Der Fluch von Castle Rock - Laura Foster - E-Book

Der Fluch von Castle Rock E-Book

Laura Foster

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Beschreibung

Bei einem Schulausflug nach Edinburgh möchte Lisa mehr über den uralten Fluch herausfinden, der auf ihrer Familie liegt - schließlich stammen ihre Vorfahren aus Schottland. Sie erfährt, dass ihr Großvater in den Geheimgängen unter der Stadt einen Schatz versteckt haben soll. Zusammen mit dem süßen Ewan, einem Jungen von der schottischen Partnerschule, bricht Lisa auf, um den Schatz zu suchen. Band 2 der Fantasy-Reihe

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EPUB
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Seitenzahl: 392

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2016 Ravensburger Verlag GmbHLektorat: Sabine FranzUmschlaggestaltung: Carolin Liepins, verwendete Motive von Masson/shutterstock, Svetoslav Radkov/shutterstock, Eric Isselee/shutterstock und MaleWitch/shutterstockInnenlayout: Daniela Göpffarth, verwendete Motive von Anna Chelnokova/shutterstock, akiyoko/shutterstock und Eric Isselee/shutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47729-6www.ravensburger.de

Was zum Teufel war das?

Das frage ich mich, als ich mitten in der Nacht von einem mordsmäßigen Poltern aufgeweckt werde. Ist Papa etwa schon wieder an der Garderobe im Flur hängen geblieben? Blinzelnd setze ich mich auf und versuche, mich im Halbdunkel zu orientieren. Moment mal. Warum ist der Kleiderschrank auf der falschen Seite? Und seit wann hat Papa Gardinen vor den Fenstern?

Nachdem meine Augenlider es endlich schaffen, sich ein paar Millimeterchen weiter zu öffnen, fällt es mir wieder ein: Ich bin zurück in Cliffmoore.

Stöhnend lasse ich mich auf mein Kopfkissen fallen. Draußen blitzt und donnert es, als wäre ein gewaltiges Gewitter aufgezogen. Besonders aus Richtung des Dachbodens kracht es, aber das ist ja nichts Neues. Dieser Ort ist immer für eine Überraschung gut. Den Lärm habe ich während der vier Wochen in Berlin absolut nicht vermisst. (Ganz im Gegensatz zu Ben … seufz, quietsch, quengel). Wieder kracht es so laut, als würde eine Horde Elefanten auf unserem Dachboden Zumba tanzen. Ich denke noch, hoffentlich trägt es nicht das Dach ab und regnet rein, da höre ich schon ein dröhnendes Rauschen wie von einem Wasserfall im brasilianischen Regenwald (so stelle ich mir das wenigstens vor). Habe ich es nicht geahnt?

Ich schreie »Mama!«, höre aber nur ihr berühmt-berüchtigtes Bärenschnarchen, das so klingt, als würde es von einer komplett durchgeknallten Bärengroßfamilie stammen. Sinnlos. Ich steige aus dem Bett, klettere schnell zum Dachboden hoch und mache die Tür auf.

Totenstille.

Nichts.

Licht an. Dachboden pur.

Langsam. Wie, nichts? Kein Blitzen, kein Donnern, kein Gewitter? Habe ich Halluzinationen? Ist es jetzt so weit? Habe ich mir das etwa eingebildet? Wahnvorstellungen dritten Grades?

Omas Truhe sieht mich an. Ich schwöre, sie sieht mich an, als sollte ich sie öffnen, und schon fängt mein Kopf an zu rattern und die Gedanken überschlagen sich. Mein Gehirn besteht darauf, dass ich die Truhe öffne, jetzt sofort. Damit ich neue Hinweise finde und dem Familiengeheimnis der Coopers und der Cumberlands endlich ein Stück näherkomme. Nur kann ich jetzt gerade nicht darüber nachdenken, ich will nicht! Zu viel des Guten. Oder des Bösen. Schließlich ist es mitten in der Nacht und ich bin gerade mal einen halben Tag wieder zu Hause.

Entschieden weise ich alle wild in diese Richtung losrasenden Gedanken in ihre Schranken. Kriegt euch ein, verdammt! Licht aus! Runter vom Dachboden! Zurück ins Bett, Bettdecke über den Kopf. Ratzen!

Kaum habe ich mich mühselig entspannt und dämmere ins Reich der süßen Träume, kracht es wieder unterm Dach. Aber mächtig gewaltig und echt beängstigend. Ich fahre kerzengerade hoch und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Das habe ich mir nicht eingebildet! (Ganz gaga bin ich noch nicht, auch wenn ich seit meiner Ankunft vor vier Monaten hier im Dorf an Hexen und dunkle Verschwörungen glaube – und vor allem an Flüche!). Es muss ein Gewitter sein, was sonst? Irgendwas stimmt hier jedenfalls ernsthaft nicht. Ich also wieder im Eiltempo rauf unters Dach. Doch bevor ich die Tür ein zweites Mal öffne, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Durch die Türritze dringt ein flackerndes Licht.

Feuer? Um Gottes willen! Wo ist der Feuerlöscher?

»Mama?!«, schreie ich markerschütternd. »Es brennt!« Dann rase ich wie vom wilden Affen gebissen runter in die Küche, schnappe mir den Feuerlöscher und hetze wieder zum Dachboden hinauf. Vorsichtig öffne ich die Tür. Schließlich bin ich nicht völlig auf den Kopf gefallen und weiß, dass plötzliche Sauerstoffzufuhr einen Brand explodieren lassen kann, als würden sich die Pforten zur Hölle öffnen. Hoffentlich geht das jetzt gut. Also gaaanz laaaangsaaam die Tür aufmachen …

Und?

Puh. Nix.

Nix?

Ich knipse das Licht an und stelle den Feuerlöscher beiseite. In aller Gemütsruhe schaue ich mich um. Auf dem Fußboden liegen die Glasscherben des Dachfensters, in dem ein großes Loch klafft. Auf einmal ertönt ein scharfer Knall und der Dachboden wird von einem blitzartigen Lichtschein grell erleuchtet. Dann schwarze Nacht. Das Licht ist aus. Schock. Was in aller Welt war das? Ich kann nun wirklich überhaupt nichts mehr sehen, verharre stocksteif auf der Stelle und wage nicht, mich zu rühren. So muss es sich anfühlen, wenn einem das Herz stehen bleibt. In meinen Lungen ist null Sauerstoff, ich kann nur noch ganz mühsam atmen.

»Lisa?«, ruft Mama von unten. »Alles in Ordnung?«

Ich würge ein »N…nein« hervor. Mehr geht beim besten Willen nicht. Ich stehe da wie angewurzelt. Eingefroren. Gelähmt. Dann ein Geräusch, ein Luftzug, ich fahre erschrocken herum. Mama tritt neben mich und reicht mir eine Taschenlampe, deren trübes Licht über die Holzbalken irrlichtert.

»Was war das?«, will sie wissen.

»Ich … weiß nicht«, sage ich stockend und lasse mit zitternden Händen den Strahl der Taschenlampe langsam über den Dachboden gleiten. Vorsichtig steige ich über die unter meinen Hausschuhen leise knirschenden Glasscherben und beleuchte den Fuß des Balkens, der den Dachfirst trägt. Auf den Holzbrettern vor dem Balken entdecke ich eine Art Brandfleck. Als ich mich bücke, um ihn genauer anzuschauen, gefriert mir das Blut in den Adern. Es ist ein Stern mit fünf Zacken.

»Ein Teufelsstern«, flüstere ich.

»Unsinn«, sagt Mama, die neben mich getreten ist. »Das ist bloß ein kleiner Brandfleck. Irgendwie muss die Steckdose durchgeschmort sein.« Sie nimmt mir die Taschenlampe aus der Hand und beleuchtet ein Kabel, das den Balken hochläuft und zur Deckenleuchte führt.

»Das geht technisch doch gar nicht«, krächze ich und male mir gedanklich Attacken aus dem Jenseits aus. Oder ist da etwa was von Edna Cumberland gekommen, der Erzfeindin unserer Familie, die in der Villa nebenan wohnt? Ein böser Gruß aus Teufels Küche?

»Merkwürdig ist es schon«, sagt Mama. »Aber mehr ist ja glücklicherweise nicht passiert.«

»Und das Fenster?«, frage ich und deute auf das Loch im Glas.

»Hm«, macht Mama. »Da ist bestimmt was draufgefallen. Ein abgebrochener Ast oder so.«

»Wo siehst du hier bitte schön einen Ast?«, frage ich und werde noch unruhiger. Was, wenn es tatsächlich eine Attacke von Edna war, ein Versuch, das Haus abzufackeln? (Lisa, hörst du auf, die Flöhe husten zu hören?!)

Mama gähnt herzhaft. »Komm, lass uns zurück ins Bett gehen. Ist doch nichts weiter passiert. Wir brauchen einen Glaser und einen Elektriker, das ist alles.«

Ich brauche eine Familienpackung Baldrian oder eine Teufelsbeschwörung, das ist es, was ich brauche! Geht das alles schon wieder los? Dabei hatte ich nach einem Monat in Deutschland gehofft, dass mir die böse Nachbarswitch hier im schönen Cliffmoore nichts mehr anhaben kann, ja, dass ich mir vielleicht alles nur eingebildet habe. Schließlich kommen Eltern nicht jeden Tag auf die Idee, sich zu trennen, und verschleppen ihre Kinder anschließend in englische Käffer, in denen abergläubische Tanten und bekloppte Witches (und Bitches)leben.

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen packe ich den Feuerlöscher und gehe hinunter ins Erdgeschoss, während Mama in ihrem Schlafzimmer verschwindet. Ich verstaue das Gerät in unserem kleinen Küchenverschlag und krame danach zwischen Besen, leeren Einmachgläsern und anderem Zeug herum. Hier irgendwo im oberen Regal war doch ein Fernglas, oder? Ich räume den Teelichtervorrat und die gestapelten Schachteln mit den Streichhölzern beiseite, und richtig: Hinter einem großen Stück Gallseife finde ich ein kleines Fernglas, mit dem Oma immer gern Vögel beobachtet hat. Ich steige wieder hinauf zu Mamas Schlafzimmer, um Gute Nacht zu sagen, und verberge sorgfältig das Fernglas hinter meinem Rücken, um lästige Nachfragen zu vermeiden. Doch was höre ich? Schnarch bis Oberschnarch. Mama ist bereits wieder eingeschlafen. So einfach geht das also. Wie macht sie das bloß? Ich zittere vor Aufregung immer noch wie Espenlaub, und sie pennt, als wäre nichts passiert?! Wie kann man bloß solche Nerven haben?

Ich husche in mein Zimmer und richte das Fernglas auf die Villa, die auf dem Grundstück neben Oma Judiths Häuschen steht. In den Fenstern ist kein Licht zu sehen, aber plötzlich entdecke ich in einem der Fenster im ersten Stock im Halbdunkel doch etwas: einen Schatten, der sich bewegt. Ist das Edna? Ich stelle das Fernglas etwas schärfer und kann sie tatsächlich in Umrissen erkennen. Kein Zweifel, sie ist es. Edna Cumberland, die Chefhexe von Cliffmoore höchstpersönlich. Sie steht mit verschränkten Armen da und starrt zu mir herüber. Unwillkürlich mache ich einen Satz zurück ins Zimmer. Sie hat mich angesehen! Sofort stellen sich die Härchen auf meinen Unterarmen auf. Ob sie wirklich diejenige ist, die den Anschlag auf unseren Dachboden verübt hat? Sie muss es gewesen sein! Wie auch immer sie es angestellt hat … Wer sonst sollte es auf uns abgesehen haben?

Oh Gott, denke ich, alles geht so weiter wie gehabt. Sie hasst mich. Sie will mich zur Strecke bringen. Weil ein Familienfluch auf uns allen lastet, weil ich Ben zu nahe bin (immerhin ist er ihr Großneffe und Mitglied der großen Cumberland-Sippschaft, zu der auch Superbitch Ashley gehört), weil … Immer schön langsam, versuche ich meine flatternden Nerven zu beruhigen. Es ist bloß deine Paranoia, die da losgaloppiert. Du darfst jetzt nicht wieder auf diese Hexenphobie-Schiene geraten.

Vielleicht hat Mama doch recht und es war einfach nur Zufall. Muss es sein. Kleiner Blitzschlag um Mitternacht, eine heftige Windböe, fertig. Ich lasse das Fernglas sinken und versuche zu ignorieren, dass am Himmel friedlich die Sterne glitzern und sich draußen kein Blättchen regt.

Als ich erschöpft im Bett liege, durchfährt es mich schlagartig: Müsste mich nicht der magische Bergkristall in dem Medaillon, das Mama mir geschenkt hat, vor Angriffen schützen? Laut meiner Großtante Rose ist seine Kraft legendär. (Mama hingegen sieht darin nichts weiter als ein Familienerbstück, das mal Oma gehört hat.) Gar zu gern möchte ich gerade daran glauben. Doch wenn er diese Kraft tatsächlich haben sollte: Wieso hat er mich dann nicht beschützt?

Unwillkürlich greife ich an meinen Hals – und mir wird heiß und kalt, als mir bewusst wird, dass das Medaillon da nicht hängt. Genauer gesagt, hängt es schon eine ganze Weile nicht mehr da. Ich hatte es zuletzt um, als … als ich in der Halle nach unserem Tanz-Contest umgefallen bin! Das ist fünf Wochen her. Wo ist es jetzt? Bei den Klamotten, die ich damals beim Contest getragen habe? Aber dann müsste Mama die Kette beim Waschen ja gefunden haben. Also muss ich es irgendwo in meinem Zimmer abgelegt haben. Meine Gedanken rasen. Wie konnte ich das Medaillon nur so lange vergessen? Muss daran liegen, dass Papa und Paula mich in Berlin so auf Trab gehalten haben. Und wenn die beiden mich nicht gerade an den Baggersee, in die Eisdiele oder ins Sommerkino geschleppt haben, habe ich jede freie Sekunde an Ben gedacht. Doch jetzt überwältigt mich gnadenlos der Gedanke an den Kristall.

Hektisch springe ich aus dem Bett und suche alle Ecken im Zimmer, im Schrank, in der Kommode und sonst wo ab, aber kein Medaillon. Okay, ganz ruhig, Lisa, denk einfach mal nach. Die Kette kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.

Frage Nummer 1: Wo ist das Medaillon zuletzt gewesen?

Antwort: an meinem Hals. Weil Mama mir die Kette umgelegt hat.

Frage Nummer 2: Wer ist zuletzt bei mir gewesen, bevor ich in Ohnmacht gefallen bin?

Da muss ich nicht lange nachdenken, denn die Antwort lautet glasklar: Ben. Der schnuckligste Junge der ganzen Fultonthorpe Grammar School. Ich hatte das Tanz-Solo gewonnen und er hatte mich zum ersten Mal geküsst. (Ich weiß nicht, wie oft ich Paula in den Ferien davon erzählt habe. Eine Million Mal vielleicht? Zwei?) Und als ich ohnmächtig wurde, weil Edna sich als seine Verwandte entpuppte (da kann man schon mal ohnmächtig werden, finde ich), hat er mich buchstäblich fallen lassen. Kabumm. Touchdown. Aber er hat mich nicht absichtlich fallen lassen. Schuld daran war Ashley Ashton, ihres Zeichens Bens Cousine, meine erklärte Erzfeindin und Oberbitch an der Fultonthorpe. Und warum? Weil sie ihn daran hindern wollte, mich ein zweites Mal zu küssen. (Das alles weiß ich von Zoey, meiner allerbesten Freundin hier – ich habe mir das Ganze natürlich haarklein erzählen lassen. Garantiert eine Million Mal. Zwei? Drei?) Als ich dann da so ohnmächtig auf dem Boden der Turnhalle herumlag, hat er mir wohl noch kurz die Wange gestreichelt und ist dann weggegangen.

Frage Nummer 3 lautet also: mit dem Medaillon?

Aber warum? Hat er es vielleicht genommen, weil Edna ihn dazu aufgefordert hat? Schon fängt es in meinem Kopf wieder an zu toben. Edna will, dass ich schutzlos bin. Deshalb die Attacke. Nein, nein, nein … Verfolgungswahn, geh weg. Ich muss Ben anrufen, das ist alles. (Ha! Als hätte ich das in den Ferien nicht probiert. Aber außer drei SMS habe ich nichts von ihm gehört.) Morgen spreche ich mit ihm, nehme ich mir vor, bekomme den Kristall wieder und alles ist gut. Genau. Yep. So isses. So wird es sein.

Ich atme zehn-, elfmal tief durch bis in den großen Zeh und spüre mehr denn je die bleierne Müdigkeit hinter meinen Augen. So hatte ich mir meine Rückkehr nach England nicht vorgestellt. Erschöpft breche ich auf meinem Bett zusammen. Werde ich schlafen können?

Einundzwanzig, zweiundzwanzig … schon sägt es mich einfach um.

Das Erste, was ich Mama frage, als sie am nächsten Morgen verstrubbelt aus ihrem Schlafzimmer kommt, ist: »Weißt du, wo das Medaillon ist?«

Sie erschrickt. »Omas Medaillon? Das ich dir geschenkt habe? Du hast es nicht mehr?«

Ich schlucke. Und nicke.

Mamas tiefbraune Augen werden ganz groß. »Das wäre schlimm, wenn es weg wäre. Es ist sehr alt und sehr kostbar. Es ist durch alle Generationen unserer Familie weitergereicht worden.«

Ich unterdrücke einen Schluchzer. »Es tut mir so furchtbar leid.«

»Hmm, lass mal überlegen.« Sie legt die Stirn in Falten. »Du hattest es um, als du nach deinem Auftritt ohnmächtig geworden bist.«

»Ja. Aber ich weiß nicht, wo es jetzt ist. Ich hatte es jedenfalls nicht mit in Berlin«, sage ich fahrig. »Meinst du, Ben könnte es haben?«

Sie zögert, als würde sie in ihrem Gedächtnis kramen. »Möglich«, meint sie schließlich, und als sie meinen verzweifelten Blick sieht, fügt sie hinzu: »Die Kette taucht sicher bald wieder auf. Du hast sie bestimmt nur verlegt.«

Ich nicke dankbar und möchte so gern daran glauben. Also gut, Geduld (zu der ich nicht wirklich fähig bin).

»Das Einzige, was ich momentan tun kann, ist, in der Halle anzurufen, ob sie gefunden wurde. Oh, und ich darf nicht vergessen, einen Glaser und einen Elektriker zu bestellen.«

Als sie fertig angezogen ist, ruft Mama tatsächlich in der Halle an, aber ohne Ergebnis. Die Kette ist und bleibt verschwunden. Und ich? Ich fühle mich so schutz- und hilflos wie lange nicht mehr.

Wir frühstücken so, wie wir es gewohnt sind. Ich mache Kaffee für Mama und für uns beide mein Mörder-Omelette mit Schnittlauch, ganz viel Schinken und noch mehr Reibekäse. Lecker, besonders wenn man es wie ich in Ketchup ertränkt. Auch Mama ist nach vierwöchigem Entzug begeistert (wenngleich sie sich bei der Ketchup-Zuteilung vornehm zurückhält). Dann klingelt es an der Tür.

»Oh. Martin«, sagt sie, will aufstehen und macht eine falsche Bewegung. »Autsch.«

»Lass nur«, sage ich und muss unwillkürlich an den Unfall auf dem Weg zum Tanz-Contest denken, der Mama eine ausgekugelte Schulter beschert hat. Ashley, dieses gemeine Biest … »Ich mache auf.«

Es ist in der Tat Martin, der vor der Tür steht, ihr Chef und glühender Verehrer (ein Thema, das Papa brennend interessiert!).

»Lisa, wie schön, dass du wieder da bist«, begrüßt er mich mit strahlendem George-Clooney-Lächeln.

»Ja, finde ich auch«, sage ich, obwohl ich mir nach letzter Nacht nicht sicher bin, ob das wirklich stimmt (auch wenn ich Mama in den letzten Wochen tierisch vermisst habe). »Komm rein.«

Mama hatte mir gestern schon erzählt, dass er sie zu ihrem Kontrolltermin beim Arzt begleiten will. Hoffentlich wird das mit ihrer Schulter wieder. Dass Martin sich so um sie kümmert, finde ich richtig nett, zumal heute ein ganz normaler Arbeitstag ist.

»Schnell noch einen Tee?«, frage ich ihn, und er nickt freudig bewegt.

»Gern!«, bekräftigt er. Ein Engländer ohne Tee? Undenkbar. Klischees sind keine Klischees, sondern der Sieg unverrückbarer Wahrheiten über das Vorurteil. Ich kenne auch schon Martins Vorlieben. »Assam, extraherb, mit Zitrone, coming up!« Die Bemerkung »Mit einer Überdosis Milch« verkneife ich mir lieber. Warum sich die Engländer auf diese Weise ihren Tee ruinieren, werde ich nie begreifen.

Gesagt, getan. Bevor jeder sich in seinen Tag stürzt (meiner trägt das Motto: Jag den Ben!), sitzen wir gemütlich am Küchentisch und schlürfen genussvoll unseren Tee.

»Du kommst allein im Haus zurecht?«, fragt Mama. »Wir gehen nach dem Arztbesuch direkt ins Büro.«

Bin ich ein Kleinkind? Die letzte Ferienwoche werde ich ja wohl noch schadlos überleben.

»Es ist so viel vorzubereiten. Wir müssen uns genau überlegen, was wir Mr Ashton als Idee vorlegen wollen. Schließlich ist er der entscheidende Geldgeber in Barkers’ Kaufhauskette«, erklärt Mama mir.

Ich nicke schwer. Dass ausgerechnet Ashleys Vater derjenige ist, von dem Mamas berufliche Zukunft abhängt, liegt mir noch immer wie ein Zementklotz im Magen. Und das Thema wirft noch eine ganz andere Frage auf. Noch habe ich Mama nämlich nicht erzählt, wie es zu dem Unfall mit Martins Bus kommen konnte …

»Sagt mal«, fange ich vorsichtig an. »Was würdet ihr machen, wenn ich wüsste, wer die Schrauben an Martins Bus gelockert hat?«

Erstaunte Blicke.

Ich beschließe, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. »Es war Ashley. Sie wollte mich daran hindern, beim Contest aufzutreten.« Was zum Glück nicht funktioniert hat. Ich hatte zwar ein paar blaue Flecken davongetragen, war aber trotzdem beim Solo angetreten, das eigentlich Ashley gehörte (ganz lange, traurige Geschichte).

Noch immer erstaunte Gesichter. Was denn, hält die Welt Ashley für eine blütenweiße Heilige?

»Ben hat es mir erzählt, bevor ich umgekippt bin. Ashley hat ihm gebeichtet, dass sie es getan hat!«

»Um Gottes willen«, bricht es da aus Mama heraus. »Und das erzählst du jetzt erst? Sie hat bewusst in Kauf genommen, dass wir uns dabei verletzen?!«

»Meine Güte«, sagt nun auch Martin. »Das ist ja unglaublich. Dann müsste sie zumindest den Schaden an meinem Wagen bezahlen – oder vielmehr ihr Vater.« Er verzieht das Gesicht. »Das wird Mr Ashton gar nicht gefallen. Da müssen wir ganz vorsichtig sein, wenn wir mit diesem Vorwurf kommen.«

»Martin«, sagt Mama, und ich kann die Empörung in ihrer Stimme hören. »Das ist kein jugendlicher Leichtsinn mehr, das bewegt sich an der Grenze zum Kriminellen.«

Martin wiegt unbehaglich den Kopf.

»Recht muss Recht bleiben«, werfe ich ein, weil ich schon merke, dass er sich nicht mit Ashleys Vater anlegen möchte. »Und Mama müsste Schmerzensgeld kriegen«, rede ich mich in Rage. »Und Ashley müsste für ihre Bosheit bestraft werden. Das ist sowieso längst überfällig. Ashton sollte sich nicht einfach wieder davor drücken und die Gemeinheiten seiner Tochter unter den Teppich kehren!« Grimmig denke ich daran, dass ich im letzten Schuljahr beinahe wegen einer von Ashleys verlogenen Intrigen von der Schule geflogen wäre. Als dann am Ende alles rauskam, war Ashley aber nichts weiter passiert – was an der Schule niemanden groß überrascht hat. (Zoey hat mir erklärt, wie das läuft, nämlich dass Ashleys Vater den Mist, den seine Tochter baut, jedes Mal elegant aus der Welt schafft, indem er mit Geld um sich wirft.)

»Hm«, machen Mama und Martin ungefähr gleichzeitig.

»Du hast Recht«, sagt Mama und schnappt sich ihre Handtasche. »Wir müssen uns darum kümmern.« Nach einem hektischen Blick auf die Uhr drängt sie Martin zur Haustür. »Und Ben hat das wirklich gehört und wird es bezeugen?«

»Klar«, sage ich, von Bens Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit bis in alle Ewigkeit überzeugt (auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, weshalb er sich über die Ferien so rar gemacht hat).

Ich gehe mit den beiden hinaus vor das Haus. Martin öffnet fürsorglich für Mama die Autotür. Bevor sie einsteigt, sagt sie zu mir: »Mach was Schönes. Amüsier dich. Schließlich hast du noch eine Woche Ferien.«

Auch Martin nickt mir noch einmal aufmunternd zu.

Dann fahren sie davon.

Ich bleibe einen Moment stehen, atme tief die frische Morgenluft ein und überlege, was ich heute alles anstellen könnte. Dann drehe ich mich um und gehe nach hinten in den Garten, um – von dem Anruf bei Ben mal abgesehen – einen Aktionsplan aufzustellen. Ich setze mich auf meine Lieblingsbank und schaue auf die Bäume mit ihren saftigen Blättern, die üppigen Sträucher, die bunten Blumen, die liebevoll angelegten Beete, die noch von Oma stammen. Schööön. Jedenfalls ganz anders als Berlin. Aus dem Augenwinkel entdecke ich einen Schatten, der an unserem Haus entlang im hinteren Teil des Gartens verschwindet. Ich schlucke. War das etwa Lilith, das kleine Mistvieh? Die hat mir gerade noch gefehlt.

Ednas schwarze Katze hat bei uns schon genug Unheil angerichtet. Sie hat Mama fast mal zur Strecke gebracht, indem sie sich als Stolperfalle betätigt hat. Mama hätte sich um ein Haar den Hals gebrochen.

Ich haste dem schwarzen Schatten hinterher und folge ihm die Hecke entlang bis zu deren Ende. Und wen entdecke ich dort, sich unschuldig die Pfote leckend und unverhohlen mich und das Haus musternd, als plane sie einen Einbruch? Genau: Lilith. Ich sehe sie mir näher an und denke, ihr Fell ist an einer Stelle seltsam stopplig. Als hätte jemand ihre Haare angekokelt. Und sie scheint eine kleine Schnittverletzung zu haben. Hallooo? War etwa sie es, die sich durch das Dachfenster in den Dachboden gestürzt hat, um dann mit beherztem Kabelbiss ein Feuerwerk zu entfachen und sich dabei selbst einen kleinen Brandschaden einzufangen? Ich gehe zwei Schritte näher und sehe, dass ihre Haare wirklich an einer Stelle verbrannt sind. Gibt es da einen Zusammenhang oder entwickelt meine Fantasie mal wieder ein Eigenleben? (Ist in letzter Zeit nicht so gut auseinanderzuhalten.) Noch ein vorsichtiger Schritt auf Lilith zu, vielleicht kriege ich das Aas zu fassen, um sie mir genauer anzusehen. Sie stellt die Nackenhaare auf, faucht mich an und zischt wie vom Teufel gejagt (oder wie der Teufel selbst) durch die Hecke ab aufs Nachbargrundstück, wo ihre fragwürdige Herrin residiert.

»Ja, verschwinde bloß!«, rufe ich ihr etwas blöd und hilflos hinterher.

Großartig. Jetzt werde ich mir schon selbst peinlich. Ich gehe also wieder zurück zum Haus und kriege einen kleinen Schreck. Auf der Türschwelle zum Hintereingang, der zu unserer Küche führt, hockt etwas fluffiges Schwarzes. Moment mal. Lilith ist doch eben in die andere Richtung abgehauen? Ich sehe genauer hin und erkenne, was es ist: ein großer Rabe mit kohlrabenschwarzem Gefieder (wie es sich für ein anständiges Exemplar seiner Gattung gehört). Er steht da auf seinen stämmigen, geschuppten Beinen und schaut mich unverwandt an.

»Hallo«, sage ich so ruhig wie möglich. (Er sieht ganz schön kräftig aus, als könnte er zum Beispiel problemlos Babys klauen.)

»Krah«, erklärt der Rabe.

»Genau«, sage ich. »Wenn du meinst.«

Er ist ganz schön muskulös und gut und gerne einen halben Meter hoch. Auf seiner schwarzen Stirn trägt er einen weißen Fleck, der geformt ist wie ein Diamant.

»Krah«, wiederholt er sich. Dann breitet er majestätisch seine Schwingen aus, wie um mir zu zeigen, was für ein Prachtkerl er ist, und faltet sie wieder zusammen. Dabei mustert er mich ununterbrochen, als wollte er etwas von mir – was mir prompt eine dicke Gänsehaut beschert.

»Ich kann leider nichts für dich tun«, krächze ich nun meinerseits und ärgere mich im selben Moment. Das ist doch bloß ein x-beliebiger Vogel, oder? »Flieg mal zu deiner Rabenmutter oder zu deinen lieben Kleinen, wenn du selbst eine bist. Ich muss ins Haus.«

Der Rabe guckt beleidigt. Wahrscheinlich ist er ein Männchen.

»Und tschüss«, sage ich und mache todesmutig einen Schritt auf ihn zu, woraufhin er sofort seine Flügel entfaltet und mir einen enttäuschten Blick zuwirft (glaube ich zumindest, denn bedauerlicherweise bin ich kein Rabenflüsterer und weiß nicht, wie sie so ticken). Dann fliegt er so knapp an mir vorbei, dass er mich mit seinen Federn an der Wange berührt. Erschrocken lege ich meine Hand ans Gesicht, während ich ihm nachsehe, bis er am Himmel verschwunden ist.

Das war jetzt aber ziemlich eindrucksvoll. Was macht der überhaupt in der Gegend? So einen habe ich hier noch nie gesehen.

Mit zitternden Händen öffne ich die Küchentür und mache sie sofort wieder hinter mir zu, um sicherzugehen, dass kein schwarzes Tier (welcher Gattung auch immer) mir folgt. Nachdenklich gehe ich ins Wohnzimmer. Durch das große Fenster, das nach vorn zur New Moon Lane hinausgeht, fällt warmes Sonnenlicht ins Haus. Es bricht sich funkelnd in den Glasfiguren, die Oma Judith gesammelt hat. Besonders das große Einhorn aus Kristall, das in der Mitte der alten Vitrine steht, zieht das Licht auf sich. Ein einzelner gleißender Strahl weist genau in meine Richtung. Blinzelnd wende ich den Blick ab und lasse mich in Omas Ohrensessel sinken. So schön die Zeit mit Papa und Paula in Berlin auch war, sobald ich den samtweichen Plüschbezug unter mir spüre, fühle ich mich sofort wieder zu Hause. Schon zu Omas Lebzeiten war der Sessel mein Lieblingsplatz. Ich durfte mich auf ihren Schoß setzen und an sie kuscheln. Der Sessel ist buchstäblich zu meinem Omaersatz geworden. Wenn ich in ihm sitze, fühle ich mich geborgen (es ist, als wäre sie bei mir), und ich kann darin wunderbar nachdenken.

Aber wohin führt mich das Nachdenken in diesem Fall? Es gibt kein großes Nachdenken. Zum Telefon. Die Erkenntnis ist einfach: Ich brauche Ben, und zwar aus drei Gründen:

a)   Hat er das Amulett?

b)   Bestätigt er, dass Ashley mich zur Strecke bringen wollte?

c)   Ich hab ihn soooo vermisst! (Bange Zusatzfrage: Er mich auch?)

Fakt ist: Ben muss her. Möglichst ohne Verzögerung. Jetzt. Sofort.

Ich wähle. Aber er geht nicht an sein Handy, sooft ich es auch versuche. »Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar.« Immer noch keine Mailbox? Frust. Genau wie die letzten Wochen. Na toll.

Nach kurzem Zögern beschließe ich, es unter der Festnetznummer zu versuchen. Ein Blick ins Telefonbuch, und schon habe ich die Nummer gefunden: Louise und Anthony Davis. Bens Eltern. Mit fliegenden Fingern tippe ich die Nummer ein. Atemlose Spannung. Und? Und? Nichts. Es geht keiner ran.

Frustriert schmeiße ich erst das Handy auf Omas Sessel, dann mich selber hinterher. Warum zum Henker meldet er sich nicht? Hartnäckige, gemeine Zweifel nagen an mir. Was ist da los? Was war dieser erste wundervolle Kuss überhaupt wert? Hat er vielleicht eine andere? Schon merke ich, wie mir ganz heiße Tränen kommen. Was für ein grauenvoller Ferientag!

Inmitten meiner nagenden Gedanken muss ich eingeschlafen und in einem Traum versunken sein, denn das Nächste, was ich sehe, ist Ben in Überlebensgröße (so kommt es mir zumindest vor). Eine große, schlanke Gestalt mit Muskeln, wo sie hingehören, fast athletisch, dazu der Schwung seines welligen dunkelbraunen Haars, alles überstrahlt von seinen klaren blauen Augen. Ben füllt mein ganzes Gesichtsfeld aus. Er sieht mich mit lächelndem Gesicht an. Wie auf Breitwand. Diese Grübchen, boah! Es ist überwältigend. Ich strecke meine Hand aus, um sie an seine Wange zu legen … kracks, knack! Was war das für ein Geräusch?

Ich schrecke hoch, verliere die Balance und falle in meinem Überschwang fast aus dem Sessel. Ungläubig stelle ich fest, dass die Sonne bereits ums Haus gewandert ist. Im Wohnzimmer herrscht Dämmerlicht. Da entdecke ich vor mir im Türbogen eine schemenhafte Gestalt. Kommt jetzt jemand, um mich zu holen?, schießt es mir in namenloser Angst durch den Kopf. (Jetzt spinne ich langsam wirklich. Geht’s noch?) Unwillkürlich jaule ich auf. Und die Gestalt gibt einen spitzen Schreckensschrei von sich.

»Ogottogottogott«, sagt sie. »Tut mir leid, das wollte ich nicht, darling!«

Ich kneife die Augen zusammen, schnaufe tief durch und erkenne: Rose. Sie muss durch den Geheimgang gekommen sein, der unser Häuschen mit Ednas Villa verbindet. Sie ringt die Hände und erscheint mir in ihrer schwarzen Dienstmädchenuniform mit dem weißen Spitzenhäubchen und der weißen, spitzenbesetzten Schürze wie dem vorvorigen Jahrhundert entsprungen. (Ob ich mich wohl jemals an dieses krasse Outfit gewöhnen werde?) Ich stehe auf und lächle sie erleichtert an, was sie ihrerseits zum Lächeln bringt.

»Gott, bin ich froh, dass es dir gut geht und du wieder heil hier angekommen bist, honey«, sagt sie und drückt mich an ihre weiche Brust. Dann hält sie mich auf Armeslänge von sich und runzelt die Stirn. »Du warst so lange weg und ich habe mir Sorgen gemacht. Erst der Unfall vor den Ferien, dann das Feuer … (Das Feuer? Woher weiß sie …?) Ich hatte so viele Visionen! Fehlt dir wirklich nichts?«

Ich denke an letzte Nacht. An Lilith heute Morgen. Den Raben. Meine vergeblichen Versuche, Ben zu erreichen. Trotzdem schüttle ich den Kopf. »Alles in Ordnung.«

Nun muss man wissen, dass Rose eine glühende Verfechterin übersinnlicher Phänomene ist. Und wenn irgendwas oder irgendwer ihr krummkommt, rückt sie dem mit allerlei Beschwörungen und antidiabolischen Mitteln zu Leibe. Habe ich selbst schon erlebt. Und ich würde nie versuchen, ihr das auszureden oder es als Humbug abzutun. Man weiß ja nie. Und überhaupt, wer bin ich schon? Ich habe jedenfalls viel von ihr gelernt, und jetzt möchte ich natürlich unbedingt wissen, wie ihre Visionen so ausgesehen haben. Aber erst mal muss Hagebuttentee her, den sie mir über die Monate schmackhaft gemacht hat und der tatsächlich in jeder Situation ungemein die Nerven beruhigt (was wir beide derzeit offensichtlich bitter nötig haben). Ich lasse es mir nicht nehmen, den Tee nach Roses Rezept selbst aufzugießen, eine Mischung aus schottischer Zaunrose und Hibiskusblüten. Stolz schenke ich ihr ein. Sie probiert das süßsaure zartrosa Getränk nippend und nickt anerkennend. »Gut gemacht.«

Das Lob lässt mich vor Freude strahlen wie einen Halogenscheinwerfer. Während wir Kandiszucker in unsere Teetassen rühren, wiegt Rose sorgenvoll den Kopf.

»Es ist nichts Genaues, was ich gesehen habe. Dunkle, böse Elemente. Ein Flattern, eine flüchtige Bewegung, eine Gewalttat. Dann ein Mädchen. Einen Jungen. Ednas Schatten.« Rose umfasst fest meinen Arm. »Du musst aufpassen, child. Mehr denn je. Edna plant etwas. Ich weiß nicht, was, aber sie ist und bleibt gefährlich. Sieh dich vor!«

Was war das? Eine Gewalttat? Du lieber Himmel! Ich erzähle Rose von dem Gewitter letzte Nacht und sie nickt.

»Das ist nur der Anfang. Es ist eine erste Warnung«, sagt sie bedeutungsschwer.

Mich packt ein undefinierbares Angstgefühl. Meine Vernunft verlässt mich gerade mal wieder und macht einem wattigen Nebel in meinem Kopf Platz.

»Und dann das Medaillon …« Ich will ihr von seinem Verschwinden erzählen, aber als habe die Erwähnung des Medaillons auf irgendeinen Auslöser gedrückt, driftet Roses Blick plötzlich in die Ferne. Sie wirkt beängstigend abwesend, als würde sie über etwas Schreckliches nachdenken, das sie ganz und gar gefangen hält. Wie in Trance. Dann schüttelt sie sich, erwacht offenbar aus ihrem Zustand und sieht mich begütigend an, als sollte ich mir keine Sorgen machen. Ich mache mir aber inzwischen Sorgen, massive sogar, und sehe sie erwartungsvoll an. Nur: Sie sagt nichts. Unheilschwangere Stille. Ja, bitte?

Nichts. Ich räuspere mich.

»Das Schlimme ist, ich habe Mamas Medaillon mit dem Kristall verloren«, erzähle ich kleinlaut. »Dabei soll es mich doch beschützen. Was soll ich denn jetzt tun?«

Anstatt mich zu schimpfen, strahlt Rose über das ganze Gesicht. »Melinda hat dir das Medaillon geschenkt. Es hat endlich zu dir gefunden, das ist gut. Deine Mutter hat das Richtige getan.« Sie nickt zufrieden. Doch dann zieht ein Schatten über ihr Gesicht. »Und der Kristall ist verloren gegangen, sagst du?« Ich nicke kläglich. »Er wird dich wiederfinden. Er muss.«

Ähm, wie bitte schön soll ein Gegenstand mich finden? Verwirrt mustere ich Rose, die in ihre Teetasse starrt, als könne sie darin lesen (was mich nicht weiter wundern würde).

»Aber …«, fange ich an.

»Der Kristall hat etwas mit dir vor«, murmelt Rose. »Du hast die Chance, den Familienfluch, den er in sich birgt, ein für alle Mal zu bezwingen.«

»Aber … er ist doch eigentlich da, um über mich zu wachen, oder nicht?«, frage ich verwirrt.

»So ist es«, erwidert Rose. »Nur steckt mehr in ihm, als du denkst. Du wirst sehen. Und du hast mächtige Helfer, die auch Frieden wollen.«

Wie jetzt? Helfer? Was für Helfer? Was für ein Frieden? Und wie kann ein Kristall etwas mit mir vorhaben? Und außerdem: Er ist weg!

»Keine Sorge.« Rose stellt die Teetasse beiseite und tätschelt beruhigend meinen Arm. »Es ist vorherbestimmt. Du bist es.«

»Was bin ich?«, will ich wissen.

Oh Mann, Rose und ihr jenseitiges Geraune. Wie soll ich daraus nur schlau werden?

Wieder richtet sich ihr Blick in eine imaginäre Ferne. »Hüte dich vor schwarzen Tieren«, raunt sie, als hätte sie meine Frage gar nicht gehört. »Sie wollen dir Böses.«

Ich starre sie an. Meint sie Lilith? Meint sie den Raben? Kriege ich bald Besuch von schwarzen Panthern? Das ist mal wieder meine Rose in Topform. Unvermittelt kehrt ihr Blick zurück und sie steht auf.

»Ich sollte dich nicht weiter beunruhigen. Besser, ich gehe jetzt.« Mit geübtem Handgriff zieht sie ihre Schürze glatt. »Vergiss nicht, Lisa: Auf jede Frage gibt es eine Antwort, auf jede Antwort eine Frage.«

Hallooo?

»Wie meinst du das?«

Sind wir hier bei Yoda?

Rose lächelt. Ich versuche, sie am Ärmel festzuhalten, aber sie lässt sich nicht aufhalten. Stumm stapft sie vor mir davon, während ich sie mit meinen Fragen die Treppe hinunter verfolge. Als wir im Keller vor der Tür stehen, die in Form eines Wappenschilds in die Wand eingelassen ist und den Tunneleingang zu Ednas Haus markiert, starte ich einen letzten Versuch. Sie ist schon dabei, die Tür zu öffnen.

»Du meinst, der Kristall kann dafür sorgen, dass diese ganze Geschichte mit dem Fluch aufhört und wir alle endlich Ruhe haben? Unseren Frieden? Und ich kann das bewirken?«

Rose hält inne, und für einen Augenblick habe ich das Gefühl, sie wird gleich etwas sagen, das zur Abwechslung mal Sinn macht und mich weiterbringt. Stattdessen nimmt sie mein Gesicht in beide Hände, lächelt ein letztes Mal rätselhaft und murmelt: »Wie eine echte Cooper«. Dann lässt sie ihre Hände sinken und verschwindet im Gang.

Na super. Sehr erhellend.

Nach diesem Erlebnis ist der Tag für mich gegessen. Mir schwirrt der Kopf, und ich weiß nur, dass ich definitiv diesen Fluch an der Backe habe, den ich nur allzu gern wieder los wäre. Hm, wen könnte ich jetzt anrufen, um über dieses Rätsel, das Rose mir aufgegeben hat, zu reden? Mit wem kann ich überhaupt noch über meine Probleme reden, ohne für verrückt erklärt zu werden? Zoey, Sara und Jocelyn, meine englischen BFFs, sind mit ihren jeweiligen Familien nach Spanien beziehungsweise Korsika und Mallorca verschwunden und kommen erst Ende der Woche zurück. Und Paula hat sowieso jedes Mal nur den Kopf geschüttelt, wenn ich was in Richtung Fluch und Hexen angedeutet habe.

Missmutig schlurfe ich ins Wohnzimmer und setze mich auf den Stuhl an dem Tischchen mit dem Telefon, als es plötzlich mörderisch losschrillt. Wer ist das? Ben? Mama? Paula? Eine Stimme aus dem Jenseits?

Und wer ist es? Papa. Ich umklammre den Hörer, als könnte ich ihn so ganz fest umarmen.

»Hallo?«, sagt er mit seiner tiefen, weichen Stimme, die ich so liebe.

Mir wird warm ums Herz, denn ich habe mich während der Ferien wieder sehr an ihn gewöhnt. Ich freue mir spontan ein Loch in den Bauch. Obwohl Mama sich von ihm scheiden lassen will, ruft er regelmäßig bei uns an, und das finde ich großartig. Im tiefsten Inneren meines Herzens, ganz hinten im allerletzten Kämmerchen, hege ich immer noch (und wohl auf immer und ewig) die zaghafte Hoffnung, dass die beiden eines Tages wieder zusammenkommen, so unwahrscheinlich das auch gerade erscheinen mag. Mit einem Mal werde ich von Sehnsucht nach Harmonie in meinem Leben geradezu überschwemmt. Nach den Turbulenzen meiner Anfangszeit hier in England könnte jetzt wirklich mal Ruhe einkehren.

»Hallo, Papa«, sage ich so fröhlich, wie es nur geht.

»Hallo, meine Kleine. Na, hast du dich schon wieder eingewöhnt? Ist alles gut bei euch?«, fragt er.

»Ja, alles gut.« So gern ich Papa auch habe – er ist der Letzte, mit dem ich über Kristalle, Teufelssterne und schwarze Viecher sprechen will. Aber eine Sache gibt es, bei der er mir vielleicht doch weiterhelfen könnte. Schließlich ist er selbst ein Mann – und weiß demnach auch, wie Jungs so ticken. Also erzähle ich ihm, dass Ben momentan nicht aufzutreiben ist und mich das – Achtung, Untertreibung – ein bisschen beunruhigt.

Das macht ihn hellhörig. Irgendwie hat er das Gefühl, mich trösten zu müssen. Er streicht mir fernmündlich über den Kopf und gibt mir nach einer bedeutungsschweren Pause einen eindringlichen Rat.

»Wenn du jemanden liebst, Lisa, dann mach dich niemals abhängig von ihm«, sagt er mit betont väterlicher Stimme. »Wenn du sicher bist, dass er dich liebt, ist alles gut. Wenn nicht, schieß ihn in den Wind. Du darfst ihm nie hinterherlaufen, zu keinem Zeitpunkt, das tut auf Dauer nur weh.«

In den Wind schießen, hallooo? Er spricht sicher aus eigener leidgeprüfter Erfahrung. (Meint er Mama? Nö, ehrlich gesagt finde ich, es ist ein gutes Zeichen, dass er nicht aufgegeben hat.) Vermutlich handelt es sich einfach nur um eine ewig gültige, väterliche Weisheit. Aber er hat gut reden. Es tut so oder so weh.

Bevor er auflegt, sage ich Papa, wie sehr ich mich über seinen Anruf gefreut habe und dass er bloß nicht aufhören soll, sich zu melden.

»Natürlich rufe ich an«, sagt er bestimmt. »Außerdem bin ich wild entschlossen, euch bald wieder zu besuchen.«

»Wann denn?«, frage ich hoffnungsfroh.

Weiß er nicht. Irgendwann.

»Sag deiner Mutter viele Grüße von mir«, sagt er und legt auf.

Ach, Papa.

Kaum habe ich das Telefon beiseitegelegt, höre ich, wie draußen Martins Wagen vorfährt. Ich laufe aus dem Haus und sehe, wie die beiden aussteigen.

»Alles okay mit deiner Schulter?«, frage ich Mama.

»Alles okay«, bestätigt sie. »Und bei dir?«

Ich richte Papas Grüße aus, aber Mama nickt nur. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Martin ein bisschen zusammenzuckt.

»Habt ihr was wegen dem Unfall unternommen?«, will ich wissen.

»Die Polizei und Martins Versicherung hatten den Unfall ja schon untersucht«, berichtet Mama. »Martin hat heute bei der Versicherung angerufen und den Bericht angefordert.« Mamas Blick wirkt plötzlich resigniert. »Sie haben den Schaden begutachtet und sich auf Materialermüdung geeinigt.«

»Tja, der Fall ist abgeschlossen«, fügt Martin mit tonloser Stimme hinzu. »Da kann man nichts mehr machen.«

Ach so?, denke ich mir. Wieso wundert mich das nicht? Da hatte garantiert Mr Ashton seine Hände im Spiel. Unglaublich, aber offensichtlich wahr: Ashley soll mit dieser heftigen Nummer davonkommen. Mal wieder. Einfach so. Aber nicht, wenn ich es verhindern kann!

Bevor ich vor Wut platze, fange ich schon mal an, für Mama und mich zu kochen, zumal Martin und sie noch etwas besprechen wollen. Für heute habe ich mir eine selbst gemachte Lasagne vorgenommen. Man muss ja seinen kulinarischen Horizont erweitern.

Kurz darauf sehe ich aus, als wäre ich durch eine Mehlwolke gelaufen, und walke unermüdlich den Lasagneteig durch. Ich bereite eine pikante Hackfleisch-Tomaten-Füllung vor (in Phase zwei bin ich erscheinungsmäßig ein Halloween-Serienkiller, der in seine eigene Blutsuppe gefallen ist), schichte alles in eine Auflaufform und ab damit in den Ofen. Schon bald fängt die Lasagne an zu duften und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Nicht lange danach ist sie fertig und Martin ist immer noch da. Ich höre, wie er und Mama angeregt plaudernd aus dem Wohnzimmer kommen. Schon stehen sie in der Küchentür.

»Mmh, riecht das gut«, sagt Martin und schnuppert demonstrativ in der Gegend herum.

»Bleib doch zum Essen«, schlägt Mama vor. »Ist sicher genug da.« Sie schaut mich auffordernd an.

»Hier soll keiner hungrig vom Hof gehen«, sage ich souverän und knirsche innerlich mit den Zähnen (interessantes Bild). Eigentlich wollte ich mit Mama allein sein und sie bearbeiten, was Papa angeht.

»Papa will uns übrigens bald besuchen kommen«, sage ich betont beiläufig.

Mama wirft mir einen beunruhigten Blick zu. »Wann?«

Ich zucke mit den Schultern.

Sie macht ein knurrendes Geräusch und fragt: »Wein?«

»Auto«, sagt Martin, und ich habe die Befürchtung, dass er wieder zu seiner Ein-Wort-Satzstruktur zurückkehrt, die er anfangs des Öfteren an den Tag gelegt hat.

Kaum sitzen alle am Tisch, haut Martin rein, als wollte er sich auf der Stelle wieder seinen alten Kugelbauch anmästen. Über die Ferien ist er George Clooney noch ähnlicher geworden, aber wenn das mit der Fresserei so weitergeht, ist bald Schluss mit der Herrlichkeit.

»Unsere Familien müssen mal wieder was zusammen unternehmen«, sagt er.

Ich mache ein ausweichendes Geräusch und Mama sieht mich forschend an. Paul, Theresa und ich kommen inzwischen zwar ganz gut klar, aber Familienzusammenführungen stehen momentan für mich nicht gerade an erster Stelle. Mich beschäftigt einzig und allein die Frage: Wo ist Ben? Ich stelle mir groteske Horrorszenarien vor, wie er von dieser Welt verschwunden ist: UFOs snatchen ihn vom Erdboden, Lkws fahren ihn platt, fiese kleine Blondinen entführen ihn und sperren ihn zu finsteren Zwecken in ein dunkles Verlies. Sollte ich ihn einfach zu Hause besuchen? Falls er da ist? Könnte peinlich werden … Egal. Das Elend muss endlich ein Ende haben.

Am nächsten Morgen schlafe ich erst einmal aus. Als ich nach unten komme, ist Mama natürlich schon weg. Nachdem ich ausgiebig gefrühstückt habe, absolviere ich zunächst meine standardmäßig vergeblichen Anrufe. Gerade als ich Bens Festnetznummer zum dritten Mal wähle, klingelt es an der Haustür. Hä? Wer könnte das sein? Ist das etwa …?

Entschlossen reiße ich die Tür auf. Doch vor mir steht nicht etwa Ben, sondern zwei mittelkleine, ein bisschen bizarr aussehende Männer unklaren Alters im Overall. Auf den Steinplatten unseres Gartenwegs ist ein Tandem aufgebockt. Ein Tandem? Habe ich schon lange nicht mehr in freier Wildbahn gesehen. Macht aber Sinn, wenn ich mir meine beiden Besucher so ansehe.

»Hallo«, sagt der eine.

»Hallo«, sagt der andere.

Und »Hallo« sage auch ich.

Es ist ein wenig wie im Musical, fehlt nur die Musik.

»Wir sind die Handwerker«, sagt der eine.

»Das sind wir«, bestätigt der andere.

Einer sieht wirklich gespuckt aus wie der andere. Ein perfektes Tandemteam. Ihre wettergegerbten Gesichter weisen eine satte Sonnenbräune und tiefe Falten auf, als würden sie ihr ganzes Leben im Freien verbringen. Mit ihren charakteristischen Knautschgesichtern erinnern sie mich an die Goblins aus den Videospielen, die die Jungs an meiner Schule in Deutschland immer gespielt haben. Irgendwie ein bisschen spooky. Aber sehr freundlich.

Der eine zeigt auf sich und sagt: »Elektriker«, der andere macht dasselbe bei sich und sagt: »Glaser.«

Um mich nicht ausgeschlossen zu fühlen, zeige ich auf mich und sage: »Lisa.«

Da strahlen die beiden und zeigen leuchtend weiße Zähne. Die Eckzähne sind ein bisschen arg spitz (so werwolfmäßig gesehen), aber das beeinträchtigt den netten Gesamteindruck nicht.

Der eine zeigt auf den anderen, grinst und sagt: »Jack.«

Der andere zeigt zurück und sagt: »Jim.«

Der Elektriker trägt einen Lederrucksack, aus dem diverse Gerätschaften und Kabel herausragen. Mama hat wegen des Schadens auf dem Dachboden offenbar gleich noch den Glaser dazu bestellt. Der andere hat im Drahtkorb des Tandems nämlich eine kleine Glasscheibe mitgebracht, die ins Dachfenster passen könnte. Die beiden wirken jedenfalls extrem gut vorbereitet. Na dann. Nachdem wir geklärt haben, wer wer ist, kann es ja losgehen.

»Dachboden?«, fragt der eine.

»Oben«, sage ich und komme mir ein bisschen dämlich vor.

Wo soll der sonst sein?

Wir klettern gemeinsam die Treppe und dann die steile Stiege hinauf. Ich öffne die Tür zum Dachboden und lasse die beiden hinein. Sie werfen einen Blick auf die Folgen des nächtlichen Spuks.

»Aha«, sagt der eine.

»Aha«, macht der andere.

Dann werfen sie sich Brocken einer Sprache mit reichlich vielen Rachenlauten zu. Ich verstehe kein einziges Wort. Schließlich nehmen sie die kaputte Scheibe und den Brandfleck unter die Lupe. Offenbar wollen sie erst mal herausfinden, was die Schäden überhaupt verursacht hat. Na, da bin ich aber gespannt.

»Habt ihr Katzen?«, fragt schließlich der eine.

»Katzen?«, sagt der andere.

Hier muss ein Echo unterwegs sein.

»Wieso?«, frage ich und denke mir meinen Teil. (Lilith lässt grüßen, aber die lasse ich mal weg, um die Herren nicht zu verwirren.) »Eigentlich nicht.«

»Die Stromleitung hat Nagespuren. Kann aber auch ein Marder gewesen sein.«

Wieder ein Schwall von Rachenlauten, dann ein Wort wie »piseag«. Hochinteressant. Das ist kein örtlicher Dialekt mehr. Muss ich Mama fragen, woher die kommen. Was kann ein piseag sein?

»Hat sich wohl was aufgerissen beim Sprung durchs Fenster. Da, Blut«, sagt der eine.

»Blut?«, sagt der andere mit weit aufgerissenen Augen und wird so blass, dass ich fürchte, gleich fällt er um.

»Blut!« Sein Kumpel lacht vergnügt und haut ihm auf die Schulter. »Nur ganz wenig.«

»Nur ganz wenig.« Der andere pustet erleichtert durch die Lippen.

Dann kommt wieder eine ganze Menge an rauen Sätzen mit den eindrucksvollsten Rachenlauten, die ich je gehört habe. Ich höre so was wie »Culbhreach« (kann mich da aber nicht festlegen), dann »Filtheach« und schließlich etwas Einfacheres wie »Glainne«. Sie werden aufgeregter, machen bedenkliche Handbewegungen und scheinen sich fast zu streiten über etwas wie »Ban-draoidh«, was auch immer das nun ist. Würde ich ja zu gern im Wörterbuch nachsehen, wenn ich bloß wüsste, in welcher Sprache.

»Ich muss in den Keller«, sagt Jim. »Was nachschauen.«

»Ich in den Garten. Was nachschauen«, sagt Jack.

Aha, seltsam, aber wenn sie wollen … Ich habe nichts dagegen.

»Ich lasse Sie dann mal allein«, sage ich und klettere vom Dachboden.

Die beiden verschwinden in den Keller beziehungsweise in den Garten, und ich frage mich ernsthaft zweifelnd, was ein Elektriker und ein Glaser da vorhaben könnten. Ich husche zur hinteren Küchentür und beobachte unauffällig, wie sich Jack, der Elektriker, in Richtung Ednas Villa bewegt und dabei jedes Blatt und jeden Grashalm mustert, als wäre das Ganze eine Schnitzeljagd. Was treibt er da? Kopfschüttelnd gehe ich zum Keller, wo Jim, der Glaser, rumort. Ich lausche angestrengt und habe den Verdacht, dass er sich an der Tür zum Geheimgang zu schaffen macht. Komisch. Kann nicht sein. Suchen die jetzt beide nach irgendwelchen Leitungen? Nach weiteren kaputten Fenstern werden sie wohl kaum schauen. Na gut, ich gehe mal davon aus, dass alles mit Mama abgesprochen ist und die beiden wissen, was sie tun. Kopfschüttelnd verschwinde ich in mein Zimmer.

Irgendwann, nach ziemlich langer Zeit, ich bin noch ganz in mein Lieblingsbuch vertieft, höre ich Geräusche, als die beiden wieder das Treppenhaus betreten.

»Tha sao math!«, höre ich und von dem anderen: »S math sin!«

Irgendwie klingen sie sehr zufrieden mit sich. Ich gehe die Treppe hinunter zum Flur, wo sie schon mit ihren gepackten Gerätschaften auf mich warten. Sie verbeugen sich, geben mir beide die Hand und sagen etwas von »Dun-Eideann«, was ich logischerweise nicht verstehe, aber sie sind ganz zuversichtlich und fröhlich dabei, als würden wir uns mal irgendwo wiedersehen.

»Wir sind fertig mit der Arbeit«, sagt Jim.

»Fertig«, sagt Jack.

Ich öffne die Haustür und gehe mit Jack und Jim hinaus. Sie bewundern demonstrativ Omas Hortensien, streichen mit den Händen über die Blüten und kriegen sich gar nicht mehr ein vor Freude. Die Zwillingshandwerker verbeugen sich überschwänglich höflich.

»Vielen Dank. Es war uns eine Freude.«

»Eine große Freude.«

»Ich habe zu danken«, sage ich und verbeuge mich ebenfalls.

Dann sind sie weg. Und ich stehe wieder mal da und fühle mich wie im falschen Film. Irgendwie wird dieses Dorf hier immer verrückter. Was für ein kurioser Besuch! (Aber eigentlich auch ganz unterhaltsam.)