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Uralt und vielfältig sind die Sagen und Legenden um die legendären Feuertänzerinnen, die im Schatten der Feuerberge geboren wurden, deren ganzes Leben dem Feuer geweiht war. Die das Feuer beherrschten, die es zähmten und die mit Hilfe des Feuers straften und vernichteten. Auch in der Lüneburger Heide hat es zu allen Zeiten immer wieder Feuertänzerinnen gegeben und es gibt sie bis auf den heutigen Tag. Die junge Paula, die 2015 den mit Flüchen beladenen Garten, den 'Hexentobel' erbte, muss sich zusätzlich zu dem Todesfluch, den sie ausgesprochen hat und der ihr schwer zu schaffen macht, um die kleine Leonie kümmern, die von ihrem Peiniger entführt wurde und deren Leben in Gefahr ist. Auch Friederike, die ebenfalls in Beziehung zum Hexentobel steht, die vor ihrem Ehemann geschützt werden muss und die fast schon resigniert hat und aufzugeben droht, stellt eine große Herausforderung und Belastung dar. Und dann ist da noch Bianca, die neue Feuertänzerin, die mit Blitzen spielt. Bianca, die das Feuer zähmt und unkontrollierbare Brände entfacht und die außerdem versucht Henrik, Paulas Geliebten für sich zu gewinnen Bianca zu behaupten und ihre Liebe zu Henrik zu retten.
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Seitenzahl: 648
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Der Fluch des Rhododendrons
Paula und die Feuertänzerin
Barbara.A.Ropertz
Der Fluch des Rhododendrons
Paula und die Feuertänzerin
Barbara.A.Ropertz
Impressum
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Buch ist ein Roman.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.
Kontakt: [email protected]
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Copyright 2019 © by Barbara Ropertz
1.Auflage
Lektorat: Anke Unger
ISBN E-Book: 978-3-
Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de
Unter Verwendung von Bildmaterial
Druck:epubli -
Der Fluch
des Rhododendrons
Teil 2 - Paula und die Feuertänzerin
~ Prolog ~
Vor unvorstellbar langer Zeit, als die Lüneburger Heide noch ein einsamer, geheimnisumwitterter Ort war, dessen Moore lebensgefährlich waren und über denen oft tagelang die unheimlichen Nebelschleier hingen, lebten nahe Suderburg zwei Frauen, Bernadette und ihre Tochter Elisabeth, die beide als Hebammen, Kräuterkundige und weise Frauen galten.
Sie wurden allgemein die „Waldhexen des Hexentobels“ genannt und waren weit über das Suderburger Land hinaus berühmt.
Bernadette, die Mutter soll eine Feuertänzerin gewesen sein. Eine der Frauen, die Feuer besprechen, es an sich ziehen, es anfachen oder die Flammen beschwichtigen und in den Schlaf tanzen konnten.
Frauen, die große Macht über Blitze besaßen und sie nach Belieben zu lenken wussten. Sie tanzten mit dem Feuer zum Segen oder manchmal auch zum unermesslichen Schaden für Land und Leute, wenn es Verbrechen zu sühnen gab.
Das Erscheinen einer Feuertänzerin soll Unglück, Brand oder Krieg nach sich ziehen, so fürchten manche Leute bis auf den heutigen Tag.
Andere schwören darauf, dass die Feuertänzerin sich stets am Beginn einer großen, unstillbaren Liebe zeigt, die weder das Leben noch der Tod beenden kann.
Die bekannteste Prophezeiung berichtet, dass sich die Feuertänzerin in jedem Jahrhundert einmal erneuern und wieder für einige Zeit auf die Erde zurück kehren kann, um ihre verlorene Liebe zu finden und die versäumte Erfüllung dieser Liebe mit Feuergewalt nachzuholen.
~~~
Im 21. Jahrhundert- Februar 2016 -
Die junge Paula Gehring hatte 2015 überraschend und völlig unvorbereitet das Grundstück „Hexentobel“, auf dem einst Bernadette und Elisabeth lebten, geerbt.
Es war ein schwieriges Erbe, denn auf dem Grundstück wohnten in alter Zeit nicht nur die beiden sogenannten Waldhexen, sondern darauf liegen auch noch immer äußerst gefährliche und sogar tödliche Flüche.
~ 1 – Paula – Michael – Ruth ~
Trotzdem hatte sich Paula spontan entschlossen auf den Hexentobel zu ziehen. Zu ihrem Glück lernte sie gleich zu Anfang die pensionierte Lehrerin Ruth Hellwig kennen, die ein kleines Heimatmuseum betrieb und viel über die Geschichte und Vergangenheit Suderburgs wusste. Nur mit ihrer Hilfe hatte Paula es geschafft, ihren Pakt mit dem Hexentobel zu erfüllen und dem Garten den Fluch zu schenken, der einen bestimmten, schuldig gewordenen Mann bestrafen würde, sobald er das Grundstück betrat. Ihr tödlicher Fluch galt dem Schuldigen Michael Gabler, der seine elfjährige Stieftochter Leonie mit Hexensalbe betäubt und an mindestens einen Mann verkauft hatte. Für diese grausame Tat hatte er die harte Strafe verdient.
Paula war fest davon überzeugt, dass er noch nie auf dem Hexentobel gewesen war. Insgeheim hatte sie sogar etwas Angst davor, dass Michael ihr Grundstück betreten könnte, denn dann würde er noch in derselben Nacht auf dem Tobel, wo Paula lebte, unter unermesslichen Qualen sterben. So hatte sie es in ihrem Fluch, den sie fast wie in Trance geschrieben und gebunden hatte, festgelegt. Und so würde es sich erfüllen, wenn die Zeit gekommen war.
Doch der Verfluchte war, ohne dass Paula das ahnte, schon oft auf ihrem Grundstück gewesen. Und bald, wenn der Mond günstig stand, würde er wieder kommen müssen, um Pflanzen zu holen, die nur auf Paulas Grundstück wuchsen und die er für die von ihm entwickelte Salbe zwingend benötigte.
Michael Gabler wohnte am Ortsrand von Suderburg und betrieb mit Kathrin, seiner Frau eine kleine Gärtnerei. In den letzten Jahren war er viel öfter, als ihm lieb war, in Vollmond- und sogar auch in den ungleich gefährlicheren Neumond- oder Dunkelnächten zum Hexentobel geschlichen. Die Kräuter, die dort so zahlreich wuchsen, waren wesentlich stärker und wirkungsvoller, als jene, die er in seinen Gewächshäusern selbst zog, oder die im Wald oder auf den Wiesen an der Hardau gesammelt wurden und die allenfalls für einen Tee oder einen wohltuenden Aufguss ausreichten. Die immens starken und geheimnisvollen Kräfte des Tobels waren Michael durchaus bewusst und er fürchtete sie sehr. Pflanzen, die zu bestimmten Zeiten dort gesammelt wurden, enthielten erheblich stärkere Wirkstoffe, die sich nicht mit normalen Kräutern vergleichen ließen. Die Zutaten, die er für die Hexen- oder Flugsalbe benötigte, mit der er seine Frau und seine Stieftochter, die kleine Leonie, immer wieder so zuverlässig ins Reich der Träume schickte, waren aus den modernen, vergleichsweise schwach und kraftlos gewordenen Pflanzen nicht herstellbar.
Michael hatte sehr lange an dem Rezept für die Salbe gearbeitet. Er hatte diese und jene Zutat dazu gemischt, andere weggelassen oder die Menge verändert, bis es ihm endlich gelungen war, genau die Salbe herzustellen, die er für seine Zwecke benötigte. Auch gab es auf dem Tobel einen Pilz, eine Röhrlings-Art, die er noch nirgendwo anders gefunden hatte und deren Gift sich nur im genauen Zusammenspiel mit bestimmten anderen Pflanzen entfalten konnte. Viele der Pflanzen, die hier wuchsen, wie Eisenhut. oder Nachtschatten, Bilsenkraut oder der Stechapfel hatten im Laufe der Zeit hochwirksame Substanzen entwickelt und in ihren Blättern, Blüten und Wurzeln gespeichert. Es waren reine Arten, die sich über Jahrhunderte ohne abschwächendes Saatgut erhalten hatten, denn der Hexentobel war bei den Leuten gefürchtet und sie betraten ihn nicht.
Der sogenannte Tobel war seit jeher das Gebiet der „Waldhexen“ und es war nicht ratsam, sich dort hinein zu wagen. Michael wusste das sehr genau und er bezahlte jedes Mal einen sehr hohen Preis dafür, wenn er sich Pflanzen vom Tobel besorgte, um die hochwirksame Salbe herzustellen, die zuverlässig ihre überwältigende, stark berauschende Wirkung entfaltete. Er litt vor jeder seiner Exkursionen unter unerträglichen Ängsten, denn es war besonders in den Neumond-Nächten sehr gefährlich, das Grundstück auch nur zu betreten und viel riskanter war es noch, dort Pflanzen zu entnehmen. In diesen so genannten Dunkel-Nächten waren nicht nur die Pflanzen wirksamer, es erwachten auch die geheimen Wächter des Waldgartens, öffneten wachsam ihre Augen und lauerten Michael kampfbereit auf. Es gab so weit Michael wusste, Beschützer, die die Grenzen bewachten und andere Späher mit unzähligen winzigen und nimmermüden Augen direkt auf dem Gelände. Gesehen hatte Michael sie noch nie, doch voller Schrecken und in namenloser Angst gefühlt, hatte er sie jedes Mal. Er hatte ihre Anwesenheit gespürt, ihre Blicke, die ihn lähmten, ihren Atem, der unsichtbar, doch umso gefährlicher reines Gift verströmte, das die pflanzlichen Wächter über ihre Wurzeln wieder aufnahmen.
Michael hatte auch stets ihre nur mühsam und widerwillig unterdrückte Wut auf ihn gefühlt, die jederzeit ausbrechen und ihn töten konnte. Michaels Hände waren jedes Mal, nachdem er in der Nacht den Tobel betreten und Pflanzen daraus entnommen hatte, tagelang von einem brennenden, juckenden, feuerroten Ausschlag bedeckt, der nur zögernd zurück ging und bei jedem neuen Besuch länger andauerte. Eitergelbe Knötchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln und er fürchtete immer wieder von Neuem, eines Tages zu erblinden. Stets, wenn Michael wieder Pflanzen von dem Grundstück geholt hatte, dehnte sich der Ausschlag weiter als beim vorigen Mal aus. Zuerst waren es nur die Hände gewesen, dann die Arme und beim letzten Mal hatte die Rötung bereits auf den gesamten Oberkörper übergegriffen und sich unerträglich juckend und qualvoll schmerzend ausgebreitet.
Auch seine Arme und Schultern waren von dem juckenden, nässenden Ausschlag befallen worden, von dem sich nach einigen Tagen riesige durchlöcherte Hautfetzen ablösten und dann eine dünne, rote, wie vernarbt aussehende Haut, wie nach einem heftigen Sonnenbrand zurückließen. Auch seine Augen waren beim letzten Besuch stärker als je zuvor betroffen gewesen. Noch tagelang waren die Augenlider dick angeschwollen und die Knötchen in den Augenwinkeln hatten ständig eklig stinkenden Eiter abgesondert.
Kathrin hatte ihn entsetzt angestarrt und ihn drängend aufgefordert, endlich zum Augenarzt zu gehen. Noch etwas war nach seinem letzten Besuch auf dem Tobel anders gewesen. Er hatte zunächst, wie gewöhnlich, keine Tiere auf dem Grundstück gesehen oder gehört. Nur die Anwesenheit der Wächter hatte er übermächtig gefühlt, stärker, viel stärker als bei den vorigen Besuchen. Der Garten war sehr viel gefährlicher geworden, seit diese neue Hexe dort eingezogen war. Michael hatte zitternd vor Angst die Kräuter eingesammelt und war wie von Furien gehetzt von dem gefahrvollen, nächtlichen Grundstück geflohen. Am nächsten Tag waren sein Hals und sein Körper über und über von winzigen Bissen übersät gewesen. Zahnabdrücke und kleine Wunden durch nadelspitze Zähne fanden sich überall auf seiner Haut. Es waren giftige Bisse, die unerträglich juckten und ein Fieber hervorriefen, das ihn tagelang stark schwächte und nachts schweißgebadet und voller Angst erwachen ließ.
Michael fürchtete sich nach dieser bisher schlimmsten Nacht bis zum Erbrechen vor einem neuen Besuch auf dem Gelände. Doch die Pflanzen verloren, einmal gepflückt, in seinen Händen stets rasch an Wirksamkeit. Er konnte sie nicht auf Vorrat sammeln, sondern musste jedes Mal von Neuem den Tobel betreten, der ihn mehr und mehr in boshafter Freude zu erwarten schien. Wäre es nach Michael gegangen, hätte er das Sammeln der Pflanzen und ihre Verwendung längst aufgegeben, doch er hatte keine Wahl. Er hatte immens hohe Schulden, seine Gärtnerei war längst verpfändet und er war vollkommen in der Hand, der Leute, die verlangten, dass er weiterhin seine Stieftochter und auch Kathrin für ihre Zwecke zur Verfügung stellte. Michael würde bald wieder gezwungen sein zu dem Waldgarten zu kommen, denn er war ihm längst verfallen und hatte keine andere Wahl mehr. Doch nun gab es etwas, wovon Michael noch nichts ahnte. Bei seinem nächsten Besuch auf dem Grundstück würde er zwangsläufig Paulas tödlichen Fluch dort vorfinden. Den Fluch, den Paula geschrieben und gebunden hatte und der ungeduldig darauf brannte sich zu erfüllen und Michael zu vernichten.
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Für Paula waren diese besonderen Kräuter des Tobels und ihre geheimnisvolle Magie mehr denn je ein Kriterium für die Stimmungen des Grundstücks geworden. Sie achtete genau auf alle Pflanzen und notierte ihren Wandel und sie nahm die Signale, die sie spürte sehr ernst. Es gab ständige Veränderungen zu beobachten. Die Wandlungen der Kräuter mit dem Wechsel des Mondes, neue Pflanzen, die zuwanderten. Andere Pflanzen die den Garten verließen, und solche, die stärker oder schwächer wurden.
Paula wurde im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einer wahren Hüterin und Expertin ihres Grundstückes. So wie es wohl auch die Hüterinnen vor ihr gewesen waren. Schon seit einiger Zeit hatte Paula bemerkt, dass gewisse Pflanzen ihre Standorte manchmal zu ändern schienen. Zuerst dachte sie sich nicht viel dabei. Sie notierte die Veränderungen, so wie sie alles penibel notierte was auf dem Grundstück geschah. Doch dann stellte sie verblüfft fest, dass ein sehr genaues System dahinter steckte. Sie fotografierte zunächst alles was ihr aufgefallen war mit dem Handy und bekam prompt ihre Quittung dafür. Die Pflanzen, die normalerweise ihre Anwesenheit wohlwollend zur Kenntnis nahmen, reagierten abweisend, ja sogar wütend. Blütenkelche schlossen sich blitzschnell, Dornen richteten sich aggressiv auf, Blätter wandten sich abrupt von ihr ab und manche rollten sich sogar abweisend zusammen. Paula war verblüfft doch sie verstand rasch. Handyfotos als Dokumentation der Wanderungen lehnte ihr Garten strikt ab. Daraufhin gab sie diese Beobachtungen erst einmal erschrocken auf, bzw. ließ die Dokumentation ruhen. Sie wollte erst einmal mit Ruth, ihrer Freundin, darüber reden und deren Meinung einholen. Paula war innerlich beunruhigt. Etwas Geheimnisvolles ging auf dem Tobel vor sich. Oder eigentlich eher in seiner unmittelbaren Umgebung. Es war so, als dehnte der Garten sich und seine Kräfte aus, als reiche der Platz auf Paulas Grundstück nicht mehr und die Pflanzen und Tiere benötigten mehr Raum, den sie für sich eroberten.
Vielleicht war es aber auch so, dass die Wurzeln der Pflanzen, und ganz besonders des Rhododendrons sich in aller Stille und ohne, dass Paula zunächst etwas davon bemerkte, immer weiter ausgebreitet hatten. Beunruhigt dachte sie, er wächst und nimmt bald das angrenzende Grundstück, den sogenannten Wehrkamp und vielleicht sogar den anstoßenden Wald in Beschlag. Paula konnte nicht genau sagen, was sie auf diesen Gedanken gebracht hatte. Es war mehr ein Gefühl, als eine belegbare Tatsache, da sie die Wurzeln der Pflanzen ja nicht sehen, sondern nur ahnen konnte. Es war aber der deutliche Eindruck, wenn sie den Wehrbrink entlang ging und neuerdings sogar, wenn sie mit dem Auto entlangfuhr, dass sie sich bereits auf ihrem eigenen Gebiet, also auf ihrem Grundstück befand, obwohl das noch nicht der Fall war. Sie hatte diese Vermutung schon eine Weile gehabt, hatte aber nicht weiter darauf geachtet doch nun war es sehr deutlich geworden. Paula machte sich also auf den Weg zu Ruth. Es nieselte und sie hatte zuerst überlegt, ganz gegen ihre Gewohnheit mit dem Auto zu fahren. Doch dann beschloss sie den Wehrbrink, die gerade Straße, die durch den Wald führte, Richtung Hardau entlangzugehen und dieses Mal genau auf alles zu achten, was sie fühlte.
Sie zog ihre Wald-Jeans und eine gefütterte Kapuzenjacke, die ihr etwas zu groß, dafür aber herrlich bequem war, über. Paula liebte diese Jacke, weil man darunter auch einen dickeren Pullover tragen konnte und schon ein gutes Gefühl beim Hinein kuscheln hatte. Als Paula vor dem Spiegel im Flur stand erschrak sie über den besorgten Ausdruck in ihren Augen. Das war nicht das Bild, das sie gerne von sich sah. Sie band ihre inzwischen deutlich längeren, blonden Haare straff zurück und zog entschlossen die Kapuze hoch.
Zu Ruth konnte sie ohne weiteres in diesem Aufzug kommen. Paula verließ rasch ihr Grundstück und ging mit entschlossenen Schritten nach links den Wehrbrink entlang. Doch schon nach wenigen Schritten blieb sie verblüfft stehen. Bereits, als sie die hohe Hecke, die ihren Garten vom Nachbargrundstück trennte passiert hatte, bemerkte sie die Veränderung deutlich. Die Macht und die Kräfte des Tobels beschränkten sich offenbar schon länger nicht mehr nur auf ihren Garten. Sie hatten sich ausgebreitet und auf den Nachbargarten übergegriffen. Selbst als Paula weiterging, konnte sie noch immer die Auswirkungen des Tobels fühlen. Auch am letzten Grundstück auf dem Wehrbrink waren sie für Paula noch deutlich spürbar. Sie war geschockt. Soweit also hatte der Garten sich ausgebreitet und sie hatte nichts davon bemerkt oder es einfach nicht beachtet. Dabei hatte sie gedacht, dass sie inzwischen eine verantwortungsbewusste Hüterin war. Etwas ängstlich stieg sie die flachen Stufen im Wald hinunter, die zu der kleinen Brücke über das Flüsschen Hardau führten. Ja, auch hier war der Einfluss des Tobels noch immer deutlich spürbar. Erst als sie die kleine Brücke über die Hardau überquerte, endete die Macht ihres Grundstücks. Fließendes Wasser, natürlich, kam es Paula sofort in den Sinn. Fließendes Wasser hob fast jegliche Magie auf. Paula ging zur Probe noch einmal einige Schritte zurück und sofort griff der Tobel wieder gierig nach ihr. Ja, es gab keinen Zweifel. Der Einfluss des Gartens reichte bereits bis unmittelbar an die Hardau heran.
„Wie blind bin ich eigentlich gewesen, dachte Paula entsetzt. Rasch ging sie noch einmal über die Brücke, dann an den Feldern entlang und an der Gärtnerei vorüber, in der noch immer Michael Gabler mit seiner Frau Kathrin und der elfjährigen Leonie wohnte. Zu Leonies Schutz hatte Paula den Fluch gegen deren Stiefvater Michael ausgesprochen. Immer wenn Paula an sie dachte, fühlte sie fast so etwas wie Zärtlichkeit für dieses Kind und auch den Wunsch, Leonie zu schützen.
Leonie war ein außergewöhnlich schönes Mädchen. Sie war zierlich und hatte leuchtend blaue Augen, die durch lange, dunkle Wimpern ausdrucksvoll betont wurden. Ihr Lächeln war so unwiderstehlich, dass man mit lächeln musste, ob man wollte oder nicht. Die dunkelblonden Haare mit den sonnenhellen Strähnen fielen seidig und leicht gewellt bis über die Schultern. Meist hatte sie die seitlichen Strähnen geflochten oder trug eine Spange, um die Haare aus dem Gesicht herauszuhalten. Paula hatte Leonie sprachlos angestarrt, als sie das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Doch da sie inzwischen ja von Leonies dunklem Schicksal wusste, sah Paula die seltene Schönheit des Mädchens nun mit sehr zwiespältigen Gefühlen. Aufatmend klingelte Paula bei Ruth, die sofort öffnete, als habe sie ihr Kommen bereits erwartet. „Was ist los?“, fragte Ruth sofort und Paula streifte rasch ihre durchnässte Jacke ab und hängte sie an die winzige Garderobe in dem schmalen Flur. Bewundernd glitten ihre Blicke über die wunderschönen honigfarbenen Holzdielen und die als Rhombus dazwischen eingelassenen blau-weißen Fliesen.
Rasch zog sie nach einem missbilligenden Blick Ruths ihre schmutzigen Schuhe aus und stellte sie ordentlich nebeneinander auf die Matte, die unter der Garderobe lag. Dann schlüpfte sie ungeduldig in die Pantoffeln, die bei Ruth immer für sie bereit standen. Ruth hatte ihren Lehrerinnen-Blick aufgesetzt und es war das Beste diese Dinge rasch hinter sich zu bringen. “Also was gibt es?“, fragte Ruth noch einmal, als Paula endlich in dem bequemen Sessel saß, den sie stets bevorzugte.
Paula beugte sich nervös vor und sagte mit zitternder Stimme: „Der Tobel breitet sich weiter aus. Es muss schon länger so sein. So etwas passiert doch nicht von heute auf morgen.“ „Ja“, nickte Ruth, die nicht sonderlich überrascht schien. „Natürlich ist das so. Die Pflanzen und ihre Wurzeln wachsen nun einmal. Und der Einfluss einer Pflanze erstreckt sich über ihr gesamtes Wurzelgebiet und den ganzen Raum, den ihre Blätter oder Zweige überdecken. Bei Bäumen sogar soweit der Schatten reicht. Das weißt du doch“, setzte Ruth belehrend hinzu und sah Paula über den Rand der runden Brillengläser hinweg streng an. „Ja, sicher“, murmelte Paula, „ja natürlich, aber, ich habe nicht gedacht, dass sie über die Grundstücksgrenzen hinaus…“, Paula zögerte kurz, dann setzte sie nachdenklich hinzu: „Ich weiß, es ist merkwürdig“, sie dachte einen Moment nach, „als würde er in aller Stille Land erobern“, setzte Paula dann hinzu. „Ich weiß nicht ganz genau wie weit das geht. Auf der einen Seite auf alle Fälle bis zur Hardau hinab, da kann ich es noch deutlich spüren“, sagte sie und verstummte gedankenvoll. Paula war ein bisschen enttäuscht. Sie hatte gedacht, mit einer wichtigen Nachricht zu kommen und nun nahm Ruth die Botschaft so gelassen und selbstverständlich auf. „Wie stark spürbar ist das denn und wie weit reicht es?“, fragte Ruth nun doch und sah Paula nachdenklich an. Paula holte tief Luft. „Sehr stark ist es am direkten Nachbargrundstück, sag mal, wem gehört eigentlich das Grundstück neben dem Tobel, du weißt schon, das mit der hohen Hecke, ich habe dort noch niemals jemanden gesehen.“ Ruth war alarmiert.“Ich weiß es nicht, aber das kann ich sicher herausfinden“, sagte sie grübelnd.
„Ich nehme stark an, dass es einer Frau gehört“, sagte Ruth leise, konnte diese Annahme aber nicht begründen. „Ich werde mal die Frau von Pastor Mechler fragen, die weiß das sicher.“ „Also“, fuhr Paula mit einem kurzen Nicken fort, „kann die Eigentümerin auch gar nicht fühlen was dort vor sich geht.“ „Ja“, stimmte Ruth zögernd zu, „aber das wird sich ändern, glaube mir. Du solltest diese Ausbreitung nicht auf sich beruhen lassen. Nur du kannst das machen. Du fühlst es am ehesten. Du gehst nach allen Richtungen um dein Grundstück und erspürst ganz genau wie weit diese Ausbreitung reicht und wie stark sie ist. Bitte mach es so schnell wie möglich.“ Paula nickte zögernd und blickte verdrießlich zu dem Niesel hinaus, der unaufhörlich über die Scheiben des kleinen Häuschens am Katzensteg perlte. „Ruf mich heute Nachmittag an oder komm wieder her, dann weiß ich sicher mehr“, sagte Ruth entschlossen und ihr Ton duldete keinen Widerspruch.
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Paula versuchte also, trotz des unablässig fallenden kalten Nieselregens noch einmal genauer herauszufinden, wie weit diese Ausdehnung ihres Grundstücks schon reichte. Paula, die tatsächlich auch bei intensivem Nachdenken sicher war, noch nie zuvor Personen auf dem Grundstück bemerkt zu haben, war gespannt, was Ruth in Erfahrung bringen würde. Abends rief Ruth an und berichtete etwas verärgert, dass auch die Frau des Pastors, die sonst über alles was in und um Suderburg geschah, genau Bescheid wusste, erst Erkundigungen einziehen wollte. Ruth schwieg einen Moment und dachte angestrengt nach. Dann sagte sie: „Vielleicht solltest du eine Landkarte mit Straßen und Wanderwegen nehmen und alles genau einzeichnen was dir auffällt, ich meine damit die Ausdehnung und die Bewegungen des Tobels.“ Paula stimmte sofort zu. „Natürlich, sagte sie, ich habe schon mal damit begonnen, die Bewegungen und Wanderungen der Pflanzen aufzuzeichnen. Ich habe auch Fotos gemacht, aber das war anscheinend keine so gute Idee. Alle Pflanzen haben sich sofort von mir abgewandt und mir sozusagen die Stachel gezeigt.“
„Ja, dein Garten weiß genau was er will“, bemerkte Ruth mit ihrem für solche Aussagen üblichen schrägen Lächeln, das Paula, direkt vor sich zu sehen meinte. Paula zeichnete also noch am selben Abend angestrengt und sorgfältig einen Grundriss ihres Gartens und übertrug ihn maßstabgetreu auf Millimeterpapier. Sie zeichnete die Pflanzen ein, alle Pflanzen und ihre Wanderungen, soweit sie dokumentiert waren. Es war verblüffend. Paula hatte den Gartenplan an der Wand neben ihrem Schreibtisch angebracht und zeichnete Kreuze für all ihre schriftlichen Aufzeichnungen ein. Auf diese Weise wurden die Wanderungen der Pflanzen deutlich sichtbar. Mehrere Pflanzen und zwar in erster Linie die gefährlichsten Giftpflanzen wie Digitalis, Eisenhut, Tollkirsche und schwarzes Bilsenkraut bildeten offenbar in letzter Zeit kräftige Ableger aus, die sich alle obwohl von verschiedenen Standorten ausgehend, langsam aber unaufhörlich auf ihr Nachbargrundstück zu bewegten.
Aber nicht nur die Gifte sandten Ableger, auch Heilpflanzen wie Johanniskraut und die sanfte Kamille machten sich scheinbar allesamt auf den Weg dorthin. Paula war fasziniert. „Was hat das denn zu bedeuten?“ murmelte sie ungläubig. Sie begann Fähnchen zu setzen und mit Schnüren die täglichen Strecken zu markieren. Keine Frage, der Tobel schickte Gift- und Heilpflanzen auf den Weg zum Wehrkamp, und zwar in beeindruckendem Tempo. Als sie aus dem Fenster sah, stellte sie missmutig fest, dass der Nieselregen mittlerweile in Schneegriesel übergegangen war. Da würden wohl in den nächsten Tagen keine weiteren Pflanzenbeobachtungen möglich sein. Paula dachte, dass auch der Vorschlag von Ruth ziemlich interessant war. Vielleicht sollte sie die Ausdehnung wirklich auch noch in eine Wanderkarte übertragen. Als sie mit Ruth telefonierte, erzählte sie: Ich habe bisher Millimeter-Papier und Fähnchen benützt. Die Pflanzen wandern rasch. Viel schneller, als ich mir das jemals hätte vorstellen können. Ich werde die Bewegungen auch noch auf eine Wanderkarte übertragen.
Ruth nickte nachdenklich und entgegnete „Oh ja“, das solltest du wirklich. „Pflanzen haben einen starken Willen und sind oft sehr zielgerichtet.“ „Aber was haben sie vor?“ fragte Paula verwirrt. „Sie alle wandern eindeutig zum Wehrkamp. Der ist doch unbewohnt. Weißt du denn jetzt, wem das Grundstück gehört?“ „Nein, Frau Mechler hat sich noch nicht gemeldet. Ich werde mich gleich morgen nochmal darum kümmern“, sagte Ruth entschlossen und schob energisch ihr Kinn vor. Paula konnte es förmlich vor sich sehen und grinste. Sie vermutete, dass sie spätestens am nächsten Tag wissen würde, wem der Wehrkamp gehörte. Paula war mittlerweile doch ziemlich verwirrt von den Vorgängen auf dem Tobel und dem Wehrkamp, obwohl sie eigentlich gar keine Zeit für diese Vorgänge hatte, denn noch immer war sie ausreichend mit dem Fluch beschäftigt, den sie für Michael angefertigt hatte, und der noch immer unerfüllt war. Und nun bereitete der Tobel offensichtlich bereits eine neue Aufgabe für sie vor. Paula hatte den tödlichen Fluch für Michael natürlich nicht leichtfertig erstellt und aktiviert.
Zusammen mit ihrer Freundin Ruth hatte Paula nach einem eher zufällig aufgekommenen Verdacht Nachforschungen angestellt und mit viel Spürsinn herausgefunden, dass die elfjährige Leonie, die Tochter von Michaels Frau Kathrin mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Drogen gesetzt und missbraucht wurde. Paula hattetrotz der erdrückenden Beweise einige Zeit quälende Zweifel gehabt, ob sie einen Mann wie Michael, den sie kaum kannte, mit einem solchen Fluch belegen durfte. Doch ein Teil des bindenden Paktes mit dem Grundstück „Hexentobel“, den sie bei Antritt des Erbes unterschrieben hatte, forderte die Erfüllung einer ihr gestellten Aufgabe. Es hatte eigentlich kaum einen Zweifel daran gegeben, dass es Paulas Bestimmung war, den Fluch anzufertigen, der Michael Gabler für seine Taten bestrafen würde. Paula hatte damals immer wieder gezögert und war vor der Aufgabe zurück geschreckt. Erst als die Schuld Michaels zweifelsfrei feststand und sie sich durch Bildmaterial der übelsten Sorte eindeutig von seiner Täterschaft überzeugen konnte, hatte sie die nötige Wut und auch den Mut aufgebracht und in einer langen Nacht wie in Trance den tödlichen Fluch geschrieben, der seither auf Michael wartete und ihm bei seinem nächsten Besuch auf dem Tobel zum todbringenden Verhängnis werden würde. Paula versuchte diese belastenden Vorgänge rund um den Fluch zu verdrängen, so gut es ging, und doch fürchtete sie sich unsäglich vor der tatsächlichen Erfüllung ihres Fluches. Und nun begann auch noch der Tobel sich auszudehnen und sie hatte keine Ahnung weshalb. Nur dass es einen zwingenden Grund dafür geben musste, das war ihr inzwischen klar geworden. Als Paula am nächsten Tag wieder bei Ruth vorbei schaute, sah sie sofort dass ihre Freundin etwas in Erfahrung gebracht hatte. „Der Wehrkamp gehört Friederike Bornhoff“, erklärte Ruth so bestimmt, als müsste Paula sofort ganz genau wissen, wer das war. „Allerdings kümmert sie sich nicht wirklich darum“, fuhr Ruth energisch fort.
„So“, sagte Paula erstaunt, „das Grundstück sieht aber eigentlich nicht verwahrlost aus.“ „Das glaube ich gerne“, lachte Ruth. „Friederike ist eine überaus wichtige Stütze der Uelzener Gesellschaft. Rechtsanwaltsgattin, deren Ehemann auch ein aufstrebender Politiker mit exzellenten Zukunftschancen ist. Natürlich lässt sie das Grundstück pflegen.“ Ruth imitierte perfekt einen gekonnt hoheitsvollen Gesichtsausdruck und sah Paula unter halbgeschlossenen Lidern herablassend an. Paula lachte. Dann sagte sie mit gekrauster Stirn ernst werdend: „Da stimmt trotzdem etwas nicht. Der Tobel hat den Wehrkamp quasi annektiert. Dort tut sich etwas. Ich spüre genau, dass etwas sich stetig verändert, dass das ganze Grundstück aufmerksam und angespannt ist, als warte es auf etwas.
Bist du ganz sicher, dass das Grundstück wirklich noch immer Friederike gehört, vielleicht hat sie es ja verkauft.“ „Das glaube ich nicht“, murmelte Ruth nachdenklich und schüttelte den Kopf. „Aber ich werde das trotzdem nochmal klären.“ „Ja bitte, das solltest du unbedingt“, bat Paula bestimmt. Als Ruth nach einer Stunde nochmals zurückrief versicherte sie Paula, dass laut den Angaben Frau Mechlers, der Pastoren-Gattin, das Grundstück ganz bestimmt nach wie vor der rundum glücklichen Friederike Bornhoff gehörte.
„Etwas stimmt da trotzdem nicht“, behauptete Paula starrköpfig. „Nach aller Erfahrung und allem was ich weiß, würde ich sagen, der Tobel hilft dem Wehrkamp, sich auf einen Einsatz vorzubereiten. Was ist diese Friederike denn für ein Mensch, kennst du sie persönlich?“ „Ja, doch schon“, antwortete Ruth gedehnt, „von früher kenne ich sie, noch aus der Zeit ihrer ersten Ehe. Der Wehrkamp hat ihrer Familie gehört, soweit ich weiß. Friederike hat sich nie besonders darum gekümmert. Sie hat ein riesiges Grundstück drüben in Hösseringen geerbt. Auch aus Familienbesitz. Dort lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, der wesentlich jünger ist. Ihr erster Mann war ein ziemlich bekannter Anwalt hier in der Gegend und der zweite Ehemann war einer seiner Angestellten. Sie sind kinderlos und gesellschaftlich sehr aktiv. Das war es auch schon, was ich über sie weiß“, setzte Ruth nachdenklich hinzu, während sie überlegte, ob sie noch mehr über Friederike wusste.
„Hm“, sagte Paula nachdenklich. „Passt eigentlich überhaupt nicht zum Wehrkamp.“ Ruth nickte. „Ich werde mal sehen, was ich noch rausbekommen kann“, bot sie rasch an. Paula kniff skeptisch die Lippen zusammen. Sie fühlte genau, dass auf dem Tobel etwas vorging oder vorbereitet wurde, das weit in den Wehrkamp hineinreichte. Es war, als tuschelten die Bäume und Sträucher hinter ihrem Rücken wie Kinder, die kichernd Geheimnisse austauschen. Paula überdachte noch einmal die Infos, die sie von Ruth bekommen hatte. Nichts passte mit ihren Beobachtungen zusammen. Friederike Bornhoff, eine strahlende Gesellschaftsdame, zwar nicht jung, doch selbstsicher und vermögend, die ein großes Haus führte. Wie sollte das dazu passen, dass der Tobel und der Wehrkamp sich anscheinend vorbereiteten einer tief verzweifelten Frau zu helfen, die in großen Schwierigkeiten war. Paula machte sich seufzend einige Notizen und legte nach kurzem Zögern zuhause eine Akte Friederike Bornhoff an. Sie war sicher, sie wusste es einfach, dass es etwas gab, das diese Akte mit Leben füllen würde, eine Tochter oder Nichte vielleicht, die Hilfe benötigte, dachte sie nachdenklich.
Zur selben Zeit, als Ruth und Paula über sie sprachen und überlegten, ob sie eventuell Hilfe benötigte, saß Friederike Bornhoff grübelnd über dem Tagebuch, das sie seit einiger Zeit führte, genau genommen, seitdem ihr Leben sich unerwartet so sehr verändert hatte. Oder anders gesagt, seitdem sie so unglücklich war. Alles was Ruth über sie erzählt hatte, stimmte, oder es hatte bis vor einiger Zeit gestimmt. Seitdem war es mit Friederike Stufe für Stufe unaufhaltsam bergab gegangen, ohne dass ihre Umgebung bisher etwas davon mitbekommen hatte. Einige Zeit hatte Friederike noch gehofft, den Fall aufhalten oder verhindern zu können. Doch ihr Abstieg ins Unglück begann häppchenweise, es war kein plötzlicher Sturz in den Abgrund. Stattdessen war immer die Hoffnung da, sich wieder zu fangen und den Aufstieg wieder beginnen zu können. Immer wieder diese Hoffnung und jedes Mal danach unweigerlich die Zerstörung dieser Aussicht und gleich darauf ein weiterer Sturz. Wieder nicht bis ganz hinab, sondern durchaus noch im Hoffnungsbereich und so immer weiter. Wo würde dieser Abstieg wohl enden, fragte Friederike sich, seitdem sie sich endlich selbst eingestanden hatte, dass es ein Abstieg war. Würde er überhaupt enden? Oder gab es irgendwann einen finalen Sturz? Wie konnte der aussehen? Der Tod? Nun hör aber auf. Sei nicht so melodramatisch, rief Rieke sich energisch zur Ordnung. Doch im Moment gab es wenig Grund zur Freude. Obwohl Rieke sich eigentlich vorgenommen hatte, das nicht zu tun, stand sie doch auf und holte sich trotzig einen Drink.
Gleich darauf brach sie eine weitere Regel, die sie selbst aufgestellt hatte und blätterte in ihrem Tagebuch zurück zum Anfang, um noch einmal die einzelnen Stationen ihres Niedergangs nachzulesen. Der Februar war mild, nass und stürmisch und nach einen Blick auf die Fenster, über die der Regen perlte, fand Friederike, dass es genau richtig war, um so eine Rückschau zu halten. Rieke Bornhoff war tatsächlich schon einige Zeit alles andere als glücklich. Doch davon ahnte bisher noch niemand, außer ihr selbst, etwas. Oder besser gesagt. Außer ihr selbst, dem Wehrkamp und natürlich dem Tobel. Sie hatte das Gefühl, dass das Leben ihr unaufhaltsam aus den Händen glitt. Dass sie nur noch Zuschauerin war. Darum hatte sie bereits vor einiger Zeit beschlossen, eine Art Bestandsaufnahme zu machen. So etwas wie eine Bilanz ihres Lebens. Zeit genug hatte sie nun, da ihr Mann nur selten vor Mitternacht nach Hause kam. Wann genau hatte eigentlich der schleichende Niedergang begonnen? überlegte sie immer wieder. Friederike wusste es nicht genau. Vielleicht sogar schon viel früher, als sie sich eingestehen wollte.
Rieke fiel spontan der Urlaub auf Kreta ein, den sie sich damals so sehr gewünscht hatte. Es war im dritten Jahr ihrer Ehe mit Uwe gewesen. Sie war sehr glücklich mit ihm, so glücklich wie man nur sein konnte. Und sie war unendlich stolz auf ihren attraktiven, wesentlich jüngeren Mann. Jetzt im Nachhinein, als Friederike noch einmal die wunderschönen Fotos des Kreta-Urlaubs mit Sonne, Meer und Strand ansah, fiel ihr auf, dass sie selbst zwar immer überglücklich in die Kamera strahlte und dass sie auf all den Bildern braungebrannt, unbeschwert und freudestrahlend lachte. Sie wirkte, als sie jetzt die Fotos betrachtete, einfach beneidenswert und völlig sorglos.
Doch wenn sie Uwe auf den Bildern ansah, fiel ihr nun mit dem zeitlichen Abstand auf, dass er meist abwesend wirkte, als wäre er mit seinen Gedanken sehr weit weg, als stünde nur sein Körper wie eine leere Hülle neben ihr. Tatsächlich hatte Uwe ungefähr nach der Hälfte des Urlaubes einen angeblich enorm wichtigen Anruf erhalten, der ihn zwingend sofort zurück in die Kanzlei rief. Damals hatten sie den ersten wirklich großen und ernsthaften Streit gehabt. Als Friederike jetzt die Bilder sah und an die damalige Situation zurückdachte, wurde ihr plötzlich schmerzhaft deutlich bewusst, dass Uwe damals auch keineswegs gewollt hatte, dass sie mit ihm vorzeitig zurückfuhr. Es kam ihr jetzt sogar so vor, als hätte Uwe es möglicherweise ganz bewusst gesteuert, dass sie alleine auf Kreta zurückblieb und er selbst ohne sie nach Hösseringen heimkehrte.
Also, dachte sie verwundert, hatte er vielleicht schon damals gute Gründe gehabt, ohne sie abzureisen. Friederike erinnerte sich noch genau, wie sie den Rest des Urlaubs einsame Ausflüge gemacht, im Meer gebadet und abends als gelangweilter Single an ihrem Tisch im Hotel das Abendessen eingenommen hatte. Wie verloren sie sich damals so alleine vorgekommen war. Wie tapfer sie immer so getan hatte, als mache es ihr nichts aus, alleine zu sein, als sei es für sie ganz normal und gewollt als Single unterwegs zu sein. Sie hatte damals eine ebenfalls alleine reisende, etwas ältere Frau kennengelernt, mit der sie dann immer ihre Mahlzeiten einnahm und abends meist schweigend oder bisweilen leicht genervt der Frau zuhörend, die gerne und viel redete, noch draußen auf der Terrasse saß. Friederike erinnerte sich plötzlich sehr genau daran, wie verzweifelt und hilflos sie damals ihre immer wieder aufkeimende Wut auf Uwe unterdrückte. Wie sie um alles in der Welt nicht zugeben wollte, dass ihr der einsame Urlaub keinen Spaß gemacht hatte.
Vielleicht, dachte sie, hätte ich schon damals direkt nachfragen sollen, was ganz genau der Grund für Uwes verfrühte Heimreise war. Damals hatte ihr die Kanzlei noch gehört und es hatte den alten Bellmann noch gegeben. Zu jener Zeit hätte sie alles noch ganz anders steuern können. Ja, dachte sie verbittert, seinerzeit wäre vielleicht alles, was danach kam, noch zu verhindern gewesen. Wehmütig und ein bisschen ärgerlich über ihre eigene Dummheit sah sie noch einmal das Foto an, auf dem sie so lachend und glücklich an Uwes Seite strahlte und ihr attraktiver Mann mit fernem, unergründlichem Blick auf das blaue Meer hinaus sah.
Auch Paula kramte währenddessen in Erinnerungen, an die sie eigentlich nicht mehr rühren sollte. Doch das war sehr schwer. Paula erinnerte sich an diesem Abend wie so oft schmerzhaft genau an die Nacht, in der sie den Fluch für Michael geschrieben hatte. Eigentlich hätte sie diesen Abend und den Fluch für immer aus ihren Gedanken verbannen sollen, einfach nicht mehr daran denken, denn einen einmal geschriebenen und gebundenen Fluch sollte man bis zu seiner Erfüllung ungestört ruhen lassen. Doch genau das fiel Paula schwer, denn der Fluch war noch nicht erfüllt und sie grübelte immer wieder, ob sie etwa doch etwas falsch gemacht hatte. Schon in diesen aufregenden Tagen hatte Paula erfahren, dass Michael sehr wohl schon oft auf dem Tobel gewesen war und dass er wieder kommen würde. Und das war noch nicht alles.
Kurz darauf war der unsägliche Verdacht aufgekommen, dass es vielleicht sogar Henrik von der Achteren, Aushilfs-Pastor in St. Marien zu Uelzen und Paulas Geliebter, gewesen sein könnte, der an dem Missbrauch der kleinen Leonie beteiligt gewesen war. War Henrik der geheimnisvolle zweite Mann hinter dem Missbrauch? War das möglich? Paula war völlig außer sich gewesen, als sie sich unversehens diesem ungeheuren Verdacht stellen musste. Sie versuchte verzweifelt diesen entsetzlichen Gedanken keinen Raum zu geben, wollte nicht darüber nachdenken, bis ihr eindringlich bewusst wurde, was schon der bloße Verdacht auch für sie selbst bedeutete. Sollte Henrik tatsächlich an dem Missbrauch beteiligt gewesen sein, würde auch ihr Geliebter unweigerlich auf dem Tobel sterben, sobald er ihn betrat. Seit Paula diesen Gedanken zum ersten Mal zögernd in ihr Bewusstsein gelassen hatte, fand sie keine Ruhe mehr, denn sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. Ihr erster Gedanke war, Henrik nicht mehr auf den Tobel zu lassen, um ihn nicht zu gefährden. Doch schon einige Stunden später wurde Paula schmerzhaft klar, dass dieses Vorhaben ganz gewiss keine dauerhafte Lösung, sondern Feigheit war. Sie konnte nicht für immer mit der Ungewissheit leben, ob Henrik schuldig war oder nicht. So sehr sie ihn auch liebte, auf Dauer war es keine Lösung ihn fernzuhalten.
Nun, da Paula endlich den Fluch gesprochen, ihn unauflösbar gebunden und damit die Wirksamkeit besiegelt hatte, sollte sie eigentlich zur Ruhe kommen. Doch ihre schrecklichen Zweifel, ihre namenlose Angst wegen Henrik nagte unaufhörlich und ständig an ihr. Und dann waren da plötzlich auch noch die beunruhigenden Veränderungen des Gartens und zudem noch die Erregung und Anspannung der Wege, die in der Nähe des Grundstückes verliefen. Paula war aufgewühlt und beunruhigt, wie noch nie zuvor. Sie hatte den ganzen Tag schon ein drückendes Gefühl von nahender Gefahr gespürt. Sie hätte es nicht genau beschreiben können, doch die Gefahr war da. Sie war wie eine dunkle Wolke am Horizont, die sich heran schob und das Unheil war fast mit Händen greifbar. Und auch ihr Grundstück, das so vieles mit seinen ganz speziellen Fähigkeiten und durch die Kraft der Geschöpfe, die dort existierten, ausdrücken konnte, auch der Tobel war unglaublich wachsam und nervös. Die Unruhe war in Wellen, die selbst die Erde durchliefen, spürbar. Paula glaubte zu fühlen, dass die Wurzeln der Pflanzen geheime Botschaften und Warnungen untereinander austauschten.
Sie schrieb in ihr Tobel-Tagebuch. „Etwas geschieht. Etwas Unheimliches kommt auf uns zu. Die Pflanzen rühren sich nicht, doch sie sind wachsam und sie scheinen ständig untereinander zu kommunizieren. Durch Bewegungen, ein Rascheln der Blätter, ein geheimnisvolles Raunen und es ist Vollmond.“ Mit einem leisen Seufzer schloss Paula das Buch und ging noch einmal in den Garten. Die kleine verborgene Quelle im hintersten, dunkelsten Teil des Gartens sprudelte kurz auf, als Paula an ihr vorüber ging und floss dann wieder gurgelnd aus ihrem unterirdischen Zufluss, der hier an die Oberfläche trat und durch den Bernadette einst vor über 200 Jahren in dunkler Nacht den Zugang zu dem Garten gefunden hatte, der eigentlich uraltes Erbe ihrer Familie war. Zwischen den jagenden Wolken war immer nur für kurze Momente der riesige Vollmond zu sehen, der hell leuchtend über dem Wald stand.
Paula fröstelte permanent, ohne allerdings zu wissen, ob es eine natürliche Kälte oder die bange Ahnung von kommendem Unheil war. Sie häufte schaudernd Holz im Kamin auf. Insgeheim hoffte sie darauf, dass Bernadette, deren Leben sie unmittelbar nachdem sie auf den Tobel gekommen war, zuerst erforscht hatte, wie früher schon öfter geschehen, in den Flammen erscheinen und ihr weiter helfen würde. Paula hatte damals zu der Waldhexe, die 16jährig und schwanger um 1780 in großer Not auf den Tobel gekommen war, eine besondere Beziehung entwickelt. Doch das Feuer im Kamin brannte an diesem Abend einfach nur ruhig und unauffällig. Ein harmloses Kaminfeuer wie jedes andere. Paula saß nachdenklich vor dem Kamin und starrte in die Flammen, die sie mit ihrem feurigen Glanz zu verhöhnen schienen. Seufzend holte sie sich noch einmal ein Glas Wein und starrte ungläubig und etwas beschämt die bereits ziemlich leere Flasche an, die sie erst an diesem Abend geöffnet hatte. Dennoch fühlte sie keinerlei Wirkung des Weins und auch die erhoffte Müdigkeit war bisher ausgeblieben.
Überrascht sah sie auf die Uhr. Schon so spät. Sie war am nächsten Morgen mit Ruth verabredet. Entschlossen nahm sie drei Esslöffel der Tinktur, die ihr Ruth für solche Fälle überlassen hatte und die, wie Ruth versichert hatte, zuverlässig Schlaf bringen sollte. Allerdings hatte Ruth als Dosis lediglich einen Teelöffel der Flüssigkeit empfohlen und ganz gewiss nicht ganze drei Esslöffel. Tatsächlich aber fühlte Paula schon kurz nach der Einnahme von Ruths Wundertinktur eine bleierne, wohlige und absolut unwiderstehliche Müdigkeit in sich aufsteigen. Erleichtert ging sie rasch zu Bett und schlief lächelnd unmittelbar danach ein. Doch der erholsame Schlaf währte nicht lange. Schon kurze Zeit später begann ein Traum, der so lebhaft, so eindringlich und erschreckend war, dass Paula ihn sich später immer wieder sofort in jeder Einzelheit in Erinnerung rufen konnte. Sie sah dann die Bilder des Traums wieder lebhaft vor sich und vergaß ihn nie mehr.
Paula befand sich in einem Land, das sie nicht kannte und in dem sie ganz sicher noch nie zuvor gewesen war. Es war ein raues und wildes Land mit steilen Klippen, an denen Seevögel in schwindelnder Höhe nisteten. Von wo sie sich mit wilden Schreien halsbrecherisch von den scharfkantigen Klippen stürzten und schrill kreischend über die schäumenden Wellen und die hochfliegende Gischt der See hinweg flogen. Es war ein Land mit hohen, schroffen Felsen, aber auch mit sanften, grünen Hügeln und weiten, grasbewachsenen Hochebenen. Ein wütender Sturm tobte laut heulend und gefährlich über dem Land. Sturmgraue Wolken rasten über den düsteren Himmel und Blitze zuckten drohend zwischen den finsteren, hoch aufragenden Wolkentürmen. Paula versuchte verbissen einen Ort zu erreichen, von dem sie nicht wusste, wo er sich befand, noch was sie dort wollte, oder weshalb sie diesen Ort so verzweifelt suchte. Sie wusste nur, dass sie unbedingt so schnell wie möglich an diesen Platz gelangen musste.
Plötzlich sah sie auf einer sturmumtosten nahen Bergkuppe, über die unheildrohende, schwarze Wolken jagten, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hatte langes, tiefrotes Haar, das wild und wie lebendig geworden im Sturm um sie hertanzte. Das Mädchen hob graziös wie eine Ballerina beide Arme mit elegant gespreizten Fingern weit über den Kopf, dehnte genüsslich den schlanken Körper und begann in dem wilden Tosen langsam und sinnlich zu tanzen. Selbst der Sturm schien einen Moment innezuhalten und der fernen Melodie zu lauschen, die wohl nur das tanzende Mädchen hören konnte. Vielleicht hörte der Sturm aber auch auf einen Befehl, dem er zwingend gehorchen musste und den Paula nicht vernehmen konnte. Das Mädchen reckte sich, warf das lange Haar zurück und begann das Tempo zu steigern und wilder und hemmungsloser zu tanzen.
Hingebungsvoll wiegte sie sich im Wind, eine schmale, bis in die Fingerspitzen graziöse Gestalt, ganz und gar dem Tosen des Sturmes hingegeben und ihn gleichzeitig immer weiter anfeuernd. Bald wurde sie noch schneller, wilder und zügelloser und wirbelte in atemberaubendem Tempo ungestüm herum, so dass die roten Haare wallend und tanzend um sie her flogen. Dann wieder schien sie in stummem Befehl jemanden oder etwas zu sich locken. Sie bewegte beschwörend die schlanken Arme, als wollte sie etwas zu sich heranziehen. Plötzlich sah Paula erschrocken wie die felsige, mit leuchtend grünem Gras durchsetzte Bergkuppe, auf der das Mädchen sich wiegte, sanft von innen heraus zu glühen begann. Mehr und mehr, heller, leuchtender und feuriger. Je wilder die Tänzerin sich selbstvergessen wie in Trance drehte, desto heißer glühte die bläuliche, wabernde Flamme im Berg. Bis sich plötzlich mit einem Erdstoß, der Paula mit brutaler Gewalt umwarf und gegen einen zackigen Felsen schleuderte, ein klaffender Riss auftat. Ein Spalt, aus dem hohe bläulich rote, sengende Flammen schlugen und mit verlangenden Fingern und feurigen Zungen gierig nach der schönen Tänzerin griffen. Fasziniert und hilflos, mit heftig schmerzendem Rücken, musste Paula hart gegen den Fels gepresst, an den sie geschleudert worden war, mit ansehen wie der Riss in der Bergkuppe breiter wurde, immer mehr aufriss und die Flammen fortwährend höher hinauf schlugen, je wilder die Tänzerin herumwirbelte. Die Rothaarige tanzte jetzt mitten in einer Feuersäule rasend schnell und unaufhörlich. Sie heizte mit ihrem wilden Tanz die Glut immer weiter an. Und zwar sowohl den schaurigen Brand, als auch die Flammen und sogar den Sturm der, noch immer fauchend und heulend über das Land, das Meer und die Felsen hinweg tobte. Paula wollte schreien, nein, halt hör auf, doch sie brachte keinen Ton hervor und konnte sich nicht rühren. Hilflos, stumm und bewegungsunfähig musste sie mit ansehen, wie die Tänzerin noch immer in ihrem wirbelnden Tanz bis in die Wolken aufstieg und schneller und schneller wurde bis der ganze Berg mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst.
Glühende Lava schoss himmelhoch und funkensprühend in einer feurigen Säule zu den schwarzen Wolken hinauf und ergoss sich dann unter weiteren gewaltigen Erdstößen über das ganze Land. Sie begrub Dörfer, Gehöfte, Menschen und Tiere für alle Zeiten unter sich. Und noch immer tanzte die schöne Frau ungerührt in den Flammen weiter. Flüsse, die einst klares Wasser gespendet hatten, wurden zu glühenden Lavaströmen und damit auch zu alles vernichtenden, ausnahmslos jeden verschlingenden Todesfallen. Dörfer und Häuser wurden begraben und Mensch und Tiere starben in dem glühenden Gestein und würden irgendwann selbst zu Stein werden, erstarrt und erkaltet, gefangen in ihrer ewigen, immerwährenden Qual. Die ganze Welt ging in einem Flammenmeer unter und Paula wurde mit einem unendlich schmerzvollen Schrei ohnmächtig und versank im Dunkel der Bewusstlosigkeit.
Als Paula gegen Morgen, erwachte war sie vollkommen nass geschwitzt. Ihre Haare und ihr Kissen waren feucht und ihre Nägel hatten sich während des Traumes offenbar tief in ihre Handflächen gegraben und halbmondförmige, blutige Spuren hinterlassen. An ihren Fingern hatte sie schmerzhafte Brandblasen und die Tränen, die sie im Schlaf geweint hatte, hatten Spuren auf ihrem über und über mit Asche beschmutzten Gesicht hinterlassen. Ihre Wangen waren noch immer tränennass und sie fror entsetzlich.
Als sie zitternd und taumelnd aufstehend wollte, um ihren brennenden Durst zu löschen, sank sie laut stöhnend auf das Bett zurück. Ihr Rücken schmerzte unerträglich und als sie verblüfft in den Spiegel sah, bemerkte sie voller Schrecken großflächige Abschürfungen und einige tiefblaue Flecken und rötliche Schwellungen auf ihrem Rücken, als wäre sie mit großer Gewalt gegen einen harten Gegenstand geschleudert worden. In diesem Moment fiel ihr der Sturz gegen den Felsen wieder ein, als in ihrem Traum die Erdstöße begonnen hatten. Schwankend und unsicher kam Paula auf die Beine und trank gierig mehrere Gläser Wasser, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann duschte sie ausgiebig, ignorierte den Schmerz der Wunden auf ihrem Rücken, als das heiße Wasser der Dusche über die Verletzungen lief, und brühte anschließend noch immer stark benommen einen Tee aus Ruths Spezialmischung auf. Tief beunruhigt und leise stöhnend setzte Paula sich an den Schreibtisch und schrieb alles auf, was sie noch immer deutlich, wie etwas eben Erlebtes vor sich sah. Jede Einzelheit des schrecklichen Traumes war in Paulas Gedächtnis eingebrannt. Dennoch schrieb sie alles auf, auch über die Verletzungen, dass sie Brandblasen hatte, mit Asche beschmutzt war und ihr Rücken grün und blau wurde und tiefe Schrammen und Schwellungen, wie nach einem realen Sturz gegen einen Felsen aufwies.In dieser Nacht hatte Paula eindrucksvoll die Bekanntschaft der Feuertänzerin gemacht und ihr graute vor der ungestümen Gefährlichkeit dieses Wesens aus einer anderen Welt, oder wo auch immer sie herkommen mochte. Dennoch war sie überzeugt, dass es kein Zufall gewesen war, dass sie diesen Alptraum hatte durchleben müssen.
Am nächsten Morgen, so früh sie es nur verantworten konnte, machte Paula sich rasch auf den Weg zu Ruth, ihrer äußerst scharfsinnigen, mütterlichen Freundin, die am winzigen Katzensteg nahe der Kirche in Suderburg wohnte und dort so eine Art kleines Heimatmuseum betrieb, in dem sie in erster Linie alte Bücher, die sich mit der Geschichte Suderburgs befassten, aber auch alte Postkarten, Haushaltsgegenstände aus längst vergangen Zeiten und einige alte Möbelstücke, sowie Geschirr aufbewahrte. Ruth war früher lange Zeit Lehrerin in Suderburg gewesen und hatte sich schon sehr lange mit der Geschichte des Ortes und seinen Sagen befasst. Tief in Gedanken ging Paula den schnurgeraden Wehrbrink entlang, dessen schlanke, hoch aufragende Fichten ihr heute in ihrer Höhe und strengen Düsternis fast bedrohlich erschienen.
Auch die Sträucher und die hohen Brennesselbüsche längs des Wehrbrinks kamen ihr heute irgendwie aggressiv vor, als würde etwas Unbekanntes sie beschäftigen und ihre Brennhaare drohend aufrichten. Selbst der niedrige Holzlattenzaun längs der Straße und erst recht die abweisende Hecke, die Friederike Bornhoffs Wehrkamp umgab, wirkten abweisend, als würden sie eine eindringliche Warnung aussprechen. Paula war froh, als sie zu der schmalen Treppe kam, die zwischen Bäumen und Sträuchern zu dem Flüsschen Hardau hinunter führte. Doch auch hier fühlte sie sich heute irgendwie unsicher, ganz so als würde die Vegetation sie belauern und jeden ihrer Schritte registrieren. Sie war schon so oft hier gegangen und hatte doch noch nie wirklich bemerkt wie undurchdringlich und fast schon gefährlich hier das grüne Dickicht des Waldes aussah. Büsche und Ranken neigten sich ihr aufdringlich zu und Paula dachte etwas beunruhigt, wenn sie mir den Weg versperren wollten, dann könnten sie es tun. Selbst ein unauffindbares Verschwinden in diesem grünen, fest verschlungenen Pflanzenwall erschien Paula heute wahrscheinlich. Merklich erleichtert überquerte sie die schmale Brücke über das kleine Flüsschen Hardau. Hier sah alles wieder friedlich aus. Wie immer, wenn sie hier entlang ging, las sie auf der hier angebrachten Tafel die Stationen, die diese schmale kleine Hardau auf ihrem Weg ins Meer nahm.
Paula kannte die Stationen längst auswendig und las sie gewohnheitsmäßig doch immer wieder. Die Hardau floss bei Holdenstedt in die Gerdau, mit der Gerdau in die Ilmenau, mit der Ilmenau bei Winsen in die Elbe und mit der Elbe bei Cuxhaven in die Nordsee und dann weiter in den riesigen Atlantik. Sie fand das immer wieder beeindruckend und wünschte der kleinen Hardau stets auf ihrer großen Reise in die weite Welt viel Glück. Es war ein kleines Ritual beim Überqueren der Brücke und gefiel Paula immer aufs Neue.
Sie bog rasch in die Holxer Straße ein, die am Friedhof und zu Paulas Unbehagen auch an Michael Gablers Gärtnerei vorüber führte. Danach dann direkt in den alten Ortskern von Suderburg und zur Hauptstraße und dem Katzensteg, wo Ruth ihr kleines Haus hatte. Es war viel kleiner als die stolzen Stadthäuser in Uelzen, und auch wesentlich geduckter und langgestreckter. Die weiß gerahmten, relativ schmalen Fenster gingen fast bis auf die Erde hinab. Das Häuschen war weiß gekalkt und hatte ein dunkles Dach und nur die dunkel gestrichenen Balken des Fachwerkhäuschens gaben ihm Struktur und ließen es freundlich und gemütlich wirken.
Ein schmales, vielfach unterteiltes Fenster reihte sich an das andere und an jedem hingen putzige, weiße Scheibengardinen. Nur die dunkle, schwere, hölzerne Eingangstüre mit den reichen Ornamenten schien das Häuschen fast zu erdrücken.
Der kleine Katzensteg war eine schmale Gasse, die von der St. Remigius Kirche zum Alten Friedhof führte und kurz vor Ruths Haus an der Bushaltestelle die Hauptstraße überquerte. Nur zwei halbhohe an Holzpfeilern angebrachte und sich überlappende Querbalken in kurzem Abstand hinderten Fußgänger und auch Fahrradfahrer daran, sofort auf die Hauptstraße zu queren. Früher hatte man sich erzählt, dass über dieses schmale Gässchen die Hexen des Ortes anlässlich ihrer Feste zum Blocksberg reisten.
Tief in Gedanken kam Paula bei Ruth an, die noch etwas verschlafen aussah. Paula brannte voller Besorgnis darauf, mit Ruth über ihren seltsamen und beängstigenden Traum zu sprechen. „Was glaubst du“, fragte sie unsicher, „was das zu bedeuten hat.“ „Nun“, meinte Ruth grimmig, „vermutlich dass die nächste Feuertänzerin im Anmarsch ist und wir uns auf einiges gefasst machen müssen.“ Paula nickte besorgt. „Bernadette bekommt also eine Nachfolgerin“, setzte Ruth nach einer Weile gedehnt hinzu und sah Paula mit hochgezogenen Augenbrauen über die runde Brille an, die ihr stets das Aussehen einer weisen, aber auch überaus neugierigen Eule gab.
„Und was bedeutet das genau?“, fragte Paula etwas genervt. Sie brauchte hier gewiss keine Feuertänzerin und schon gar keine, die ihr Alpträume bescherte. Ihr reichte die schöne Bernadette die erste Hüterin, die sie erforschte und von der sie sehr viel lernte, damals, nachdem sie gerade den Tobel geerbt hatte. Als Ruth noch immer schwieg stand Paula wortlos auf, zog ihr Shirt hoch und zeigte Ruth die Verletzungen an ihrem Rücken. Ruth pfiff überrascht durch die Zähne. „Das ist allerdings merkwürdig“, gab sie leise zu und sah Paula erschrocken an. „Ja“, bestätigte Paula bissig, „vor allem wenn man bedenkt, dass es nur ein Traum war.“ Ruth nickte unbehaglich. „Nun“, erklärte sie nach einer Weile gedehnt, „der Legende nach gibt es in jedem Jahrhundert eine Feuertänzerin, eine Frau, die diese besondere Begabung hat mit dem Feuer zu sprechen.“
„Dann war der Feuermann, der in Theodor Storms „Regentrude“ über die Felder tanzte, vielleicht eine Feuerfrau, eine Feuertänzerin?“, fragte Paula und sah Ruth neugierig an. Ruth zuckte lächelnd die Schultern. „Vielleicht“, meinte sie geheimnisvoll und schwieg. „Was weißt du über die Feuertänzerinnen?“, fragte Paula gespannt und sah Ruth neugierig an. Ruth zuckte nur die Schultern. „Wenn in jedem Jahrhundert eine Feuertänzerin kommt, dann frage ich dich, wer kam beispielsweise nach Bernadette?“, fragte Paula gespannt. Ruth sah überrascht auf. „Verflixt“, rief sie dann und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass Paula zusammenzuckte. „Was ist“, fragte sie erschrocken und sah Ruth alarmiert an.
„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht wer nach Bernadette kam, ich habe bisher einfach nicht darüber nachgedacht“, gab Ruth grimmig zu und ärgerte sich offensichtlich über sich selbst und ihre Nachlässigkeit. „Bernadette“, murmelte sie und kniff die Augen zusammen. „Sie lebte im 18. Jahrhundert. Elisabeth, ihre Tochter, war ganz sicher keine Feuertänzerin.“ Paula lachte. „Nein, ganz gewiss nicht“, erwiderte sie. „Eher das Gegenteil.“ „Jetzt haben wir das 21. Jahrhundert“, fuhr Ruth ungeduldig fort. „Wer war die Feuertänzerin des 19. Und wer war die des 20. Jahrhunderts. Warum habe ich mich nicht darum gekümmert?“ „Ja warum nicht“, murmelte Paula. „Ich werde es herausfinden“, versprach Ruth entschlossen und schob das Kinn vor. „Oder ich“, versicherte Paula nicht minder entschlossen. Ruth nickte. Sie sah sinnend aus dem Fenster, dann lehnte sie sich zurück und sagte nachdenklich: „Habe ich dir eigentlich je die Legende vom ‚Hexenfeuer‘ oder“, sie machte eine kurze Pause und sah Paula eindringlich an, „manche sagen auch den ‚Feuerhexen‘ oder“ sie zögerte etwas, „Feuertänzerinnen erzählt?“
„Nein“, entgegnete Paula sofort. „Davon habe ich nie gehört, aber ich habe wohl eine davon“, auch sie zögerte kurz, “gekannt, Bernadette.“ Ruth lächelte. „Ja, ja genau“, sagte sie. „Das meine ich.“ „Erzähl“, bat Paula sogleich, „ich habe so lange nichts mehr über Bernadette gehört.“ Ruth nickte und begann mit geheimnisvoller Stimme leise zu erzählen:
„Es gibt sie schon sehr lange, die Legende vom sagenhaften Hexenfeuer. Vom Feuer, das nur eine Hexe löschen kann. Eine starke Hexe, die furchtlos ist und sich dem Feuer stellt, die es bekämpft oder überlistet. Es sind diese unzähligen Legenden der Feuer- oder Brandhexen, die sich nie vom Feuer lösen konnten, die stets untrennbar mit den Flammen verbunden blieben.“ „Genau wie Bernadette“, bemerkte Paula versonnen. „Sie kann sich bis zum heutigen Tag nicht vom Spiel und vom Kampf mit den Flammen lösen und hat in meinem Kamin eine Möglichkeit gefunden, im Feuer immer wieder zurückzukommen.“
„Ja, ganz genau“, bestätigte Ruth nickend. „Kennst du diese Legenden auswendig?“, fragte Paula neugierig, „oder gibt es ein Buch darüber?“ „Nein“, lachte Ruth, „nein das nicht, aber einige weiß ich schon auswendig. Vielleicht sollte ich sie mal aufschreiben. Manche Leute sagten, dass diese Feuertänzerinnen Feuer entzünden konnten, und zwar allein mit ihrem Tanz. Je wilder der Tanz, desto größer und heftiger das Feuer. Sie sollen auch aktiv Gewitter besprochen und angelockt und dann im Zucken der Blitze getanzt und so das verheerende Feuer herangezogen haben.“ Paula nickte und dachte an die letzte Nacht und ihren unheimlichen Traum, an die junge Frau, die so selbstvergessen und hingegeben im Feuer des Vulkans getanzt hatte.
„Aber Bernadette war nie so“, verteidigte Paula sofort ihre Lieblings-Vorgängerin auf dem Tobel, mit dem Bernadette offenbar bis heute über all die Jahrhunderte hinweg untrennbar verbunden blieb. Von Bernadettes Schicksal hatte Paula gelernt, als sie auf den Tobel kam. Von ihr hatte sie Ermutigung bekommen, wenn sie verzagt war. Bernadette hatte ihr geholfen, wenn sie nicht weiter wusste.
„Feuertänzerinnen“, sagte Ruth versonnen, „sollen stets mehrere Generationen überspringen. Sieh dir Elisabeth, die Tochter Bernadettes an, Sie hatte zum Feuer gar keine Beziehung.“ „Das stimmt“, gab Paula nachdenklich zu „und Johanna, die danach kam hatte mit Feuer auch nichts zu tun.“ „Nein“, nickte Ruth, „die auch nicht. Es heißt ja wie gesagt, dass nur so ungefähr alle 100 Jahre eine Feuertänzerin geboren wird. Das Feuer muss ihr von Anfang an im Blut liegen.“ Ruth sah Paula lächelnd an und sagte versonnen: „Eigentlich ist die nächste Feuertänzerin längst überfällig. Was meinst du, hast du es im Blut?“ Paula sah Ruth entsetzt an. „Ich?“ fragte sie verblüfft, „ganz gewiss nicht.“ „Nun“, meinte Ruth, „dann wird es wohl bald wieder so weit sein, dass eine Feuertänzerin auftaucht. Ich bin sehr gespannt, wie sie sich in der modernen Welt bewegen wird.“ „Woran würden wir sie denn erkennen?“, fragte Paula.
„Na ja, am Feuer natürlich“, lächelte Ruth. „Alles an ihr hat mit Feuer zu tun. Sie kann Feuer entfachen und sie kann es bändigen. Und zwar jegliches Feuer“, sagte Ruth, plötzlich ernst werdend. „Manchmal flackern in ihrer Nähe plötzlich Streitfeuer auf, die sie mal anfacht, mal wieder löscht. Oft, sehr oft flackern in ihrer Nähe aber Liebesfeuer auf, große heftige Brände, die alles verzehren und kleine, spielerische Liebes-Feuerchen, die zuerst wie ein großes Feuer aussehen, die aber dann nur ein bisschen flackern, ein paar Funken sprühen und schnell verlöschen. Aber eben auch verheerende, lodernde Brände, die sich jeder Kontrolle entziehen.“ Paula war sehr nachdenklich geworden. Doch Ruth fuhr schon fort. „Das war aber beileibe nicht die einzige Funktion der Feuertänzerinnen. Wie jedes Feuer waren sie zwiespältig. Sie entfachten und schürten das Feuer, gewiss. Doch sie haben auch so einige Bauernhöfe und sogar ganze Dörfer und nicht zu vergessen die empfindlichen Heideflächen vor verheerenden Bränden gerettet.“
Paula blickte skeptisch und sagte nur „So.“ Lakonisch meinte Ruth. „Später hat man dann Feuerreiter daraus gemacht und aus den Frauen Hexen, die man angeklagt und verurteilt hat, wenn man sie fand. Die Obrigkeit hätte es damals nicht ertragen, so mutige und selbstbewusste Frauen zu dulden, die dem Feuer befehlen konnten, selbst wenn es mitunter die Dörfer rettete. Es war für die Feuertänzerinnen sehr gefährlich und sie riskierten auch oft ihr Leben. So schwiegen die Feuertänzerinnen und die, die ihnen verbunden waren, vorsichtig dazu, wenn nach einem Brand, der gelöscht worden war, aus der Retterin ein mutiger Reiter wurde, der angeblich den Brand besiegt hatte. Wie gesagt, es wird spannend sein, sehr spannend wenn die nächste Feuertänzerin kommt.“
Paula lächelte: „Komm schon Ruth, du kennst doch sicher eine Sage von einer Feuerreiterin. Ruth schmunzelte, sah Paula an und nickte. Dann lachte sie hell auf. „Ja“, gab sie zu, „sogar von einer ganz besonderen.“ Sie begann mit ihrer schönen ‚Märchen‘-Stimme zu erzählen:„Über alle Zeiten hinweg hielten sich hier in der Heide die Sagen über Feuerreiter. Da in der Heide, wenn der Regen fehlte und in langen trockenen Zeiten durch ein Feuer gewaltiger Schaden entstehen konnte, waren hier die Flammen besonders gefürchtet. Auch die niedrigen Heidehäuser mit ihren tief herab gezogenen Reetdächern waren leicht entflammbar und schnell konnte ein großes Gehöft oder sogar ein ganzes Dorf ein Raub der gierigen Flammen werden.
Der ‚Rote Hahn‘, wie man das Feuer nannte, war zu allen Zeiten in der Heide gefürchtet, besonders wenn er auf dem Dach eines Heidjerhauses krähte. Doch es ging auch die Sage, dass es Menschen gäbe, die zu den Flammen eine besondere Beziehung hatten und die imstande waren, sie zu besprechen, zu besänftigen und sogar zu besiegen, wenn auch oft unter Einsatz des eigenen Lebens.“ Gespannt beugte Paula sich vor und lauschte Ruths dunkler Stimme.
Ruth erzählte weiter: „Besonders bekannt wurde eine Feuerreiterin, die sich anscheinend furchtlos den gefährlichsten Flammen näherte und ihnen offenbar sogar befehlen konnte. Es soll eine junge Frau mit flammend rotem Haar gewesen sein. Viele glauben sogar bis heute, dass es eine der sogenannten Waldhexen auf dem Hexentobel war. Die Sage beginnt mit einer Hochzeit auf dem Holten-Hof. Der Holten-Hof war ein alter und reicher Hof mit viel Land und einer großen Menge Vieh. Der Holten-Bauer war hoch angesehen und zudem Bürgermeister.
Als der Sohn dieses reichen Bauern eine Braut aus einer ebenso reichen Bauernfamilie erwählte, waren die Eltern überglücklich. Es sollte eine riesige, so noch nie dagewesene Dorfhochzeit werden. Alle Einwohner waren dazu geladen und dazu noch jede Menge Gäste aus anderen Dörfern und sogar aus dem nahen Uelzen. Die Gäste freuten sich auf reichlich gutes Essen und Trinken im Überfluss, auf Musik und Tanz und viele Stunden fröhliches Feiern. Und es war zudem keine arrangierte Verbindung, sondern eine echte Liebesheirat. So etwas kam nur sehr selten vor. Die beiden Väter platzten bald vor Stolz und jeder wollte die Hochzeit noch prächtiger ausrichten. Auf beiden Höfen sollte gefeiert werden. Auf dem Hof des Brautvaters beim Abholen der Braut und auf dem Hof des Hochzeiters, der eines Tages der Erbe sein würde, bei der Ankunft mit der Braut und ihrem Einzug auf dem großen Hof. Überall herrschte pure Festesfreude.