen wollte. »Du wohnst doch auch hier, oder nicht?«

»Jaha. Aber ich bin ja auch nicht du, ne?«

Eiskalt lief es mir den Rücken hinab. Die Worte hatten etwas Unheilvolles an sich ─ was ziemlich lächerlich war in Anbetracht dessen, aus wessen kaugummikauendem Mund sie kamen.

 

*

 

Am Abend lag ich auf dem Sofa in unserem frisch eingerichteten Wohnzimmer und starrte geistesabwesend auf den Fernseher. Es lief irgendeine hirnlose Comedy-Sendung, die so gar nicht mein Fall war, doch ich hatte keinen Antrieb, mich anderweitig zu beschäftigen. Inzwischen waren meine Haare unordentlich hochgeknotet und meine Jeans einer Jogginghose gewichen. Das Klingeln meines Handys ließ mich zusammenzucken. Eilig fischte ich es von der Sofalehne und blickte aufs Display. Ein wohliges Gefühl machte sich in mir breit.

»Hey, Tante Nora.«

»Na, Süße? Wie geht’s dir in Hillsbright? Heute war dein erster Schultag, oder?« Für mich war Tante Nora gleichermaßen eine Freundin wie eine zweite Mutter. Ihre Stimme war beruhigend warm und genau das, was ich gebraucht hatte. Entspannt kuschelte ich mich in die Sofaecke.

»Ja, stimmt. Hier ist alles noch ziemlich ungewohnt. Die Schule ist irgendwie seltsam und ich weiß nicht so richtig, was ich von den Menschen halte.« Mit Tante Nora konnte ich immer über alles reden, das wusste ich.

Bevor ich mir erklärende Worte zurechtlegen konnte, schlug ihr Problemradar aus, der inzwischen auf die feinsten Nuancen in meinem Unterton spezialisiert war. »Das hört sich nicht gut an. Was ist denn mit den Menschen?« Ohne weiter zu überlegen, berichtete ich ihr von meinem Tag und dem seltsamen Verhalten der Lehrer und Mitschüler.

»… na ja, und dann hat er gesagt, dass er nicht ich sei. Als wäre ich eine Außerirdische oder so«, beendete ich schließlich meine Erzählung.

»Ach, der hat sich doch nur aufgespielt, meinst du nicht? Wenn ich dran denke, wie viele Jungs mich früher geärgert haben … Da war dieser John, an den erinnere ich mich noch gut.«

Die Haustür fiel ins Schloss und ich hörte, wie Leben in den Flur kam. »Du, Dad ist gerade nach Hause gekommen. Erzählst du mir ein anderes Mal von John?«

»Ja, sicher. Lass dir nichts gefallen, Alice, hörst du?«

Brav bejahte ich, wie ich es seit Jahren tat, beendete das Gespräch und lauschte erst dem Geraschel von Dads Jacke und dann seinem Schnaufen, als er die Schuhe auszog.

»Bin im Wohnzimmer«, rief ich und wartete, bis sein Kopf durch den Türrahmen lugte. Er schlurfte zu mir rüber und betrachtete skeptisch das Fernsehprogramm, ohne etwas zu sagen. »Was ist? Was guckst du so komisch?«

»Seit wann schaust du was anderes als Thriller und Horrorfilme?« Er grinste. »Bist du krank?«

Ich streckte ihm die Zunge entgegen und schaltete den Fernseher aus. »Ich hatte Lust auf irgendwas, bei dem ich nicht denken muss.« Flüchtig wedelte ich mit meinem Smartphone. »Und ich habe gerade mit Nora telefoniert.«

»Ach, und wie ist es bei ihr?« Mein Vater entledigte sich seiner Mütze und strich über sein lichtes Haar.

»Haben nicht so viel über sie gesprochen, mehr über mich. Sie wollte wissen, wie es uns geht.«

»Also alles wie immer.« Mein Dad drückte mir eine Tüte mit belegten Broten in die Hand. »Hier, von einer Arbeitskollegin.«

Ich summte interessiert und packte das Essen aus. »Da ist Ei drauf.«

Zwinkernd grinste er mich an. »Deshalb habe ich sie noch nicht aufgegessen.« Er hasste gekochtes Ei auf seinen Sandwiches und zog zur Untermalung eine Grimasse. Ich lachte. Flüchtig strich er mir über den Kopf und trat zurück in den Flur.

»Eier sind gesund!«, rief ich ihm scheltend hinterher, zog meine Beine in den Schneidersitz und biss genüsslich in das erste Sandwich. Meine letzte Mahlzeit war einige Stunden her und allmählich meldete sich tatsächlich mein Magen zu Wort. Wenig später kam mein Dad umgezogen und mit einem Glas Wasser in der Hand zurück ins Wohnzimmer.

Mit erwartungsvoller Miene hockte er sich in den Sessel und nickte mir auffordernd zu. »Erzähl mal!«

Zuerst sagte ich nichts, dann setzte ich nach kurzem Grübeln an: »Es war einmal eine hässliche Kröte, die …«

Er lachte über meinen Witz, ließ sich aber nicht irritieren. »Muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Wie war’s in der Schule?«

Ich wollte ihm lieber nicht ehrlich darauf antworten. Mit Nora zu reden, war eine Sache, aber mein Dad würde sich gleich wieder Sorgen machen, wenn ich ihm erzählte, dass es nicht gut gelaufen war. Immerhin hatten wir beide gehofft, es würde hier besser werden. Und nach allem, was passiert war, verdiente er das auch. Um die Illusion wenigstens noch ein bisschen länger aufrechtzuerhalten, drehte ich kurzerhand den Spieß um. »Wie war der erste Arbeitstag?«

Dad schürzte die Lippen. Das tat er häufiger, wenn er nachdachte. Ich mochte es, wie sein Schnauzbart sich dabei verzog und ihn an der Nase kitzelte. Meistens musste er sie dann kratzen – wie auch jetzt. Ich versteckte mein Grinsen hinter einem weiteren Biss in mein Sandwich und hob animierend eine Hand. Ich war bereit, jedes Detail zu erfahren.

»Nie so einen ruhigen Arbeitstag gehabt. Die Kollegen sind nett, aber träge. Man merkt, dass wir auf dem Dorf sind. Hier passiert kaum etwas. Wenn ein Jugendlicher mal eine Packung Zigaretten klaut, ist das ein Monatshighlight.«

»Genau dein Job!« Ich kicherte und stierte demonstrativ zu seinem Bauch. »Ich hatte schon befürchtet, du müsstest wieder in Form kommen.« Entrüstet sah mein Vater hinab zu seiner Wampe und legte die Hände darauf, strich darüber, als wäre er schwanger.

»Meine Liebe, den habe ich liebevoll jahrelang gezüchtet. Sei nicht so respektlos!« Zuerst wirkte er ernst, stimmte dann aber in mein Lachen mit ein, bis ich mich an einem Krümel verschluckte und hustete. Nachdem ich mich beruhigt hatte, beugte Dad sich vor und sah mich mit seinen dunklen, warmen Augen durchdringend an.

»Jetzt sag schon: War der Schultag nicht schön? Hat dich ein Junge angebaggert?« Ich verzog übertrieben angewidert das Gesicht. »Oder willst du nicht drüber reden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, … also doch. Ein Junge hat mich gefragt, ob ich ein Emo bin. Und mir dann gesagt, dass ich dämlich wäre, an die Schule gekommen zu sein. Oder ins Dorf.« Ich wusste immer noch nicht, was er damit meinte, deshalb zuckte ich mit den Achseln und widmete mich betont gleichgültig wieder meinem Sandwich. Mir verging der Appetit und ich hatte das Gefühl, auf Pappe herumzukauen. Mühsam versuchte ich, mir meine Enttäuschung über den schlechten Start ins Schuljahr nicht anmerken zu lassen. So viel zu meinen guten Vorsätzen. Die Brauen meines Vaters zogen sich bis zum Haaransatz.

»Mit welcher Begründung?« An seinem vorsichtigen Ton bemerkte ich, dass Unruhe in ihm aufkeimte. Bingo, genau das hatte ich verhindern wollen. Für ihn war es wichtig, dass ich mich hier wohlfühlte. Nach etlichen Umzügen innerhalb der Stadt sollte dies der letzte gewesen sein, das hatten wir uns geschworen. Nicht zuletzt deshalb, weil auch meine Mutter immer von einem Haus auf dem Land als Endziel geträumt hatte.

»Ich weiß es nicht. Alle sind so komisch.« Niedergeschlagen sah ich auf mein Essen und das Sandwich wirkte mit jeder verstreichenden Sekunde weniger einladend.

»Komisch?«

Ich seufzte widerwillig. »Die Lehrer nennen mich als Einzige beim Vornamen und sind total unfreundlich. Ich glaube, ich habe mir wegen der Verspätung heute Morgen direkt einen Eintrag geholt.« Theatralisch stöhnte ich und ließ den Kopf nach hinten über die Sofalehne fallen. Dann drückte ich meinem Vater den Rest meines Essens in die Hand. Wortlos nahm er es entgegen und pfriemelte das Ei heraus. »Und die meisten Mitschüler gehen mir aus dem Weg. Es ist echt seltsam. Sie reden einfach nicht mit mir. Weißt du, was ich meine? Als ob ich irgendetwas an mir hätte, was sie abschreckt.« Spöttisch schob ich nach: »Was der Bauer nicht kennt …«

»Das legt sich sicher noch«, entgegnete mein Dad entschieden und mit vollem Mund, ganz in elterlicher Weisheit. »Sie müssen dich erst kennenlernen. Vergiss nicht, dass wir hier auf dem Land sind. Neues ist immer unheimlich. Die werden noch merken, wie toll du bist.« Aufmunternd klopfte er mir aufs Bein.

---ENDE DER LESEPROBE---