Der Flügelschlag des blauen Morgenfalters - Gerald Knopp - E-Book

Der Flügelschlag des blauen Morgenfalters E-Book

Gerald Knopp

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Beschreibung

Am Ufer des Berliner Orankesees wird die junge Vietnamesin Elodie Nguyen erschossen. Das Verbrechen geschieht an einem regnerischen Herbstnachmittag im Oktober, auf den nahen Wegen ist deshalb kaum jemand unterwegs. Es gibt keine Zeugen. Die Ermittlungen der Mordkommission konzentrieren sich rasch auf den Ehemann der Ermordeten, da es Indizien gibt, die ihn als Täter in Frage kommen lassen. Er wird schließlich angeklagt und in Haft genommen. Hauptkommissar Konrad Hofer kommen allerdings zunehmend Zweifel an der Schuld dieses Mannes und er beginnt mit Hilfe seines Kollegen und Freundes Klaus Schirad erneut alle Umstände der Tat zu beleuchten. Auf dem Gelände einer stillgelegten Fabrik finden Abrissarbeiter zwei Monate später eine weitere Frauenleiche. Den Kriminalisten wird die Verbindung der beiden Fälle deutlich und ihre Zeugenbefragungen führen sie unter anderem in die Vorstandsetage eines Chemieunternehmens und damit auf die richtige Spur.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Flügelschlag

des blauen Morgenfalters

Gerald Knopp

Impressum:

Autor: Gerald Knopp, Berlin

Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen,

oder realen Begebenheiten wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

PROLOG

W

as sind zehn Minuten im Leben eines Menschen? Eigentlich nichts.

Eigentlich.

Für mich waren sie entscheidend. Denn danach war nichts mehr so wie vorher.

Was kann man in zehn Minuten tun? Einen Zeitungsartikel lesen, am Imbiss eine Currywurst verzehren, fünf bis zehn Bahnen in der Schwimmhalle zurücklegen oder von Brahms das Adagio ma moderato in B, Op. 18 genießen.

Werden all diese Dinge die Welt verändern? Wohl kaum.

Die endlos langen Minuten am Abend des 10. Oktober 1997, um genau zu sein: von 20.18 Uhr bis 20.28 Uhr, stellten mein Leben jedenfalls auf den Kopf. Danach legten sich meine angespannten Nerven nicht wieder zur Ruhe, ich hatte ständig die Ohren im Wind wie ein aufgescheuchtes Reh.

Alles Weitere geschah in zwanghafter Folge, unumkehrbar, der erste angestoßene Dominostein brachte die anderen unweigerlich zum Kippen.

Aber von vorn:

Ein Freitagabend, auf den Gängen des Bürohauses lag längst die Wochenendstille.

Nur ich bin so verrückt, um diese Zeit noch Akten durchzusehen, dachte ich. Bis die Schritte draußen an der nahen Treppe mich aufhorchen ließen. Der Wachdienst? Nein, Ehlers schleppende Stiefeltritte kannte ich, außerdem fehlte das Klappern der Schlüssel an seinem breiten Hosenbund. Und die Putzfrau hatte vor einer Stunde ihre letzte Runde absolviert.

Wer war um diese späte Stunde noch auf dem Flur unterwegs?

Vor meiner Tür hielten die Schritte an.

Ein zaghaftes Klopfen.

„Bitte.“

Das feiste Gesicht von meinem Kollegen Ahrlberg schob sich hinein. „Du bist noch hier?“

Typisch, dachte ich. Nie ganz präsent, aber die Nase immer vorneweg.

„Wie du siehst.“

Jetzt drängte sich auch sein fülliger Leib ins Zimmer und er drückte die Tür hinter sich zu. „Hab´ mir gedacht, dass du noch fleißig bist.“

„Letzte Korrekturen für die Konferenz morgen.“

„Ja ja, die Konferenz ... Es sollen einige Anträge auf der Tagesordnung stehen?“ Die wulstigen Lippen drehten sich nach außen.

„Allerdings. Es kann kaum so weitergehen.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Diese allgemeine Unruhe ist nicht gut, unsere Referenzen ...“

Er lachte knurrig, aber das Flackern der Augen verriet Furcht.

Dazu hatte er allen Grund, denn auch sein Posten stand zur Disposition. Und ich wusste aus zuverlässiger Quelle, dass Ahrlbergs Stuhl nicht nur gefährlich wackelte, sondern kippen würde. Morgen.

„Der Chef misst den Nachrichten aus Vinh zu viel Bedeutung bei …“

„So? Die Vietnamesen sollen Zweifel wegen unseres Projektes dort angemeldet haben. Ich weiß nichts Genaues, aber in Anbetracht unserer derzeitigen … schwierigen Situation …“

„Wir kriegen das Boot schon wieder flott. Flauten vergehen.“

„Wenn der Wind sich dreht. Aber dazu braucht es einen Wetterwechsel, das solltest du als passionierter Segler doch wissen.“

Sein breites Lächeln bekam einen gequälten Ausdruck und zwischen den Zähnen hing ein feiner Speichelfaden. Wie von einer Spinne gezogen.

Jan Ahrlberg hatte sich mit dem Kauf einer teuren Segeljacht vor zwei Jahren maßlos übernommen und war der Bank im letzten Monat die fällige Abzahlungsrate schuldig geblieben. Auch das wusste ich. Manche interessanten Informationen flatterten mir zu, ohne dass ich konkret danach gefragt hätte, einfach so. Viele hielten mich seltsamerweise für vertrauenswürdig, und mein Gedächtnis speicherte alles ab, denn Wissen konnte nie schaden. Alles war nützlich … zur rechten Zeit.

„Ich könnte die Bedenken der Herren aus Vinh zerstreuen, wenn ich noch einmal dorthin reisen würde.“

„Du, Jan?“

Er rieb sich über die gespannte Knopfleiste seines Hemdes. „Mit der Mentalität unserer asiatischen Freunde kenne ich mich aus …“

„Wir werden alles morgen auf der Konferenz besprechen.“

Sein Gesicht lief rötlich an. „Tue bloß nicht so förmlich! Vertraue mir und mache den anderen klar, dass sie nicht auf mich verzichten können. Deine Stimme hat einiges an Gewicht.“

„Du überschätzt meinen Einfluss.“

„Ganz bestimmt nicht!“

Ahrlbergs Hände stützten sich auf meinen Schreibtisch. „Wenn du mir nicht hilfst, erzähle ich ihnen von deinen kleinen, pikanten Geheimnissen.“ Seine wässrigen Augen glotzten mich lauernd an.

„Du drohst mir? Womit?“

„Ich habe mir letztens eine Annonce aus der Zeitung ausgeschnitten …“

Meine Hände wurden feucht. „Und?“

„Wir sollten uns … verständigen.“

„Geh jetzt!“

„Denk heute Nacht darüber nach.“

„Ich weiß absolut nicht, worauf du mit deinen Andeutungen hinaus willst. Verlasse bitte mein Büro!“

„Dieser Ausschnitt ist bei Gelegenheit griffbereit, und auch der Name zu der angegebenen Mobiltelefonnummer.“ Ahrlberg, dieses kleine dickliche Schwein, lächelte. Ihn für dumm zu halten war wohl ein Fehler. Ich verfluchte einmal mehr meine … Leidenschaft. Aber vor allem die Arglosigkeit in bestimmten Dingen.

Ohne zu überlegen zog ich wütend meinen höchsten Trumpf.

„Ich könnte auch von deinen Kontakten zu DHIMA Project berichten.“

„Das wäre gelogen, die gibt es nicht.“ Seine Stimme wurde heiser und ein Mundwinkel fiel herab.

„Du hast Anfang September mit dem Chef unseres größten Konkurrenten zu Abend gegessen. Das genaue Datum habe ich mir notiert …“

„Unsinn!“

„Monsieur Wog, ein gemütliches asiatisches Restaurant in Wilmersdorf. Wie passend, nicht wahr?“

„Wo …? Ich war nie dort!“

„Was wäre, wenn es Fotos gäbe?“

Seine Fingernägel schabten über die Kante des Tisches, dann trat er einige Schritte rückwärts. „Du …“

„Die DHIMA engagiert sich ebenfalls auf fernöstlichen Märkten.“

Jan Ahrlberg griff sich ruckartig mit einem tiefen Röcheln an den Hemdkragen und zurrte an seiner Krawatte. Von der hohen Stirn tropfte Schweiß. „Mein Herz!“

„Spiel mir kein Theater vor! Ich wollte dir bloß klarmachen, wo wir beide stehen.“

Seine Beine schlackerten und er sank in einen Sessel neben der Tür. „Das Spray, ich brauche mein Nitrospray!“

„Ein wenig frische Luft wird dir gut tun.“ Ich stand auf und klappte das Fenster an. Dann drehte ich mich zu ihm hin und sah in ein unnatürlich blassfahles Gesicht.

„Bitte! Ein rotes Fläschchen neben dem Telefon in meinem Büro.“

Konnte der flehende Ton vorgetäuscht sein? Langsam stieg die Angst in mir auf.

20.25 Uhr. Mit einem Plop rutschte der Zeiger auf den letzten dicken Strich vor Halb. Wer weiß schon, warum man sich bestimmte Dinge merkt.

„Hol mir doch endlich das Spray!“ Kaum noch ein Flüstern.

Ich rannte hinaus auf den Flur. Ahrlbergs Büro war zehn Türen entfernt. Mir schienen meine hastigen Schritte unglaublich laut.

Mattgelbes Stehlampenlicht beleuchtete seinen Schreibtisch. Ein Telefon, daneben das Spray und auf der Ablage ein geschlossener Aktenkoffer.

Hatte er den Zeitungsausschnitt dort drin?

Keine Zeit zum Nachschauen. Ich nahm die Flasche und eilte zurück.

Noch in der Tür stehend, bemerkte ich, dass aus seinem Mund blubbernd weißer Schaum quoll. Die Haut hatte sich bläulich verfärbt, der Brustkorb zeigte keinerlei Bewegung mehr.

Ein Notarzt hätte gerufen werden müssen, Maßnahmen zur Wiederbelebung wären notwendig gewesen. In meiner Hand lag kalt das lebensrettende Medikament …

Jan Ahrlberg starb – ich sah noch einmal auf die Uhr – genau um 20.26 Uhr, auf dem Sessel sitzend, in meinem Büro.

Und ich?

Ich tat einfach … nichts.

Warum?

Das kann ich jetzt nicht mehr sagen.

Meine linke Hand drückte leise die Tür ins Schloss, dann setzte ich mich und starrte ihn an. Überlegte und starrte.

In meinem Büro …

Konnte man späterhin feststellen, dass ich ihm nicht geholfen hatte? Dass er zu Tode gekommen war, weil …

Ahrlberg musste hier raus, das war klar. In sein Zimmer. Dort sollte man ihn finden. Herzinfarkt. Bedauerlicherweise war er wohl irgendwie nicht mehr in der Lage gewesen, sein Spray zu erreichen.

Plop: 20.27 Uhr. Es wäre töricht gewesen, zu warten.

Ich öffnete die Tür, griff dem schlaffen Körper von hinten unter die Achseln, bekam einen Arm zu fassen und zog den Toten über den Flur. Trotz seines Gewichtes ging es leichter als gedacht.

Glattpolierte Fliesen, kaum ein Geräusch.

Doch!

Ich hielt inne.

Musik aus einem der Räume, Lichtschein über der Schwelle.

Ich war nicht allein! Keine drei Meter von mir – von uns – entfernt saß ebenfalls noch jemand an seinem Schreibtisch und arbeitete. Wenn der jetzt herauskäme …

Dann würde ich niederknien und vorgeben, meinen Kollegen just in diesem Moment bewusstlos auf dem Gang vorgefunden zu haben.

Weiter!

Ich schleifte Ahrlberg in sein Büro neben einen Wandschrank, dessen Tür offenstand. Eine eindeutige Situation: Feierabend, Vorfreude auf den Abend, Herzklopfen womöglich, beim Greifen nach dem Mantel tot zusammengebrochen.

Griff in die Taschen der Kleidung: Schlüsselbund und Taschentuch. Ein letzter Blick durch das Zimmer. Ich hatte nichts weiter berührt. Die Lampe musste natürlich angeschaltet bleiben.

Der Aktenkoffer! Steckte in einem Seitenfach der Zeitungsausschnitt?

Die grünlich leuchtenden Ziffern der Uhr im Regal: 20.28 Uhr.

Vor zehn Minuten noch hatte ich in aller Ruhe Bilanzbeträge addiert.

Der Griff seines Koffers war mit weichem Leder ummantelt und lag warm in der Hand. Nicht leicht, aber Akten haben eben auch ihr Gewicht. Viel schwerer wog der Verdacht …

Ich musste jetzt schnellstens aus dem Haus! In der Hoffnung, niemandem zu begegnen.

Anziehen, Abschließen und über die hintere Treppe zum Parkhaus, dort war die Videokamera defekt und gab kein Bild zum Wachschutz. Das wusste ich von Ehlers.

Endlich saß ich im Auto, startete den Motor und bog Sekunden später in den abendlichen Verkehr ein.

Draußen! Endlich!

Alles nur ein böser Traum, oder …?

Erster Teil

I.

W

as ist das jetzt wieder für ein idiotischer Mist?“, erregte sich Kriminalhauptkommissar Klaus Schirad und zitierte einen Abschnitt des Rundschreibens der Polizeiführung laut, obwohl er allein im Raum war: „ … sind die einzelnen Serviceeinheiten angehalten, in Eigenverantwortung mit der Bildung eines Qualitätsmanagements zur Kontrolle und Verbesserung der Arbeitsleistungen …“

Kopfschüttelnd zerknüllte er das Blatt und warf es in den Papierkorb.

„In den Führungsetagen sitzen nur noch Geisteskranke.“ Er steckte sich eine Zigarette an und paffte dicke Rauchwolken ins Zimmer. „Da bekommt man wirklich Angst.“

Es klopfte an der halboffenen Tür. Hatice Özdekim, eine jüngere Kollegin, trat mit einem Zettel in der Hand ein. „Unsere Hilfe wird angefordert.“

„Worum geht es?“, fragte Schirad brummig.

„In einem Bürogebäude in der Uhlandstraße hat man einen Toten gefunden. Wahrscheinlich Herzschlag, aber der Notarzt und die Kollegen vom Streifenwagen wollen sich nicht festlegen …“

„Heutzutage will sich offenbar keiner mehr festlegen. Jeder scheut sofort vor irgendwelchen Entscheidungen zurück.“ Seine Hand wedelte in unbestimmte Richtung.

Sie zuckte mit den Schultern und strich sich ihre langen schwarzen Haare hinter die Ohren. „Du oder ich?“

„Hast du nicht gesagt, sie fordern uns an?“

„Wir müssen ja wohl nicht beide zu einem Bagatellfall ausrücken.“

„Da hast du recht. Ich habe aber keine Lust …“

„Konnte ich mir denken.“ Sie seufzte.

„… alleine dorthin zu fahren“, ergänzte er grinsend seinen Satz. „Lass uns schnell gemeinsam einen Blick auf den Herzpatienten werfen und dann holen wir uns auf dem Rückweg etwas zum Mittagessen.“

Ihr Blick glitt an seiner hohen, stämmigen Gestalt herab. „Einen Salat?“

Er hielt die Luft an und schob demonstrativ die Fingerspitzen unter den Gürtel.

Mit einem Lächeln reichte sie ihm den Zettel.

Der Hauptkommissar kneistete mit den Augen: „Diese Mikroschrift kann ja kein Mensch entziffern …“

„Mir scheint, du brauchst eine Brille.“

Er streckte den Arm weit ab. „B & A Technologien, was soll das heißen?“

„Der Name der Firma, die in diesem Gebäude in der Uhlandstraße ihren geschäftsführenden Sitz hat.“

„Ich habe noch nie etwas von denen gehört.“

„Ein Unternehmen der Chemiebranche. Sie produzieren Grundstoffe für die Herstellung von Kosmetika, Arzneimitteln …“

„Woher weißt du das?“

„Ein Blick ins Register, um nicht ganz unvorbereitet zu sein.“

Schirad sah seine Kollegin mit einem leisen Ausdruck der Bewunderung an. Hatice Özdekim war eine Kriminalbeamtin, die sich nicht mit der bloßen, allgemeinen Oberfläche von Informationen zufrieden gab. Sie suchte oft noch nach Details und Schattenspuren hinter den Erkenntnissen, die alle anderen schon zum Zurücklehnen veranlasste.

„Hast du auch die Jahresbilanzen parat, für den Fall, dass …“ Er ließ den Abschluss der Frage in der Schwebe.

„Ich werde mich heute ganz bestimmt nicht von dir aufziehen lassen.“

„Schade.“

„Bist du fertig? Können wir dann losfahren?“

Grummelnd deutete er mit der rechten Hand ein Salutieren an, als sein Handy auf dem Schreibtisch klingelte. Schirad beugte sich über das Display, um die Nummer zu erkennen. „Jetzt nicht, verdammt.“ Er steckte das piepende Telefon achtlos in die Tasche.

„Warum gehst du nicht ran?“

„Nicht mal hier habe ich meine Ruhe vor ihr …“ Er sah erschrocken auf.

Hatice lächelte. „Vor i h r?“

Nachdem er seinen Mantel gegriffen hatte, schob er sie sanft aus dem Zimmer. „Du hast nichts gehört. Wir müssen jetzt gehen.“

„Erzähl´ doch mal!“

„Vergiss die Autoschlüssel nicht.“

„Gibt es etwas, das du mir anvertrauen willst?“

„Nein.“

„Wer ist sie?“

„Kalle!“

Kalle war der Spitzname von Hatice Özdekim, von dem niemand der Kollegen so recht wusste, wie sie dazu gekommen war.

Das neckende Geplänkel nahm im Treppenhaus seinen Fortgang.

„… Eine Bekannte. Nichts von Bedeutung.“

„Gerade wir Frauen können in schwierigen Situationen einfühlsame Ratgeber sein.“

„Geschickte Umschreibung für pure, weibliche Neugier.“

„Kenne ich sie vielleicht? Verrate es mir doch!“

„Gib dir keine Mühe.“

„Eine kleine Andeutung … Ich schweige, ganz sicher …“

*

Der Morgen graute.

Wenn es hell wird, zerfällt der Traum in Nebelwölkchen und löst sich endlich auf ins Leere … Hatte ich gehofft.

So war es nicht. Das Licht des neuen Tages kam tastend und schüchtern noch durch die Fenster, aber das Bild blieb trotzdem und stand in seiner unfassbaren Klarheit deutlich vor mir.

Ich schaute noch einmal umher. Die Schränke, das Bild von Manet über dem Schaukelstuhl in der Nähe der Tür, die alte Uhr meines Großvaters an der Wand, die Couch … Mein Wohnzimmer – meine vier Wände der sicheren Zuflucht, mein Schneckenhaus. In der Mitte der Tisch, Kirschholz mit schwarzen Fliesen, eigentlich nichts Besonderes. Aber jetzt …

Auf diesem Tisch stand der aufgeklappte Koffer. Ahrlbergs Aktenkoffer.

Weiches Leder ... Und zwischen dem seidigen, flaschengrünen Futter lagen die Geldscheine. Ausschließlich solche mit dreistelligem Wert.

Exakt geschichtet von Rand zu Rand, hoch und dicht.

Ich hatte es in den langen Stunden der vergangenen Nacht bereits genau gezählt. Mehrmals und immer wieder, bis nun der Morgen graute …

Vor mir auf meinem Tisch lagen in dem Koffer: 2 500 000 DM.

In Worten: Zwei Millionen und fünfhunderttausend Deutsche Mark.

*

II.

W

ir sind alle sehr erschüttert!“, begrüßte ein hochgewachsener Mann mit grauem Haar die Beamten der Kriminalpolizei. „Mein Name ist Böhnke, ich bin der Firmenchef.“ Er war an einem Polizisten vorbei auf sie zugegangen. „Jan Ahrlberg, der Verstorbene, war einer unserer fähigsten und zuverlässigsten Mitarbeiter.“

Schirad und Özdekim nickten stumm.

„Ein schreckliches Ereignis, aber ich begreife nicht, wieso Ihre … Anwesenheit von Nöten ist …“

„Routine bei ungeklärten Fällen“, unterbrach ihn Klaus. „Wo finden wir den Toten?“

„Dritte Etage, ich darf Sie hinaufbegleiten.“

„Wir gehen mit unserem Kollegen von der Funkstreife. Falls sich Fragen ergeben, würden wir noch mal auf Sie zukommen. Sie sind weiterhin im Haus?“

Der Mann runzelte die buschigen Augenbrauen wie jemand, der keinen Widerspruch gewohnt war. „Heute Vormittag sollte eine wichtige Vorstandsbesprechung stattfinden.“ Er schob den Ärmel des schwarzen Jacketts ein wenig hoch und drehte seine Uhr in Blickrichtung. „Um elf … Alle Mitglieder sind im Tagungsraum versammelt, auch Kollegen, die Ahrlberg gestern Abend noch gesprochen haben …“

„Wie gesagt, falls Unklarheiten auftauchen, melden wir uns.“ Klaus und Hatice winkten den uniformierten Polizisten heran und gingen in Richtung Treppenhaus.

Oben bekamen sie von einem Rettungssanitäter der Feuerwehr den Leichenschauschein überreicht. „Der Notarzt ist schon wieder weg, aber neben seiner Unterschrift steht die Telefonnummer des Stützpunktes im Westend-Krankenhaus.“

Schirad überflog die ausgefüllten Felder: „Verdachtsdiagnose Myocardinfarkt, … und dann wird letztlich `Todesursache ungeklärt´ angekreuzt. Als ob wir nichts anderes zu tun hätten.“

Hatice hatte inzwischen den Leichnam Ahrlbergs untersucht. „Keinerlei Auffälligkeiten“, raunte sie. „Die Starre löst sich partiell, er scheint also schon in den gestrigen Abendstunden verstorben zu sein.“

Klaus warf einen Blick auf den massigen Körper, der neben der Tür vor einem Wandschrank lag. Er wandte sich an die Feuerwehrleute: „Habt ihr ihn dort gefunden?“

„Ja. In etwa derselben Position.“ Eine Geste zum Schreibtisch. „Er hätte quasi bloß den Arm auszustrecken brauchen, um Hilfe zu rufen oder an sein Herzspray zu kommen, die Sprühflasche steht dort neben dem Telefon.“

„Der Mann tritt an den Schrank und fällt plötzlich wie vom Blitz gefällt um?“ Die Kriminalbeamtin erhob sich und maß mit dem Blick die Distanz zum Tisch. „Keine zwei Meter.“

„Sekundenherztod“, brummte ihr Kollege. „Das, was sich die meisten wünschen: auf einmal wird es dunkel, und dann bist du auch schon im Jenseits.“

Sie schüttelte den Kopf. „Und vorher nicht die geringsten Beschwerden?“

„Kalle, komplizier das hier nicht unnötig!“

„Als mein Opa voriges Jahr seinen Infarkt bekam, lief er Stunden davor schon mit Beklemmungen in der Brust herum …“

„Dein Großvater hat eben die robuste Konstitution eines anatolischen Wildpferdes. Schau dir den hier an: übergewichtiger Managertyp. Wahrscheinlich hat er zum Stressausgleich vierzig Zigaretten am Tag geraucht. Die Situation ist klar und für uns gibt es keinen Handlungsbedarf.“

Sie hielt den Ausweis Ahrlbergs in die Höhe. „Der Mann war noch keine fünfundvierzig Jahre alt!“

„Meine Güte, was willst du denn?“

„Während du die Leute anforderst, die ihn in die Pathologie überführen …“

„Sektion?“

„Genau das hat der Notarzt angekreuzt.“

Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch.

Hatice hob ab. „Ja, hallo …“

Keine Antwort, aber ein leises Atmen am anderen Ende.

„Melden Sie sich!“

Es wurde aufgelegt.

„Hat sich vielleicht jemand verwählt“, meinte Klaus.

Sie reichte ihm das Diensthandy. „Ruf du die Leute vom Transport an. Ich rede derweil noch mit den Kollegen des Verstorbenen, nur der Vollständigkeit halber.“

„Dann tue, was du nicht lassen kannst. Aber spätestens in einer halben Stunde fahre ich …“

Hatice griff in die Tasche und ließ lächelnd die Autoschlüssel pendeln. „Womit?“

„Wenn es sein muss, bestelle ich mir ein Taxi.“

„Extraausgaben zahlt unser Dienstherr nicht.“ Im Vorbeigehen streichelte sie ihm über den Arm. „Du bist ein unverbesserlicher Brubbelkopf. Ich will mir nur ein klares Bild machen, bin gleich wieder da.“

*

Um kurz nach 09.00 Uhr rief mich Böhnke an und teilte mir mit, dass man Ahrlberg leblos in seinem Büro aufgefunden hatte.

„Jan? Das kann doch nicht wahr sein“, rief ich in den Hörer. „Gestern begegneten wir uns noch auf dem Gang …“

Ruhig bleiben, keine allzu übertriebenen sentimentalen Redewendungen!

„Wir treffen uns, wie vorgesehen, nachher im Tagungsraum.“ Kurze Pause. „Weißt du, ob Angehörige verständigt werden müssen?“

„Hier in Berlin gibt es keine Verwandten. Ich glaube, er hatte eine Freundin.“

„Kennst du ihre Adresse?“

„Nein.“

„Sollte man in solch einem Fall nicht auch die Ex-Frau benachrichtigen?“

Ich schwieg ratlos und versuchte meine Gedanken zu ordnen, die schon wieder in eine ganz andere Richtung abschweiften. „Macht das nicht die Polizei?“

„Kann sein. Also, bis nachher.“ Böhnke legte auf.

Der Koffer stand noch immer auf dem Tisch.

Das Geld … Wohin damit?

Meine Hände klappten zitternd den Deckel herunter und ließen die Schlösser in die Verriegelungsschlitze schnappen. Das rechte klemmte etwas, ich half mit dem Daumen nach. Vergoldetes, glattes Metall, auf dem im hereinfallenden Licht nun mein Fingerabdruck deutlich zu sehen war. Ich wischte mit dem Ärmel darüber.

Reiß dich zusammen und behalte einen kühlen Kopf!

Ich schob den Koffer unter die Couch und zog die Tagesdecke ein Stückchen tiefer, so dass man ihn von der Tür aus nicht sehen konnte.

Ganz unnütz, hier kommt niemand herein.

Noch einen Moment sitzen, um mich zu sammeln. Ein Kissen in den Nacken, entspannen, die Schultern kreisen … Erst jetzt kam die Müdigkeit. Ich dehnte meinen Körper und blickte zwischen den Knien nach unten.

Die Strahlen der Herbstsonne beleuchteten eine Schleifspur auf dem Staub des Fußbodens. Kaum wahrnehmbar, wenn man nicht wusste …

Meine Lippen bogen sich plötzlich zu einem Lächeln. Ich saß auf einem Schatz. Nur wenige Handbreiten unter mir lagen unglaublich viele Geldscheine, akkurat nebeneinander aufgeschichtet. Zweieinhalb Millionen Mark.

Ein Polizeiwagen fuhr gerade weg, als ich das Gebäude unserer Firma betrat.

Oben saßen schon alle mit Trauerminen um den ovalen Konferenztisch.

Ihr Heuchler, dachte ich. Keiner von euch konnte Ahrlberg leiden, und ihr wart bis vor wenigen Minuten bereit – natürlich ausschließlich der Geschäftsinteressen wegen –, ihn zu opfern und aus eurer Mitte zu stoßen.

Böhnke schüttelte mir stumm die Hand und wies auf einen freien Stuhl. Danach verließ er den Raum.

Wir übrigen sechs Anwesenden sprachen nachfolgend kaum ein Wort. Jeder vertiefte sich in seine Unterlagen. Ich saß dem breiten Fenster gegenüber und starrte nach draußen, wo sich graue Regenwolken vor dem letzten Himmelsblau zusammen schoben.

Wie um alles in der Welt war der armselige Ahrlberg zu solch einer Summe Geld gekommen? Hatte er sich von der Konkurrenz kaufen lassen? Aber wer zahlte so viel für einen mittelmäßig begabten Wirtschaftskaufmann, von dem kaum etwas zu erwarten war?

„Habt ihr etwas dagegen, wenn mal kurz gelüftet wird?“ Ich stand auf und klappte eines der Nebenfenster an. In mir immer noch eine latente Unruhe.

Die Zeit schlich zäh dahin, an jeder Markierung der Uhr schienen sich die Zeiger festhalten zu wollen.

Nach einer halben Stunde betrat Böhnke wieder den Raum und hinter ihm tauchte die junge Frau mit den schwarzen Haaren auf. Offene Lederjacke und Mobiltelefon am Gürtel der engen Jeans.

„Kollegen, wir haben zwei Beamte der Kriminalpolizei im Haus – eine reine Formsache, wie mir versichert wurde. Die Kommissarin …“

Sie ging an ihm vorbei auf uns zu. „Guten Tag, mein Name ist Hatice Özdekim. Sie wissen ja bereits, dass Herr Ahrlberg tot in seinem Büro aufgefunden wurde?“

Nicken.

„Wir sind nach ersten Untersuchungen zum Schluss gekommen, dass er schon gestern Abend verstorben ist. Der Notarzt hat eine Autopsie beantragt, und in diesem Fall werden wir hinzugezogen. Ich hätte einige kurze Fragen an Sie, darf ich mich setzen?“

Böhnke bot ihr einen Stuhl an der Stirnseite des Tisches an und stellte uns der Reihe nach vor: „Herr Andress, Frau Sybel, Frau Rabenstein, Herr Mertuschak, Frau Hattstehle und Herr Korn.“

Die Kommissarin hatte einen Schreibblock hervorgezogen und machte sich Notizen.

Reine Formsache? Mein Herz schlug schnell in wilden Stößen, aber nach außen bewahrte ich die angemessene Form; oder sollte man sagen: Gleichgültigkeit?

Ich musterte die Polizistin mit verstohlenem Blick: Südländischer Typ. Özdekim, das klang türkisch. Eine Frau um die Dreißig, selbstsicheres Auftreten, mit dichten, fast blauschwarzen Haaren, die ihr bis weit unter die Schultern fielen. Ovales Gesicht, ungeschminkt, mit schmaler Nase aber einem etwas zu breiten Mund. Hohe Wangenknochen betonten dagegen eine Weiblichkeit, die …

„Und Sie?“

„Wie bitte?“

„Wann verließen Sie gestern dieses Gebäude?“

„Zwanzig Uhr.“ Ohne nachgedacht zu haben, platschte die Antwort aus mir heraus. Warum genau diese Zeit? „Also, … so ungefähr …“

Sie sah mich an. Tiefbraune Augen, die Farbe reifer Kastanien. „Sahen Sie Herrn Ahrlberg noch?“

„Ich traf ihn am späten Nachmittag hinten auf dem Flur vor der kleinen Teeküche, als ich meine Tasse abwusch. Wir lächelten uns aber nur zu, dann ging ich wieder in mein Büro und er in seines.“

„Kein Wort gewechselt?“

„Doch, natürlich. So etwas wie: Hallo, du auch noch hier? Überstunden?“

„Machte er einen veränderten Eindruck?“

„Wie meinen Sie das?“

„Kränklich …“

„Jan hatte oft eine rötliche Gesichtsfarbe. Ich wusste, dass sein Blutdruck nicht in Ordnung war, das hatte er mir mal erzählt.“

„Schien sein Blutdruck gestern auch erhöht?“

„Ja.“

„Wie spät war es, als Sie ihn sahen?“

„… Um 18.00 Uhr herum.“

Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen aufzustehen und alles so zu erzählen, wie es sich abgespielt hatte. Dass Jan Ahrlberg später noch einmal bei mir hereingeschaut hatte und in dem Sessel neben der Tür … gestorben war. Röchelnd und Schaum zwischen den bläulichen Lippen.

Aber das ging nicht, schließlich lag er heute Morgen in seinem Büro! Und ich hatte keinen Finger gerührt, um Erste Hilfe zu leisten; war stattdessen einfach nach Hause gefahren.

Mit einem Aktenkoffer voller Geld, das nicht mir gehörte!

„Ich fasse noch einmal zusammen: Sie alle waren gestern Abend hier im Hause, aber niemand bemerkte, dass es Ihrem Kollegen nicht gut ging …“

Bestätigendes Murmeln.

„Die Büros liegen in verschiedenen Etagen“, warf Böhnke ein.

Erst jetzt erfasste ich den Sinn des Gehörten und schaute erschrocken in die Runde. Jeder, der hier saß, hätte mir auf dem Gang begegnen können, als ich Ahrlbergs Körper in sein Zimmer geschleift hatte.

„Ist es üblich, dass Sie an einem Freitagabend so lange arbeiten?“ Die Frage war an alle gerichtet, aber unser Chef gab die Antwort.

„Wir wollten uns heute zu einer Geschäftskonferenz treffen, da war Einiges vorzubereiten.“

„Gab es Schwierigkeiten?“

„Bitte?“

„Ich meine, stand Ihr Kollege diesbezüglich vielleicht unter ungewöhnlichem Stress?“

„Eigentlich nicht.“

„Eigentlich?“

„An der Entwicklung neuer Projekte und den daraus folgenden Strategien waren wir alle beteiligt, für den Einzelnen gab es keine unzumutbaren Belastungen.“

„Wissen Sie, ob er privat Ärger hatte?“

Böhnke zuckte mit den Schultern.

Die Polizistin wandte sich wieder an mich. „Wie gut kannten Sie Herrn Ahrlberg?“

„Ich …?“ Wieso stellte sie ausgerechnet mir diese Frage?

„Ja. Sie wussten schließlich auch, dass er an hohem Blutdruck litt.“

„Er hatte es mir bei einem Geschäftsessen verraten.“

Zwischen ihren schmalen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel fast zusammenliefen, stand eine Falte.

Glaubte sie mir nicht?

„Sprach er auch über familiäre Dinge?“

„Nein, nie.“

„Gab es außerdienstliche Treffen? Abends auf ein Glas Bier zum Beispiel?“

Ich schüttelte den Kopf und versuchte ihrem Blick standzuhalten. In meinen Achselhöhlen sammelte sich kalter Schweiß.

„Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Frau Kommissarin.“

Sie lächelte mir erkenntlich zu und machte einen Strich unter das Geschriebene.

*

III.

D

er Wind hatte seine Kraft aufgebläht und blies ihr winzige Regentröpfchen ins Gesicht. Sie schlug den Kragen der Jacke dichter um den Hals und drehte sich in die andere Richtung, ohne jedoch den Blick vom Wasser des Sees abzuwenden. Dunkle Wellen gluckerten noch auslaufend im Sand des Ufers. Schmutziger, brauner Sand unter Gras und herbstwelkem Laub.

Sie fror.

Und sie dachte an zu Hause. Wie jeden Tag in letzter Zeit.

Zu Hause, wo die warmblaue Gischt des Meeres einem die nackten Füße umspülte, wenn man am Strand entlanglief. Wo das saftige Grün der Sternfruchtbäume und Palmen den Weg hinauf zur Hütte ihrer Eltern säumte und der Vogelgesang niemals einer frostigen Winterstille wich. Ihr zu Hause war – das wusste sie jetzt – in einem fernen Land, das ihr so nah und vertraut war, dass sie noch in Gedanken das kleinste Bambusblatt liebevoll streichelte.

Heimat, das war nicht dieses Deutschland, in dem sie zwar seit Jahren lebte, das ihr aber keine Geborgenheit schenken konnte. Hier war sie fremd, hier blieb sie fremd. Und die Menschen mit den hochnäsigen Gesichtern ließen sie es manchmal spüren. Einige jedenfalls.

Ihre Schuhe schurrten auf dem nassen Kies.

Bald konnte alles vorbei sein. In ein paar Wochen würde sie das Geld für den Flug zusammengespart haben und dieses Land hier verlassen. Sie hatte sich alles ganz genau überlegt – immer wieder in all den schlaflosen Nächten voller Hoffnung –, seit dem Tag, an dem sie ihn zufällig getroffen und er ihr von dem Bau der neuen Fabrik in Vinh erzählt hatte. Vinh, die Stadt in ihrer Heimat! Dort suchte man in naher Zukunft Arbeitskräfte, die mit modernen Maschinen umzugehen wussten. Das konnte sie! Die Technik hatte sie hier kennen gelernt.

Keine zehn Kilometer vom Dorf entfernt, in dem ihre Eltern lebten, würden die großen modernen Fertigungshallen entstehen. Er hatte ihr den Plan gezeigt. Der Arbeitslohn konnte ausreichen, um sie und ihre Familie zu ernähren. In jenem Land – ihrem Land – brauchte man keine teuren, nutzlosen Dinge, mit denen die Menschen hier ihren vermeintlichen Wert zur Schau stellten. Im Zusammenleben dort zählte Liebe und gegenseitige Verantwortung. Vielleicht blieb von ihrem Verdienst sogar so viel übrig, um das morsche Boot ihres Vaters reparieren zu lassen, und dann würde sie eines Tages wieder mit ihm zum Fischfang hinaus auf das Meer fahren. So wie in Kindertagen vor langer Zeit …

Hinter ihr knirschten leise Schritte auf dem Uferweg. Sie drehte sich danach um. Kein Erschrecken in ihrem Gesicht, bestenfalls leises Erstaunen.

„Was tust du hier?“ Eine Stimme ohne Ton, fast ein Flüstern.

„Nachdenken.“

„Worüber?“

„Eigentlich nichts.“

„Du bist eine Hure, die alles kaputtgemacht hat!“

Sie sah zu, wie eine Hand in die Tasche fuhr und mit ruhiger Bewegung die Pistole herauszog. Ohne Hast hob sich der Arm und die Mündung richtete sich auf sie.

Zwei Augenaufschläge später explodierte das Geschoss hinter ihrer Stirn.

Um 16.05 Uhr hatte ein Spaziergänger mit Hund die Leiche am Ufer des Orankesees entdeckt und von seinem Handy aus die Polizei gerufen. Der erste Funkwagen traf nach zehn Minuten ein, die Beamten alarmierten einen Notarztwagen und sperrten das Areal weiträumig ab, denn sie sahen sofort, dass es sich hier um eine Schussverletzung handelte. Ein großer Teil des hinteren Kopfes war zerfetzt und Reste des Gehirns lagen blutig frei.

Die digitale Anzeige im Armaturenbrett des Dienstwagens tickte auf 17.00 Uhr, als Hatice den Motor ausschaltete und zusammen mit ihrem Kollegen den Weg zum Ufer betrat.

„Hast du vorhin behauptet, Samstagdienste seien meistens ruhig?“

„Ich?“, brummte Klaus. „Kann mich nicht erinnern.“

Ein uniformierter Polizist gab ihnen eine erste Lagemeldung: „Gegen Vier fand ein älterer Herr, der seinen Hund ausführte, die Tote dort unten am See. Ein Einschussloch vorn über dem linken Auge, der Schädel wurde dadurch nach hinten in einem großen Loch durchschlagen. Kein schöner Anblick …“

„Papiere?“

„Ja, in einer Tasche fanden wir ihren Ausweis.“ Er las die Angaben von einem Zettel ab: „… Nguyen … Elodie …“

„Was ist das für ein Name?“ Schirad nahm die Papiere in Empfang, die in einer Plastiktüte steckten. „Vietnamesin. Hm … 1966 geboren. Wohnhaft im Arendsweg, wo ist das?“

„Hohenschönhausen, an der Landsberger Allee.“

„Weit weg?“

„Drei, vier Kilometer vielleicht.“ Der Polizist tippte auf seine Notizen. „Die Frau wurde heute Vormittag von ihrem Mann als vermisst gemeldet, … seit gestern Abend 22.00 Uhr.“

„Habt ihr überprüft, ob sie einschlägig bekannt ist?“

„Du meinst, ob sie öfter schon mal von zu Hause abgehauen ist?“

Klaus runzelte die Stirn und holte tief Luft.

Hatice kam ihm mit der Erklärung zuvor: „Prostituiertenmilieu meint er.“

Der Polizist schob seine Mütze hoch. „Nein.“

„Wofür das Nein?“

Unverständliches Blinzeln.

„Ich habe keine Lust zum Rätselraten“, knurrte Schirad.

„Darüber ist bis jetzt nichts bekannt.“

„Wurde am Tatort irgendetwas Außergewöhnliches gesichert? Gibt es Kampfspuren?“

„… Nein.“

„Kann man mit dem Zeugen reden, der sie gefunden hat?“

„Dort an der Bank, der Herr mit der hellen Jacke …“

„Ich mach das“, sagte Hatice und ging zu ihm hinüber.

„Keine Viertelstunde vorher habe ich die Frau noch am Wasser stehen sehen“, zeigte der Mann in die Richtung, an der nun ihr lebloser Körper von einer Papierdecke abgedeckt im Gras lag.

„War sie allein?“

„Ja.“ Er zog an der Leine, als sein Dackel an den Stiefeln der Kriminalbeamtin schnupperte. „Jetzt im Spätherbst ist es ziemlich einsam hier, da trifft man kaum einen Menschen, schon gar nicht bei diesem Wetter. Im Sommer, wenn das Strandbad geöffnet hat und die Leute hier oben im Biergarten sitzen …“

„Sind Ihnen andere Spaziergänger begegnet?“

„Mir war so, als hätte ich einen Mann weiter hinten auf dem Weg gesehen. Dort …“ Er wies mit der freien Hand zu einer Baumgruppe in der Nähe der Straße. Dann lächelte er verlegen. „Aber ich habe meine Brille nicht auf, weil die Gläser bei Regen immer … Sie verstehen?“

„Klar.“

„Ohne Brille kann ich nicht weit sehen.“

„Können Sie den Mann beschreiben?“

Er verzog das Gesicht. „Eher klein … Aber ich weiß noch nicht mal, ob er tatsächlich da war. Bei dem Nebel, der hier am See zwischen Bäumen und Büschen hängt, täuscht man sich schnell mal.“

„Haben Sie etwas gehört? Stimmen oder Rufe womöglich?“

„Nein …“, die Leine wurde wieder angezogen, „Als ich schon fast auf dem Rückweg war, da gab es ein lautes Knacken.“ Er rieb sich das Kinn. „Kennen Sie das Geräusch, wenn ein morscher Ast vom Baum bricht?“

Hatice nickte. „Dann gingen sie hier entlang zurück?“

„Zufällig eigentlich nur. Und da sah ich sie liegen, ihre Beine waren so merkwürdig eingeknickt. Ich rief und ging dichter heran … Das viele Blut unter ihrem Kopf …“

„Haben Sie die Frau angefasst?“

„Nein. Mir war sehr schnell klar, dass etwas nicht stimmte und ich griff zum Telefon.“

„Während Sie spazieren gingen, trafen Sie weiter keinen Menschen?“

„Mir ist niemand aufgefallen. Kann ich jetzt gehen?“

„Ihre Adresse haben sich die Kollegen notiert?“

„Ja.“

„Dann auf Wiedersehen.“

Schirad stand mit den Händen in der Hüfte am Weg und betrachtete den Ort des Verbrechens.

„Keine brauchbaren Angaben“, klärte ihn Hatice über das Wenige, das sie von dem Zeugen erfahren hatte, auf.

„Was wissen wir also bis jetzt?“

„Eine junge Frau vietnamesischer Abstammung kommt bei diesem grausigen Wetter hierher an den Orankesee, bleibt am Ufer stehen und schaut aufs Wasser. Dabei wird sie von dem Mann, der seinen Hund ausführt, beobachtet. Er geht weiter, und in der Viertelstunde, die bis zu dessen Wiederkehr vergeht, erscheint ein Unbekannter und erschießt die Frau mit einem einzigen Schuss von vorn in den Kopf. Sie hat sich nicht gewehrt und auch nicht versucht wegzulaufen.“

„Die kannte ihren Mörder?“

„Gut möglich. Er tritt an sie heran, vielleicht wechseln sie sogar ein paar Worte, dann zieht er die Pistole, drückt ab und verschwindet.“

„Ich habe die Spurensicherung bereits verständigt.“

„Die werden sich freuen, es wird gleich dunkel.“

„Wir müssen dem Ehemann der Toten die Nachricht überbringen.“

„Ja …“

Klaus überlegte laut. „Sie hatte ein hübsches Gesicht, dem Ausweisfoto nach … Vielleicht gab es einen Liebhaber …“

„Möglich.“

„Wir hatten vergangene Nacht unter zehn Grad Celsius, da treibt man sich nicht stundenlang auf der Straße herum.“

„Sie kann auch bei Bekannten gewesen sein, die dem Mann ihre Anwesenheit verschwiegen haben …“

„Von einem Ehestreit war nicht die Rede.“

„Wer gibt den schon gerne zu?“

„Wir werden es gleich erfahren.“

*

Das Geld war da. Noch im Mantel hatte ich unter der Couch nachgesehen. Es war also doch kein Traum.

Ich setzte mich. Ahrlbergs Zweieinhalb Millionen Mark lagen hinter meinen Schuhen.

Böhnke hatte vorhin noch den Text für eine Traueranzeige in der Zeitung formuliert. Sie sollte Anfang der Woche erscheinen.

Wieder ergriff mich Unruhe.

Spätestens dann wüsste auch derjenige Bescheid, der Ahrlberg das Geld gegeben hatte. Er würde im Tagesblatt schwarz auf weiß lesen, dass er zweieinhalb Millionen Mark zum Fenster hinausgeworfen hatte. Kaum anzunehmen, dass ihn diese Nachricht nicht wütend machen würde und dass er sich damit … abfand.

Aber was konnte er schon tun? Das Geld war weg, es hatte sich an Ahrlbergs Todestag in Luft aufgelöst.

Meine Hände zitterten, als ich den Mantel ablegte.

Beruhige dich! Niemand hat dich gesehen, niemand kann wissen, was wirklich passiert ist. Wenn du dich weiterhin unauffällig verhältst, schöpft kein Mensch Verdacht.

*

Herr Nguyen saß mit starrem Gesicht auf einem Küchenstuhl.

„Erschossen, sagen Sie?“ Er sprach ein gutes Deutsch und es bestand kein Zweifel, dass er die schreckliche Mitteilung der Kriminalbeamten verstanden hatte. „Wer hat das getan?“

„Wir wissen es nicht“, antwortete Hatice. „Der Täter flüchtete unerkannt.“

„Keiner, der ihn gesehen hat?“

„Unsere Ermittlungen stehen natürlich noch am Anfang …“

„Das gibt es doch nicht!“ Er raufte sich die kurzen ungekämmten Haare.

„Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen“, sagte Klaus Schirad und setzte sich dem Mann gegenüber an den Tisch. „Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?“

„Gestern Mittag um ein Uhr.“

Der Kriminalist sah ihn erstaunt an.

Herr Nguyen legte die Hände ineinander. „Wir haben hier im Einkaufszentrum einen Blumenladen. Elodie kümmert sich vormittags um den Verkauf, während ich beim Großhandel frische Ware besorge. Dann übernehme ich gegen ein Uhr das Geschäft. Sie kann nicht so lange Stunden stehen wegen ihrer … ähm … etwas schwachen Gesundheit.“

„Sie lösten Ihre Frau gegen 13.00 Uhr ab?“

„Ja. Dann geht sie nach Hause, um sich auszuruhen.“

„Jeden Tag?“

„Wir machen das immer so.“

„Unsere Kollegen sagten, dass Sie Ihre Frau erst seit gestern Abend vermissen.“

„Im Einkaufszentrum gab es eine … Erntedankwoche mit Ständen und Präsentationen heimischer …, wie sagt man?, … Anbieter. Viele Läden waren aus diesem Anlass lange geöffnet, bis zwanzig Uhr. Ehe ich dann alles zusammengepackt hatte und die Einnahmen zum Automaten …“

„Verstehe. Also, gegen 22.00 Uhr kamen Sie nach Hause und Ihre Frau war nicht da?“

Der Mann nickte mit verkniffenem Mund.

„Gab es eine Nachricht? Einen Zettel vielleicht, auf dem sie Ihnen mitteilte, wo sie hingegangen war?“

„Nein, deshalb war ich ja so in Sorge!“

„Und Sie hatten keine Ahnung oder einen Verdacht, wo sich Ihre Frau aufhielt?“

„Dann wäre ich dorthin gefahren.“

Hatice stellte eine Fotografie von Elodie Nguyen zurück auf das Regal neben dem Fenster. „Wie lange sind Sie schon verheiratet?“

„Elf Jahre. Seit 1986. Wir ließen uns noch in Vietnam trauen, kurz bevor wir nach Deutschland kamen. Also in die ehemalige DDR, wo man uns eine Arbeit bei NARVA angeboten hatte.“

„NARVA?“

„Eine Fabrik, wo Glühlampen hergestellt wurden. In der Nähe vom Bahnhof Warschauer Straße. Dort arbeiteten viele unserer Landsleute.“

„War Ihre Ehe glücklich?“

„Sicher. Das Einzige …“

„Ja?“

„Elodie konnte keine Kinder bekommen. Nach der Wende meine ich, denn zu DDR-Zeiten wäre eine Schwangerschaft der Grund zur zwangsweisen Heimkehr gewesen.“ Herr Nguyen hatte seit einer Viertelstunde das erste Mal Tränen in den Augen. „Ich habe mir immer Kinder gewünscht …“

„Wie war das Leben für Sie beide in Deutschland?“

„Nach der Wende sehr schwer. Wir wurden arbeitslos, aber der Staat hat uns schließlich unterstützt. Wissen Sie, in unserer ehemaligen … Heimat Vietnam ist Armut immer noch sehr verbreitet, dort sahen wir keine Chance. Ein Geschäft wie unseres …“ Er verstummte.

Schirad übernahm wieder: „Ist Ihre Frau schon einmal über Nacht von zu Hause weggeblieben, ohne dass Sie wussten, wo sie ist?“

Der Mann hob verstört den Kopf. „Nein, nie!“

„Gab es in letzter Zeit irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse?“

„Ich verstehe nicht …“

„Sind Sie oder Ihre Frau bedroht worden?“

„Niemals.“

„Es gibt manchmal Streitigkeiten unter Ihren Landsleuten …“

„Zu denen gehören wir nicht!“ Eine Aussage mit fester Stimme.

„Sie werden verstehen, dass wir unsere Ermittlungen in alle erdenklichen Richtungen führen müssen.“

Hatice zog ihren Notizblock aus der Tasche. „Könnten Sie uns eine Aufstellung der Namen Ihrer Bekannten und Verwandten hier in Berlin geben?“

Herr Nguyen warf einen scheelen Blick auf das Papier, erhob sich dann und schlürfte ins Wohnzimmer. Die Kriminalisten folgten ihm.

Aus einer Schublade des Schranks holte er ein Telefonverzeichnis und klappte es auf.

Die Polizistin reichte ihm den Block. „Schreiben Sie besser selber, dann brauchen wir keine umständlichen Buchstabierungen.“

Er setzte sich auf das Sofa und begann Namen und Adressen zu übertragen.

Klaus stand vor einer Vitrine mit kunstvoll bemalten Tassen und Kristallschalen. Zwischen dem teuren Geschirr fiel ihm ein kleines Glaskästchen auf, in dem sich ein präparierter Schmetterling befand.

Herr Nguyen bemerkte das Interesse. „Den hat Elodie letztes Jahr aus Vietnam mitgebracht. Es ist ein seltenes Exemplar, ihr Vater fing und konservierte ihn.“

„Die Flügel haben ein ungewöhnlich intensives Blau.“

„Ja … Man nennt ihn den blauen Morgenfalter, weil er nur in den frühen Stunden nach Sonnenaufgang zu beobachten ist.“

„Ihre Frau war alleine dort?“

„Ein Todesfall in der Familie. Ich musste jedoch hier bleiben und mich um das Geschäft kümmern.“ Er konzentrierte sich wieder auf die Liste mit den Namen.

Die Kriminalisten warfen sich einen kurzen Blick zu.

Hatice setzte sich. „Der Name Elodie ist recht … ungewöhnlich, ich meine, er klingt nicht asiatisch.“

„Die Großmutter meiner Frau stand bei den letzten französischen Kolonialherren im Dienst. Sie hatte sich ausgebeten, für ihre erste Enkelin den Namen aussuchen zu dürfen.“

„Ich habe noch eine Frage: Könnte es sein, dass Ihre Frau einen anderen Mann kennen gelernt hat?“

Seine Augen verengten sich. „Ausgeschlossen.“

IV.

S

onntagmorgen. Ein trüber, wolkenverhangener Herbsttag. Kein Wetter, um gerne vor die Tür zu gehen, aber ich musste raus, musste das Gesicht in den kühlen Wind halten und in der frischen Luft meine Gedanken sammeln.

Beim Bäcker um die Ecke kaufte ich zwei Brötchen und schlenderte dann weiter die Hauptstraße entlang.

In der Kirche hinter dem Park wurden die Glocken zum Gottesdienst geläutet. Fein angezogene Leute schlugen den Weg dorthin ein, für einen Moment beneidete ich sie um ihr festes Fundament des Lebens. Konnte man im Glauben Rat und Halt finden?

An der nächsten Kreuzung machte ich kehrt, zögerte jedoch. Nein, noch nicht so schnell nach Hause, dort wartete nur der lange Tag zwischen den stillen Wänden.

Meine Schritte verlangsamten sich und die Schaufensterauslagen der Geschäfte luden mich zum Betrachten ein. Auf dem samtbeschlagenen Podest des Elektronikmarktes stand die edelste Stereomusikanlage eines Markenherstellers hinter dem Preisschild. 10500 Mark. Ein unangemessener Preis für den kleinen Turm aus nur vier Geräten und zwei schmalen Boxen. Aber der Klang war sicher sensationell … Luxus pur.

Ich könnte ihn mir jetzt leisten …

Ein Klavierkonzert von Gulda fast wie im Kammermusiksaal, wenn man die Augen schloss.

10500 Mark von zweieinhalb Millionen fiel gar nicht auf, ein winziger Teil. Nur ein paar Scheine.

Nein, das Geld musste bleiben, wo es war.

Ich durfte die bescheidenen Bahnen und Gewohnheiten meines Lebens nicht verlassen! Erst einmal …

Auf der Rückseite des vorbeifahrenden Busses warb ein bekannter Reiseveranstalter mit dem Foto von lächelnden jungen Gesichtern vor einem Palmenstrand. Blaues Wasser, Sonne …

Reisen würde ich auch gerne. Weit weg, der Oktoberkälte einfach den Rücken kehren.

Letztes Jahr war ich von Andress dazu auserwählt worden, ihn nach Vinh zu begleiten – eine Einladung unserer vietnamesischen Geschäftsfreunde. Aber drei Tage vorher musste ich wegen eines Bänderrisses am Fuß ins Krankenhaus und Carola Hattstehle flog an meiner Stelle mit. Ahrlberg hatte wieder einmal mit seinem Blutdruck zu tun, er reiste später nach.

Nun lag er in der Kühlkammer der Pathologie und sein Körper wartete darauf, seziert zu werden. Bekam er nicht genau das, was er verdiente?

Und mir … gehörte nun sein Geld.

*

Kriminalhauptkommissar Konrad Hofer war in diesen Tagen vorübergehend zum Leiter der 9. Mordkommission eingesetzt worden, da die Chefin Sabine Perl einen Lehrgang in Hamburg besuchte, der sie zum Aufstieg in den höheren Polizeidienst qualifizieren sollte. Hofer, mit dreiundvierzig Jahren ein Mann in den besten Jahren, verheiratet und Vater von zwei Kindern, fühlte sich in der neuen Rolle etwas unwohl, denn ihm lag es gar nicht zu führen und Aufgaben an Kollegen zu verteilen. Nichtsdestotrotz hatte er an diesem Sonntagvormittag alle zu einer Besprechung in das Polizeigebäude in der Keithstraße gebeten. Der Mordfall Elodie Nguyen bekam oberste Priorität, und es galt, so schnell wie möglich, die weiteren Richtlinien für die Ermittlungsarbeit festzulegen.

Als sich die Beamten im Konferenzzimmer versammelt hatten, gab Klaus Schirad einen kurzen Überblick – die Lage war unverändert, keine neuen Erkenntnisse.

„Eines scheint allerdings klar“, reckte er müde den Zeigefinger. „Die Frau kannte den Mörder, wir sollten also unser Augenmerk zunächst auf das private Umfeld konzentrieren.“

„Das bedeutet, wir befragen hauptsächlich die Verwandten und Freunde des Ehepaares Nguyen?“, fragte Daniel Kelm, ein jüngerer Kollege.

„So ist es. Auf der Liste finden sich zwölf vietnamesische und lediglich zwei deutsche Namen: Bernd und Rita Lesche, ehemalige Arbeitskollegen der Nguyens bei NARVA.“

„Dann bräuchten wir einen Dolmetscher.“ Kelm legte seine rotgerandete Brille vor sich auf den Tisch. „Es dürfte mit der Verständigung schwierig werden.“

Konrad hob die Hand. „Daran habe ich gedacht … und sogar schon jemanden gefunden.“ Er sah auf seine Uhr. „Sie müsste gleich kommen.“

„Sie …?“, fragte Schirad gedehnt.

„Fräulein Thien Thi Duyen, Medizinstudentin – eine Bekannte meiner Frau. Ich habe sie vorhin angerufen und sie erklärte sich bereit, uns zu helfen.“

„Du lieber Himmel.“

„Was hast du dagegen?“

„Wir haben Telefonnummern von Dolmetschern …“

„Von denen war leider kein Geeigneter zu erreichen.“ Hofer sah ihn und Hatice an. „Fühlt ihr euch nach dem langen Dienst noch in der Lage, Befragungen durchzuführen?“

Beide nickten.

„Dann würde ich vorschlagen, ihr besucht die Familie Bunh. Die Frau war mit Elodie Nguyen befreundet.“

In diesem Moment klopfte es an die Tür und eine zierliche Frau in schwarzem Hosenanzug betrat den Raum. „Guten Tag, mein Name ist Duyen …“

Konrad erhob sich und ging auf sie zu. „Willkommen, wir freuen uns über deine Hilfe.“

Fräulein Thien Thi Duyen schüttelte freundlich lächelnd allen die Hand. Ihr Blick schaute aus dunklen Augen selbstbewusst in die Runde der Kriminalbeamten.

Nachfolgend wurden die Aufgaben für den Tag verteilt, dann ging man auseinander.

*

Man mag es kaum glauben, wie viele Werbeprospekte sich an einem einzigen Wochenende im Briefkasten ansammeln können. Ich streifte die Schuhe im Flur ab und trug den Stapel mit der Post ins Wohnzimmer auf den Tisch.

In der Küche zwang ich mir appetitlos ein belegtes Brötchen hinunter. Meine Gedanken turnten immer noch wild umher und schwangen sich in raschen Sprüngen von Bild zu Bild. Ahrlberg, sein lebloser Körper, das Büro, der Gang, die Stille, … der Koffer.

Mit der Kaffeetasse in der Hand ging ich wieder ins Wohnzimmer und setzte mich, trennte Werbung von Briefen, die ich beiseite legte. Zwei mit weißem Umschlag und ein kleinerer hellblauer, ich würde sie später aufmachen.

Zunächst fiel mein Blick auf den Faltbogen eines bekannten Möbelhauses.

`Zu unserem 50. Jubiläum lassen wir die Preise purzeln …´

Immer dieselben einfallslosen Lockrufe!

Auf der zweiten Seite die Abbildung einer Schrankwand in skandinavischem Stil. Naturholz ohne Schnörkel, das gefiel mir, das Schlichte. Im Mittelfach neben dem Fernsehteil hätte wohl die Stereoanlage Platz, ein Turm aus vier Komponenten … Rechts und links die schmalen Lautsprecherboxen …

Ich sah zur Wand neben der Tür. Der Platz könnte ausreichend sein …

Ein prüfender Blick in das Prospekt.

`Nur diesen Monat Ratenzahlung ohne Zinsaufschlag.´

Ich lachte leise. Als ob es auf die paar Mark ankäme …

*

Kurz vor 12.00 Uhr klingelten Hatice Özdekim und Klaus Schirad bei Familie Bunh in der 14. Etage eines Marzahner Plattenbauhochhauses. Die vietnamesische Medizinstudentin war ihnen von Hofer als Dolmetscherin zugeteilt worden.

„Nennt mich einfach Duyen“, hatte sie den Kriminalisten unterwegs im Auto angeboten. „Das ist mein Vorname.“

„So?“, brummte Schirad und wies mit dem Daumen auf seine Kollegin: „Das ist Kalle, ihre Vorfahren haben noch in den anatolischen Bergen Ziegen und Schafe gehütet.“

„Und er heißt Klaus“, konterte Hatice. „Mitunter ist er der Einzige, der über seine Witze lacht. Auch seinen Ahnen, Hugenotten, gewährte Friedrich der Große in Preußen Asyl.“ Das letzte Wort sprach sie lang gedehnt, dann bog sie in eine Parklücke vor dem Haus ein.

Herr Bunh öffnete die Tür nur so weit, dass er mit einem Auge auf den Gang schielen konnte. „Sie … wünschen?“

„Wir würden gerne mit Ihnen und Ihrer Frau über Elodie Nguyen sprechen. Dürfen wir hineinkommen?“

Die Kriminalbeamten wurden ins Wohnzimmer geleitet, wo Frau Bunh mit einem Kleinkind auf dem Arm am Fenster stand und mit scheuem Blick die Besucher musterte.

„Sehr schlimm, … wir sehr traurig“, sagte ihr Mann.

„Frau Bunh, Sie waren mit Elodie befreundet, deshalb müssen wir Ihnen einige Fragen stellen.“

„Sie spricht nur wenige Worte Deutsch.“

Duyen begann unaufgefordert mit der Übersetzung.

Frau Bunh nickte zaghaft.

„Wann haben Sie Ihre Freundin das letzte Mal gesehen?“

„Freitagvormittag, im Blumenladen.“

„Wirkte sie nervös oder gar ängstlich?“

„Nein.“

„Wissen Sie, ob Frau Nguyen bedroht wurde?“

Kopfschütteln.

„Gab es Streit mit irgendjemandem?“

„Das weiß ich nicht …“

Herr Bunh räusperte sich verhalten.

„… Nein.“

„Haben Sie einen Verdacht, wer auf Ihre Freundin schoss?“

„Keinen …, ich bin sehr entsetzt …“ Tränen traten in ihre Augen.

Hatice stellte sich neben sie und lächelte dem Kind kurz zu. „Wie haben Sie Elodie kennen gelernt?“

„Wir stammen beide aus demselben Dorf in der Nähe von Vinh – das ist eine Stadt im nördlichen Teil Vietnams. Schon als kleine Mädchen waren wir befreundet und jeden Tag zusammen. Unsere Familien verkehrten miteinander, die Väter fuhren in einem Boot zum Fischen hinaus.“

„Man kann also sagen, dass Sie sich sehr gut kannten?“

Nicken.

„Und da ist es ja selbstverständlich, viel über den anderen zu wissen. Was war Elodie Nguyen für ein Mensch?“

Frau Bunh zögerte mit der Antwort. Ein rascher Blick zu ihrem Mann.

„Weitherzig und … sanftmütig, eben eine gute Freundin. Wir verstanden uns immer sehr gut, und es gab keinen Streit, an den ich mich erinnere.“

„Sie vertrauten einander?“

„Ja, natürlich.“

„Wussten auch von den kleinen Geheimnissen, die Frauen manchmal so haben?“

Ein verständnisloses Schulterzucken. Das Kind griff nach den langen Haaren von Hatice.

„Dinge, über die man mit Männern nicht reden kann …“

„Was sollten das für … Geheimnisse sein?“

„Wo war Elodie Nguyen in der Nacht zum Samstag?“, hakte Schirad mit barscher Ungeduld dazwischen.

Duyen übersetzte mit ebenso energischem Tonfall.

Frau Bunh schaute hilflos ihren Mann an.

„Wo war sie?“

„… Ich sah sie Freitagvormittag …“

„War sie bei Ihnen?“

„Hier nicht.“ Eine bestimmte Antwort.

„Aber Sie wissen, wo Elodie die Nacht und den folgenden Vormittag verbracht hat!“

Der Satz wurde in seiner Strenge so weitergegeben.

„Nein.“

Herr Bunh murmelte einige unverständliche Worte.

„Sprechen Sie Deutsch!“, herrschte Klaus ihn an.

„Ich habe ihr gesagt, sie soll … mitteilen, wenn sie eine … Vermutung hat.“

Duyen nickte bestätigend.

„Und, ist es so?“, erkundigte sich Hatice. „Haben Sie einen Verdacht?“

„Elodie hat mir nichts erzählt. Als Giang, ihr Mann, am Freitagabend anrief, war ich auch überrascht.“

„Hat Ihre Freundin mal angedeutet, jemanden kennen gelernt zu haben?“

„Ich … verstehe nicht …“

„Was gibt es da nicht zu verstehen?“, brummte Schirad. „Solche Sachen werden doch auch in Ihrem … Kulturkreis vorkommen, oder?“

Seine Kollegin rollte die Augen.

„Ist doch nicht ganz ausgeschlossen, dass man sich zweimal im Leben verliebt.“ Auch die Nachbemerkung wurde brav übersetzt.

Frau Bunh drückte das Kind fester an sich.

„Gab es einen anderen Mann?“, fragte Hatice.

„Nein.“ Diesmal kam die Antwort sehr schnell.

„Das können Sie mit Bestimmtheit ausschließen?“

„Ich möchte mich jetzt zurückziehen, mein Kind hat Hunger.“

„Wir sind natürlich geschockt, das müssen Sie verstehen“, sagte Herr Bunh mit dem Versuch eines Lächelns.

„Ihre Freundin Elodie Nguyen ist auf brutale Art und Weise ermordet worden. Es ist Ihre Schuldigkeit, uns bei der Suche nach dem Täter zu helfen – das sollten Sie verstehen!“

*

Ich hatte mit dem abgeschabten Zollstock meines Vaters alles genauestens ausgemessen – es würde passen: die Schrankwand und daneben die Boxen der Musikanlage. Der halbe Nachmittag war so mit Planen und Träumen verflogen. Träumen, das zumindest durfte ich mir ja wohl erlauben. Und doch: ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass man sich manches, bislang Unerreichbares, mit dem Geld würde leisten können. Ich dachte an ein Wochenende im Sommer, als ich mir Freitagabend einen Lottoschein gekauft hatte und den ganzen Samstag, im Park in der Sonne liegend, vorgestellt hatte, was ich mit dem Millionengewinn machen würde. Seifenblasen, die am Abend schon zerplatzten, denn keine zwei Zahlen waren richtig angekreuzt.

Jetzt hatte ich den Millionengewinn. Im Koffer unter der Couch.

Die Uhr schlug mit mattem Gongen Fünf. Ein Erbe meiner Eltern, dieses blöde Ding, das sich jede volle Stunde hörbar meldete. Letztens hatte ich im Vorbeigehen in einem Antiquitätengeschäft eine niedliche kleine Porzellanuhr gesehen, für nur 3200 Mark …

Mein Verdienst war sehr gut, über viele Anschaffungen hatte ich bisher nicht lange nachdenken müssen. Aber dieser Sprung vom soliden Auskommen zum wirklichen Wohlhaben …

Ich erhob mich vom Fußboden und streckte meine Glieder. Zeit für die Vorbereitungen zum Abendessen.

Die freien Tage neigten sich dem Ende zu. Morgen früh musste ich zeitig aufstehen, um pünktlich im Büro zu erscheinen. Ich wollte Böhnke anbieten, Ahrlbergs Büro auszuräumen – das würde kaum Misstrauen erregen, wo es doch auf derselben Etage lag. Bei der Gelegenheit konnte ich in aller Ruhe nach dem Zeitungsausschnitt suchen und ihn dann im Aktenschredder für immer verschwinden lassen. Der letzte gefährliche Hinweis auf meine Person …

Ich machte mich daran, die Briefe zu öffnen. Rechnungen, Kontoauszüge und dann schließlich dieser hellblaue Umschlag. Ein gefalteter Zettel fiel heraus, darauf nur zwei maschinengeschriebene Zeilen:

Du hast mein Geld,

ich will es zurück.

*

Klaus, Hatice und Duyen saßen in einem Café am Alexanderplatz. Die Dolmetscherin hatte zu einem Cappuccino eingeladen.

„Das gibt doch der bescheidene Studienbeihilfeetat überhaupt nicht her“, wollte Klaus zunächst ablehnen.

„Ich verdiene mir als Sektionsgehilfin etwas Geld nebenbei.“

„Du schneidest Leichen auseinander?“

„Ein guter Nebenjob, bei dem ich außerdem in der Praxis alles über die Anatomie des menschlichen Körpers lerne.“

Schirad sah mit weiten Augen an der schmalen Gestalt ihrer Dolmetscherin herab.

„Was haltet ihr von Frau Bunh?“, fragte Hatice.

„Die weiß mit Sicherheit mehr als sie uns sagt.“

„Vielleicht hat sie Angst vor ihrem Mann …“

„Wie meinst du das?“

„Mir schien, als würde sie sich mit ihren Blicken irgendwie … rückversichern wollen, was sie sagen darf.“

„Das würde bedeuten, sie wissen beide etwas, das sie uns verheimlicht haben.“

„Mag sein.“

„Giang Nguyen ruft sie am Freitagabend an, um sich nach dem Verbleib seiner Frau zu erkundigen …“

„Kann Zufall sein.“

„Er vermutet, dass gerade sie ihm Auskunft geben können.“

„Natürlich wendet sich Nguyen zunächst an die beste Freundin seiner Frau, ist doch klar.“

„Wir haben noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns.“ Schirad wandte sich an Duyen. „Was meinst du?“

Sie schlürfte mit spitzen Lippen Milchschaum vom Löffel. „Ein vorschnelles Wissen trübt den klaren Blick.“

„Geht es auch deutlicher?“

„Ich habe die Frau genau beobachtet und kenne die stumme Körpersprache meiner … Landsleute. Bunh Thi Tuyen lügt.“

Der Erste Kriminalhauptkommissar Konrad Hofer nahm den Telefonhörer ab, drehte ihn zögernd zwischen den Fingern und wählte dann schließlich doch die Nummer der Abteilung für Spurensicherung.

„Müller“, meldete sich eine knurrige Stimme am anderen Ende.

„Hier ist Konrad. Grüß dich, mein Bester …“

„Wenn wir nicht schon lange Jahre befreundet wären, würde ich sofort wieder einhängen“, steigerte sich das Knurren in eine Art heiseres Fauchen. „Was habt ihr uns da bloß wieder aufgehalst! Und das am Wochenende.“

„Irre ich mich, oder ist es eure Arbeit Tatortspuren zu sichern?“

„Das ja … natürlich. Aber wir sind nicht für das Einsammeln von leeren Flaschen, Bierbüchsen, gebrauchten Kondomen und vollgekackten Kinderwindeln zuständig.“

„Das alles habt ihr dort am See gefunden?“

„Die Leute schmeißen ihren Müll überall hin, warum also nicht auch an den Rand eines Spazierweges?“

„Du weißt, dass alles für unsere Ermittlungen wichtig sein kann …“

„Babykacke auch?“

Konrad lachte leise. Er kannte die Kompetenz und den Fleiß seines Kollegen seit vielen Jahren und wusste, dass man dessen Geschimpfe ganz einfach ignorieren sollte. „Gibt es schon irgendetwas Besonderes?“

„Was glaubst du? Wenn es etwas gäbe, hätte ich mich schon gemeldet. Der Mordfall ist keine vierundzwanzig Stunden alt.“

„Schon gut. Ich dachte …“

„Denken ist bei der Polizei verboten, weißt du das nicht?“

„Also habt ihr noch keine verwertbaren Spuren?“

„Nein.“ Das Trommeln von Fingerspitzen auf Müllers Schreibtisch war zu hören. „Der Innensenator hat meinem Institut dieses Jahr wieder drei Stellen gestrichen. Wir müssten uns teilen, um die Berge von Arbeit noch einigermaßen zeitgerecht zu schaffen.“

„Ich wollte nicht drängeln.“

Ein sarkastisches Krächzen. „Nein, das tut ihr ja nie.“

„Du musst verstehen, die Zeit arbeitet bei der Aufklärung von Tötungsverbrechen gegen uns. Und wir sind personell auch nicht gerade überbesetzt … Hallo?“

Nur noch ein Rauschen in der Leitung. Müller hatte einfach aufgelegt.

*

Ich lief in die dunkle Küche und sah vorsichtig auf die Straße hinaus. Stand er womöglich dort unten zwischen den parkenden Autos, wartete auf eine Reaktion von mir und beobachtete das Haus, um zu sehen, ob ich das Geld wegbringen würde?

Den Zettel hatte ich immer noch in der Hand. Ein kleines Stück Papier, matt weiß, mit zwei kurzen Zeilen, die auf jeder Schreibmaschine dieser Welt geschrieben worden sein konnten. Keine Besonderheiten, kein verräterischer Abdruck etwa oder ein Buchstabe, bei dem eine Ecke fehlte, wie man es manchmal in Kriminalfilmen sah.

Du hast mein Geld …

Das konnte er nicht wissen! Niemand hatte bemerkt, wie ich mit dem Koffer zum Auto ging – nur wenige Meter den abendleeren Gang entlang, dann über die hintere Treppe zum Parkhaus … Das Parkhaus … Hatte er zufällig in einem Auto gesessen, selber gerade bereit den Motor anzulassen, um nach Hause zu fahren? Unmöglich! Außer meinem Wagen standen nur noch vier, vielleicht fünf andere dort. Es wäre mir aufgefallen, wenn jemand … Ich hatte mich doch ständig umgesehen!

Ich will es zurück …

„Du hast es Ahrlberg gegeben und der ist jetzt tot“, flüsterte ich. „Mit seinem Verschwinden haben sich auch die Scheine in Luft aufgelöst.“

Auf Zehenspitzen zog ich mich vom Fenster zurück. Erst an der Tür trat ich mit gewohntem Schritt in den Flur. Schon von hier aus konnte man die Couch sehen, wenn man sich bückte, auch eine Ecke des Koffers. Ein Einbrecher hätte wohl keine Mühe, das Geld zu finden. Und dass der morgen während meiner Abwesenheit kommen würde, war nicht ganz ausgeschlossen – bei einer Beute von zweieinhalb Millionen Mark! Ich sah zur Wohnungstür. Das alte Schloss bot ungefähr so viel Widerstand wie der Zaun eines Schrebergartens.

Versuche, dich zu beruhigen! Du musst jetzt einen kühlen Kopf bewahren.

Das war leichter gedacht als getan. Was sollte denn jetzt geschehen?

Irgendwo da draußen lauerte der Briefschreiber, bereit dazu, alles zu tun, um wieder an seinen Besitz zu kommen. Alles? Diesen Gedanken wollte ich nicht vertiefen.

Wie kam er ausgerechnet auf mich?

Konzentrier dich auf die nächsten Schritte!

Ich musste das Geld aus dem Haus bringen, soviel stand fest. Aber wohin? Dachboden? Keller? Zu unsicher. Dort würde er sogleich als nächstes suchen, wenn er es hier in der Wohnung nicht fände. Vielleicht sollte ich es ganz einfach morgen früh mit ins Büro nehmen und im verschließbaren Fach meines Schreibtisches deponieren – diese dreiste Sorglosigkeit traut einem erst mal keiner zu. Nein, das ging nicht. Wenn mich jemand mit Ahrlbergs Koffer das Gebäude betreten sah …

Ich ging im Geiste die Namen meiner wenigen Bekannten durch. Freunde – also wirklich gute Freunde, denen man vertrauen konnte – hatte ich nicht. Die Möglichkeit, es irgendwo bei jemandem zu lassen, von dem man wusste, dass er einen nicht verriet oder gar betrügen würde, schied aus.

Das Geld wurde allmählich zu einem Häufchen glühender Kohlen, die man rasch an sicherer Stelle ablegen wollte, bevor man sich daran verbrannte.

Noch konnte ich den Koffer wieder dort hinstellen, wo ich ihn gefunden hatte, oder? Es lag jedenfalls im Bereich des Denkbaren.

Zweieinhalb Millionen Mark …

Er kann unmöglich sicher sein, dass du sie hast!

War der Brief ein Bluff?

Ich ließ mich an der Wand hinunterrutschen und kauerte schließlich neben dem Schuhschrank.

Was sollte ich jetzt bloß tun?

*

Die Kriminalbeamten der Mordkommission hatten sich am Sonntagabend noch einmal zu einer kurzen Lagebesprechung zusammengefunden.

„Eine Spur haben wir also noch nicht“, konstatierte Hofer.

Schirad schüttelte den Kopf. „Der unbekannte Täter kam und ging innerhalb weniger Minuten wie ein Geist.“

„Was haben die Zeugenbefragungen ergeben?“

„Wenig. Eigentlich nichts.“ Klaus sortierte einige Notizblätter. „Quintessenz aller Aussagen: Elodie Nguyen war eine liebenswürdige Frau, verständnisvolle Freundin und treusorgende Ehefrau. Keiner, der Schlechtes über sie gesagt hätte. Allerdings sind diese Vietnamesen auch ausgesprochen schweigsam, wenn heikle Fragen gestellt werden. Obwohl sich Fräulein Duyen bei der Übersetzung alle Mühe gegeben hat und erstaunliches Einfühlungsvermögen bewies.“

„Duyen wird, wenn es ihre Zeit erlaubt, uns auch weiterhin als Dolmetscherin zur Verfügung stehen.“

„Sehr gut …“

Daniel Kelm hob den Zeigefinger. „Ich habe mich heute Nachmittag mit einem Nachbarn der Nguyens unterhalten, er wohnt auf derselben Etage. Dieser Mann schilderte mir einige Beobachtungen, die nicht so recht in euer Bild passen.“

Seine Kollegen sahen ihn erstaunt an.

Er zog einen bekritzelten Zettel hervor. „Robert Schwamm, geschieden und allein lebend, Wachschutzangestellter im Schichtdienst …“

„Mach´s nicht so spannend.“

Kelm räusperte sich. „Dieser Herr Schwamm ist tagsüber oft zu Hause und traf Elodie Nguyen manchmal im Aufzug oder auf der Etage, wenn sie von der Arbeit kam. Dann wechselten beide ein paar Worte, unterhielten sich kurz. Die Verständigung war wohl kein Problem, denn sie sprach gut Deutsch. Er meinte, seit dem Frühjahr eine Veränderung an ihr bemerkt zu haben – sie machte einen traurigen, fast sorgenvollen Anschein, ihr Gesicht schien blasser als sonst und unter den Augen lagen Schatten. So drückte er sich aus. Einmal erzählte sie ihm wehmütig von Vietnam und den Verwandten, die dort leben …“

„Vielleicht sehnte sich Elodie dorthin zurück, seit sie im Herbst des vergangenen Jahres ihre ehemalige Heimat besucht hatte“, sprach Hatice einen Gedanken laut aus.

„Schwamm erwähnte noch zwei Dinge, die wichtig sein könnten. Er hatte im Laufe der letzten Monate immer öfter mal mitbekommen, dass sich Elodie und ihr Mann lauthals gestritten haben. Einmal sollen dabei sogar Gegenstände durch den Flur gepoltert sein, so als ob etwas geworfen wurde. Er sprach Elodie am nächsten Tag daraufhin an, aber sie wiegelte ab. Und dann …“, Kelm wechselte zu einem anderen Zettel, „tauchte ein fremder Mann auf …“

„Also doch!“, nickte Klaus.

„Schwamm bemerkte ihn das erste Mal Anfang Mai vor der Wohnungstür der Nguyens, die offensichtlich nicht zu Hause waren. Er dachte sich nichts dabei und schenkte dem Mann keine besondere Beachtung. Zwei Wochen später sah er Elodie zusammen mit ihm in der Nähe des Haues auf einer Parkbank sitzen, sie unterhielten sich lebhaft. Dann im Juni beobachtete er durch den Spion seiner Tür, wie genau dieser Mann aus der Wohnung der Nguyens kam und sich ziemlich zärtlich von Elodie verabschiedete. Die Beiden küssten sich …“

„Du hast dir natürlich eine Beschreibung von ihm geben lassen?“

Daniel schob seine Brille höher. „Ein Deutscher, Anfang Vierzig oder etwas älter. Mittelgroß – so um die eins siebzig –, von dicklicher Gestalt und gut gekleidet, Anzug, Krawatte, teure Schuhe.“

„Traust du diesem Schwamm zu, uns bei der Anfertigung einer Phantomzeichnung behilflich zu sein?“

„Ich habe ihn für morgen Vormittag her bestellt.“