Der Flüchtling - Ludwig Habicht - E-Book

Der Flüchtling E-Book

Ludwig Habicht

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Die sturmbewegten Jahre 1848 und 1849 hatten viele Tausende im deutschen Vaterlande entwurzelt und in die Ferne getrieben. Die meisten, die in ihrer schäumenden Begeisterung für die Freiheit und ein noch unerreichbares Ideal mit den Gesetzen der guten alten Ordnung in Konflikt geraten, waren in die Schweiz oder nach England geflüchtet, um auf fremdem Boden nach tausend Entbehrungen und Kämpfen sich wieder eine Existenz zu erringen, oder völlig unterzugehen. Wer nicht durch irgend einen Zufall in die Schweiz verschlagen wurde, und wer besonders über keine großen Geldmittel zu verfügen hatte, der zog England vor. Dort, in dem Gewühl der Weltstadt, winkte doch für jedes Talent, für jede Arbeitskraft ein weiterer Spielraum, um sich Geltung zu verschaffen, zum wenigsten notdürftig zu behaupten. Unter den vom Schicksal nach London Verschlagenen befand sich auch ein junger Gelehrter ...

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Der Flüchtling

historische Krimis

Ludwig Habicht

idb

ISBN 9783961507238                      

Der Falschmünzer

Die sturmbewegten Jahre 1848 und 1849 hatten viele Tausende im deutschen Vaterlande entwurzelt und in die Ferne getrieben. Die meisten, die in ihrer schäumenden Begeisterung für die Freiheit und ein noch unerreichbares Ideal mit den Gesetzen der guten alten Ordnung in Konflikt geraten, waren in die Schweiz oder nach England geflüchtet, um auf fremdem Boden nach tausend Entbehrungen und Kämpfen sich wieder eine Existenz zu erringen, oder völlig unterzugehen. Wer nicht durch irgend einen Zufall in die Schweiz verschlagen wurde, und wer besonders über keine großen Geldmittel zu verfügen hatte, der zog England vor. Dort, in dem Gewühl der Weltstadt, winkte doch für jedes Talent, für jede Arbeitskraft ein weiterer Spielraum, um sich Geltung zu verschaffen, zum wenigsten notdürftig zu behaupten.

Unter den vom Schicksal nach London Verschlagenen befand sich auch ein junger Gelehrter, Doktor Willibald. Er war trotz seiner Jugend in die Paulskirche gewählt worden, und wenn er auch dort nicht als ausgezeichneter Redner hervorgeragt, so hatte man doch seinen tüchtigen Charakter, sein vielseitiges Wissen, seine edle Begeisterung für die Sache des Vaterlandes sehr geschätzt. Wie von einem solch jugendlichen Feuer- und Brausekopf zu erwarten war, hatte er auf der äußersten Linken gesessen, war dann, nachdem durch das Zurückweisen der Kaiserkrone seitens Friedrich Wilhelms IV. die Verwirklichung des deutschen Einheitstraumes vorläufig wieder in weite, nebelhafte Ferne gerückt schien, in verzweifelter Stimmung mit dem Rumpfparlament nach Stuttgart gegangen, hatte sich dem nutzlosen Aufstande in Baden angeschlossen und war endlich nach London geflüchtet, um dem preußischen Standrechte, mindestens jahrelanger Festungshaft zu entgehen.

Wohl war Dr. Willibald einer großen Gefahr glücklich entronnen, aber das war auch alles. Mit seinem Idealismus, seiner Schwärmerei für Poesie und Kunst, für die hohe Weisheit der Hegelschen Philosophie fühlte er sich angewidert in einem Lande, wo über den reichen grünen Fluren eine graue Nebeldecke hängt und aus tausend turmhohen Essen eine schwarzgemischte Feuersäule steigt, die ankündet, daß man sich im Mittelpunkt der industriellen Welt befindet. Ihm war nicht wohl unter diesen ewig klappernden Maschinen, unter diesem Zischen und Brausen von Dampf und Wasser, unter diesem Wogen und Treiben nimmer ruhender Geschäftigkeit, wo ihn kein Freundesauge grüßte und sich keine Hand mit dem tröstenden Zuspruch bot: »Fremder, ich habe eine Minute Zeit für dich, ich werde dir helfen.« Rastlos drängte alles vorwärts, ein ewiger Lärm, ein ewiges Treiben, jeden Augenblick wurde von fortstürmenden Millionen die Schlacht des Lebens geschlagen und Tausende sanken täglich unter den grimmen Streichen, um schwer verwundet, einsam und hilflos zu verkommen, während dieser Kampf aller gegen alle weiter tobte.

Wie hätte sich der junge Doktor der Philosophie behaglich fühlen sollen in einer Welt, die mit seinem früheren stillen Heimwesen im grellsten Widerspruche stand?

Er war von den romantischen Ufern des Rheins endlich hierher verschlagen worden, in die qualmende Riesenstadt, in der jeder, wie von Furien gepeitscht, jeden Augenblick um sein Dasein zu ringen schien. Und doch, wie unheimlich gerade ihn dies fieberhafte Geschäftstreiben berührte, es gab kein Zurück – es galt, sich hier ebenfalls eine Existenz zu schaffen. Die kleine Summe, die ihm zur Verfügung stand, war bald aufgezehrt, und nun mußte an eine geregelte Einnahme gedacht werden; aber wie die erlangen in dieser kalten, nur von Maschinen und Händen bevölkerten Wüste?

Die politischen Freunde, denen London ebenfalls eine Zufluchtsstätte geworden, waren über die Weltstadt verstreut und hatten ja alle noch in der unwirtbaren Fremde mit tausend Schwierigkeiten zu ringen, und die übrigen Parteigenossen, die mit ihren wilden Demokratenbärten die Hauptstadt Großbritanniens unsicher machten, flößten Dr. Willibald kein großes Zutrauen ein. Jetzt erst gewahrte er, welchen Schlamm die Bewegung in Deutschland aufgewühlt, welch rohe, wüste Gesellen hinter ihnen gestanden, deren ungestümes Drängen er selbst und seine Freunde so viel beachtet. Dort in Frankfurt waren ihm diese Leute als gute Patrioten, als glühende Freunde der Freiheit erschienen, und jetzt erkannte er zu seinem Schmerz, daß sich hinter der Maske des Patriotismus nichts weiter geborgen, als geistige Verlumptheit, rohe Selbstsucht und Gemeinheit. So lange diese wackeren Republikaner gehofft, beim Zertrümmern alles Bestehenden gute Beute zu machen, hatten sie redlich und eifrig zusammen gestanden: jetzt war der schöne Traum zerronnen, und nun trat die niederträchtigste Selbstsucht des einzelnen zu Tage, zeigte sich erst, aus welch verzweifelten Elementen die radikale Partei zusammengesetzt war.

Nach einigen schmerzlichen und bitteren Erfahrungen erkannte der junge Doktor bald, daß es für ihn keine gefährlicheren Feinde gab, als die deutschen Flüchtlinge, besonders diejenigen, die seinem Bildungsgrade nicht angehörten.

Vergeblich war all sein Bemühen, an irgend einer Lehranstalt eine Stelle zu erhalten. Schon 1848 hatten sich in Deutschland sehr viele unmöglich gemacht und waren nach London gegangen, um hier jeden erdenklichen Lehrplatz zu besetzen; den Nachzüglern des folgenden Jahres mußte es deshalb schon ungleich schwerer werden, irgend ein Unterkommen zu finden. Selbst als der junge Philosoph Privatunterricht in alten und neuen Sprachen, in verschiedenen Wissensfächern ankündigte, meldete sich niemand. Da fiel ihm ein, daß er ja in seinen Mußestunden mit Vorliebe Flügel gespielt und man ihm sogar einige Fertigkeiten nachgerühmt habe. Durch die vielen deutschen Flüchtlinge war plötzlich in England der Sinn für Musik geweckt worden; Dr. Willibald erließ daher in der »Times« einige dahin zielende Inserate und siehe da, sie hatten wirklich Erfolg. Die Kunst, der er nur flüchtige Stunden gewidmet, sollte ihn jetzt überm Wasser halten, während all die Kenntnisse, die er in jahrelanger, harter Geistesarbeit aufgespeichert, nicht im stande waren, ihm den kleinsten Verdienst zu verschaffen. Es war freilich für den jungen Gelehrten äußerst demütigend, aber seit seiner Flucht aus Deutschland war schon manches Ideal in Trümmer gesunken, was verschlug es da, wenn auch sein ganzes Dasein eine schiefe Richtung nahm? Wer ihm einst gesagt hätte, als er noch wohlbestallter Oberlehrer an einem Gymnasium war und von einem Lehrstuhl an der Universität träumte, daß er nach zwei Jahren sich mit Unterricht im Flügelspielen abquälen und noch froh sein würde, einige ungeschickte Schüler zu bekommen.

Die Engländer sind keine vorwiegend musikalische Nation, und wenn sie sich jetzt auf die edle Tonkunst werfen, so muß Fleiß und Ausdauer das fehlende Talent ersetzen. Auch Dr. Willibald hatte sehr mittelmäßige Schüler und unter ihnen war Mr. Templeton der mittelmäßigste. Er hatte nicht das mindeste musikalische Talent, mißhandelte das arme Instrument entsetzlich, aber mit der Zähigkeit eines Engländers suchte er der widerspenstigen Kunst etwas beizukommen, und sein frisches, blühendes Gesicht erglänzte, wenn es ihm endlich gelang, ein leichtes Stück ohne Fehler abzuhaspeln. Dr. Willibald hatte ihm offen und ehrlich gesagt, daß bei seinem Mangel an musikalischem Gehör das dereinstige Resultat mit der aufgewandten Mühe in keinem Verhältnis stehen würde; doch Mr. Templeton ließ sich davon nicht abschrecken; er verzog nur seinen ziemlich breiten Mund zu einem Lächeln und erklärte, daß seine Braut es gewünscht, er möge sie auf dem Flügel begleiten, und daß er nicht eher aufhören könne, als bis er diese Fertigkeit erlangt habe. Sie mußte sehr schön oder sehr reich sein, die diesen etwas schwerfälligen jungen Mann anspornte, im Schweiße seines Angesichts Musik zu treiben, dachte Willibald und wäre neugierig gewesen, die Braut Mr. Templetons kennen zu lernen, um so mehr, als die blaugrauen Augen seines Schülers sich ungewöhnlich belebten, wenn er von seiner Braut sprach, was in der Folge, als beide näher miteinander bekannt waren, öfter geschah. Der Engländer ist gegen Fremde äußerst mißtrauisch und zurückhaltend, aber wenn einmal das Eis gebrochen, dann kehrt er seine im Grunde offene und gerade Natur heraus, und wem er einmal seine Freundschaft zugewandt, der kann sich auf ihn in allen Lebenslagen verlassen.

Auch Mr. Templeton faßte nach einiger Zeit ein besonderes Zutrauen zu seinem Lehrer, um so mehr, als er ihn »respektable« fand, womit der Engländer noch mehr bezeichnen will, als achtungswert. Dazu kam, daß beide so ziemlich in einem Alter waren und der junge Mann an der gelegentlichen Unterhaltung des Doktors großes Gefallen fand. Auch Willibald begann sich für seinen schlechtesten Schüler zu interessieren, der wenigstens soviel andre gute Eigenschaften hatte. Er besaß einen tüchtigen, gesunden Menschenverstand, der freilich beinahe englisches Nationaleigentum genannt werden könnte, eine lebhafte Teilnahme für alles Wissenswerte und einen äußerst gutmütigen Charakter und, was seltener ist, er war frei von jenen nationalen Vorurteilen, die seine Landsleute so stolz und je nachdem hochmütig und unerträglich machen, ja Dr. Willibald wollte sogar an seinem Schüler »Gemüt« entdeckt haben, jenen wunderbaren Quell, der aus dem tiefsten Herzen entspringt und der andern Nationen fehlt – sie haben nicht einmal das Wort dafür. –

Mr. Templeton war der Sohn eines reichen Kaufmanns der City und er hatte, wie dies bei den Engländern die Regel ist, schon ein gut Stück Welt gesehen. Seine Lehrzeit hatte er in einem großen Hamburger Handlungshause zugebracht, dann war er nach Cuba, später nach Indien gegangen, ein Jahr hatte er in New York zugebracht und dabei war es ihm doch schon möglich gewesen, die für jeden Gentleman notwendige Reise nach dem Kontinente zu machen; er hatte den Rhein, die Schweiz, Italien gesehen und noch dazu ohne jene Gleichgültigkeit, mit der gewöhnlich von seinen Landsleuten diese »Reisearbeit« verrichtet wird, vielmehr bekundeten seine Mitteilungen, daß er überall Sinn und Verständnis für das Schöne mitgebracht, und waren auch seine Urteile nicht von einem durch Kunststudien geläuterten Geschmack diktiert, so verrieten sie doch einen klaren, unbefangenen Blick und ein warmes, lebhaftes Interesse.

Selbst seine äußerliche Erscheinung unterschied sich etwas von dem Stockengländer. Seine Gestalt war nicht so in die Länge gezogen, so steif und ungelenk, er war kaum von Mittelgröße, mehr gedrungen, die Hände und Füße für einen Sohn Albions merkwürdig klein, zuweilen wurden auch seine Bewegungen rascher und lebhafter. Trotzdem wich sein ganzes Auftreten von seinen Landsleuten nicht im mindesten ab; er war für gewöhnlich ebenso schweigsam, so ungelenk in der Unterhaltung, so blöde und zurückhaltend, wie sie alle, nur schien dies Benehmen weniger auf Charaktereigenschaft zu ruhen, vielmehr ein Resultat der Erziehung zu sein.

Dr. Willibald sollte endlich über die inneren Widersprüche in dem Wesen seines Schülers Aufschluß erhalten, denn Mr. Templeton teilte ihm eines Tages mit, daß seine früh verstorbene Mutter eine Deutsche gewesen sei. Nun wußte der Philosoph auf der Stelle, wie sich das seltsame Ding, das wir »Gemüt« nennen, in das Herz eines jungen Engländers verirrt. Die halbe Landsmannschaft fesselte ihn noch mehr an den trefflichen Menschen, der weiter keinen hervorragenden Fehler hatte, als daß er mit unerhörter Grausamkeit den Flügel mißhandelte und die schönsten deutschen Musikstücke arg verstümmelte.

Seltsam genug sollte der flüchtige Wunsch Dr. Willibalds, die Braut seines Schülers kennen zu lernen, bald in Erfüllung gehen. Eines Tages sagte Mr. Templeton am Schluß der Stunde mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit: »Doktor, ich bin mit Ihnen sehr zufrieden« und er schüttelte ihm kräftig die Hand. Der Gelehrte machte nur ein verwundertes Gesicht; bezog sich die Zufriedenheit seines Schülers auf den genossenen Musikunterricht, dann mußte er sich selbst gestehen, daß derselbe die kläglichsten Fortschritte gemacht.

»Ich habe gestern zum erstenmal mit meiner Braut vierhändig gespielt«, fuhr Mr. Templeton wohlgefällig fort, »und sie war ganz erstaunt, daß ich es doch so weit gebracht habe.«

»Hm«, machte Willibald.

»Ja, lieber Doktor, Sie müssen nicht vergessen, daß es meine Braut für völlig unmöglich gehalten hat«, erklärte der junge Mann weiter und zeigte lächelnd seine wohlgepflegten Zähne. »Meine zukünftige Schwägerin vollends hat arg über mich gespottet, sie meinte stets, daß man eben so gut den Truthahn zum Kammersänger abrichten könne, und da Ihnen doch dies Kunststück gelungen, will sie bei Ihnen ebenfalls Stunde nehmen.«

»Hat sie noch niemals Unterricht gehabt und warum will sie erst jetzt damit anfangen?« fragte Willibald.

»Weil sie sich so wenig musikalische Talente zuschreibt, wie mir selbst, und da Sie trotzdem mir etwas beigebracht haben, meint sie, daß mein Musiklehrer ein Zauberkünstler sein müsse, der ihr auch den harten Schädel zurecht setzen werde.« –

»Ich habe das wenigste Verdienst dabei, denn Sie haben mit seltner Ausdauer geübt«, entgegnete Willibald ablehnend.

»Seien Sie nicht bescheiden«, erwiderte Mr. Templeton, »wie sagt denn Ihr großer Goethe?« und seine prächtigen Zähne kamen wieder zum Vorschein.

»Aber ich verspreche mir von diesem Unterricht nicht viel«, warf der Doktor ein, »solch jungen Mädchen fehlt gewöhnlich Lust und Liebe zur Sache, sie möchten alles im Fluge erlernen, und das ist dann eine undankbare Aufgabe.«

»Ah, Mr. Willibald, machen Sie keine Umstände, es nützt Ihnen doch nichts«, entgegnete sein Schüler mit einem gutmütigen Lächeln, hinter dem sich die Hartnäckigkeit des Engländers barg, »ich hab ihr den tüchtigen Lehrer versprochen und ich muß Wort halten. Übrigens ist der Vater meiner Braut auch ein Deutscher, obwohl er, offen gestanden, nicht gerade die beste Meinung von seinen Landsleuten hat.«

Der Doktor mochte nicht gestehen, daß er hier in London beinahe zu denselben Ansichten bekehrt worden, und fragte nur: »Ist Ihr Schwiegervater auch erst vor kurzem eingewandert?«

»Nein, Waxmann ist schon länger als 25 Jahre in London«, war die Antwort, »und seine Töchter sind geborene, echte Engländerinnen, sie können nicht einmal Deutsch.«

»So treiben's die Deutschen im Auslande immer«, dachte voll patriotischer Entrüstung Dr. Willibald, »sie können in der Fremde nicht rasch genug alles aufgeben, ihre Sprache, ihre Sitten, um ja so bald wie möglich den Deutschen völlig abzustreifen und in der fremden Nation spurlos zu verschwinden.« – Mr. Templeton verschwieg noch dazu klüglich, daß es seiner neuen Schwägerin unendliche Mühe gekostet, die Einwilligung des Vaters abzuschmeicheln, der durchaus von einem deutschen Musiklehrer nichts wissen wollte, und nur der Umstand, daß er seinem jüngsten Töchterchen selten etwas abschlagen konnte, hatte die Sache so entschieden.

Mr. Templeton ließ seinem Lehrer keine Ruhe, und schon am andern Tage fuhren sie beide zu Mr. Waxmann hinaus. Auf einem jener kleinen, stillen Plätze – Squares genannt – die mit ihrem schönen Grün, den wohlgepflegten Bäumen und den traulich blickenden Häuschen wie freundliche Oasen aus dem grauen Weltgewirr hervorstarren, hatte dieser abtrünnige Deutsche ein Asyl gesucht und wenigstens durch die Wahl der Wohnung bewiesen, daß ihm der uns Deutschen nachgerühmte Sinn für die Natur und ihren Frieden nicht ganz abhanden gekommen. Es war wirklich still auf diesem Platze, kein Wagen rollte hier, selten nur kam ein Fußgänger des Weges, aus der Ferne hörte man dumpf das Geräusch der ewig rasselnden Räder von Piccadilly, dieser endlosen Fahrstraße des großen London.

Die Squares von London tauchen wirklich wie kleine freundliche Blumeninseln aus dem unermeßlichen Häusermeer empor. Sie bestehen aus einem breiten Viereck ruhiger, reinlicher Häuser, dessen Mitte ein umgitterter Rasenplatz mit Blumenbeeten und hohen, dichten Bäumen einnimmt, unter welchen zur Nachmittagszeit die Kinder spielen. Man lebt hier mitten in dem ununterbrochenen Getöse der Weltstadt, wie in kleinen, ländlichen Paradiesen.

Wie in jedem nur einigermaßen respektablen Hause Londons, empfing die Ankömmlinge ein Tiger, unter welch fürchterlichem Namen sich nichts weiter birgt als einer jener harmlosen kleinen Diener in blauen Jacken mit silbernem Knopfaufschlag an der Brust, wie sie fast jeder Herr von Stande hält.

Nachdem der Tiger die Besucher angemeldet, wurden sie in das Drawing-Room geführt, wie der Engländer sein Empfangszimmer nennt. Es nimmt regelmäßig die ganze Vorderfront des Hauses ein, und es ist das einzige Zimmer, welches nicht den Bewohnern desselben, sondern dem allgemeinen Verkehr gehört. Hier werden die Besuche empfangen und die Gäste versammelt, die zu einer Diner-Party oder einem Ball eingeladen werden. Der Thee wird hier serviert, und trotz der Teppiche, Damastvorhänge und Sammetmöbel, die den Boden beschweren und den Raum einengen, kommt es zuweilen sogar zu einem Tanze; freilich bekommen dies nur englische Beine fertig, die das Tanzen mehr als Marschieren auffassen.

Mr. Waxmann war allein im Drawing-Room und empfing die beiden Herren mit der ganzen Steifheit und Gefrorenheit eines Stockengländers. Auch seine Kleidung war bis in die kleinsten Einzelheiten den Mustern nachgeahmt, die ihn umgaben. Selbst sein schmales, blasses Gesicht hatte der ehemalige Deutsche in echt englische Falten gelegt, die deutlich Langeweile und Gleichgültigkeit ausdrückten. Seinen Schwiegersohn hieß er zwar ein wenig freundlicher willkommen als den Fremden; aber nach der ersten Begrüßung und den üblichen Höflichkeitsphrasen lehnte er sich in seinen Schaukelstuhl wieder zurück und versank in ein bequemes Schweigen, das eben nur ein Sohn Albions natürlich und nicht beleidigend findet.

Dr. Willibald fühlte sich von der Persönlichkeit seines Landsmannes durchaus nicht angemutet. Dieses völlige Aufgehen in einer fremden Nation kam ihm doch sehr gesucht vor. Obwohl er durch seinen Schwiegersohn wissen mußte, daß der Doktor ein Deutscher sei, hatte er ihn nur englisch angeredet und auf dessen eingeschaltete Bemerkung, daß er sich freue, in ihm einen Landsmann zu begrüßen, kein Wort erwidert. Auch das Gesicht des Herrn Waxmann gefiel ihm gar nicht; um den Mund lagerte ein harter verschlossener Zug, und die hellen blauen Augen hatten einen scheuen Blick. Sie schienen beständig auf der Lauer zu liegen, obwohl sie sich Mühe gaben, so kühl und gleichgültig wie möglich vor sich hin zu starren.

Mr. Templeton hatte sich's ebenfalls in seinem Stuhle bequem gemacht, kreuzte die Arme und litt unter der Schweigsamkeit seines Schwiegervaters nicht im mindesten. Mit stoischer Ruhe erwartete er das Erscheinen seiner Braut, während Dr. Willibald seine Lage durchaus nicht behaglich fand. Endlich öffneten sich die hohen Flügelthüren des Hinterzimmers und zwei junge Mädchen traten herein. Sie zeigten freilich auch dieselbe kühle, blöde Zurückhaltung, die englische junge Damen gegen Fremde stets als besten Wall aufwerfen, aber sie konnten es immer, ihnen hätte Dr. Willibald auch eine noch größere Kälte verziehen.

Die Älteste, die Braut Mr. Templetons, überragte nicht nur um einen halben Kopf ihre Schwester, auch an Schönheit konnte sich die Jüngste nicht mit ihr messen. Ihre hohe, schlanke Gestalt, das regelmäßige Gesicht mit dem rosig angehauchten Teint, das blonde üppige Haar, die kerzengerade, etwas ungelenke Haltung, das alles verriet die Engländerin, und doch lag in ihren tiefen, blauen Augen ein Ausdruck von sinniger Träumerei, der an ihre deutsche Abstammung erinnerte.

Die Jüngste konnte zwar auf klassische Schönheit keinen Anspruch machen, dagegen waren ihre feinen, beweglichen Züge interessant, und das frische, runde Antlitz hatte unendlich viel Anmut, ja in den zierlichen Grübchen der blühenden Wangen war sicher ein kleiner Schalk verborgen. Die echt englische Erziehung hatte diesem augenscheinlich lebhaften und heiteren Temperamente nur mit Mühe einen Dämpfer aufgesetzt. Dies zeigte auch bald ihr Benehmen. Sie war die erste, die sich nach der gegenseitigen Vorstellung, nach der langen Pause des Schweigens und mühseligen Versuchen, irgend ein gleichgültiges Gespräch anzuknüpfen, das allmählich zum eigentlichen Zweck des Versuches überleiten sollte, rasch entschlossen mit der Frage an Dr. Willibald wandte, ob er seine schöne Zeit für eine sehr ungelehrige Schülerin opfern wolle.

Diese Frage war sicher nicht nach dem Geschmack des Herrn Waxmann, denn er reckte etwas seinen Kopf aus der mächtigen Halsbinde und sah seine Tochter starr an, indem er sich ein wenig räusperte. Diese ließ sich von den Mißfallenszeichen ihres Vaters wenig beirren und bat jetzt Herrn Willibald artig, ob er nicht die Güte haben wolle, einmal den Flügel zu versuchen, da die Schwester schon immer geklagt, daß er nicht mehr recht stimmen wolle.

Der Doktor merkte wohl die Absicht, die sich unter dieser Bitte barg: aber sie kam von so blühenden Lippen und sie war mit einem beinahe schelmischen Augenaufschlag verbunden, daß er nicht »nein« sagen konnte, obwohl er sogleich begriff, wie man damit nur seine eigne musikalische Begabung, nicht den Flügel prüfen wolle.

Die kleine Gesellschaft begab sich jetzt, mit Ausnahme des Herrn Waxmann, in das Hinterzimmer, in dem ein großer, prächtiger Flügel aufgestellt war.

Willibald hatte die Beobachtung gemacht, die ihm auch von andern bestätigt worden, daß in England für den Familiengebrauch im Drawing-Room ein Musikstück nur dann Wert hatte, wenn es neu war. Überall, wo er Stunden gab, fand er Notenbücher mit der neuesten Quadrille, dem neuesten »Song«, einer Auswahl aus der neuesten Oper, und er war nicht wenig erstaunt, als er nur Sachen von Händel, Beethoven und Mendelssohn auf dem Pulte liegen sah. Fräulein Mary mußte also in der Musik einen feinen, durchgebildeten Geschmack besitzen. Deshalb wählte er auch eine Beethovensche Sonate, anstatt irgend ein Bravourstück vorzutragen, wie er es sonst wohl gethan haben würde. Als er dann sah, wie die Älteste mit wahrer Andacht zuhörte, auch die Augen der Jüngsten zu glänzen begannen, da fühlte er sich von diesem stummen Beifall selbst mit fortgerissen, und er trug die Beethovensche Musik mit einer Wärme und Begeisterung vor, wie er sie selbst seit langem nicht empfunden hatte.

Während des Spieles richtete Miß Mary ihre schönen, träumerischen Augen zärtlich auf ihren Bräutigam; die Beethovensche Musik versetzte ihre sonst so ruhige, leidenschaftslose Seele doch in raschere Schwingungen, und sie verriet ein wenig, wie warm und innig ihr Herz für den Geliebten schlug, wenn sie auch gewöhnt war, über ihr innerstes Empfinden den dichten Schleier der Konvenienz zu ziehen. Auch Mr. Templeton war jetzt ein andrer, seine Augen strahlten vor Glück und Seligkeit, er hatte die Hand seiner Braut ergriffen und zog sie zärtlich an seine Lippen. Das glückliche Paar hatte etwas entfernt vom Flügel hinter dem Rücken des Doktors Platz genommen; es glaubte sich unbemerkt und dachte nicht daran, daß der Spieler im nächsten Wandspiegel sie beobachten konnte.

Dr. Willibald begriff jetzt die Begeisterung seines Schülers, der, um seiner Braut zu gefallen, sich mit unerbittlicher Geduld mit der Musik abgeplagt. Diese edle, schöne Mädchengestalt verdiente wohl eine solche Aufmerksamkeit.

Nach Beendigung des Spieles war es Mr. Templeton, der mit seinen zierlichen, wohlgepflegten Händen zuerst kräftig Beifall klatschte, und während die Jüngste, Miß Harriet, diesem Beispiele folgte, saß die Älteste noch immer in stiller Seligkeit da und ließ die Töne in sich ausklingen.

»Ja, wer so spielen könnte!« rief die Kleine lebhaft, sie war dabei dicht an den Flügel getreten, und ihre Augen ruhten unwillkürlich auf den schlanken Fingern des Doktors, die solch herrliche Töne hervorgezaubert.

»Durch Lust und Liebe zur Sache werden Sie es lernen«, entgegnete Willibald, dem die Naivität der jungen Engländerin gefiel.

»Ach, diese Deutschen sind alle geborene Musiker, aber wir?!« – und über ihre blühenden Lippen schlüpfte eine Art Seufzer.

»Nun, Sie dürften wohl diese Begabung für die Musik geerbt haben, da ja ihr Papa auch ein –«

Miß Harriet legte erschrocken den Finger an den Mund: »Pst!« machte sie warnend und setzte dann errötend hinzu: »Papa hört nicht gern von seiner deutschen Abstammung, ich glaube, er hat es selbst vergessen, daß er aus dem Lande der Musik, der Träume, wie man sagt, auch der Philosophie, herübergekommen« sie lachte schon wieder und zeigte dabei eine Reihe der schönsten kleinen Zähne, die in ihrer Regelmäßigkeit einen wahrhaft entzückenden Anblick boten.

Über das Gesicht des Doktors flog ein Schatten. An was erinnerten ihn diese Worte des jungen Mädchens? An seine teure Heimat, an die Hoffnungen und Träume, die dort in Trümmer gesunken! . . . Über die ganze Erde war die Ansicht verbreitet, daß die Deutschen nichts weiter als ein Volk müßiger Träumer, das sich niemals zu einer kühnen That, zu jener einflußreichen Weltstellung aufschwingen würde, die ihm unbedingt zufallen mußte, sobald es sich nur einmal aus seiner philosophischen Beschaulichkeit aufraffen konnte . . . Schwerlich hatte ihn die junge Engländerin mit ihrer Antwort kränken wollen, es war ja die allgemeine Meinung, die sie ausgesprochen, und sie konnte nicht ahnen, daß sie ihn tiefer berühren würde, weil er an der Größe und Einheit seines deutschen Vaterlandes mit zu zimmern gesucht.

Da das junge Mädchen sein Schweigen ganz anders deuten konnte, so sagte er endlich nicht ohne Selbstironie: »Ja, wir hatten erst vor kurzem wieder einen recht herrlichen Traum und wurden sehr unsanft aufgeweckt; ich befand mich sogar beim Erwachen auf englischem Boden.« Er griff dabei, um seine Erregung vollends niederzukämpfen, einige Akkorde.

»Ah, man sagt, die Deutschen verständen wunderhübsch auf dem Piano zu phantasieren: dürfte ich Sie darum bitten?« rief die Kleine mit großer Lebhaftigkeit, und ihre braunen glänzenden Augen ruhten halb schüchtern, halb verwegen auf dem Antlitz des Fremden: »Ich habe so etwas noch nie gehört«, setzte sie mit einem reizenden Lächeln hinzu.

Einer solchen Aufforderung hätte wohl auch ein älterer Musiklehrer nicht widerstehen können. Dr. Willibald verneigte sich vor dem jungen Mädchen, warf einen fragenden Blick auf das Brautpaar und als auch dieses eifrig zunickte, begann er ohne weiteres Zögern. Er dachte an seine Heimat, den glänzenden Strom, an dem er seine Jugend verlebt, die Hoffnungen und Wünsche, die damals seine Brust belebt, und er ließ sich von der edlen Tonkunst in jene goldene, lachende Frühlingszeit zurücktragen. Wie süß, wie wonnig waren die Melodien, die von den lachenden, grünen Flüssen, den rebenumkränzten Bergen, der wilden Romantik erzählen, die jenen gesegneten Landstrich umspannen! Immer leiser, träumerischer wurden die Töne, es war das Wiegenlied der deutschen Nation . . . Plötzlich verloren sich diese weichen, einschmeichelnden Akkorde, es kam der Sturm. Aufbrausende Figuren wirrten durcheinander, und dann zitterte doch wieder ein weicher, schmelzender Ton hindurch, die Sehnsucht nach Harmonie; aber immer wilder rollten die Passagen, immer mehr verloren sich die weichen, träumerischen Klänge, und mit einer grellen Dissonanz schloß er endlich diesen stürmischen, glänzenden Reichstag der Töne.

Je weiter er gespielt, je mehr hatte er seine Umgebung vergessen und sich ganz in seine Phantasie verloren. Alles war wieder in ihm aufgetaucht, das Jüngsterlebte und Erlittene, der Schmerz um das deutsche Vaterland durchwühlte schärfer als je sein tiefstes Innere. Als er geendet, perlten Schweißtropfen auf seiner Stirn, eine Totenblässe bedeckte sein Antlitz. Die älteste Schwester war seinem Spiel in atemloser Spannung gefolgt, sie allein hatte es verstanden, was der Fremde in Tönen auszudrücken gesucht, und flüsterte einmal über das andre »wnnderbar!« vor sich hin. Die Jüngste dagegen hatte weniger auf das Spiel gehört; aber sie sah den träumerischen Ausdruck auf dem Antlitz des Doktors, als er seine Erinnerungen zum besten gab, gewahrte dann seine tiefe Bewegung, und ein Gefühl von seltsamer Teilnahme für den Fremden beschlich ihr junges Herz. Als Dr. Willibald aus seinen musikalischen Phantasien erwachte und den Blick zu ihr erhob, standen ihre Augen voll Thränen. Sie gab sich nicht einmal Mühe, sie zu verbergen, und sagte mit einem Versuch des Lächelns: »Nein, wenn die Musik so unglücklich machen kann, dann mag ich sie nicht lernen.«

»Fürchten Sie das nicht«, entgegnete der Doktor und bemühte sich, seine innere Erregung zu verbergen; »die Musik ist die mildeste Trösterin, sie hat für unser tiefstes seelisches Leid das meiste Verständnis.«

»Ja, wer sich sein ganzes Leben über so wunderbar mit ihr befreundet, wie Sie«, war ihre rasche Antwort.

»Glauben Sie das nicht«, entgegnete der Doktor, »ich habe die edle Tonkunst in den letzten Jahren arg vernachlässigt und erst hier in England wieder ihre Freundschaft aufgesucht.« Er hatte die Kleine nur ermutigen wollen und gewahrte zu spät, daß er damit sein Geheimnis preisgegeben. Wer konnte wissen, ob er nicht bei seinen Schülern im Ansehen sank, daß er nichts weiter sei, als ein Musikdilettant.

Die Neugier des jungen Mädchens war durch diese Andeutung einmal geweckt, vielleicht wollte es auch nur das ihr angenehme Gespräch weiterspinnen, denn es fragte sogleich: »Sie waren nicht immer Musiker? Ich dachte mir's gleich; Sie sehen ganz anders aus, als der Lehrer, der Mary Stunden gab«, und dabei streiften ihre braunen Augen in reizender Unschuld prüfend über das Gesicht des Doktors.