Der Fluch von Cliffmoore - Laura Foster - E-Book
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Der Fluch von Cliffmoore E-Book

Laura Foster

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Beschreibung

Die 14-jährige Lisa fühlt sich vom Pech verfolgt: Erst trennen sich ihre Eltern, dann beschließt ihre Mutter, gebürtige Engländerin, mit Lisa in ihren Heimatort Cliffmoore in Yorkshire zurückzukehren. Cliffmoore ist ein kleines Kaff mit 800 Einwohnern, von denen die meisten ein bisschen wunderlich zu sein scheinen. Zumindest die alte Nachbarsfrau, die allen Ernstes behauptet, auf Lisas Familie läge ein Fluch. Oder ist an den geheimnisvollen Andeutungen doch etwas dran? Band 1 der Fantasy-Reihe

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Seitenzahl: 352

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHOriginalausgabe© 2015 Ravensburger Verlag GmbHLektorat: Sabine FranzUmschlaggestaltung: Carolin Liepins, verwendete Motive von Anna Chelnokova/shutterstock, akiyoko/shutterstock, wrangler/shutterstock, Tomislav Pinter/shutterstock, Vikolin/shutterstock und Damian Richard/shutterstockInnenlayout: Daniela Göpffarth, verwendete Motive von Anna Chelnokova/shutterstock, akiyoko/shutterstock und Benguhan/shutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47664-0www.ravensburger.de

Für meine kritische, aber ziemlich coole Tochter, ohne die Lisa nicht Lisa wäre

Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Das frage ich mich heute nicht zum ersten Mal. Leeds von oben gesehen ist graubraun und es regnet. Na toll. Gerade sind meine Mutter und ich mit einer kleinen Passagiermaschine auf dem Flughafen der englischen Großstadt gelandet. Mit Zwischenlandung in Heathrow, auch ein ganz reizender Ort. Auf dem Londoner Flughafen muss man aufpassen, dass man nicht von einer Horde Japaner aus der einen und einer Horde Inder aus der anderen Richtung wie von Büffeln überrannt wird. Ein kleiner Mordversuch nebenbei. Wäre zum Lachen, wenn nicht gerade alles zum Weinen wäre.

»Guck nicht so traurig«, sagt Mama, während sie mich energisch zum Bus zieht, der uns zum Bahnhof bringen soll. »Bald sind wir zu Hause.«

»Zu Hause?«, murmele ich so leise, dass Mama es nicht hören kann. Zu Hause war mal, das haben wir in Deutschland hinter uns gelassen. Ich habe jetzt schon tierisches Heimweh nach meinem Leben in Berlin. Ich brauche kein neues Zuhause, das alte war schwer in Ordnung. Wie konnte dieser ganze Mist nur passieren? Zu allem Überfluss legt der Regen noch zu (wenn der Sommer auch so wird, dann gute Nacht). Das Wasser tropft mir von den Haarsträhnen in die Augen und ich kann kaum noch etwas sehen. Ist vielleicht ganz gut so.

Als das Flugzeug durch die tiefschwarzen Wolken zur Landung gerappelt war, hatte ich schweißnasse Hände. Meine Beine sind immer noch wacklig, aber immerhin ist der Flieger nicht abgestürzt. Man wird ja dankbar für Kleinigkeiten. Ich schleppe mich weiter in Richtung Bus, während der Regen munter vom schmutzig grauen Himmel pladdert.

»Nun mach schon«, versucht Mama mich mit bemüht heiterer Stimme aufzumuntern. »Es ist nicht mehr weit bis York.«

Die Koffer, die wir hinter uns herziehen, haben es echt in sich. Als wir den Bus erreichen, bräuchte ich eigentlich einen Ganzkörper-Föhn, aber den führen sie leider nicht. Wir quetschen uns mit den anderen vor Nässe dampfenden Passagieren in den Bus und lassen uns auf die Sitze fallen. Mama legt den Arm um mich, und ich fühle mich so elend, dass ich mich eng an sie kuschle. Gleich fange ich an zu heulen, denke ich, aber ich mache es nicht. Das tue ich ihr nicht an. Und mir auch nicht.

Der Bus setzt sich rumpelnd in Bewegung und stößt unter ohrenbetäubendem Geknalle stechend riechende Dieselwolken aus. Hier drinnen müffelt es wie eine Mischung aus totem Hund und verrottendem Maschinenöl. Lecker. Wir schaukeln durch die Stadt zum Bahnhof. Mit seinen uralten, dunklen Steinblöcken wirkt er wie ein Ungetüm aus dem vorvorletzten Jahrhundert. Harry Potter lässt grüßen. Es herrscht ein Riesengedränge. Chinesen, Pakistani und ein paar grölende Fußballfans ziehen an uns vorbei, dazwischen ein Mann in mausgrauem Anzug mit einem schwarzen, runden Bowler auf dem Kopf.

Moment mal, ein Bowler? Ich dachte, den gibt es nur im Kino.

Und war das eben eine Ziege?

»Da staunst du, was?«, meint Mama lachend und bugsiert mich durch die lärmende Menge.

Im Zugabteil ist es dann plötzlich ganz still. Mama und ich haben gerade das Gepäck verstaut, als der Zug sich sanft ruckelnd in Bewegung setzt. Ich habe das Gefühl, wenigstens etwas zur Besinnung zu kommen (ist es eigentlich Kindesmisshandlung, wenn man um vier Uhr morgens aufstehen muss?), und lehne meinen Kopf an Mamas Schulter. Sie legt den Arm um mich. Läuft da etwas Nasses über meine Wangen? Verdammt! Ich wische die Tränen verstohlen weg und sehe aus dem Augenwinkel, dass Mama aus dem Fenster schaut und dabei versonnen lächelt.

»Sieh mal, wie schön es hier ist«, sagt sie und zeigt mit dem Finger auf die saftigen Wiesen, die im Mairegen umso frischer aussehen.

Die vorbeiziehende Landschaft besteht aus kümmerlichen Hügeln, die in all den Millionen Jahren ihre Chance verpasst haben, sich zu einem anständigen Berg zu entwickeln. Sie wechseln sich ab mit sattgrünen Weiden, auf denen Kühe lässig herumstehen und vor sich hin kauen. Dazwischen kleine Orte voller kleiner, rötlich-brauner Backsteinhäuser mit Tausenden von kleinen, rötlich-braunen Schornsteinen. Je näher wir York kommen, desto mehr fällt Mama zu ihrem früheren Leben in England ein.

»Da hinten hinter der Kirche hatte dein Großonkel Wilbur eine Farm, da habe ich beim Schweineschlachten den Blutkübel gehalten.« Kotz.

»Und in dem kleinen Fluss, ein bisschen weiter oben, ist mein Cousin Frankie mal fast ertrunken, als wir verbotenerweise dort gebadet haben. Er konnte nicht richtig schwimmen und ich musste Mund-zu-Mund-Beatmung machen. Das war vielleicht eklig.«

Erzählt sie das gerade wirklich oder träume ich nur?

Jedes Mal, wenn der Zug um einen neuen Hügel kurvt, quietscht meine Mutter auf, weil sie hier jeden Grashalm aus ihrer Jugend wiedererkennt. Das hält ja kein Mensch aus! Drei Kurven später springe ich auf, verkünde, dass ich mal dringend wohin muss, und reiße die Abteiltür auf. Dann trete ich schwungvoll hinaus auf den Gang – und stoße prompt mit jemandem zusammen, dem ich auch noch voll auf den Fuß steige. Der jault auf und macht »Oi!!!«

Ich sehe mir das Opfer dieser peinlichen Aktion näher an und stelle fest, dass es ein unglaublich süßer Typ in perfekt sitzenden Jeans und einem taubenblauen Kaschmirpullover ist. Junge, Junge. Wellige, dunkelbraune Haare und strahlend blaue Augen. Was für eine Kombi, wow. Er sieht ein, zwei Jahre älter aus als ich, so um die fünfzehn oder sechzehn vielleicht. Ich werde knallrot.

»Den brauche ich noch«, sagt er und zeigt auf seinen demolierten Fuß.

»Oh Gott«, stammle ich, »sorry.«

Er bewegt vorsichtig die Zehen in seinen Chucks und meint: »Na ja, funktionieren noch.«

»Sorry, sorry, sorry«, wiederhole ich mein Englisch-Vokabular, das gerade dramatisch geschrumpft ist, und komme mir unsäglich dämlich vor. Und dann … lächelt er! Er lächelt mich an! Kann ich eigentlich noch röter werden?

»Alles okay«, sagt er, »mach’s gut.«

Dann dreht er sich um und geht weiter den Gang entlang.

Ich unterdrücke einen Fluch und schlage dreimal die Stirn gegen das Fenster. Geht’s vielleicht noch dümmer? Während ich den Kopf so gegen die Scheibe knalle, halte ich inne und sehe verstohlen zu ihm hin. Na klar. Er hat das alles mitgekriegt, weil er sich längst zu mir umgedreht hat. Er grinst, zwinkert mir zu. Und weg ist er.

Ich sterbe, denke ich, das ist das Ende.

Mein Gesicht hat inzwischen die Farbe frisch ausgespuckter Lava angenommen. Diese grausame Begegnung ist das Sahnehäubchen auf dem kläglichen Rest meines ruinierten Lebens …

Wozu soll das alles gut sein? Was soll mir zu diesem ganzen Schwachsinn, der mir in letzter Zeit passiert ist, noch einfallen? Ich gehe zurück ins Abteil und lasse mich stöhnend auf meinen Sitz fallen. Mama sieht mich nur kurz an und weiß sofort Bescheid, dass sie jetzt besser keine Fragen stellt. Sie steckt die Nase wieder in ihr Buch, und ich sehe aus dem Zugfenster, an dem der Regen in langen Bahnen herunterläuft.

Ich wische mit der Hand die kalte, beschlagene Fensterscheibe entlang, um mir ein Guckloch zu schaffen. Da draußen saust eine Welt an mir vorbei, mit der ich nichts zu tun haben möchte. Dass mir das nicht im Geringsten weiterhilft, weiß ich. Ich habe festgestellt, dass man den absoluten Durchblick kriegt, wenn man so dreizehn, vierzehn Jahre alt wird. Man läuft durch die Welt und staunt, wie bescheuert sie ist. Ich habe mir in letzter Zeit tatsächlich gewünscht, wieder in der Vorschule zu sein, da war alles noch ganz einfach. Was ich da gelernt habe, habe ich kapiert, die Lehrer waren nicht gestresst und die Jungs waren noch keine Vollidioten. Obwohl …

Jedenfalls, vor ungefähr einem halben Jahr machten Papa und ich einen Spaziergang im Park. Ohne Vorankündigung schenkte er mir ein nagelneues Smartphone und ich freute mich wie blöd (dabei lag mein vierzehnter Geburtstag noch ein paar Monate in der Zukunft). Dann »ähemmte« er in der Gegend herum und erklärte, dass er jetzt öfter mit mir telefonieren würde, weil er sich von meiner Mutter getrennt hätte. Oder sie sich von ihm, er wollte sich da nicht festlegen. Als diese Botschaft zu mir durchgedrungen war, fing es plötzlich an, wie aus Eimern zu schütten, irgendwie ein passender Kommentar von oben. Was für ein absolut uncooler Mist, dachte ich. Dabei sollte es noch viel schlimmer werden.

Kommen wir zu Katastrophe Nummer zwei: Meine Mutter erzählte mir wenige Wochen später, dass sie mit mir in eine andere Stadt ziehen würde, weil sie dort eine Stelle als Schneiderin angenommen hätte. Schneiderinnen würden schließlich überall gebraucht. (Dabei ist sie eigentlich Modedesignerin, und keine schlechte.) Überall hieß in diesem Fall York, England. Genau: das England. Und wohnen würden wir in dem Dorf Cliffmoore, südlich von York, wo wir in das Häuschen meiner verstorbenen Lieblingsoma Judith ziehen würden. Ich konnte es kaum glauben. Ernsthaft? Ich meine, ernsthaft? Würden wir ganz in echt nach England ziehen? Wozu? Ich hatte hier in Deutschland doch mein Leben, meine Freundinnen und die immerhin nicht völlig beknackte Schule. Was wäre denn in England noch von mir übrig? »Du wirst dort deine Wurzeln schon finden«, meinte Mama. »Das ist doch spannend, herauszufinden, woher man stammt.« Wurzeln? Geht’s noch?

Es ist, als hätten alle gemeinsam beschlossen, mich fertigzumachen. Warum steht mein Leben plötzlich auf dem Kopf? Was habe ich nur falsch gemacht? Warum muss das ausgerechnet mir passieren? Und während ich die Stirn gegen das kalte, vom Regen gesprenkelte Zugfenster presse, habe ich auf einmal eine Theorie.

Die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen.

Die Lisa-Verschwörung. Genau so fühlt es sich an.

Irgendwie wird der Tag in York nur unwesentlich besser. Immerhin regnet es nicht mehr, als wir am Bahnhof in der Stadtmitte ankommen, und im Gegensatz zu dem Ungetüm in Leeds wurde das Gebäude hier aus freundlich gelborangen Steinen gebaut. Ich sehe eine kleine Großstadt oder eine große Kleinstadt vor mir. Irgendwie nett. York soll zweihunderttausend Einwohner haben, hat Mama mir erzählt. Eine ganze Menge. Trotzdem wirkt die Stadt auf mich wie eine aus Lego-Steinen gebaute, historische Idylle.

»Nach Cliffmoore bitte«, sagt Mama zu einem der Taxifahrer, der auf dem Bahnhofsvorplatz wartet. Der Mann ist Jamaikaner und lacht die ganze Zeit, dass die Rastalocken auf seinem Kopf beben. Dabei präsentiert er vierundsechzig makellos weiße Zähne, bei deren Anblick mein Zahnarzt garantiert ohnmächtig werden würde vor Glück.

Jedenfalls wirft er bereitwillig die Reste seines Joints aus dem Autofenster und bringt uns in aberwitziger Geschwindigkeit nach Cliffmoore. Das Dorf liegt etwa zwölf Kilometer Richtung Süden, ganz in der Nähe vom Fluss Ouse, der York durchschneidet, bis er sich in die Nordsee verabschiedet. Es hat stolze achthundert Bewohner (laut Mama) und gehört noch zu York, wirkt aber wie ein winziger Ort, an dem die Neuzeit spurlos vorbeigegangen ist. Niedrige rote Häuschen und kaum gepflasterte Straßen, voll hinterm Mond, mit einem satten Schuss Herr der Ringe. Der Wagen biegt von einer Nebenstraße in einen Seitenweg ein und hält vor einem kleinen zweistöckigen Haus in der Mitte der New Moon Lane.

»Sind wir hier richtig?«, frage ich schockiert. Das Cottage, vor dem wir stehen, hat definitiv schon bessere Tage gesehen. Auch Mama macht große Augen.

Rastaman holt die Koffer aus dem Taxi und versucht, Mama zu umarmen, weil sie ihm offenbar ein zu gutes Trinkgeld gegeben hat. Sie taucht gerade noch rechtzeitig unter ihm weg und er braust fröhlich hupend davon.

Stumm gehen Mama und ich um Omas Haus herum. Die schöne dichte Hecke, die früher den Garten umschlossen hat, hat an manchen Stellen große Lücken oder wuchert wild aus der Form. Weit und breit keine Spur mehr von den liebevoll gepflegten Beeten, die immer Omas ganzer Stolz waren. Keine Blumen, kein Obst, kein Gemüse, keine Kräuter. Seit Omas Tod hat sich niemand mehr um die Bäume gekümmert und auch der kleine hübsche Geräteschuppen ist verfallen. Das ganze Grundstück ist völlig verwildert. Als Kind war ich jedes Jahr ein paar Wochen zu Besuch und es war immer himmlisch für mich. Wann war ich zuletzt hier? Vor vier Jahren? Da war ich zehn … Gott, das ist ewig her.

Mama drückt mich mit feuchten Augen an sich und sagt: »Das kriegen wir wieder hin.«

Ich nicke nur und schlucke trocken. Wie betäubt laufe ich zur Haustür und rüttle daran. Sie ist verschlossen.

»Und wie kommen wir da rein?«, frage ich und drehe mich zu Mama um. »Hast du einen Schlüssel?«

Sie schüttelt den Kopf. »Mrs Cumberlands Hausmädchen Rose hat den Schlüssel. Du weißt ja, sie wohnt gleich nebenan. Gehst du ihn bitte holen?«

»Wieso ich?«, frage ich unwillig. In meinem Zustand der Schockstarre habe ich absolut keine Lust auf Small Talk mit Rose, an die ich mich nur dunkel erinnern kann. Doch nach einem Blick in Mamas tränennasse Augen seufze ich ergeben.

»Geh einfach zum Dienstbotenhäuschen hinter dem Haupthaus. Und sei vorsichtig«, bittet sie mich.

»Vorsichtig? Wie meinst du das?«, frage ich, aber Mama legt mir nur ihre Hände auf die Schultern und schiebt mich entschieden Richtung obere New Moon Lane.

Also marschiere ich an hochgewachsenen, fein säuberlich gestutzten Hecken vorbei, bis ich an einem riesigen, schmiedeeisernen Tor ankomme, das den Blick auf das Nachbarhaus freigibt. Wow, so hatte ich das gar nicht in Erinnerung. Was ich da vor mir sehe, ist nicht wirklich ein Haus, sondern eine hammermäßige, schlossartige Villa mit großen Fenstern, haufenweise Erkern und einem Turm, der das Ganze wie eine gigantische Tüte Softeis krönt. Insgesamt ein bisschen arg grau und düster, aber ziemlich schick. Schräg hinter diesem eindrucksvollen Kasten sehe ich Roses schnuckliges kleines Dienstbotenhäuschen.

Durch eine kleine Tür, die in das eiserne Tor eingelassen ist, betrete ich den dicht gewachsenen englischen Rasen, der wirkt, als hätte jemand die Halme einzeln mit der Nagelschere bearbeitet. Ich bewege mich auf Zehenspitzen (ob Mama mit »vorsichtig« wohl dieses Kunstwerk von Rasen gemeint hat?) und versuche, kein Hälmchen zu krümmen.

Rose erwartet mich schon an der Tür. Sie sieht freundlich aus (langsam klingelt es bei mir, dass ich sie als Kind nett fand), obwohl sie das Outfit der Dienstmädchen aus dem letzten Jahrtausend trägt: schwarzes, steifes Kleid, weiße Spitzenschürze, weißes Häubchen, der ewige Klassiker, bei ihr besonders wirkungsvoll. Sie ist so breit wie hoch und lächelt über ihr ganzes rundes Gesicht. Dann betrachtet sie mich von oben bis unten. »Oh goodness, Lisa! Wie hübsch du geworden bist! Rehbraune Augen und dunkelblonde Haare wie eine echte Cooper.«

Sie hört nicht auf, mich zu mustern, und langsam finde ich es peinlich. Dann kommt der Satz, den Erwachsene einfach nicht lassen können. »Was bist du gewachsen, sweetie!«

Was soll ich denn dazu sagen? Na ja, ein Meter siebzig, plus/minus?

Ehe mir zu Roses Inspektion etwas halbwegs Intelligentes einfallen kann, drückt sie mir den Schlüssel in die Hand, schiebt mich zum Nebentor des Gartens hinaus und flüstert: »Besser, man sieht dich nicht.«

»Wieso?«, frage ich, »und wer ist ›man‹?«, doch da hat sie das Tor schon hinter mir zugemacht, sieht sich nach allen Seiten um und verschwindet in ihrem Häuschen.

Wow, das hatte schon fast Thriller-Qualität. Leiden die Leute hier an Verfolgungswahn, oder was soll dieses merkwürdige Benehmen bedeuten?

Mama hat es sich auf einem der Koffer bequem gemacht, sodass der inzwischen eine beunruhigende Delle aufweist.

»Sag mal, was tut ihr eigentlich alle so heimlich?«, frage ich sie und reiche ihr den Schlüssel. Statt mir eine Antwort zu geben, atmet sie einmal tief durch, schließt die Haustür auf – und schon folgt der nächste Schock.

Fassungslos blinzle ich in Omas Haus. Die Türen zu den Räumen stehen offen, aber es dringt kaum Licht durch die geschlossenen Fensterläden. Selbst im Zwielicht kann ich erkennen, dass die Möbel im Wohn- und dem dahinter liegenden Esszimmer, die sich links von der Treppe zu den oberen Zimmern befinden, komplett durcheinanderstehen. Es riecht muffig und auf allem lagert eine dicke Staubschicht. Nur Omas Ohrensessel prangt in der Mitte, als hätte das Schicksal nicht gewagt, ihn anzurühren.

»Das wird ein Haufen Arbeit«, stöhnt Mama, und ich schlucke trocken.

Nachdem wir die Fenster aufgerissen und Licht und Luft ins Haus gelassen haben, folge ich Mama in die Küche, die neben dem Esszimmer liegt. Dort kramt sie in den Schubladen und Regalen, bis sie ein Sammelsurium an Lappen, Schwämmen, Fegern und Putzmitteln gefunden hat, das ihr brauchbar erscheint.

»Du machst das Wohn- und Esszimmer, ich übernehme die Küche und das Bad«, sagt sie entschieden.

»Echt jetzt?«, sage ich. »Das ist ein Fass ohne Boden.« »Irgendwann und irgendwo müssen wir anfangen«, erwidert sie mit fester Stimme und sieht dabei selbst verzweifelt aus. »Die Feinarbeit mache ich morgen, wenn du in der Schule bist.«

Als ich das Wort Schule höre, kriege ich spontan Bauchschmerzen. Nur nicht dran denken, ganz schnell ablenken. »Gibt es hier einen Staubsauger?«, frage ich wild entschlossen.

»Staubsauger? Staubsauger? Irgendwo ist einer.« Sie steuert überraschend zielstrebig einen Verschlag unter der Treppe an. »Siehst du?«, sagt sie triumphierend und zerrt ein merkwürdiges Gerät hinter der Tür hervor, das aussieht wie ein Blechelefant.

Ich staune. »Wird das mit Dampf betrieben?«

Mama lacht (was mich erleichtert), wirft mir eine Schürze mit Schottenkaro zu und zieht selbst eine über. »Auf geht’s!«, sagen wir im Chor. Mehr Gelächter. Nennt man so was nicht Galgenhumor? Ein Scherz kurz vor der Hinrichtung?

Ich stecke im Wohnzimmer den Stecker vom So-gut-wie-ein-Staubsauger in die Steckdose und erwarte eine mittlere Explosion. Klick. Nichts. Puh, davongekommen. Vorsichtig drücke ich auf den An-Knopf.

»Aaaah!«, schreie ich erschrocken, als das Gerät aufbrüllt wie ein gequältes Tier. Doch wider Erwarten leistet die Kreatur gute Arbeit. Ich sauge schwungvoll über die frei liegenden, honigbraunen Holzdielen und die schönen Ornamente des dunkelroten Perserteppichs, um Omas Sessel herum und gründlichkeitsheitshalber noch mal zurück. Dann stelle ich hier einen Stuhl um und verrücke dort ein Beistelltischchen. Schon besser.

Als ich kurz mal verschnaufen will, drückt Mama mir ein Staubtuch in die Hand. »Keine Müdigkeit vorschützen«, sagt sie gnadenlos. Stöhnend füge ich mich meinem Schicksal. Aber das mit dem Staubwischen ist gar nicht so einfach, denn Oma hat alle möglichen Ziergläser und Porzellanfiguren gesammelt, darunter wunderbare Einhörner und Löwen, die so filigran sind, dass ich den Staub vorsichtshalber nur wegpuste. Das alles neu zu ordnen, macht Spaß. In einer verglasten Vitrine sind Zinnsoldaten aufgebaut, lauter putzige bunte Ritter, die sich offenbar in einer Schlacht fein säuberlich die Köpfe einschlagen. Einer trägt ein Banner mit der Aufschrift Bannockburn. Ein Mordgetümmel für kleine Jungs.

»Haben die Opa Angus gehört?«, frage ich Mama. Opa ist vor meiner Geburt gestorben, deshalb habe ich ihn nie kennengelernt. »Ich weiß noch, dass ich als Kind nie damit spielen durfte.«

Mama klappert in der Küche herum und hört mich nicht. Egal. Von dieser Schlachtplatte lasse ich lieber die Finger.

Nach getaner Arbeit betrachte ich mein Werk und wohlige Entspannung breitet sich in mir aus.

»Ach, verdammt!«, höre ich Mama aus der Küche fluchen, gefolgt von munterem Geplätscher.

Oh, oh. Klingt nach unfreiwilligen Wasserspielen. Ich stürze hinüber und helfe ihr, den Drehknopf vom Wasserhahn wieder anzuschrauben, aus dem ungehemmt das Wasser schießt. Am Ende sind wir einmal mehr patschnass.

»Wollten wir nicht sowieso unter die Dusche?«, frage ich.

»Sehr komisch.« Mama fängt an, trockene Kleidung aus unseren Koffern zu ziehen. »Jetzt geht’s erst mal weiter hier. Du das Esszimmer, ich das Bad?«

Ich nicke ergeben. Manchmal ist Mama einfach nicht zu bremsen.

Das Esszimmer ist nur durch einen schwungvoll gemauerten Türbogen vom Wohnzimmer abgetrennt. Als ich den vertrauten Esstisch aus Kirschbaum und die vier dazugehörenden Stühle sehe, spüre ich plötzlich einen Kloß in meinem Hals. »Ach, Oma«, flüstere ich. »Ich vermiss dich so.«

Das Leben bei meiner Oma war immer voller Liebe, voller Abenteuer. Es hatte immer etwas Geheimnisvolles, Fremdes.

»Und jetzt ist alles futsch«, wispere ich und schlucke schwer.

Halt. Falsch. Es ist immer noch fremd, aber auf eine ganz andere Weise.

Ich mache einen Schritt auf die pompöse Anrichte zu, die mit ihren kunstvollen Schnitzereien ziemlich eindrucksvoll daherkommt. Nicht wirklich mein Ding, aber das hat was.

Eine halbe Stunde später ruft Mama das Ende der Putzaktion aus und kommt mit zwei Gläsern Eistee in der Hand zu mir ins Esszimmer.

»Fehlen bloß noch unsere Zimmer«, sagt sie und nimmt einen tiefen Schluck.

»Was ist eigentlich mit dem Dachboden?«, frage ich. Der hat mich schon als Kind brennend interessiert, aber ich durfte nie nach oben. Und bekanntlich hat Verbotenes ja immer etwas unwiderstehlich Magisches.

»Bloß altes Gerümpel, nicht der Mühe wert«, murmelt Mama und stürzt den Rest ihres Eistees in einem Zug hinunter.

Ach ja? Und warum durfte ich dann als Kind nie rauf? Doch bevor ich nachfragen kann, kommandiert Mama mich oberstabsfeldwebelmäßig ab ins Bad.

Schweißgebadet, aber zufrieden stelle ich mich im Obergeschoss unter die Dusche, die (oh Wunder) einwandfrei funktioniert. Nachdem auch Mama geduscht hat, strahlen wir vor Sauberkeit und Stolz um die Wette.

Als wir wieder unten sind, begutachtet Mama noch einmal unser Werk und lobt mich. Sie mustert die Anrichte und wiegt den Kopf. »Ich glaube, die muss raus. Die nimmt das halbe Zimmer ein. Das wäre ein guter Platz für mein Arbeitszimmer. Der Tisch in der Küche ist groß genug für uns zwei. Was meinst du?«

»Klaro«, sage ich.

Mama geht ins Wohnzimmer und sieht sich auch dort kritisch um. »Und die ganzen alten dunklen Möbel und Vitrinen … na ja.«

»Nicht die Zinnsoldaten!«, rufe ich und weiß nicht, warum (schließlich sieht das Haus tatsächlich ein bisschen wie ein verwunschenes Museum aus).

Ich folge Mama in die Küche, wo sie ein paar saftig belegte Sandwiches hervorzaubert (wann hat sie die denn besorgt?). Wir setzen uns an den Küchentisch, auf den Mama eine geblümte Tischdecke gelegt hat, und verputzen in Rekordzeit unser Abendessen. Jetzt, wo hier sauber gemacht ist, sieht es schon viel gemütlicher aus: der alte Holztisch, die Stühle mit dem Korbgeflecht, die Regale über der Spüle, auf denen sich zahllose Teedosen stapeln.

»Wo schlafen wir eigentlich?«, frage ich, weil ich merke, dass mir die Augen zufallen.

»Oben. Du in deinem Zimmer, ich in meinem«, sagt Mama. Nee, oder? Ich bin so müde, dass ich es nicht mal mehr schaffe, mit den Augen zu rollen. Aber Mama kann Gedanken lesen. »Auf den Luftmatratzen«, sagt sie lächelnd. »Morgen sehen wir dann weiter.«

Gerade, als ich aufstehen und nach oben gehen will, höre ich ein Ping! Mein Handy. Wo ist mein Handy, das habe ich am Anfang im Wohnzimmer abgelegt, oder? Hektik, Verzweiflung. Ach, da, endlich, gemütlich auf Omas Ohrensessel! Ich wische über das Display. Paula! Paula ist meine BFF in Deutschland. Ohne sie wäre ich ein Nichts, ein Niemand. Stimmt so natürlich nicht. Aber wir kennen uns seit dem Kindergarten und haben alles miteinander gemacht, was man so machen kann. Gemeinsam von der Schaukel fallen und sich den Arm brechen, sich am Geburtstag an Schokoküssen überfressen und das Sofa vollkotzen, sich im Schwimmbad den übelsten Sonnenbrand aller Zeiten holen. Das schweißt zusammen. Paula hat die schönsten, strahlendsten blauen Augen, die ich je gesehen habe (Sekunde, die von dem Typ im Zug heute waren auch nicht ohne …). Sie ist klug und lustig und versteht mich. Außerdem ist sie Vegetarierin und isst nichts, was sie vorwurfsvoll anstarren könnte (Paula rettet sogar Nacktschnecken vor dem Zertreten- und Überfahrenwerden). Und sie hat mich gezwungen, mit ihr zu Zumba und anderen exotischen Sportarten zu gehen, weil sie das für gesund hält. Noch mal Ping.

Wg?, steht da.

Guuut. (Ist ein bisschen gelogen, aber egal.) Dir?

Auch gut. Wie war der Flug?

Nich so doll.

:O Alles kuhl in England?

(Ob ich’s hier so wundervoll finde, kann ich in einer SMS nicht ausdrücken. Also blitzschnell ausgewichen.)

Denke an dich. Vermisse dich.

Ich dich auch :D Wmdg?

Hab gerade das ganze Haus geputzt. Melde mich.

XD Bis dann.

:* :* :*

Ach, Paula. Ich wollte, sie wäre hier. Das würde helfen. Ob ich hier jemals Freundinnen finden werde? Ehe der Kloß in meinem Hals wieder hochploppt, schiebe ich den Gedanken weit, weit von mir und wandere zurück in die Küche.

»Mama?«, frage ich.

»Ich bin oben, Lisa!«, höre ich sie rufen.

Also steige ich ins erste Stockwerk hinauf. Geradeaus die Treppe hoch ist mein Zimmer (das früher mal Mamas Kinderzimmer war), links Mamas (das früher mal Omas Schlafzimmer war) und daneben das Bad.

Neugierig sehe ich mich in den beiden Zimmern um. Das mit den Luftmatratzen war definitiv eine gute Idee. Die vorhandenen Betten sind buchstäblich auseinandergefallen. Die Matratzen hat irgendeine treu sorgende Seele vorsorglich entfernt.

Nachdem wir die Luftmatratzen aufgeblasen haben – glücklicherweise hat Mama eine Luftpumpe gefunden, die passt – , sind wir endlich so weit. Mama legt ein Laken, ein Kissen und eine Decke über meine Luftmatratze und ich lasse mich wohlig seufzend darauf nieder. Doch das Wohlgefühl hält nicht lange an.

Tausend Gedanken jagen durch meinen Kopf. Ich bin in einem halb verfallenen, inzwischen halbwegs auf Vordermann gebrachten Haus, in einem Kaff, das nichts mit meinen Kindheitsträumen zu tun hat, und ab morgen muss ich auf irgendeine mir komplett unbekannte Schule gehen, die den schönen Namen Fultonthorpe Grammar School trägt. An der ich keine Sau kenne.

»Was ist los?«, fragt Mama, die mein Gesicht wie immer gut lesen kann.

»Ich habe Schiss«, gestehe ich. Mama nickt wissend, kniet sich neben mich und streicht mir über die Wange. »Ich muss auf eine neue Schule, dazu noch eine englische, und habe nur zwei Monate Zeit, denen zu beweisen, dass ich im Unterricht mithalten kann«, bringe ich hervor. Meine Stimme klingt reichlich dünn. »Die werden wahrscheinlich zwischen kompliziertesten Einstein’schen Matheformeln und artgerechter Dinosaurierernährung alles lehren, was man in der Schule in Deutschland nicht mal buchstabieren könnte«, maule ich.

»Quatsch«, sagt Mama. »Du bist nicht doof, Lisa, du schaffst das schon. Es wird schon gut gehen.«

Mit einem Ruck setze ich mich auf. Und wenn nicht? Halleluja, das ist wunderbar. Ich muss ganz schnell vor aller Augen mit Gewalt beweisen, dass ich kein Volldepp bin, sonst fällt die Axt. Ach, ich liebe diese Spannung am Rande des Abgrunds …

Mama drückt mich sanft, aber bestimmt auf die Luftmatratze zurück und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann steht sie auf und macht das Licht aus.

»Gute Nacht«, sage ich und fühle schon, dass meine Stimme mitten im Satz leiser wird.

»Schlaf schön«, sagt Mama und stiehlt sich aus dem Zimmer.

»Du auch.«

Barmherzige Stille.

Mitten in der Nacht wache ich auf. Wo bin ich, was bin ich, wer bin ich? Mühsam kommt mein Bewusstsein auf Trab. Moment … wie war das? Schön nachdenken. Treppe rauf, mein Zimmer geradeaus, Mamas Zimmer links hinter der Flurkurve. Dahinter das Bad. Gut, ich weiß wieder, wo ich bin. In der Mitte von Nirgendwo, auf einer schlecht aufgeblasenen Luftmatratze, die mehr Luft gelassen hat, als mir lieb sein kann, während meine Mutter mich von nebenan vollschnarcht wie drei Käfige voller Bären. Das ist der Stand der Dinge, okay. Aber dann wird mir klar, dass das nicht der Grund ist, weshalb ich aufgewacht bin. Was, bitte, ist das? Vom Dachboden her höre ich ein merkwürdiges Geräusch. Gibt es hier Tiere? Marder? Waschbären?

Werwölfe?

Auf Zehenspitzen schleiche ich über knackende Dielen durch das dunkle Haus und kann nicht aufhören zu zittern. Ich steige sachte die schmale Treppe hinauf, mehr eine Art Leiter, die rechts neben meinem Zimmer zum Dachboden führt. Obwohl ich total vorsichtig bin, knarrt sie trotzdem markerschütternd. Ich reiße mich zusammen und ignoriere die todverheißenden schwarzen Winkel des Hauses. Dann halte ich inne und lausche. Nichts. Oder? Durch die Tür zum Dachboden scheint ein Lichtschimmer zu dringen. Ich erstarre und blicke gebannt auf den flackernden Schein, der schlagartig erlischt. Plötzlich ist es stockfinster, als wäre da nie ein Licht gewesen. Panik.

Panik?

Lisa, du spinnst, versuche ich mich selbst zu beruhigen und taste mich mit butterweichen Knien die Leiter wieder hinunter. Knarr. Oh Gott. Das ist zu viel für meine Nerven. Diese Art Gruseleffekte haben mir gerade noch gefehlt.

Immer noch zitternd lege ich mich zurück auf die luftleere Luftmatratze. Was war das denn? Gab es einen guten Grund für Oma, mir den Dachboden zu verbieten? Ach, Unsinn, ich war einfach zu klein.

An Einschlafen ist nicht mehr zu denken. Denke ich. Schon knipst es mich, Gott sei Dank, aus.

Am nächsten Morgen muss ich auf der Luftmatratze, die kurz davor ist, ihr Leben auszuhauchen, erst mal meine schmerzenden Knochen sortieren. Ich nehme mich trotz mörderischer Müdigkeit zusammen und überlege, welche Klamotten ich an meinem ersten Schultag tragen sollte. Ich durchwühle meinen immer noch feuchten Koffer, der neben Mamas altmodischem Schreibtisch auf ihrer durchgesessenen Jugendcouch liegt (hoffentlich kommt der Möbeltransporter aus Deutschland heute tatsächlich in Cliffmore an, ehe ich hier selbst zur Antiquität mutiere). Hmm, mal sehen … Etwas Unauffälliges, um abzutauchen? Das Waisenhauskleid, das Mama so süß findet? Was Neutrales, um erst mal zu klären, was da so getragen wird? Die nicht ganz so engen Jeans, ein weißes T-Shirt, Ende? Die Haare glatt und offen, wie die Natur es vorgesehen hat? Nee. Ich entscheide mich für ein einfarbiges Top, ein schulterfreies Shirt, meine Lieblingsjeans und die neue Jacke, die Papa mir letzte Woche noch spendiert hat.

Mama lacht, als ich nach unten in die Küche komme.

»Was ist los?«, frage ich und sehe an mir hinunter. »Irgendwas komisch?«

Erst will sie es mir nicht sagen. Dann fällt ein Stichwort, das mich schlagartig wach werden lässt. Was soll das heißen, Schuluniform? Glaube ich nicht. Ich esse hastig ein paar Cornflakes.

»Lisa, du musst los! Der Bus fährt gleich.« Mama wirft einen Blick auf die Küchenuhr.

Ich schnappe mir noch einen Müsliriegel für den Weg, küsse Mama auf die Wange und marschiere los. Sie wollte allen Ernstes mitkommen und mich hinbringen. (Hallooo? Da hätte ich ja gleich ein T-Shirt mit der Aufschrift Loser. Bitte mobben! anziehen können.) Außerdem sollen heute die Möbel geliefert werden und sie muss zu ihrer neuen Firma und ihren Dienstwagen abholen.

Das Wetter ist windig, aber es regnet dankenswerterweise nicht, sodass ich zur Abwechslung trockenen Fußes zur nahe gelegenen Bushaltestelle komme. Der Bus ist pünktlich und fährt erst durch kilometerlange Felder, ehe er buchstäblich durch die halbe Stadt zuckelt. Er ist voll mit trübe dreinschauenden Erwachsenen, die sich garantiert unbändig auf ihren Arbeitstag freuen. Dazu eine ganze Reihe rotznäsiger Kleinkinder mit ihren hoch motivierten Müttern auf dem Weg zum Kindergarten. Die lieben Kleinen haben offenbar nur ein Ziel: sich gegenseitig umzubringen. Ein munteres Herumgeschubse ist entbrannt. Mein streng eingeworfenes »Stop it!« interessiert die kleinen Killer nicht. Leider bekomme ich erst in letzter Sekunde mit, dass ein bulliges Kleinkind einem schmächtigen Jungen die Brotbüchse entreißt und in die Luft wirft. Zirkusreif fange ich die Büchse, den herausfliegenden Apfel und das Pausenbrot auf und hindere gleichzeitig den Bully daran, den Kleinen zu massakrieren. Bedauerlicherweise verliere ich bei meinem akrobatischen Akt das Gleichgewicht und sehe mich schon mit Getöse zu Boden fallen, als mich ein kräftig aussehender Mann mit schwarzem Rauschebart auffängt und wieder auf die Füße stellt.

»Danke!«, stoße ich keuchend hervor.

»Gern geschehen«, antwortet er mit freundlichem Blick und setzt sich wieder auf seinen Platz.

Ich ordne meine Klamotten und verpasse Bully eine allerletzte Warnung. Dann starre ich nach draußen auf die rotbraunen Klinkerfassaden der Wohnhäuser und Bürogebäude, die vor dem Busfenster vorbeiziehen. Womit habe ich das nur verdient? Wo bin ich hier nur hingeraten? Die Welt der Endzeit? Kann nur besser werden. Oder?

Vor einem burgartigen Tor, das eine erstklassige Filmkulisse für ein mittelalterliches Fantasyspektakel abgeben würde, hält der Bus. Es quellen lauter dunkel angezogene Schüler heraus (tragen die etwa gemeinsam Trauer, weil sie zur Schule müssen?), die ich bisher nicht wahrgenommen habe, dazu der Vollbart und ich. Sie strömen munter durch das mächtige Tor, während ich mir staunend die Burg anschaue, die sich hinter einem gigantischen Platz entfaltet. Die Schule ist ein riesiger grauer Uralt-Sandsteinbau, der schon mal bessere Tage gesehen hat. Er ist weiträumig mit Efeu zugewuchert, und es grenzt an ein Wunder, dass er von dem darin wohnenden Ungeziefer noch nicht weggetragen wurde. Massen an Schülern ziehen an mir vorbei, alle in (OMG, jetzt kapiere ich erst, Mama hat leider überhaupt nicht übertrieben!) Schuluniform. Um mich herum nichts als weiße Hemden, dunkelblaue Pullover und Schulkrawatten (Schulkrawatten!). Die Jungs in langen schwarzen Hosen, die Mädchen in knielangen schwarzen Röcken. Es ist die modische Hölle.

»Na, heute schon jemanden verstümmelt?«, fragt mich mitten auf dem Platz jemand von hinten.

Ich drehe mich um und sehe den Jungen aus dem Zug vor mir. Oh Gott, ist der süß oder ist der süß? Wie schafft er es, dass ihm sogar diese bescheuerte Krawatte steht? Und diese Haarwelle, das ist doch nicht natürlich. Geht der täglich zum Friseur? Der Junge ist rundherum perfekt, ohne affig zu wirken. Mein Mund wird trocken.

»Ben Davis«, sagt er und drückt mir die Hand.

»Lisa Lorenz«, flüstere ich und versuche, meine Gesichtsfarbe unter Kontrolle zu halten. Funktioniert natürlich nicht. Kreisch.

»Wie bitte?«, fragt er.

»Lisa Lorenz«, wiederhole ich tapfer.

»Ah, deutsch«, sagt er, »cool. Wäre ich nicht draufgekommen. Dein Englisch hört sich gut an.«

»Danke für das Kompliment«, sage ich und freue mich wie dumm. »8 a?«, frage ich knapp. Ich bin zwar zweisprachig aufgewachsen, aber mein Englisch hat sich gerade spontan auf mysteriöse Weise verabschiedet.

Er erklärt mir, wo ich hinmuss, um mich anzumelden und meine eigene Schuluniform abzuholen. »So lassen sie dich nicht rein«, sagt er, interessiert meine Klamotten musternd.

»Muss man diese Wahnsinnsuniform immer tragen?«, will ich wissen.

Er grinst. Oh mein Gott, Grübchen hat er auch noch!

»Wirst du schon sehen. Was meinst du, was die alle so in ihren Taschen haben? Sachen zum Wechseln nach der Schule.«

Er zeigt auf die Mädchen, die an uns vorbeigehen. In dem Moment steuert eine Girlie-Gruppe auf ihn zu, im Mittelpunkt eine übertrieben gestylte Brünette.

»Mach dich nicht schmutzig, Ben«, höre ich sie sagen. Sie schafft es, sich im Vorübergehen in seinen Oberarm zu verkrallen, um die Besitzverhältnisse zu klären.

»Bitch«, denke ich, oder vielleicht sage ich das auch, denn er zuckt zusammen.

In diesem Moment ist ein Mann an unserer Gruppe vorbeigekommen, den ich schon einmal gesehen habe. Richtig, der Rauschebart aus dem Bus.

»Guten Morgen, Dr. Walker«, sagt der Bitch-Kongress im Chor.

»Guten Morgen«, sagt Dr. Walker und geht weiter.

Geht’s noch peinlicher? Ein Lehrer! Da habe ich ja eine tolle Vorstellung hingelegt – Lisa Lorenz, übereifrige Rächerin gemobbter Kleinkinder. Fantastisch.

»Wir sehen uns, ich bin in deiner Klasse«, stößt Ben hervor und schon ist er verschwunden.

Ich staune. In meiner Klasse? Ist er dafür nicht viel zu alt?

Immer mehr Uniform-Freaks laufen über den Schulhof. Das ist krasser als zu Halloween. Ich stehe da, mein Herz pumpt, und ich denke: Muss ich da jetzt wirklich, wirklich rein? Ich glaube es einfach nicht, und als mein Körper sich gegen meinen Willen in Bewegung setzt, weiß ich, dass ich dem Untergang geweiht bin.

Nachdem ich durch zahllose düstere Gänge geirrt bin, die nach ranzigem Bohnerwachs riechen, lande ich pflichtgemäß im Sekretariat des Direktors. Dort sitzt im Vorzimmer Lydia Whippleworth (sie hat tatsächlich ein eigenes Namensschild), eine verblühte Schönheit, die einen türkisfarbenen Angorapullover trägt, der Flusen wie Pusteblumen um sich verbreitet. (Wie viele Angorakaninchen mussten ihretwegen einen sinnlosen Tod sterben? Paula würde zu viel kriegen, garantiert.)

»Wenn du diesen Gang entlanggehst, dann kommst du zur persönlichen Bibliothek des Direktors«, erklärt sie mir in einem gurrenden Tonfall. »Mr Hutton-Smith weilt dort gerade zu persönlichen Studien.«

Mann, Mann. Irgendwie muss ich in eine Zeitreise geraten sein. Vorwärts in die Vergangenheit.

Ich bedanke mich artig und laufe den düsteren Gang entlang. Endlich lande ich bei der gesuchten Bibliothek. Ich reiße mich zusammen und klopfe. Die mächtige Holztür scheint das Klopfen zu schlucken. Keine Reaktion. Ach, was soll’s. Ich hämmere mit der Faust gegen die Tür, dass es durch die ganze Schule hallt. Nichts. Kurzerhand stemme ich die Tür mit der Schulter auf und werfe einen Blick in den riesigen Raum. Wände vier Meter hoch, Schreibtisch und Stühle uralte Eiche, von Hagrid auf Hogwarts persönlich geschnitzt. An der Wand ein überlebensgroßes Bild der mürrisch dreinblickenden Queen Elizabeth II., zum Fürchten. Im Gegenlicht der mannshohen Fenster entdecke ich Direktor Alfred Hutton-Smith. Ich habe Angst, mich zu rühren, doch er winkt mich mit einer knappen Bewegung seines dürren Zeigefingers näher und vor mir entfaltet sich das Inbild unangreifbarer Autorität. Alfred-nenn-mich-bloß-nicht-Fred Hutton-Smith hat ein Gesicht wie ein melancholisches, aber beißfreudiges Frettchen.

»Lisa Lorenz«, sagt er. »Ah ja.« Das klingt so unheilträchtig, dass ich in meinen Grundfesten erbebe. (Ich passe mich gerade dem Stil meiner Umgebung an.) Das Erste, was er mir erzählt, ist, dass die Regeln hier ganz und gar anders sind als in Deutschland. Die Schule gibt viel auf ihre Tradition, die noch mal zweihundert Jahre älter ist als der verschnörkelte, zugewachsene Kasten, in dem sie untergebracht ist.

Sein Trick ist seine sanft klingende, leise Stimme, mit der er einen zwingt, die Ohren so weit wie möglich aufzuklappen, um mitzukriegen, was er sagt.

»Das Zauberwort, mein Kind, ist Disziplin. Verstehst du?«, sagt er mit Engelsstimme. »Wer die Regeln verletzt, ist raus. Wer sich zusammenreißt, drin. Ganz einfach. Verstehst du?«

Jawohl, ich verstehe. Wofür hält er mich? Wenn dieser Privatvortrag dazu vorgesehen ist, mich einzuschüchtern, kann ich nur sagen: Es funktioniert. Ich sehe ihn an und nicke. Das gefällt ihm.

»Sehr gut. Wir verstehen uns. Exzellent.«

Ich nicke noch einmal. Sicherheitshalber. Es gefällt ihm immer noch. Dann ist die Audienz abrupt beendet. Ich kriege kaum mit, wie das passiert ist. Sein plötzliches eisiges Schweigen und der kalte Blick aus seinen Nagetier-Knopfaugen müssen das Signal sein. Höflichen Unsinn stammelnd, ziehe ich mich im Rückwärtsgang zurück.

Als ich mich vor der zentnerschweren Bibliothekstür wiederfinde, frage ich mich, was ich von dieser filmreifen Szene halten soll. Ich beschließe zu verdrängen, was zu verdrängen ist.

Nächste Station ist der Raum, in dem die Uniformen ausgeteilt werden.

Nach einem Irrweg durch (erraten!) weitere düstere Gänge, komme ich in der Kleiderkammer an. Auf meinem Weg durch das Gebäude beschleicht mich dasselbe mulmige Gefühl, das ich letzte Nacht auf dem Dachboden hatte. Ich habe mein Leben nicht mehr im Griff. Die ganze merkwürdige Atmosphäre in diesem fremden Land mit seinen seltsamen Sitten und Gebräuchen und düsteren Traditionen fängt an, mich zu überwältigen.

Die Kleiderkammer befindet sich im Keller und riecht sowohl nach ranzigem Bohnerwachs als auch nach abgestandenen Mottenkugeln. Sie beherbergt zwei Frauen im Pensionsalter, die mit ihren straff hochgezogenen Haarknoten und den tiefschwarzen Kittelschürzen wie Zwillinge aussehen. Tweedledum und Tweedledee in Trauerkleidung. (Das wäre was für Paula, die auch viel Sinn für Schönes hat.)

»Schicke Sachen, die du da trägst«, sagt die eine und fängt an zu kichern.

»Schade, dass es mit der Herrlichkeit jetzt vorbei ist«, pflichtet ihr die andere bei und stimmt eine Art Keckern an.

Scherzkeks Nummer eins knallt ein Kleiderbündel auf die Ausgabetheke. »Alles für dich.«

Gut organisiert sind sie hier, das muss man ihnen lassen. Sie haben mir mit einer Uniform in meiner Größe aufgelauert. Die auf gar keinen Fall auf wie auch immer geartete Weise geändert werden darf.

Nummer eins sieht mich an und merkt, dass etwas mit mir nicht stimmt. Mein verstörter Gesichtsausdruck? »Wir haben sie erschreckt«, sagt sie.

»Wir haben sie erschreckt?«, fragt Nummer zwei.

Nummer eins nickt nachdrücklich und streckt die Hand aus. »Lisbeth.«

Ich sehe sie an und gebe ihr zögernd die Hand.

»Siehst du, wir haben sie erschreckt«, sagt Lisbeth.

»Oje«, sagt die andere und streckt ebenfalls die Hand aus. »Penelope.«

»Lisa«, sage ich und schüttle auch ihr die Hand.

»Nenn mich Penny.«

»Nenn mich Libby.«

»Lisa«, wiederhole ich.

»Wir wollten dich nicht erschrecken, cutie pie«, versichert mir Lisbeth. (Wie jetzt, ich bin eine reizende Pastete?) »Es ist nur schon so schrecklich lange her, dass sich jemand hierher verirrt hat.«

»Wir sind froh, dass wenigstens du gekommen bist. Da waren wir wohl zu heiter, was, Libby?«

Lisbeth nickt erneut. »Du kannst dich bei uns umziehen. So schicke Sachen hast du … Aber die Uniform wird dir bestimmt gut stehen, my duckling!« (Jetzt bin ich also eine Ente?!?)

Sie führen mich in eine Garderobe mit einem hollywoodmäßigen Frisiertisch. Dann ziehen sie sich diskret zurück und ich werfe mich in meine Uniform. Ich sehe aus wie eine Fehlbesetzung aus dem neunzehnten Jahrhundert und rieche dermaßen streng, dass sich keine todesmutige Motte auch nur einen Kilometer weit in meine Nähe trauen würde. Schon stehen Libby und Penny neben mir und bestäuben mich mit einem Parfüm, das mich nach Schneeglöckchen duften lässt.

»Danke«, sage ich gerührt.

»Vergiss uns nicht«, flöten sie im Chor, »komm uns wieder besuchen.«

»Natürlich«, sage ich, »bis bald.«

Ich ziehe winkend weiter und frage mich heute schon zum zweiten Mal, ob ich nicht im falschen Film gelandet bin. Wobei ich die Szene mit den zwei guten Seelen eben gar nicht schlecht fand.

Nach der Wanderschaft durch (genau!) weitere düstere Gänge erreiche ich den Klassenraum. Er wirkt so weit ganz normal, abgesehen davon, dass ausgestopfte Luchse und Auerhähne (oder was für Viecher das auch immer sein sollen) auf den Schränken herumstehen. Das ist alles reichlich verstaubt und es riecht nach scharfen Reinigungsmitteln. Nasenschleimhäute werden in dieser Umgebung bis zum Anschlag strapaziert, so viel steht nach meinem Rundgang fest. Meine Mitschüler sind auf die Schnelle in ihren unterirdischen Uniformen nicht recht unterscheidbar. Einer davon ist jedenfalls ein Idiot, der seine Popel frisst.

»Tim Hobson-Harrington«, schreit ein Mädchen neben ihm, »du Ferkel!« (Wie kann man bitte so heißen? Das muss doch schiefgehen!)

Irgendwo müsste doch wenigstens Ben sein. Ich sehe mich um und entdecke ihn in der hinteren Ecke, umringt von drei Mitschülern, die an seinen Lippen hängen. Er sieht zu mir rüber, wedelt mit seiner Krawatte und reckt den Daumen. Ich lächle, wechsle nur ganz unmerklich die Farbe und freue mich, dass ich offenbar in der Uniform nicht komplett daneben aussehe.

Ich will mich gerade auf einen freien Platz setzen, schon taucht wie aus dem Nichts die brünette Zicke von vorhin auf, als hätte sie nur auf mich gewartet.

»Der Platz ist besetzt«, sagt sie von oben herab.

Ich sehe sie an und stelle fest: zu viel Lidschatten, falsche Lippenstiftfarbe und der Rock der Uniform ist heimlich um glatte fünf Zentimeter gekürzt. Das würde Libby und Penny garantiert schmerzlich treffen.