Der Fluch des Schorchwalds - Andrea Pfrommer - E-Book

Der Fluch des Schorchwalds E-Book

Andrea Pfrommer

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Beschreibung

Draußen im Schorchwald bei Calw am Rande des Nordschwarzwalds stolpert Kommissarin Martina Kübler über einen Verletzten in mittelalterlicher Bekleidung, der kurz darauf tot und kopflos in Agenbach im Heu entdeckt wird. Matthias Fischer, Ex-Schwarm und Ex-Kollege, eigentlich im Urlaub in Bad Teinach, kann nicht anders, als die Frau seiner Träume bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Immer wieder werden die beiden mit einer alten Schwarzwald-Sage konfrontiert. Als auch noch eine Schauspielerin des Würzbacher Bauerntheaters verschwindet, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Undercover übernachten sie im Zelt beim Mittelalter-Spektakel beim Hirsauer Kloster und geraten in eine seltsame Gegenwelt. Können sie weiteres Unheil verhindern?

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Andrea Pfrommer

Andrea Pfrommer ist Schwarzwälderin, hegte schon immer eine Leidenschaft fürs Schreiben und für spannende, unterhaltsame Geschichten. Sie hat ein Faible für Land, Leute und Besonderheiten der Region. Nach ihrem erfolgreichen Erstling »Moselkork« ist dieses Buch ihr zweiter Kriminalroman.

Andrea Pfrommer

DER FLUCH DES SCHORCHWALDS

Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2022Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: © Adobe StockGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd StorzKorrektorat: Sabine Tochtermann Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-96555-142-8

Besuchen Sie unsere Homepage und informierenSie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

PROLOG

Agnes durchstreifte das Gebüsch des menschenleeren Schorchwaldes, während ihr die Tränen über ihre eingefallenen, faltigen Wangen liefen. Sie spürte nicht, dass die vorbeistreifenden Äste ihr vom Leben gezeichnetes Gesicht zerkratzten, obwohl das warme Blut darübertropfte. Die Blätter raschelten unaufhörlich in der Dämmerung. Ihr altes Kleid aus dem porösen, brüchigen Stoff, das sie seit damals aufbewahrt hatte, blieb an den Zweigen hängen und bekam Risse.

Wie sie die Einsamkeit und das Düstere dieses Waldes hasste! Sie verabscheute diesen dunklen, verlassenen Ort. Die knorrigen Äste ragten wie lauernde Gestalten über ihrem Haupt und verbreiteten eine grausige Atmosphäre.

Das alles konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Oft genug war sie in den vergangenen Jahren an diesen Ort voller bedrückender Erinnerungen zurückgekommen, immer dann, wenn sich das grausame Ereignis jährte, das ihr ganzes erbärmliches Leben zerstört hatte.

Sobald sie hier war, verschwammen ihre Gedanken in einem undurchsichtigen Nebel, durch den sie das Klirren von scharfen aufeinandertreffenden Klingen vernahm. Bei ihren Besuchen war sie bisher kaum einer Menschenseele begegnet. Perfekt für das, was sie vorhatte. Man vernahm nur das Rauschen des Windes, der durch die Äste der dunkelgrünen Tannen des Schwarzwaldes fegte.

Dieses Jahr war Agnes wieder ganz in ihren Heimatort Würzbach zurückgekehrt, in die Nähe des Schorch, dort wo im Wald die Markungen der Gemeinden Emberg, Schmieh und Rötenbach zusammentreffen. Es hatte sie so stark hierhergezogen, weil sie spürte, dass ihr Ende nahte. Oft hatte sie sich dabei ertappt, wie sie gedankenversunken an damals dachte und die schrecklichen Bilder an ihr vorbeizogen. Agnes war nun viel öfter da, um zu beten und zu trauern. Sie musste dabei jedes Mal mit den Tränen kämpfen. Auch wenn die Tat gesühnt worden war, so hatte sie nichts vergessen. Sie fühlte die Enttäuschung und den Schmerz noch immer und sie konnte den näherkommenden Tod einfach nicht mehr abwarten. Die ganzen Jahre hatte sie gelitten, aber sie hatte keine Kraft mehr. Keinen Tag länger würde sie es aushalten, diese Schuld mit sich herumzutragen. Sie hoffte nur, dass dieser Fluch niemanden sonst treffen würde.

Endlich sah sie das Kreuz, das grauenvolle Erinnerungen in ihr weckte. Das Holzkreuz mit der Aufschrift Ritter von Zavelstein. Sie nahm das Seil, das sie um ihre Hüften gebunden hatte, befestigte es an einem nebenstehenden Baum und legte sich die Schlinge um den Hals, um ihrem traurigen Leben ein Ende zu setzen. Schnell fühlte sie, wie sich der Strick um ihren Hals zuzog, als sie sich von dem großen darunterliegenden Stein fallen ließ. Noch ein kurzer, schrecklicher, schmerzhafter Augenblick, bis sie spürte, dass es ihr die Kehle zuschnürte und ihr die Luft nahm. Ein letztes Mal zog die Erinnerung, die ihr Leben so geprägt hatte, an ihr vorbei. Ihren Sohn hatte sie bei all ihren Plänen nicht vergessen. Er war nun erwachsen und Agnes hatte ihm das Wenige hinterlassen, das sie besaß.

Endlich hatte sie vollendet, was sie seit Langem geplant hatte. Agnes starb an dem Ort, an dem in jungen Jahren ihre Zukunft eine entscheidende grausame Wende genommen, die sie ihr ganzes Leben begleitet und schließlich zerstört hatte.

Unzählige Finger lagen auf dem umgedrehten Glas, das sich in der Mitte des Brettes befand. Im Zimmer war es dunkel und still – man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Alle Hände bewegten sich kreisförmig, fast geräuschlos in ein und dieselbe Richtung. Noch immer war nichts weiter zu hören als das Rascheln der Hemdsärmel, die sich hin und wieder berührten. Ein leises gemeinsames Murmeln durchbrach sanft die unheimliche Stille. »Agnes, komm zu uns …«

Plötzlich durchdrang ein lautes Quietschen den düsteren, abgedunkelten Raum, das einen der Anwesenden besonders erschaudern ließ. Die alte Tür öffnete sich langsam unter einem Knarren und im Türrahmen erschien die Silhouette einer leicht gebückten schwarzen Gestalt. Alle im Raum erstarrten. Niemand sagte ein Wort. Nur einer Person entfuhr ein spitzer kurzer Schrei.

Heute war der 30. April. Walpurgisnacht. Seit fast einem Jahr kamen sie einmal die Woche zusammen, um sich die Zeit zu vertreiben und dies und jenes auszuprobieren. Für heute hatten sie sich etwas Besonderes aufgehoben. Nur einer aus ihrem Kreis hatte sich für diesen Abend entschuldigt. Alles hatte in lockerer, fröhlicher Atmosphäre begonnen und niemand hätte daran geglaubt, dass so etwas tatsächlich funktionierte. Doch die Beteiligten wurden zu ihrem Entsetzen eines Besseren belehrt. Sie waren anscheinend zu weit gegangen. Es gab kein Zurück mehr. Sie mussten Fragen stellen und die Antworten mussten abgewartet werden. Diese konnten so oder so ausfallen.

So viel wussten sie alle. Wie oft hatten sie im Spaß das Vorgehen schon durchgespielt. Keiner hätte gedacht, dass es wirklich funktionieren könnte. Jeder blickte in das erschrockene Gesicht seines Gegenübers. Die Gestalt begann zu sprechen und murmelte mit zittriger Stimme »Der Fluch, der Fluch der Schorch muss unterbrochen werden …« Eine der Personen war sich ganz sicher, dass sie gemeint war. Sie fühlte sich auf Anhieb berufen und auserwählt, dem Fluch ein Ende zu bereiten. Und so begann das Schicksal unaufhörlich seinen Lauf zu nehmen.

Keiner kam auf die Idee, dass es sich bei dem Erscheinen um einen bösen Scherz gehandelt haben könnte. Zu lange hatten sie darauf hingearbeitet und gewartet. Kaum war der Spuk vorbei, redeten sie alle durcheinander. Nur eine Person war ganz still und starrte wie im Nebel vor sich hin. Die sonst so glatte Stirn lag in tiefen Falten und die entspannten Züge um den Mund waren einem verbitterten, Angst einflößenden Ausdruck gewichen. Doch niemand bemerkte es in der Aufregung.

Es war klar, warum die Wahl so ausgefallen war. Das eigene Schicksal war damit verbunden. Die Gedanken kreisten um die bittere Vergangenheit und um den Auftrag, der zu erfüllen war, damit der Rache genüge getan würde. Das Blut war in Wallung geraten und die Hände zitterten unaufhörlich. Wann wurde man im Leben schon auserwählt, um solch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen? Man war berufen und es war so, als ob man die ganze Zeit nur darauf gewartet hatte, dass dies passierte.

Der Geist der »Schorch-Agnes« hatte gesprochen und es gab kein Zurück. Doch was war der nächste Schritt? Zum Glück gab es Kontakte, die einem dabei von Nutzen sein konnten.

Die unheimliche Gestalt verschwand unterdessen kichernd im Dickicht des Waldes. Der Spaß hatte sich gelohnt. Hätte die Person auch nur im Geringsten geahnt, was sie damit ausgelöst hatte, dann wäre ihr das Kichern vergangen.

HEIMATDUFT

Gemächlich lenkte Martina Kübler an diesem Mittwochmittag ihren Wagen durch den kleinen Calwer Vorort. Im Radio lief Udo Lindenberg und sie summte abwesend die Melodie »Hinterm Horizont …« Sie blickte in den Rückspiegel und erschrak über die Ringe unter ihren großen, sonst so strahlenden Rehaugen. Eine unbekannte Falte lief quer über ihre Stirn. Bewusst wandte sie ihren Blick wieder nach vorne und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Nachdem sie aus dem Tal heraus auf die Höhe gelangt war und nun die Straße zwischen Wiesen und Feldern entlangfuhr, kam Martina durch den dunklen tannen- und fichtenreichen Wald, der zu Recht den Namen Schwarzwald trug. Die hellen Sonnenstrahlen durchfluteten die Baumwipfel und brachten ein wenig Licht herein, was die Farben des Waldes in den herrlichsten unterschiedlichen Variationen schimmern ließ.

Sie hatte ganz vergessen, wie schön ihre Heimat war. Selbst im Auto roch es nach feuchter bemooster Walderde und Tannengrün. Martina sog diesen leicht modrigen, eigentümlichen Duft durch ihre Nase ein und empfand ein lang entbehrtes Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit, das sich in einem wohligen Seufzer äußerte.

Als sie aus dem Wald herauskam, erblickte sie in der Ferne endlich ihr Heimatdorf mit den ziegelrot gedeckten Hausdächern und saftig grünen Frühlingswiesen voll gelber Löwenzahnblüten und Hahnenfuß. Das Schild eines ortsbekannten Landwirtes am rechten Straßenrand lud zum Anhalten und Pflücken der Blumen ein, die in den buntesten Farben leuchteten. Sie konnte dem Angebot nicht widerstehen und parkte ihren Wagen am Seitenstreifen.

Eine alte schwarze BMW mit Schwiegermuttersitz lehnte wie zufällig an einem Baum, der am Rand des Blumenfeldes stand. Doch weit und breit kein dazugehöriger Motorradfahrer. Die Kommissarin sah sich um. Sie war von Natur aus neugierig. Das brachte ihr Beruf so mit sich. Nebenbei pflückte sie einen prächtigen Strauß für ihre Eltern.

Noch immer war niemand zu sehen. Merkwürdig.

»Ach, das hat sicher nichts zu bedeuten«, dachte sich Kübelchen, während sie sich daran erinnerte, was für einen Lärm und Gestank so ein altes Vehikel verursachen konnte.

Kübelchen konnte ja nichts von den merkwürdigen Geschehnissen ahnen, die sich ganz in ihrer Nähe abspielten.

Die dicht aneinanderstehenden Tannen und der Nebel der Dämmerung verschleierten die Sicht auf das, was sich da zusammenbraute. Der Fluch der Vergangenheit kam hervor aus den Tiefen der modrigen Walderde und das Böse kroch unaufhaltsam nach oben. Es würde sich mit seinem beißenden Geruch verbreiten, ohne dass jemand das verhindern konnte.

Schon bohrte es sich in die Gedanken der Anwesenden und durchdrang erbarmungslos die Windungen ihres Gehirns. Es war das Schicksal, das wie so oft im Leben unerbittlich seinen Lauf nahm und sich nicht aufhalten ließ.

Die Vereinbarung war getroffen.

Nachdem Kübelchen Geld in die Kasse eingeworfen hatte, spürte sie die Vorfreude auf zu Hause und beeilte sich. Sie fuhr in das Dörfchen hinein und man sah wie immer kaum eine Menschenseele. Nur ein grüner Traktor kreuzte ihren Weg. Es war ein alter Bekannter. Sie hob die Hand zum Gruß.

Kübelchen fuhr in der Ortsmitte links den leicht ansteigenden Schotterweg hinauf, atmete beim Aussteigen den Duft von frisch gemähtem Gras ein und hörte das vertraute Summen der Bienen des Nachbarn im Kirschbaum. Nachdem sie den Wagen abgestellt hatte, lief sie beschwingt, den Strauß im Arm, den gepflasterten Weg zum elterlichen Haus hinunter.

Es roch aus dem Küchenfenster heraus nach herrlichem Essen und Martinas Eltern kamen schon herausgelaufen. Die Mutter schloss ihre Tochter als Erste in die Arme. Wie so oft hatte sie eine geblümte Schürze umgebunden.

Ihr Vater war etwas zurückhaltender, aber seine Freude war unübersehbar. Sie sahen beide immer noch sehr gut aus für ihr Alter.

»Mädchen, bist du dünn geworden! Du siehst blass aus!«, stellte ihre Mutter erschrocken fest.

Es stimmte tatsächlich. Kübelchen fand diese Begleiterscheinung super, denn sie hatte schon lange vorgehabt, ein paar Kilos abzuspecken. Auch Freunde und Bekannte hatten sie darauf angesprochen.

Die Kommissarin hatte während ihres Krankenhausaufenthaltes einige Pfunde verloren und auch danach litt sie unter ständiger Appetitlosigkeit. Niemals hätte sie zugegeben, dass ihr Trierer Kollege Matthias Fischer der Grund dafür war.

Nachdem er und Martina sich nähergekommen waren, kam dessen Frau unerwartet zu ihm zurück, und seine anfängliche Fürsorge ihr gegenüber hatte schneller abgenommen, als es Kübelchen lieb gewesen war. Außerdem verfolgte sie noch immer die Erinnerung an die endlosen, angsterfüllten Tage und Nächte in der Waldhütte, allein mit Friedemann, diesem Wahnsinnigen, der sich am Ende an seiner eigenen Pilzsuppe vergiftet hatte. Sie hatte den Fehler begangen, dem Täter im Alleingang aufzulauern und er hatte sie gefangen genommen und wie verrückt mit einem Messer auf sie eingestochen, weil sie ihm auf die Schliche gekommen war. Matthias und ihr Cousin Johannes kamen in letzter Minute und riefen den Krankenwagen, bevor sie verblutete. Für Friedemann kam aufgrund seiner Pilzvergiftung jede Hilfe zu spät. Bei dem Gedanken an diesen Fall bekam sie eine Gänsehaut.

Sie hatte sich nach Calw versetzen lassen, um dieses traumatische Erlebnis zu vergessen.

Doch Martina war sich ziemlich sicher, dass sie bei der Fürsorge ihrer Mutter sicher bald wieder Schwarzwaldspeck ansetzen würde, wie der Vater sich manchmal spaßig ausdrückte.

Nach der herzlichen Begrüßung gab es erst mal leckeren Schweinebraten, Spätzle und Kartoffelsalat, der natürlich vom Öl ordentlich »schmatzte«. Martina fühlte sich seit Langem das erste Mal wieder richtig sicher und geborgen. Wohlig lehnte sie sich zurück. Mein Gott, wie hatte sie es vermisst, sich von ihrer Mutter verwöhnen zu lassen und mit ihrem Vater ein nettes Schwätzchen zu halten. Hier war die Welt zum Glück noch in Ordnung, dachte sie. Man musste hier keine Türen abschließen, sondern konnte sie sogar offenstehen lassen. Selbst die Autoschlüssel ließ ihr Vater manchmal stecken, wenn auch aus Versehen, aber es war noch nie etwas weggekommen.

Außer ein einziges Mal. Daran konnte sich die Kommissarin erinnern, weil das eine einmalige Sensation in dem kleinen Dörfchen ausgelöst hatte: Irgendwann fehlten mal ein paar frische Bratwürste einer Ortsansässigen. Man vermutete, dass ein Landstreicher, der schon Tage zuvor im Ort umhergeschlichen war, durch ihr Kellerfenster geklettert war und seinen Hunger gestillt hatte. Niemand holte wegen so was die Polizei. Hätte es natürlich einen Dorfpolizisten wie den »Dimpfelmoser« in der Geschichte des »Hotzenplotz« gegeben, dann wäre der mithilfe von »Kasperl und Seppel« dem Fall sicher gründlich nachgegangen.

Solche Gedanken schwirrten dem damals noch kleinen Kübelchen durch den Kopf und sie beschloss, selbst Dorfpolizistin zu werden. Nie hätte sie gedacht, dass dies irgendwann tatsächlich so kommen würde.

Martina freute sich sehr darauf, ab übernächsten Montag ihre neue Stelle bei der Calwer Polizei anzutreten.

Außer ein paar Nachbarschaftsstreitigkeiten und Schlägereien hatte sie in der Gegend wohl kaum etwas zu befürchten. Zum Glück!

Martina machte ein zufriedenes Gesicht, während sie nach dem Essen zu ihrem Wagen ging. Sie machte sich daran, ihr Gepäck in das alte Haus am Waldrand zu fahren, das früher ihrer verstorbenen Großmutter gehört hatte. Sie lenkte ihren Wagen den kleinen Hang die holprige, schmale Straße hinauf und verspürte große Freude beim Anblick des großelterlichen Hauses in unmittelbarer Nähe. Auf halber Strecke in der Kurve kam ihr die schwarze BMW vom Blumenfeld entgegen. Sie musste ausweichen. Der Fahrer hatte es anscheinend ziemlich eilig.

Das Bauernhaus stand schon lange leer. Es befand sich noch im selben Zustand wie zu der Zeit, als die Kommissarin noch ein Kind gewesen war. Die Außenwände waren mit Brettern versehen, von denen die einst gelbe Farbe überall abblätterte. Auf dem Sandsteinbogen über der Haustür war 1738 als Baujahr eingemeißelt.

Martina setzte sich auf die alte, klapprige Holzbank neben der Haustür und schwelgte in Erinnerungen an ihre Kindheit mit Oma und Opa.

Damals war sie sehr oft bei den Großeltern gewesen und ging mit ihnen auf den Acker Richtung Schützenhaus, um dort verschiedene Kartoffelsorten mit lustigen Namen wie Sieglinde, la Ratte oder Bamberger Hörnchen auszugraben. Sie besaßen einen alten, hölzernen Leiterwagen, in den sie sich setzen durfte.

Wehmütig bei all diesen Erinnerungen nahm Kübelchen ihren Koffer und trug ihn ins Haus.

»Hier riecht es immer noch wie früher«, stellte sie verwundert fest. »Schön, wieder daheim zu sein!«, brummte sie laut vor sich hin und ging die steile, vom vielen Rauf- und Runterlaufen abgenutzte, knarrende Holzstiege hinauf ins Schlafzimmer, das ihr die Mutter schon hergerichtet hatte.

An der Wand hing ein Bild mit der Aufschrift Trautes Heim,Glück allein! Herrlich! Die rot-weiß karierte Bettwäsche passte zu der urigen Einrichtung mit den alten Dielenböden und der Balkendecke.

Die Kommissarin beschloss noch ein kurzes Mittagsschläfchen zu halten und kuschelte und räkelte sich kurze Zeit später wohlig in den Kissen. Wieder sog sie den Duft von Geborgenheit und Heimat gierig auf, um in einen so tiefen Schlummer zu fallen wie schon lange nicht mehr.

Stunden später steuerte sie ihren Wagen die schmale Straße in Richtung Bad Teinach hinunter, um zum Thermalbad zu gelangen. Bevor sie ihre neue Dienststelle bei der Calwer Polizei antreten musste, wollte sie die letzten Tage noch ein wenig zur Entspannung nutzen.

»Na, da ist ja kaum was los!«, dachte sie bei sich, als sie kurz darauf die Schwimmhalle in ihrem hübschen knappen Bikini betrat. Als sie ihn zu Hause eingepackt hatte, hatte sie nicht an die älteren Herren gedacht, die ihre Hälse recken würden, und auch nicht an die Blicke ihrer Frauen, denen das gar nicht passte, wenn ein für sie so »junges Ding« hier auftauchte und alle Männer »schalu« machte.

Schnell ließ Martina sich im Thermalwasser nieder und spürte die Wohltat der Wärme auf ihrer Haut. Wie schön, kein Stress, keine Leichen, kein Kollege, den sie andauernd um sich herumhaben musste. So plätscherte die Kommissarin ziemlich lange vor sich hin und vergaß Raum und Zeit. Ihre Haut war schon ganz aufgeweicht und sie fühlte sich jetzt völlig losgelöst von den Anstrengungen der letzten Zeit. Schließlich stellte sie sich am Beckenrand an einen Wasserstrudel und schloss die Augen. »Ach, wie herrlich kann das Leben sein«, dachte sie vor sich hin. Nur ein leises Plätschern und Stimmengemurmel waren zu hören.

Plötzlich wurde sie nass gespritzt. Sie riss die Augen erschrocken auf. Vor ihr hing ein etwa sechsjähriges, blond gelocktes Mädchen in seinem aufblasbaren, pinkfarbenen Schwimmreifen und ruderte wild mit seinen kleinen Ärmchen, während es vor Vergnügen quietschte. Martina musste kichern und bog den Kopf zur Seite, als ein weiterer Wasserschwall in ihre Richtung flog. Das Kind lachte fröhlich zurück und Kübelchen war ganz hingerissen.

Beim nächsten kräftigen Spritzer drehte sie den Kopf zur anderen Seite und stutzte. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie traute ihren Augen kaum, das konnte doch nicht wahr sein. »Oh mein Gott, der Mann dort drüben sieht Matthias aber verdammt ähnlich!«

Die Kommissarin kniff ungläubig die Augen zu. »Also ich glaube, ich habe das ganze Geschehen doch noch nicht verarbeitet. Ich scheine unter Halluzinationen zu leiden.« Unwirsch schüttelte sie den Kopf.

Sie riskierte einen zweiten Blick zur Hallenwand, dann noch mal zum Grotteneingang. Nichts. Da war niemand. Zum Glück, es war nur eine Fata Morgana gewesen. Beruhigt atmete sie tief durch und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder entspannter.

»Meine Güte, was für ein Schreck!«, sagte sie leise zu sich selbst, während sie sich in ihren eleganten Bademantel wickelte und zur Dusche begab. Die Gedanken an ihren ehemaligen, attraktiven Kollegen konnte sie dabei immer noch nicht verdrängen.

Martina erwartete glücklicherweise Ablenkung, denn sie hatte anschließend eine Verabredung mit ihrem Sandkastenfreund Jörg Eisenbeiß, der vor dem HotelTherme in Bad Teinach auf sie wartete. Er hatte sie zum Abendessen eingeladen.

Schnell hastete sie in die Umkleidekabine, trocknete sich ab und zog das mitgebrachte dunkelblaue Kleid und die hohen Pumps an, föhnte sich und schminkte sich. So stand sie kaum dreißig Minuten später perfekt gestylt vor ihrem Kumpel, der sich ein bewunderndes Pfeifen nicht verkneifen konnte.

»Mensch Martina, isch dees schee, di mol wieder zom sea! Wow, siesch du guad aus!« Jörgs Schwäbisch war noch immer so breit wie früher. Er schien sich ehrlich zu freuen. Kübelchen musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen.

Fröhlich nahmen sie sich in den Arm und hakten sich dann unter. Sie betraten das Hotel mit seinem vornehmen Restaurant, während sie munter miteinander plauderten, als ob sie nie getrennt gewesen wären. Alles sah sehr edel aus. Auf jedem der Tische standen Kerzenständer mit eleganten weißen Kerzen. Die massiven Holztische waren mit silbernen Platztellern, weinroten Tischdecken und cremefarbenen Servietten eingedeckt. Vor lauter Reden mit ihrem Freund aus Kindertagen achtete Kübelchen nicht darauf, wo sie hinlief, und rempelte versehentlich jemanden an.

»Verdammt, können Sie nicht aufpassen?« Sie erschrak und fuhr mit dem Kopf herum. Ihr Herz schnürte sich bei diesen Worten zusammen. Diese Stimme kannte sie doch! Eindeutig. Die Kommissarin schaute verblüfft in zwei stahlblaue Augen. Ein ihr wohlbekanntes, von Silbergrau durchzogenen, braunen Locken umrahmtes, markantes Gesicht ließ sie erzittern. Es wurde ihr dabei gleichzeitig heiß und kalt.

»Matthias?«

»Martina?«

Beide starrten sich ungläubig an. Also hatte sie doch keine Halluzinationen gehabt.

»Wie kommst du denn hierher?«, stammelte Martina nicht gerade hocherfreut.

Ihr Gegenüber merkte das natürlich.

»Dreh nicht gleich durch vor Begeisterung, Martina. Übertriebene Freude macht mich nervös«, meinte Matthias zynisch. »Ich könnte dich dasselbe fragen, aber wenn du es genau wissen willst, ich bin hier für vier Wochen zur Erholung«, antwortete er. »Und du, was tust du hier?« Er musterte sie neugierig und warf wie nebenbei einen abschätzigen Blick auf ihren Begleiter.

Kübelchen hatte es bei seiner Reaktion für einen Moment die Sprache verschlagen. War sie vielleicht ein wenig zu ruppig gewesen, als sie ihn erkannt hatte? Endlich fand sie ihre Stimme wieder.

»Wie du weißt, bin ich hier in der Gegend zu Hause, Matthias.«

Dass sie hier eine neue Arbeitsstelle antrat, erwähnte sie ihm gegenüber vorerst nicht. Sie hatte sich ja klammheimlich von Trier hierher versetzen lassen.

Ihr Begleiter hatte bis jetzt schweigend das Geschehen mitverfolgt und meldete sich zu Wort.

»Willst du mir den Herrn nicht vorstellen?«

»Da hast du aber schnell Anschluss gefunden!«, brummte Fischer grimmig dazwischen, bevor sie etwas erwidern konnte, während er den vermeintlichen Rivalen misstrauisch beäugte. Seine Hände ballten sich in seinen Hosentaschen unbewusst zu Fäusten.

Was erlaubte sich der freche Kerl schon wieder? Nachdem er sie vor Friedemann gerettet hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass durch dieses ernsthafte Erlebnis das »Rumgezicke« zwischen ihnen ein Ende hätte, aber da hatte sie sich wohl getäuscht. Ihre Gefühle fuhren momentan Achterbahn, als er so urplötzlich vor ihr stand.

Sie wollte diese unangenehme Situation schnellstmöglich beenden. Schlimm genug, dass er hier war und seine Gegenwart ihr mehr zusetzte, als ihr lieb war.

»Jörg und ich müssen uns jetzt an unseren Tisch begeben. Wir haben reserviert. Also dann, schönen Aufenthalt noch.« Sie nickte ihm kurz zu und zog ihren Freund am Arm mit sich, um sich von der Bedienung, die in diskretem Abstand gewartet hatte, an ihren Platz führen zu lassen.

Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Matthias Fischer war vor den Kopf gestoßen. Tagelang hatte er an ihrem Krankenbett gesessen, als sie wegen Friedemanns Messerangriff in Lebensgefahr schwebte und jetzt behandelte sie ihn wie einen Fremden. Dass er mit ein Grund war, warum sie Trier verlassen hatte, konnte er ja nicht ahnen. Sein Herz zog sich zusammen bei ihrem Anblick, was er sich natürlich nicht eingestehen konnte. Er war enttäuscht darüber, dass sich ihre Wiedersehensfreude in Grenzen hielt. Eigentlich schien sie gar nicht vorhanden zu sein.

Impulsiv, ohne viel nachzudenken, ging der Kommissar noch mal an ihren Tisch, legte eine Visitenkarte mit seiner Handynummer vor sie hin und meinte sarkastisch:

»Hier, falls du mich brauchst. Wäre ja nicht das erste Mal.«

Kübelchen fiel dazu nichts mehr ein. Der Schreck saß ihr noch zu tief in den Gliedern. Nie hätte sie gedacht, Matthias Fischer so rasch wiederzusehen. Verdammt, warum musste er ausgerechnet hier Urlaub machen! Der Appetit war ihr gründlich vergangen, doch das konnte sie Jörg nicht antun.

Sie sah Matthias noch hinterher. Er drehte sich nicht mehr zu ihr um und verließ eilig das Restaurant. Kübelchen konnte nicht ahnen, dass sie ihm schneller wieder begegnen würde, als sie eigentlich wollte.

Jörg verwickelte Martina nach Fischers uncharmantem Abgang ins nächste Gesprächsthema. Sie hörte seine Worte wie aus der Ferne. Irgendwie plagte sie ihr schlechtes Gewissen. Sie hing ihren Gedanken nach und hörte nur halbherzig zu. Am besten war, sie versuchte jegliches weitere Aufeinandertreffen mit Matthias zu vermeiden. Seine Anziehungskraft auf sie war ungebrochen. Was musste der Kerl auch genau hier auftauchen! Ein wirklich blöder Zufall. Auch wenn Kübelchen es nicht gerne zugab: Sein Erscheinen hatte sie ziemlich aufgewühlt.

Sie beschloss, morgen eine Wanderung zu machen, damit sie zur Ruhe kommen konnte.

DIE WANDERUNG

Die ersten Sonnenstrahlen krochen am Donnerstagmorgen durch die Ritzen der verwitterten dunkelgrünen Fensterläden des alten Hauses und weckten Martina aus ihrem tiefen Schlaf. Diesen hatte sie genauso wie ihren Brummschädel vermutlich dem reichlichen Genuss des »Alde-Gott-Weines« aus Sasbachwalden von gestern Abend zu verdanken.

Sie hatte lange mit Jörg über alte Zeiten und Kinderstreiche geredet und es war letztendlich doch noch ein sehr netter Abend geworden.

Nach dem Frühstück packte sie ihren karierten Rucksack mit dem Nötigsten und machte sich zu der Wanderung auf, die sie sich vorgenommen hatte. Wer sich im Schwarzwald nicht auskannte, konnte sich dort leicht verirren. Es kam öfter vor, dass man mit einem Hubschrauber auf die Suche nach Leuten gehen musste, weil man mit einem Handy hier im Wald nicht überall eine Verbindung hatte.

Nachdem sie unter den neugierigen Blicken einer alten, buckligen Bäuerin mit Kopftuch das kleine Dorf durchquert hatte, bog sie rechts ab und wanderte querfeldein in Richtung Wald. Dabei kam sie an Getreide-, Mais- und leuchtend gelben Rapsfeldern vorbei.

Herrlich frische Morgenluft strömte ihr an diesem sonnigen Morgen entgegen und sie genoss das Wandern durch diese herrliche Landschaft. Es war wie Medizin für ihre Seele.

Nach etwa einer halben Stunde flotten Marsches über einen naturbelassenen Feldweg kam sie in den Wald hinein und kurz darauf an einer Futterstelle vorbei. Ein Förster war gerade mit dem Auffüllen des Futtervorrates beschäftigt und grüßte sie kurz mit einem Kopfnicken.

Ein Schwabe ließ sich in der Regel ungern von der Arbeit abhalten. Der Spruch »Schaffa, schaffa, Häusla baua ond ned nach de Mädla schaua« kam nicht von ungefähr. Immerhin hatte er sich einen Augenblick nach ihr umgedreht.

Martina nickte kurz zurück und schritt an ihm vorbei. Bald kam sie in dichtere Waldstücke, wo sie mit ihrem Großvater als Kind manchmal spazieren gegangen war. Sie kannte diese Gegend wie ihre eigene Westentasche. Außer dem Zwitschern der Vögel, dem Rascheln der Blätter und dem Knacken der Äste waren keine Geräusche zu hören.

Martina setzte sich auf einen alten, bemoosten Baumstumpf, entledigte sich ihres Rucksacks und lauschte fasziniert den Klängen des Schwarzwaldes. So manche Vogelstimme konnte sie sogar noch zuordnen. Ganz in der Nähe vernahm sie das laute, gleichmäßige Klopfen eines Buntspechtes. Schon lange war sie nicht so entspannt gewesen. Sie liebte ihre Heimat, auch wenn es hier oft recht einsam sein konnte. Die alten Bäume wirkten wie knorrige Kreaturen.

Ganz in der Nähe hörte sie den Ruf eines Waldkauzes, und dachte schaudernd an die alte Regel aus vergangenen Zeiten, die besagte, dass immer, wenn man diesen Schrei hört, ein Mensch stirbt. Auch diese Erzählungen der Großeltern waren bei ihr hängen geblieben. Zum Glück war sie nicht abergläubisch. Sie lehnte sich zurück und erhaschte ein paar Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen ins Innere des Waldes bis zu ihr hindurchdrangen, und die Blätter der Bäume und Büsche in den herrlichsten Grün- und Brauntönen schimmern ließ. Sie streckte ihr Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen, stieß einen zufriedenen Seufzer aus, und lauschte den lange vermissten Tönen des Schwarzwaldes.

Aus heiterem Himmel durchbrach ein raschelndes Geräusch die Käuzchenrufe und die Kommissarin zuckte erschrocken zusammen. Kübelchen meinte näherkommende Schritte zu hören, unter denen der Waldboden knackte. Gespannt spitzte sie ihre Ohren. War es ein Tier oder ein Mensch? Da hinten rannte jedenfalls etwas.

Vielleicht ein Reh? Das war hier nichts Ungewöhnliches. Oder waren es doch menschliche Schritte? Für ein leichtfüßiges Reh klangen sie jedoch etwas zu schwerfällig. Womöglich Schwarzwild? Das wäre nicht ganz ungefährlich. Man hörte immer wieder von Angriffen auf Menschen, wenn die Wildschweine ihre Frischlinge beschützen wollten.

Neugierig erhob sich Kübelchen, schnappte ihren Rucksack und steuerte in die Richtung, aus der das Knacken gekommen war. Dabei kniff sie die Augen zusammen und schaute zwischen den Bäumen hindurch. Sie konnte nur wenig erkennen. Nach einem Wanderer klang das nicht. Es waren sehr hastige Schritte.

Tatsächlich, jetzt erspähte sie etwas. Einige Meter entfernt hetzte jemand in einem langen braunen Stoffgewand durch die Heidelbeersträucher. Die Person trug ein Tuch auf dem Kopf.

Wäre die Kommissarin abergläubisch, hätte sie an eine Hexe gedacht. Auch die übrige Bekleidung war sehr dunkel und eintönig. War die Person in Not und hatte Kübelchen in ihrer Aufregung übersehen? Wieso wirkte sie so gehetzt?

»Hallo!«, rief Martina. »Hallo, brauchen Sie Hilfe?«

Merkwürdig, die Gestalt drehte sich nicht um, sondern begann noch schneller zu rennen.

»Warum laufen Sie denn weg?«, rief Martina und bekam das Gefühl, dass man vor ihr floh. In Windeseile spurtete sie hinterher, doch die Person war spurlos im engen, dunklen Dickicht des Waldes verschwunden.

Martina hörte die raschelnden Schritte noch in der Ferne. Ihre berufsbedingte Neugier ließ ihr keine Ruhe und sie wollte herausfinden, warum die Person möglicherweise davongelaufen war. Sie sah sich um und rannte eilig in die Richtung, in der die Gestalt verschwunden war. Aber es war schon zu spät und machte keinen Sinn mehr. Im dichten Gehölz des Schwarzwaldes konnte man keinen so leicht aufspüren. Vor allem nicht in diesem Teil des Waldes, den man auch den Schorchwald nannte. Er war besonders undurchdringlich und unübersichtlich. Martina erinnerte sich an die uralte Geschichte über dieses Waldgebiet, die ihr die Großmutter immer erzählt hatte. Wäre sie abergläubisch, dann würde sie heute davon überzeugt sein, dass sie den Geist der Schorch-Agnes gesehen hatte.

So ein Blödsinn! Martina schüttelte den Kopf.

Plötzlich vernahm sie erneut ein Geräusch. Es klang, als ob jemand durchs Gebüsch schlich und sie beobachtete. War die Gestalt zurückgekommen?

Die Erinnerung an ihren letzten Fall kam schlagartig zurück und ließ sie erzittern.

Sie drehte sich beim nächsten Knacken erschrocken um und stolperte rücklings über etwas Weiches. Kübelchen konnte sich beim Hinfallen mit den Händen abfangen und fühlte etwas … etwas Warmes, Feuchtes.

Moment Mal, was war das …? Sie blickte auf das, was sie da berührte. Es war eine menschliche Hand und … Martina sprang entsetzt auf … unter ihr lag ein Mensch. In ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles. Vor Aufregung wurde ihr schwindlig und sie konnte gar nichts dagegen tun. Ihr Hals war ganz trocken. »Mensch, Mädel reiß dich zusammen!«, ermahnte sie sich selbst und rappelte sich umständlich auf. Sie als Kommissarin durfte in solch einer Situation nicht aus der Fassung geraten. Kübelchen hatte inzwischen einige Sitzungen bei der Polizeipsychologin hinter sich, um einen klaren Kopf behalten zu können. Trotzdem war es schockierend, ausgerechnet hier in dieser »harmlosen« Gegend über einen blutenden Menschen zu stolpern.

»Jetzt komm mal wieder zu dir und sieh nach, ob die Person noch lebt«, sprach sie sich Mut zu. Die Kommissarin bückte sich und erkannte verdutzt, dass diese einen Ritterhelm trug. Der Figur nach, ein Mann, er lag auf dem Bauch. Sie drehte ihn um, brachte ihn in eine stabile Seitenlage und fühlte den Puls: sehr schwach. Der Körper war noch ganz warm. Sie fand eine heftige Verletzung am Oberkörper, die stark blutete, und sie zog ihren Schal aus und versuchte, damit einen Verband zu machen. Die Kommissarin erinnerte sich an ihr Handy und wählte mit zittrigen Fingern die Nummer der Polizei.

Kein Netz.

Verdammt! Sie hatte ganz vergessen, dass man hier fast nirgends eine Verbindung bekam.

Sie versuchte sich zu beruhigen und einigermaßen klar zu denken. Was sollte sie nur machen? An der nicht allzu weit entfernten Straße fuhr selten ein Auto. Es machte also auch nicht viel Sinn, dorthin zu laufen. Dann hatte sie den rettenden Einfall. Kübelchen erinnerte sich an die Futterstelle, an der sie den Förster gesehen hatte. Mit ein bisschen Glück besaß der auch ein Handy oder Walkie-Talkie, vielleicht war er sogar mit dem Auto da. Sie deckte den Körper noch schnell mit ihrer Weste zu und rannte los.

Während Martina durch den Wald hetzte, war jemand anderes ähnlich der Verzweiflung nahe, allerdings aus völlig anderen Beweggründen als die Kommissarin. Wie hatte das nur passieren können? Eigentlich war das so nicht geplant gewesen.

Auch ereignete sich noch etwas im Schorchwald, von dem die Kommissarin nichts ahnen konnte, während sie Hilfe holte. In dem angeblich so ruhigen, einsamen Waldgebiet des Schwarzwaldes war mehr los, als man es je für möglich hielt. Jemand war dabei, eine falsche Fährte zu legen. Das Schwert mit den Blutresten würde die Polizei hoffentlich finden. So war der Plan.

Zum Glück musste man als Polizistin körperlich fit sein und so schaffte es Martina, in schnellem Tempo zur Futterstelle zu laufen.

»Gott sei Dank, Sie sind noch da!«, rief sie dem Mann atemlos entgegen, als sie endlich seinen Jägerhut erblickte.

»Wieso, was ist denn los?«, fragte er erstaunt, als sie nach Luft schnappend vor ihm stand.

»Kommen Sie schnell, ich habe im Wald einen Schwerverletzten gefunden! Er wurde niedergestochen.«

Der Förster reagierte sofort: »Wir können meinen Jeep nehmen!«

Er winkte sie zu seinem Geländewagen und die beiden brausten mit hohem Tempo über die unebenen Waldwege, über Baumwurzeln und Steine, dass es sie nur so durchschüttelte. Sie fuhren so nah wie möglich an die Stelle heran, wo Martina über den Mann gestolpert war.

Schließlich stiegen sie aus und der Förster fragte aufgeregt: »Wo ist der Verletzte?«

»Da hinten«, zeigte Kübelchen mit dem Finger in die entsprechende Richtung. Sie ging ihrem Begleiter voraus. Als sie den Platz erreicht hatten, staunte die Kommissarin nicht schlecht.

Der Mann war verschwunden. Weit und breit kein Verletzter. Der Förster betrachtete die Stelle genauer. »Und Sie sind sicher, dass das der Platz war? Kann es nicht sein, dass Sie sich geirrt haben?«

»Natürlich bin ich sicher. Ich habe mich nicht geirrt und ich kenne den Wald wie meine eigene Westentasche.«

Irgendetwas im Blick des Försters sagte der Kommissarin, dass er ihren Ausführungen keinen Glauben schenkte. Er kannte sie ja auch nicht und es waren auf den ersten Blick auch keinerlei Anzeichen zu erkennen, dass alles stimmte, was sie sagte.

Die Kommissarin sah ihn an und fragte:

»Sie denken doch nicht etwa, ich hätte das alles nur erfunden?«

Sie hielt ihre blutverschmierten Hände hoch. Anschließend kramte sie in ihrer Jackentasche nach ihrer Dienstmarke, bevor er begann, sie für verrückt zu halten. Leider hatte sie in der Aufregung ganz vergessen, dass sie erst übernächsten Montag bei Dienstantritt ihre neue Marke bekommen würde, und ihre alte hatte sie auch nicht dabei. Warum auch? Kübelchen wurde es beim zweifelnden Blick des Försters nun doch etwas mulmig. Bevor sie weiter nachdenken konnte, hatte der Mann sie schon am Arm gepackt und hielt sie fest umklammert.

»Lassen Sie mich auf der Stelle los!«, befahl die Kommissarin wütend. »Ich bin von der Polizei.«

Er zwinkerte sie an und meinte scherzend: »Ja, genau, und ich bin der Kaiser von China.«

Anstatt loszulassen, redete der Förster beruhigend auf sie ein, so als ob er mit einem Kind reden würde.

»Jetzt beruhigen Sie sich! Ich rufe erst mal ›Ihre Kollegen‹. Dann können Sie denen erzählen, wie Sie zu blutverschmierten Händen kommen und wo Sie womöglich den Verletzten versteckt haben.« Bei diesen Worten zückte er sein Walkie-Talkie und wählte. Dabei hielt er sie immer noch fest. Der Kerl benahm sich wie ein Sheriff.

Kübelchen war der Verzweiflung nahe. Normalerweise war sie diejenige, die jemanden festnahm, und jetzt bekam sie es am eigenen Leib zu spüren. Verdammt! Bis die Kollegen kamen und sie aus den Fängen dieses Försters erlöst werden würde, wären die oder der Täter, der den Verletzten womöglich hatte verschwinden lassen, sicher über alle Berge.

Sie versuchte diesen Möchtegern-Sheriff zu überzeugen:

»Jetzt denken Sie doch mal nach. Aus welchem Grund sollte ich Sie denn zu Hilfe holen, wenn ich jemanden umgebracht hätte. Das ist doch unlogisch.«

Der Förster zuckte mit den Schultern.

»Was weiß denn ich? Vielleicht um einen Zeugen zu haben, der Sie als Unschuldslamm darstellt.«

Die Kommissarin gab auf und grübelte derweil nach. Wo war die verletzte Person so schnell hingekommen? Wenn jemand sie weggeschafft hatte, wollte dieser Jemand vermutlich die Spuren verwischen. So nach dem Motto »Kein Verletzter, keine Fragen, keine Polizei«. Der oder die Täter konnten nicht wissen, dass eine ausgewachsene Polizistin ausgerechnet heute hier wandern ging.

Sie startete einen letzten Versuch, um zu verhindern, noch mehr Zeit zu verlieren. Schließlich wäre es wichtig gewesen, nach Spuren zu suchen. Doch sein Griff wurde eher fester.

»Also, wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich behaupten, dass Sie dem Geist der Schorch-Agnes begegnet sind!«, meinte der Förster. Er kicherte unheimlich.

Der Typ hatte ja echt einen an der Waffel!

Kübelchen fand das in diesem Moment allerdings nicht gerade lustig. An die Geschichte der Schorch-Agnes hatte sie selbst auch schon gedacht. Immerhin hatte sie jemanden in mittelalterlicher Kleidung weglaufen sehen. Das kam ihr doch sehr verdächtig vor. Sehr seltsam. Hatte jemand versucht den Mann zu töten, oder wie war der sonst zu seiner Verletzung gekommen? Warum lief einer weg, wenn ein anderer im Wald lag? Doch nur, wenn er selbst etwas verbrochen hatte oder er ein Zeuge war, der Angst hatte.

Die Kommissarin grübelte und versuchte sich zu erinnern, was ihr die Oma früher genau erzählt hatte. Die besaß sogar ein altes Buch über die Sagen aus dieser Gegend, aus dem sie ihr so oft vorgelesen hatte. Die Großmutter hatte auch immer wieder von dem Holzkreuz im Wald Richtung Agenbach erzählt, an dem früher ein Zavelsteiner Ritter beim Duell gestorben war. Die Kommissarin konnte sich nicht mehr richtig an die Geschichte erinnern, ihr fiel jedoch ein, dass der blutende Mann ja auch Kleidung aus dem Mittelalter getragen hatte.

Wirklich merkwürdig.

Kurz darauf kamen endlich die Kollegen. Der diensthabende Kommissar kam auf den Förster zu und schüttelte ihm die Hand. Dann sah er Martina an und meinte:

»So, und jetzt zu Ihnen.«

Es dauerte nicht allzu lange, bis Martina Hauptkommissar Mezger aufgeklärt hatte, dass sie die neue Kollegin war. Dieser glaubte ihr. Niemand außer ihr selbst konnte wissen, wann ihr Dienstantritt war.

Der Förster entschuldigte sich mit verlegenem Gesichtsausdruck: »Konnte ich doch nicht wissen …«

Die Kripo sicherte den Fundort. Anschließend ließ Herr Mezger sich von Kübelchen alles genau erzählen. Als sie fertig gesprochen hatte, meinte er:

»Wir werden den Mann schon finden. Er kann sich schließlich nicht in Luft auflösen. Vielleicht hat er sich zur Straße geschleppt und wurde mitgenommen. Wir werden es herausfinden.«

Tatsächlich entdeckten sie kurze Zeit später frische Reifenspuren im feuchten Waldboden, allerdings nicht an der Straße, sondern ganz nah am Fundort. Die Spurensicherung machte Abdrücke davon und entnahm Blutrückstände und DNA-Proben von der Stelle, an der die Person gelegen hatte.

Martina hatte erst mal Feierabend. Schließlich befand sie sich noch nicht im Dienst.

Der Förster fuhr sie nach Hause, um seinen Irrtum wieder etwas gutzumachen. Außerdem hatte er mittlerweile Gefallen an der hübschen Kommissarin gefunden.

Kübelchen bekam einige Zeit später den Anruf, dass bis jetzt nirgendwo ein Verletzter gefunden worden war und weder ein Krankenhaus noch eine Arztpraxis jemanden aufgenommen hatte. Außerdem wurde die Suche eingestellt, weil die Blutmenge nicht auf ein Kapitalverbrechen hindeutete und es ja auch keine Leiche gab.

Zum Glück fiel Martina ein, dass Matthias Fischer ihr gestern im Hotel Therme noch seine Visitenkarte zugesteckt hatte. Sie war froh, dass sie diese nicht gleich weggeworfen hatte. Sofort begann sie aufgeregt in ihren Taschen zu wühlen. Die Kommissarin benötigte jemanden zum Reden. Dass sie ihn tatsächlich so brauchen würde, wie er es formuliert hatte, hätte sie nicht gedacht, aber es handelte sich hier um einen Notfall.

Er war der richtige Mann, um eine verschwundene Person zu suchen. Er wusste bestimmt, was zu tun war. Von Alleingängen hatte sie seit dem letzten Fall genug. Tatenlos abwarten wollte sie auch nicht. Martina griff nach ihrem Handy und wählte seine Nummer.

»Fischer«, meldete er sich mit seiner tiefen Stimme.

Sie zögerte einen kurzen Augenblick, bevor sie sprach. Es war ihr nach dem gestrigen Abend doch sehr unangenehm, ihn um Hilfe zu bitten.

»Hallo, Matthias, ich bin es, Martina.«

»Ach, dass du dich so schnell meldest, hätte ich nicht gedacht. Hast du Sehnsucht nach mir?«, fragte er spöttisch.

Sie überhörte seine triumphierende Anspielung und nahm sich vor, ihm zu einem günstigeren Zeitpunkt mitzuteilen, dass sie ihn für einen eingebildeten Socken hielt. Wäre es keine Notsituation gewesen, hätte Kübelchen spätestens jetzt aufgelegt.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, erkundigte sich Matthias, nachdem sie ihm keine Antwort gegeben hatte.

Sie stellte sich vor, was für ein Gesicht er gerade machte. »Tut mir leid, wenn ich dich in deiner Erholungskur störe, aber …«, sie zögerte einen Moment, »… um es kurz zu machen, ich habe heute im Wald einen Schwerverletzten gefunden, genauer gesagt bin ich über ihn gestolpert.«

»Ach, und da falle ich dir plötzlich ein?«, erkundigte er sich rüpelhaft.

Am liebsten hätte sie aufgelegt. Genauso kannte sie ihren Trierer Kollegen. Er benahm sich wieder mal wie die Axt im Walde.

»Folgendermaßen, Matthias: Bis ich Hilfe geholt hatte, war er nicht mehr da! Ich habe die Kollegen gerufen, doch der Mann ist spurlos verschwunden. Er hatte eine Stichwunde in der Brustgegend und ich sah jemand anderen davonrennen … Außerdem trug der Verletzte einen Ritterhelm und mittelalterliche Kleidung.«

Es war kurz still in der Leitung.

»Ich dachte, da du zufällig hier bist, könntest du kurz vorbeikommen …«

Nach ihren Ausführungen reagierte Matthias verständnisvoller als erwartet und erwiderte etwas freundlicher: »Klar helfe ich dir. Ich komme sofort.«

Der Kommissar hatte Blut geleckt. Sie war völlig erstaunt über seine Reaktion. Gerade war er noch so grob gewesen. Doch eigentlich kannte sie seine raue Schale und wusste, dass er einen weichen Kern hatte.

Kübelchen hätte noch am Tag zuvor nie gedacht, wie froh sie noch sein würde, dass es Fischer hierher verschlagen hatte.

Nachdem sie ihm den Weg beschrieben hatte, dauerte es keine zwanzig Minuten, bis es an ihrer Haustür klingelte und er mit besorgtem Gesichtsausdruck vor ihr stand.

»Matthias, danke, dass du so schnell kommen konntest!«, meinte sie erleichtert.

Die beiden setzten sich auf die Bank vor dem Haus, und während er sich eine Zigarette anzündete, erzählte sie ihm, wie sich alles zugetragen hatte.

Er sagte kein Wort. Erst als sie den letzten Satz beendet hatte, meinte er: »Es ist schon merkwürdig. Hast du nicht immer erzählt, dass in deiner Heimat nichts Derartiges passiert? Genau aus diesem Grund habe ich meine Kur hierher verlegt. Damit ich meine Ruhe habe. Kaum sind wir beide hier, taucht schon ein Verletzter auf und verschwindet wieder.«

Die Kommissarin rückte nun auch mit der Wahrheit heraus und beichtete: »Genau wie bei mir. Ich habe mich hierher versetzen lassen, weil ich hoffte, dass ich hier etwas zur Ruhe komme. Ohne solche Vorfälle.«

Fischer machte einen erstaunten Eindruck. Damit hatte er nicht gerechnet, dass sie sich so sang- und klanglos aus Trier davonmachte, ohne sich von ihm zu verabschieden. Das musste er erst mal verdauen.

Kübelchen war sehr froh, dass er vorerst schwieg.

In diesem Moment war sie einfach zufrieden, dass er da war, und gleichzeitig plagte sie das schlechte Gewissen über ihre heimliche Versetzung.

Er schluckte seine Enttäuschung hinunter. Ein trüber Schleier lag auf seinen sonst so blauen Augen. Sie sollte nicht merken, wie sehr ihn das verletzte. Stattdessen gab er sich betont locker.