Der Garten des Blinden - Nadeem Aslam - E-Book

Der Garten des Blinden E-Book

Nadeem Aslam

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Beschreibung

„Ein machtvoller und bewegender Roman über Liebe, Freundschaft und den Krieg. Großartig!“ The Times

Pakistan in den Monaten nach dem 11. September: Jeo ist mit Naheed, der großen Liebe seines Lebens, verheiratet, die auch sein Adoptivbruder Mikal begehrt. Als Jeo sich auf den Weg macht, in Afghanistan verwundeten Zivilisten zu helfen, begleitet Mikal ihn, doch ein Komplott führt die beiden unversehens zwischen die Fronten, Jeo stirbt, und Mikal gerät in Gefangenschaft.

Auch in das Leben der Familie zu Hause bricht der Krieg ein. Ihr Vater Rohan, gläubiger Muslim und Gründer einer liberalen Schule, sieht sein Lebenswerk durch Fundamentalisten bedroht, und Naheed tut alles, um die mühsam erkämpfte Freiheit der Frauen nicht wieder zu verlieren. Sie trauert um Jeo, gibt aber die Hoffnung nicht auf, dass Mikal eines Tages zurückkehrt.

Ebenso schonungslos wie poetisch beschreibt der vielfach ausgezeichnete Autor Nadeem Aslam in "Der Garten des Blinden" eine sehr gegenwärtige, dabei zeitlose Welt um Liebe und Krieg, Verlust und Verrat und um die tiefsten Beweggründe menschlichen Handelns.

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Seitenzahl: 570

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NADEEM ASLAM

DER GARTEN DES BLINDEN

Aus dem Englischen vonBernhard Robben

Deutsche Verlags-Anstalt

Für Sadia und Nasir

Inhalt

I Anmerkungen zum Scheitern

II Der Garten des Blinden

III Gleiche Söhne

IV Jesaja

Danksagung

Übersetzungsnachweise

IAnmerkungen zum Scheitern

Doch in den Staub wenn das dahinsterbend dunkele Blut einmal sich gemischt hat,Wer ruft es mit Zauber zurück ins Leben?

AISCHYLOS, AGAMEMNON

1

Geschichte ist der dritte Elternteil.

Kurz nach Einbruch der Nacht kommt Rohan auf seinem Weg durch den Garten eine Erinnerung an seinen Sohn Jeo, eine Erinnerung an dessen Kindheit, die ihn langsamer gehen und schließlich stehen bleiben lässt. Der Strom ist ausgefallen und im Haus brennen an mehreren Stellen Kerzen. Wunden, heißt es, verströmen unter gewissen Umständen Licht – berührt man sie, bleibt ihre Helligkeit an den Händen haften –, und als Rohan die brennenden Kerzen sieht, scheint ihm jede Flamme in seinem Haus eine Verletzung zu sein.

Eines Abends, als er Jeo eine Geschichte erzählte, verzog sein Sohn bekümmert das Gesicht. Rohan hielt inne, ging zu ihm, nahm ihn in den Arm und spürte, wie heftig der kleine Körper zitterte. Mit einsetzender Dämmerung redete der Junge sich stets ein, dass er weiterleben wird, auch wenn er einschläft, dass er jenseits der Nacht wieder im Licht auftaucht. An diesem Abend aber plagte ihn etwas anderes. Schließlich verriet er, sein Kummer sei durch das Auftauchen des Bösewichtes in der Geschichte ausgelöst worden. Um ihn zu trösten, lachte Rohan leise und fragte dann:

»Hast du denn je eine Geschichte gehört, in der am Ende das Böse siegt?«

Der Junge dachte einen Augenblick nach, ehe er antwortete:

»Nein, aber ehe der Böse verliert, tut er den Guten weh, und das macht mir Angst.«

2

Rohan schaut aus dem Fenster; sein Blick ruht auf dem Baum, der von seiner Frau gepflanzt worden war. Zwanzig Jahre ist es jetzt her, dass sie vier Tage nach Jeos Geburt starb. Der Duft der Baumblüten kann ein Gespräch verstummen lassen; Rohan kennt keinen reineren Quell der Melancholie. Etwas bewegt sich im Wind – eine Handvoll Laub an einem Zweig, wie ihn ein Soldat vor der Schlacht pflückt, um den Helm zu tarnen.

Er sieht auf die Uhr. In wenigen Stunden wird er mit Jeo zu einer langen Reise aufbrechen; sie fahren mit dem Nachtzug nach Peschawar. Es ist Oktober. Letzten Monat wurden die Vereinigten Staaten angegriffen, ein Tag des Feuers für ihre Städte. Woraufhin westliche Armeen in Afghanistan einfielen. »Die Schlacht um das World Trade Center und das Pentagon«, so nennen manche hier in Pakistan den Terrorangriff im September. Laut ihrer Logik gibt es in einer schuldigen Nation keine Unschuldigen. Folgerichtig werden Wochen später nun die Gebäude, Obstwiesen und Berge Afghanistans von Granaten und Brandbomben zerfetzt. Die Verwundeten und Verletzten bringt man nach Peschawar – und Jeo möchte in die Grenzstadt, um zu helfen. Morgen früh werden Vater und Sohn nach einer zehnstündigen Fahrt durch die Nacht dort ankommen.

Das Fensterglas zeigt Rohans Spiegelbild – die dunkelbraune Iris der Augen, den farblosen Bart, dem das Kerzenlicht einen leichten Glanz verleiht. Das Gesicht ein Protokoll der Zeitenlast auf seiner Seele.

Erste Mondstrahlen fallen auf Zweige und Laub, kaum dass er in den Garten geht. Aus dem Alkoven nimmt er eine Lampe mit, bleibt unterm Persischen Flieder stehen und blickt hinauf in die riesige Krone. Die höchsten Bäume im Garten sind zehnmal mannshoch, doch selbst wenn Rohan den Arm mit der Lampe ausstreckt, durchdringt das Licht kaum die erste Blätterschicht, weshalb er die Vogelschlingen nicht sehen kann – dieses Netz dünner Stahldrähte tief versteckt im grünen Baldachin –, geschmeidige Knoten, die sich gerade so weit zuziehen, dass sie einen Flügel, einen Hals in zarter, harmloser Gefangenschaft halten.

Zumindest hat der Fremde das behauptet. Der Mann war am späten Vormittag zum Haus gekommen und hatte gefragt, ob er die Fallen spannen dürfe. Auf seinem rostigen Fahrrad war hinten ein großer rechteckiger Käfig befestigt. Er fahre durch die Stadt, erklärte er, mit einem Käfig voller Vögel, und die Leute bezahlten ihn dafür, eines oder mehrere der Tiere freizulassen, eine mitfühlende Tat, durch die der Kunde Vergebung für einige seiner Sünden erlangte.

»Man nennt mich den Vogelbegnadiger«, sagte er. »Der befreite Vogel zwitschert ein Gebet für den, der seine Freiheit erkauft. Und die Gebete der Schwächsten hat Gott noch nie ignoriert.«

Er fand den Gedanken des Fremden alles andere als einfach, die Logik hanebüchen. Falls ein Vogel ein Gebet für den spricht, der seine Freiheit erkauft, wird er sich da nicht für die Bestrafung desjenigen einsetzen, der ihn gefangen nahm? Und auch desjenigen, der das Fallenstellen ermöglicht? Rohan hatte darüber nachdenken wollen und den Mann gebeten, später noch einmal wiederzukommen. Doch als er aus seinem Nachmittagsschläfchen erwachte, musste er feststellen, dass der Vogelbegnadiger ihren kurzen Wortwechsel als Zustimmung gedeutet hatte. Während Rohan schlief, war er zum Haus zurückgekehrt, um zahllose Schlingen auszulegen; Jeo gegenüber hatte er behauptet, Rohans Einverständnis zu haben.

»Er hat gesagt, er komme gleich morgen früh wieder, um die Vögel einzusammeln«, erklärte Jeo.

Während Rohan im Garten umhergeht, schaut er hinauf in die breitarmigen Bäume zu den abertausend schlafenden Blättern. Hin und wieder kommt eine Bö auf, ansonsten aber herrscht Stille und Reglosigkeit, die vollkommene Ruhe der Nacht. Er nimmt an, dass bereits viele Fallen ausgelöst wurden, und muss sich unwillkürlich Angst und Leid der gefangenen Vögel ausmalen, die tagsüber noch flötend durchs Laub gehuscht waren. Nun meint Rohan beinah spüren zu können, wie Augenpaare eins ums andere erloschen.

Je größer die Sünde, desto seltener und teurer der Vogel, den es braucht, ihre Vergebung zu erlangen. Führt der Vogelbegnadiger sein Geschäft nach diesem Prinzip? Ein Spatz für einen kleinen Betrug, aber einen Paradiesschnäpper oder Glanzfasan für den, der Zweifel an der Existenz Allahs zulässt?

Rohan legt eine Hand an die Rinde, als wolle er den kleinen Geschöpfen Geduld und Mut hinaufschicken. Er war Gründer und Direktor einer Schule, und seine Zuneigung für diesen Baum wurzelt in dessen Verbindung zur Gelehrsamkeit. Von alters her hat man Schreibtafeln aus seinem Holz gemacht, woran der lateinische Name des Schulholzbaumes erinnert: Alstonia scholaris.

Die Lampe vor sich hertragend, geht er zur Rückseite des Hauses, das mitten im Garten steht. Vor Beginn der Bauarbeiten hatte er die Städte Mekka, Bagdad, Córdoba, Kairo, Delhi und Istanbul aufgesucht, die sechs Orte früher Pracht und Hoffnung des Islam. Aus jedem brachte er eine Handvoll Staub mit, den er im weiten Bogen auswarf, um dann zuzusehen, wie ihm Glaube, Urteil und Wahrheit aus der Hand wehten und sanft zu Boden sanken. In Gestalt eines Halbmondes, einer Sensenklinge, wurde entlang dieser reinigenden Linie dann das Fundament ausgehoben.

Im neunzehnten Jahrhundert hatte Rohans Urgroßvater auf diesem Land Pferde gezüchtet, Tiere, die weithin dafür bekannt waren, drahtig, flink und kraftvoll zu sein, sowie dafür, selbst auf steinigem Grund ohne Hufeisen laufen zu können. Im Juli 1857, also zur Zeit des Aufstandes gegen die Briten, suchte den Pferdezüchter am Tag einer Sonnenfinsternis eine Schar Männer auf, Rebellen, die während jener siebzehn Minuten Halbdunkelheit von der »Sache« redeten, von der Nation, und die mit ihren Worten wie mit Pfeilen auf die bewaffnete Macht des Empires zielten. Großbritannien war damals die machtvollste Nation der Erde, es stünde nichts weniger als das Schicksal der Welt auf dem Spiel, und sie bräuchten seine Hilfe. Doch er sagte, er könne ihnen keine Pferde geben, die Norfolk-Traber und Araber-Hengste, die Dhanni-, Tallagang- und Kathiawar-Stuten – sie seien in eine einsame Gegend geschickt worden, um sie vor dem Ludhiana-Fieber zu schützen, das in der Gegend grassierte.

Als sich die Aufständischen abwandten und gehen wollten, klaffte vor ihnen der Boden auf, ein Riss wuchs und gewann sternförmige Gestalt, in deren Mitte eine kleine Kugel aus schwärzestem Glas sichtbar wurde. Gleich darauf begriffen sie, dass sie auf ein Auge schauten, ein uraltes Funkeln, das sie durch die Eingeweide der Erde anstierte. Ein Phantom. Eine Chimäre. Noch eine Sekunde, und der ganze Pferdekopf kam zum Vorschein, der mächtige, muskulöse Hals ruckte und verspritzte Sand in sonnenfinstere Luft. Die Hufe fanden, was sie an Halt brauchten, der gewaltige Brustkorb folgte, die großen, starken Schenkel. Fleisch entriss sich dem lebenden Planeten.

Die Erde explodierte. Ein Dutzend Pferde, dann fast zwei Dutzend, ihr lautes Wiehern durchschnitt die Luft nach den im Dunkeln gefangenen Stunden. Eine Eruption wütender Seelen aus der Unterwelt. Aufgeworfene Scholle, Gebrüll aus befreiten Mäulern und das Entsetzen der Männer im Taglichtdämmer.

Rohans Urgroßvater war zuvor darüber informiert worden, dass die von den Briten gejagten Aufständischen versuchen wollten, sich seine Pferde zu nehmen. Mehrere Stunden lang hatte er daraufhin mit seinen neun Söhnen eine Grube ausgehoben, die tiefer war als ihr größter Hengst. Dann wurden alle fünfundzwanzig Tiere hineingeführt, die schwarzen, weißen, braun gescheckten und rotschimmeligen, deren Farben hell in den schräg einfallenden Strahlen der untergehenden Sonne schimmerten.

Die Männer liebten ihre Pferde, und diese vertrauten ihren Herren, als ihnen die Augen verbunden und sie ins Loch geführt wurden. Erst als man anfing, sie mit Erde zuzuschütten, als die Sandschicht um ihre Beine immer höher wuchs, begannen sie, mit den Hufen auf den Boden zu trommeln. Streifen weißsalzigen Schaums zeigten sich auf ihren Leibern, während die Männer mit leisen Stimmen die Tiere beruhigten, sie zu trösten versuchten. Nichtsdestotrotz wurde die Arbeit stetig und entschlossen die ganze Nacht fortgesetzt, während über ihnen die Sterne erschienen, um schließlich wie ein gläserner Wald am Firmament zu hängen; und später dann, als ein Unwetter nahte und die Nacht wild war vor elektrischer Spannung, sah der Himmel aus, als herrschte droben gleichfalls Krieg und Rebellion, bloß weil sie nicht zulassen wollten, dass auch nur ein einziges Pferd in die Hände der Aufständischen fiel, die, fand Rohans Urgroßvater, irregeleitet waren; seine Treue galt allein den Briten.

»Werde!«, hatte Allah dem Südwind befohlen, und der Vollblutaraber ward geschaffen.

Als den zehn Männern schließlich Erbarmen das Herz erweichte, schritten sie die Reihen ab und stülpten über jeden Pferdekopf einen großen Korb, eine aus Grashalmen und Palmwedeln gewobene Kapuze, eine Lufttasche, damit die Tiere atmen konnten. Dann stiegen sie aus der Grube und begannen, sie gänzlich mit Erde zu füllen, wobei sie sich vergewisserten, dass die Körbe vollständig verdeckt wurden bis auf ein daumenabdruckgroßes Loch, durch das Luft eindringen konnte. Als sich hinter den Männern bei Sonnenaufgang schließlich ein leuchtend roter Rand am Horizont zeigte, war aus der Tiefe nichts mehr zu vernehmen als ein schwaches Beben der Hufe. So begannen sie, auf die Ankunft der Rebellen zu warten, und meinten plötzlich nur allzu deutlich zu spüren, wie schwer ihr Gewicht auf der Erde lastete.

Insekten werden von der hellen Lampe in Rohans Hand angezogen, als er zurück zum Haus geht, Nachtmotten wie Späne von einem Bleistiftanspitzer, Motten so übergroß und so intensiv betüpfelt, dass man sie mit Schmetterlingen verwechseln kann.

Vor ihm auf dem Weg liegt eine schwarze Feder von einem der sich wehrenden Vögel über ihm.

Der Aufstand wurde letztlich niedergeschlagen, und eintausend Jahre islamischer Herrschaft fanden in Indien ein Ende; Großbritannien nahm das Land vollständig in seinen Besitz. Eine muslimische Nation ging an Ungläubige verloren, und Rohans Vorfahren hatten ihren Anteil daran gehabt.

Dies war der jahrhundertealte Makel, den Rohan zu tilgen versuchte, als er Erde aus Allahs sechs geliebten Städten verstreute: Mekka, Bagdad, Córdoba, Kairo, Delhi und Istanbul. Er hatte sie ungefähr dort verstreut, wo die Grube gewesen war, das Grab der Pferde, der Erdspalt, aus dem sie sich befreien konnten.

3

Die Gartenmauer ist mit dem Jasmin der Dichter behangen, mit der Landesblume Pakistans. Jeo geht daran entlang, bis er das Zimmer betritt, das einmal das Büro seiner Mutter gewesen war. Er stellt die brennende Kerze auf den Tisch, dessen Arbeitsplatte mit den Tintenflecken ihres Füllers übersät ist. Seit ihrem Tod wurde das Kalenderblatt nicht mehr abgerissen, seit dem Monat, in dem er geboren wurde.

Er schlägt ein großes Buch mit Karten auf, sein Atem der einzige Laut im Zimmer. Er hat gelogen, als es um die Fahrt nach Peschawar ging. Er will da sein, wo er am nötigsten gebraucht wird – will so nahe wie möglich am Gemetzel des Krieges sein –, weshalb er heimlich alle Vorbereitungen dafür getroffen hat, über Peschawar nach Afghanistan einreisen zu können.

Im spärlichen Licht über die Karten gebeugt, studiert er die Geografie der Nordwest-Grenzprovinz, wohin er heute Abend mit seinem Vater fährt. Der Blick wandert von Ort zu Ort. Dort erhebt sich der Bergrücken Pir Sar, den Alexander 326 v. Chr. belagerte – eine so kolossale Bastion, dass selbst Herakles, heißt es, der Sohn des Zeus, sie unbezwingbar fand. 1221 hatte Dschingis Khan den letzten Mongolenfürsten Zentralasiens bis in diese Gegend gleich südlich von Peschawar verfolgt. Und dort liegt auch Pushkalavati, im fünften, sechsten und siebten Jahrhundert bei chinesischen Pilgern beliebt, weil Buddha dort einst seine Augen als Almosen dargeboten hatte.

Dass er die Grenze nach Afghanistan überqueren will, hat er nicht nur dem Vater verschwiegen. Damit sie sich nicht unnötig aufregt, hat Jeo auch seiner Frau, mit der er seit zwölf Monaten verheiratet ist, kein Wort von seinem Vorhaben gesagt, ebenso wenig der Schwester oder seinem Schwager. Rohan wird ihn heute Abend nach Peschawar begleiten und übermorgen zurückreisen, dann aber sollte er, Jeo, bereits in Afghanistan sein.

Als Kind schlief er oft ein, wenn sein Vater ihm Geschichten erzählte, und dann träumte er von Märtyrern. Er sah sie, wie sie am Boden lagen und wie ihnen die Seele aus dem Leib fuhr, behutsam untergehakt von Engeln oder anderen geflügelten Wesen; Sonne und Wolken rot, die fliegenden Vögel blutbefleckt. Im Traum wusste er, dass sie mit Furcht einflößender Entschlossenheit und ebensolcher Kraft gekämpft hatten, beides nicht durch den Krieg geschmiedet, sondern durch ihn nur offenbart, waren diese Stärken doch schon lang vor ihrer Geburt in ihnen angelegt gewesen. Und während er schlief, wusste Jeo, dass sie alle er selbst waren, dass sie jene Männer waren, die er selbst vor diesem heutigen Mann gewesen war, die Geistertausende, die über Generationen zurückreichten. Und während er schlief, lehrten sie ihn nicht nur etwas über Leben und Tod, sondern etwas über das ewige Leben und den Tod.

Sorgsam trennt er mehrere Seiten aus dem Buch; in diesem Licht sehen Afghanistans Berge, Hügel und endlos sich verzweigenden Felsschluchten wie zerknülltes Papier aus, weshalb wohl kurz der Wunsch in ihm aufflammt, sie glatt streichen zu wollen. Laserstrahlgeführte Bomben fallen auf die Blätter in seiner Hand, aus dem Arabischen Meer herbefohlene Raketen, abgefeuert von amerikanischen Kriegsschiffen, die so lang sind, wie das Empire State Building hoch ist.

Er verlässt das Zimmer, durchquert den Garten und löst, sooft er das Laub streift und aufwärts blickt, Bewegungen aus, in jede Richtung fliehende Schatten. Ist ein Vogel in der Schlinge gefangen, ziehen sich gleich mehrere Knoten zusammen, die den Körper halten und verhindern sollen, dass das Tier sich durch wildes Flattern verletzt.

Auf der Terrasse steckt er die Karten in seine Reisetasche. Lampenlicht erhellt das Fenster des Zimmers, das er sich mit seiner Frau Naheed teilt; ihr Schatten gleitet über die Wand. Das Licht ist bernsteinfarben wie ihre Augen, und in Gedanken sieht er die dunkle Kaskade ihrer Haare, spürt wie jede Nacht das Gewicht ihrer Hand auf seiner Brust. Wieder einmal überkommt ihn das Verlangen, der Wunsch, in Reichweite ihrer Arme zu sein, weiß er doch, dass er sie nach heute Nacht eine Weile nicht sehen wird. Er geht über den dunklen Flur und betritt das Zimmer; sie dreht sich zu ihm um.

Mikal begleitet ihn nach Afghanistan. Es war eine zufällige Begegnung, letzte Woche, als Jeo mit dem Motorrad über die Grand Trunk Road zur anderen Seite der Stadt fuhr. Dort stellte er sich offiziell im Hauptquartier jener Organisation vor, die Leute nach Afghanistan schickt. Sie brauchen Ärzte – Jeo absolviert an der Fachhochschule für Medizin zwar erst sein drittes Jahr, die Ausbildung ist also noch lange nicht beendet, trotzdem freute man sich über sein Hilfsangebot. Es handelt sich um eine wohltätige Organisation, zu der eine Madrasa gehört, in der die Kinder der Armen lesen lernen – zwanzig Räume, die von murmelnden Stimmen widerhallen, ein Bienenstock der Warnung und des Lobs –, und er war bereits wieder auf dem Weg nach draußen, als er jemanden aus einer nahen Tür treten sah. Im Gesicht der Ausdruck unüberwindbarer Verlassenheit.

»Mikal.«

Falls Liebe beginnt, wenn man einen Blick auf die Einsamkeit des anderen erhascht, dann liebte er Mikal, seit sie beide zehn Jahre alt gewesen waren.

Mikal blickte auf, und Jeo ging zu ihm; sie umarmten sich.

»Was machst du hier?«, fragte Jeo, als sie sich voneinander lösten.

Mikal umarmte ihn aufs Neue. »Ich habe ein paar Gewehre repariert und hergebracht«, sagte er schließlich und redete wie immer mit einem gewissen Nachdruck, wobei die in der Mitte zusammenwachsenden Brauen kaum wahrnehmbar zuckten. »Schließlich arbeite ich in einem Waffengeschäft.«

Die Madrasa war erfüllt vom Lärm der Kinder, die, da sie kaum etwas anderes als die Entbehrungen des Lebens kannten, so beteten, wie sie aßen, nämlich mit großer Gier.

Jeo zögerte keinen Moment, Mikal von Afghanistan zu erzählen. Seinem Beinahe-Bruder. Seinem Blutsbruder in allem, bis auf den Namen. Zehn Jahre war Mikal alt gewesen, als er und sein älterer Bruder in Jeos Haus kamen, Mikal mit einem Buch über Sternbilder unterm Arm, große Blätter mit Heroen und Ungeheuern in diamantbesetzten Netzen. Da sich herausstellte, dass der Welpe in seiner anderen Armbeuge ein Wolf war, mussten sie ihn nach kaum zwei Monaten wieder laufen lassen. Mikal und Jeo waren gleich alt und wurden bald unzertrennlich, Jeo ganz eingenommen von Mikals Wachsamkeit und Selbstgenügsamkeit, der Anmut, die jede seiner Bewegungen prägte, von gelegentlichen Aussetzern einmal abgesehen, immer dann, wenn ihn irgendwas ärgerte oder er nicht gefunden werden wollte.

»Du gehst nach Afghanistan?«, fragte Mikal, als Jeo verstummte.

»Nur für einen Monat. Später ziehe ich vielleicht für länger hin.«

»Und was ist mit deinem Studium?«

»Hol ich nach.« Jeo war zwölf Jahre alt gewesen, als Rohan ihn zum ersten Mal zu einer OP mitnahm, und mit dreizehn wusste er bereits so manches von dem, was Studenten an der Fachhochschule im ersten Jahr beigebracht wurde.

Als sie mit dem Motorrad durch den Verkehr brausten – er brachte Mikal zurück zum Waffengeschäft –, sagte er über die Schulter gewandt: »Du hast mir immer noch nicht erzählt, warum du letztes Jahr so völlig abgetaucht bist. Selbst meine Hochzeit hast du verpasst. Und seither nur ein kurzer Besuch. Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt noch weißt, wie meine Frau heißt.«

»Ich habe ja nicht gewusst, dass du heiratest«, sagte Mikal.

Mikals Eltern waren beide Kommunisten gewesen, und den Vater hatte man verhaftet, als Mikal zur Welt kam; seit dem Tag ward er nicht mehr gesehen. Der Tod der Mutter ein Jahrzehnt später war für Rohan dann Anlass gewesen, Mikal und seinen Bruder bei sich aufzunehmen. Immer wieder kamen Leute zu Mikal, die eine schwere Zeit durchmachten, und baten ihn, für sie zu beten, da Allah die Fürbitten von Waisenkindern angeblich niemals ignorierte.

In den Regalen des Waffenladens stapelten sich die AK-47 in Sechserreihen. Wären sie echt, würden sie achtzigtausend Rupien das Stück kosten, aber es handelte sich um Kopien, die man für ein Viertel des Preises bekam. Einen Tag, nachdem der Westen in Afghanistan einmarschierte, wurde ein »Frömmigkeitsnachlass« für jene eingeführt, die ein Gewehr kaufen wollten, um im Dschihad zu kämpfen. Es gab auch Nachbauten älterer Gewehre, Waffen, wie man sie im Zeughaus des Towers von London finden konnte, chinesische Pistolen, Kaliber 30, oder argentinische Ballester-Molinas. An der Wand hing ein großes Foto von einem Vogelschwarm, Adler, die man dazu abgerichtet hatte, in den Kriegen der Menschen zu kämpfen, die Schwingen ausgebreitet wie lebende Buchstützen – ein Traum aus der Vergangenheit des Landes.

Der Inhaber trug Mikal diverse Reparaturarbeiten auf und verließ den Laden, um dem Ruf des Muezzins zu folgen. An einem Gewehr klemmte der Abzug, und der Besitzer eines Revolvers wollte, dass seine Waffe beim Abschuss lauter knallte. Mikal löste den Handschutz, entriegelte den Verschluss und nahm den Lauf ab. »Afghanistan also«, sagte er.

»Du bist der Einzige, dem ich davon erzählt habe.«

»Und wenn dir was passiert?«

»Kommst du uns vorher noch besuchen?« Die Bande zwischen ihnen waren stärker geworden – Jeos Schwester hatte Mikals Bruder geheiratet.

»Dir könnte da draußen was zustoßen, Jeo. Man könnte dich umbringen, oder du kommst ohne deinen Verstand zurück, ohne deine Arme oder Beine, deine Augen.«

»Was, wenn jeder so denkt?«

Mikal ließ den Blick auf ihm ruhen, dann machte er sich wieder an die Arbeit. Jeo meinte beinahe spüren zu können, wie sich sein Verstand ans Werk machte. Wenn Mikal etwas Mechanisches sah, musste er dessen Geheimnis erkunden. Einmal hätte er fast einen Hubschrauber gestohlen. »Warum haben die auch den Schlüssel stecken lassen?«, sagte er. »Ich hab’s mir erst anders überlegt, als ich die komplizierte Steuerung sah.« Mit vierzehn hatte er schon einen Bulldozer gefahren, verschiedene Autos, ein Boot.

»Früher hast du Spielzeug gemacht«, sagte Jeo.

Mikal lehnte sich auf dem Stuhl nach hinten, öffnete, ohne hinzuschauen, den Schrank in seinem Rücken und holte einen kleinen aufziehbaren Laster heraus, drehte mehrmals den Schlüssel und stellte das Fahrzeug auf den Glastresen. Jeo hielt abwartend die Hand hin und fing das Spielzeug auf, als es über den Rand fiel.

»Kannst du behalten. Gehört dir.« Mikal schob ihm den Schlüssel über den Tresen zu. »Und was, wenn ich sage, dass ich mitkomme?«

»Ich brauche keinen Aufpasser.«

Mikal hatte die Ladeklappe geöffnet und den Hahn halb gespannt, hielt jetzt aber inne und blickte auf. »So habe ich es nicht gemeint.« Dann drehte er die Trommel und holte die Patrone mit dem Auswerfer aus der Ladekammer.

Anschließend steckte er sich eine Gold Flake an und sagte mit breitem Grinsen: »Ich rauche fünf Stück am Tag. Meine fünf Gebete.«

Jeo rang sich ein Lächeln ab. »Du kommst noch in die Hölle«, sagte er, um gleich darauf fortzufahren: »Hast du das ernst gemeint? Willst du wirklich mitkommen?«

»Ja, ich gehe nachher noch mal hin und lass mich eintragen.«

»Und was willst du tun?«

»Ich hole für dich die Verwundeten vom Schlachtfeld.« Ohne ihn anzusehen, setzte er nach einer Weile hinzu:

»Und ich weiß ihren Namen noch, Jeo. Ihren Namen und auch, dass sie vom Propheten abstammt.«

Naheed schiebt Jeos Arm von ihrer Hüfte. In kaum zwei Stunden wird er mit Rohan den Zug nach Peschawar besteigen, für den Augenblick aber ist er in einen leichten Schlaf gesunken. Sie knöpft sich die Tunika bis zum Hals zu, steht auf und will gehen, als ein kleiner Ruck sie plötzlich zurückblicken lässt. Jeo liegt auf ihrem Schleier. Als sie im Kerzenschein zu ihm zurückgeht, erkennt sie, dass er sich sogar einen Zipfel um den rechten Zeigefinger gewickelt hat. Sie löst den Knoten, und die Glasreifen klirren leise, als sie ihm behutsam einen Klaps auf die bloße Schulter gibt. Er lächelt mit immer noch geschlossenen Augen, und auf jeder Wange bildet sich ein fast zwei Zentimeter langes Grübchen. Eines Tages hat er sie mit den Worten verblüfft: »In deinen Anblick versunken würde ich gern sterben.«

Sie schaut aus dem Fenster, vorbei am niedrigen Rosenholzast, an den jedes Jahr ein Schaf gehängt wird, um es, eingedenk des von Abraham erbrachten Opfers, in den letzten wenigen Momenten, die es bei Bewusstsein ist, zu schächten und zu häuten. Meist wird das ausgewachsene Tier wenige Tage zuvor gekauft, aber idealerweise sollte es als Lamm besorgt, aufgezogen, liebevoll gehegt und dann getötet werden.

Sie dreht sich um und sieht, dass er sie betrachtet. Auf einen Ellbogen gestützt, nimmt Jeo den Spielzeuglaster von einem der Bücher, die sich auf dem Nachtschränkchen stapeln. An den Kleidern vorbei, die er vorhin einfach auf den Boden fallen ließ, fährt ihr der Wagen entgegen, ist aber bald unterm Sessel verschwunden, wo das Geräusch des blechernen Gewindes schlagartig verstummt, als das Gefährt gegen die Wand kracht.

»Mikal hat mir das Spielzeug gegeben«, sagt er und legt sich wieder hin.

Sie sammelt seine Kleider ein und legt sie ans Fußende des Bettes. Das Hemd hat sie für ihn genäht – in aller Heimlichkeit und ohne jemandem zu verraten, wie sie es geschafft hat, dass man daran keinen einzigen Stich und auch keine Naht erkennen kann.

Sie greift sich eine Lampe vom Sims im Flur und tritt ins kalte Dunkel. Schaut nach oben in die Bäume. Wenn Rohan und Jeo heute Abend nach Peschawar unterwegs sind, wird sie zum einige Straßen entfernten Haus ihrer Mutter gehen, aber früh am nächsten Morgen zurückkehren, um auf den Vogelbegnadiger zu warten. Rohan hat sie gebeten, dafür zu sorgen, dass alle Vögel freigelassen werden. »Und er muss die Schlingen abbauen. Ich kann mich nicht erinnern, ihm dafür meine Erlaubnis gegeben zu haben.« Sie hebt den Arm, und auf mehreren, hoch über ihr angebrachten Drahtschlingen zersplittert das Licht der Lampe in harsches Glitzern.

Sie fragt sich, wo sich Mikal in diesem Augenblick wohl aufhält. Eigentlich ist Trauer um die Verlorenen und Vermissten schlimmer als Trauer um die Toten, und manchmal überwältigt sie der Kummer mit solcher Macht, dass sie sich für den Bruchteil einer Sekunde lang wünscht, Mikal würde nicht mehr leben, nur damit sie sich nicht fragen muss, ob sie ihn jemals wiedersehen wird.

»Lass uns einfach weglaufen«, hatte er eine Woche vor ihrer Hochzeit mit Jeo gesagt und in die Nacht hinausgezeigt. »Lass uns da draußen einfach irgendwo verschwinden.« Sein Vorschlag hatte sie schockiert, aber dann hatte sie plötzlich wild entschlossen eingewilligt.

Zur vereinbarten Stunde aber war er nicht gekommen.

Sie folgt einem der viele roten Pfade, die den Garten durchziehen.

Ursprünglich war das halbmondförmige Haus die von Rohan und seiner Frau Sofia gegründete Schule Ardent Spirit gewesen. Als es aber für die ständig wachsende Zahl der Schüler zu klein wurde, baute man auf der anderen Seite des hinterm Gebäude vorbeiströmenden Flusses eine neue Schule. Und Rohan und Sofia zogen in dieses Haus ein.

Vor Jahrzehnten, als ihnen die Idee zu Ardent Spirit kam, hatte Rohan seiner Frau den Grundriss mit Streichhölzern erklärt.

Die Schule ist in sechs Zimmerpaare aufgeteilt, die in einem eleganten Schwung aufeinander folgen und durch einen überdachten Flur miteinander verbunden sind. Und jedes Zimmerpaar wiederum wird nach einem der sechs Zentren einstiger islamischer Pracht und Herrlichkeit benannt.

Haus Mekka liegt inmitten arabischer Dattelpalmen, die den ganzen Sommer über ihre Früchte auf das Dach fallen lassen, Datteln, die wie süßes, kaubares Leder schmecken. Neben dem Eingang steht eine Tafel mit dem Namen des Hauses und den Worten: Um genau feststellen zu können, in welcher Richtung Mekka liegt, begannen die Muslime, sich für Geometrie und Mathematik zu interessieren, und erfanden schließlich die Trigonometrie.

Die Worte sollten die Kinder an ihr Erbe erinnern, an die Errungenschaften des Islam und dessen alte Tradition der Gelehrsamkeit.

Kletterrosen bedecken Haus Bagdad, klammern sich mit schlanken, besitzergreifenden Ranken an die Mauern, und auf den Fliesen liegen verblühte Blätter, werfen geliehenes Licht tief in den Abend zurück. Den Schülern brachte man bei, dass es in Bagdad bereits im Jahre 830 ein Haus der Weisheit gegeben hat.

Spanische Mandelbäume und Nelken wachsen rund um das Haus Córdoba. Der draußen angebrachten Tafel zufolge war es eine Nelke, die der Herrscher der Dschinns einst König Salomon reichte, damit er sie der Königin von Saba schenke. Sie solle sie in ihrem Haar tragen. Die Tafel hält außerdem fest, dass die spanischen Muslime um 1150 das erste Papier in Europa herstellten und dass Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, alle offiziellen Dokumente für ungültig erklärte, die auf Papier niedergeschrieben worden waren, da man das Papier in Europa den Muslimen zuschrieb.

In einem dreieckigen Teich vor dem Haus Kairo wächst ägyptischer Blauer Lotus in dichten Reihen; nachts schließen sich die Blüten und versinken im Wasser, um erst am Morgen wieder aufzutauchen – Kairo, wo 995 das Haus der Wissenschaft errichtet wurde und die Bibliothek im Fatimidenpalast vierzig Räume umfasste; achtzehntausend Manuskripte zählten allein zur Sammlung der wissenschaftlichen Überlieferungen, und zum Mitarbeiterstab gehörten ebenso Mathematiker, Astronomen, Physiker, Grammatiker, Lexikografen, Kopisten wie Korangelehrte.

Daneben, beschirmt von einem jahrhundertbreiten Banyanbaum, liegen die beiden nach Delhi benannten Räume, und daneben wiederum befindet sich das Haus Istanbul. Laut Mikals Buch der Sternenkonstellationen redeten Geistliche im sechzehnten Jahrhundert ihrem Sultan Murat III. ein, er müsse das erste jemals in Istanbul erbaute Observatorium zerstören lassen, da dessen Fernrohre im Namen von Fortschritt und Wissenschaft allzu tief in die Geheimnisse von Allahs Himmel spähten und deshalb gewiss göttlichen Zorn auf sein Königreich herabbeschwörten.

Mikal.

Eines Nachmittags nahm Jeo, kaum zwei Monate verheiratet, Mikal mit zu sich nach Hause und glaubte, sein Freund begegnete Naheed zum ersten Mal.

Als Jeo einmal kurz das Zimmer verließ, murmelte Mikal etwas vor sich hin. Er saß auf dem Stuhlrand, sein Blick klebte am Boden. Sie besaß immer noch die Briefe, die er ihr geschrieben hatte, damals, in jenen Monaten, ehe sie erfuhr, dass sie Jeo heiraten sollte. Mehrere Male war sie damit zum Fluss gegangen, hatte sich aber nicht von ihnen trennen können.

Er schaute sie an und sagte erneut, nun aber deutlicher: »Ich konnte ihn nicht verraten. Er ist wie ein Bruder für mich.«

Sie weiß noch, dass sie nickte. Sich darauf konzentrierte, die Fassung zu wahren.

Sie blieben beide stumm; erst als Naheed ihren Mann zurückkehren hörte, sagte sie: »Dagegen kann man nun nichts mehr tun.«

»Nein.« Zwei Mal nahm er für dieses Wort Anlauf, das so unförmig über seine Lippen kam, als wären ihm alle Knochen im Leib gebrochen worden.

Er stand auf. »Sag Jeo, ich musste fort.«

»Vielleicht ist es einfacher, wenn ich dich nicht mehr sehe. Ich muss lernen, ihn zu lieben, schließlich trifft ihn keine Schuld.«

»Ich werde nicht wieder herkommen und will versuchen, die Stadt zu verlassen.«

Es war der sechsundsechzigste Tag ihrer Ehe, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

Sie blickte zum Himmel auf. Orion, sagte er, sei wie die Kuhhaut geformt, auf der er geboren wurde, neun Monate, nachdem Zeus, Hermes und Poseidon darauf uriniert hatten. Er sagte, irgendein arabischer Astronom sähe in den Sternbildern Kassiopeia und Perseus eine mit Hennamustern gefärbte Frauenhand, während andere behaupteten, es sei Fatimas Hand, befleckt mit Blutstropfen – Fatima, Tochter Mohammeds, Naheeds Vorfahrin.

Sie hört einen zweitonigen Ruf, bückt sich in den Laubtunnel und beginnt, nach dem Vogel zu suchen, das Mondlicht blass wie wässrige Tinte. Am Zitronenbaum bleibt sie stehen; seine Äste sind übersät mit weißen Blüten, die Sofia für einen Engel hielt, als sie im Sterben lag. Dank der makellosen, von ihr gemalten Porträts kennt Naheed fast alle Bäume und Pflanzen im Garten, ihre Schoten, die Blätter und zuckerprallen Beeren.

Sofia hatte auch Bilder von Lebendem gemalt, doch die hatte Rohan während ihrer letzten Stunden alle verbrannt, da er fürchtete, sie könne im Jenseits zur Rechenschaft gezogen werden für ihren Ungehorsam gegenüber Allah, der solche Bilder verboten hatte, damit keine Götzenverehrung aufkomme. Der schwarze Rauch des Feuers war bis zu ihrem Totenbett aufgestiegen. Selbst die Skizze eines Bullenschädels und die eines Fossils aus den Bannu-Bergen wurden vernichtet – zwar waren die Kreaturen schon tot gewesen, als Sofia sie zeichnete, doch hatten sie einst gelebt, und Rohan wünschte, jeglichen Zweifel an ihrer Erlösung auszumerzen. Er bat Sofia, ihm zu sagen, wo ihre restlichen Bilder und Zeichnungen waren, ihm die Adresse der Freundin zu nennen, für deren Heim sie mehrere Wandgemälde entworfen hatte. In seiner Furcht entfernte er zudem alle übrigen Bilder aus dem Haus, jedes Foto und Gemälde, selbst jene, die nicht von ihr stammten.

Ein Jahrzehnt nach ihrem Tod sah er sie dann durch ein hohes Fenster in seine Richtung blicken. Es war der letzte Tag des Ramadan: Man hatte eine Gruppe angesehener Bürger eingeladen, im Stadtzentrum aufs Minarett der Freitagsmoschee zu steigen, um den Halbmond des neuen Monats zu betrachten. Als die Fernrohre über die Stadt strichen, erkannte er zwischen den Dächern ihre Augen, das Gesicht ihm drei Viertel zugewandt, sah das Muster ihres aquamarinblauen Gewands. Es dauerte einen Moment, sie zurück ins Glas zu holen, denn die Entfernung zwischen ihnen betrug mehrere Kilometer – zu viele Straßen und mindestens drei Basare. Neben ihr entdeckte er einen riesigen bärtigen Kopf; und in Händen hielt sie mehrere Blumenzwiebeln, aus denen Lilien sprossen; eingerollt in jede Zwiebel lag ein sehr junges Menschenkind, vielleicht noch ein Fötus.

Rohan hatte nicht gewusst, dass sie im Haus ihrer Freundin ein Selbstporträt in ein Wandbild eingefügt hatte, direkt in die farbige Haut des Zimmers. Und so machte er sich quer durch die Stadt auf den Weg, um das Gemälde zu finden, suchte systematisch die engen Straßen und Gassen ab, bis er Wochen später schließlich sein Ziel erreichte. »Mir wurde erlaubt, über einen der acht Engel zu reden, die Allahs Thron tragen«, hatte der Prophet gesagt. »Er ist so groß, dass es siebenhundert Jahre dauert, die Entfernung zwischen Ohrläppchen und Schulter zurückzulegen.« Und der riesige Kopf neben Sofias Selbstporträt gehörte zu einem der acht Engel.

Naheed holt tief Luft, löscht die Lampe und steht vollkommen reglos in der Nacht, vom schwindenden Rauch umwölkt.

Sie lauscht, fest entschlossen, den gefangenen Vogel zu finden, der in seinem Leid aufgeschrien hatte. Doch jetzt herrscht bloß noch Stille, nicht einmal mehr ein zögerlicher Nachklang ist zu hören. Ali! Ali! Ein Derwisch, der dem Umgang mit allen Worten bis auf jenes eine abschwor, der kein anderes mehr äußert, niemals, unter keinen Umständen… Der Satz kommt ihr aus einem Buch in den Sinn, in dem sie vorhin geblättert hat. Sie lässt den Blick über den Himmel wandern, an dem der Mond in einem großen, kalten Hof hockt, während ihr noch weitere Worte einfallen. Nur auf dieses eine kommt es an, nur auf dieses eine Wort. Wenn wir reden, dann deshalb, weil wir dieses eine nicht gefunden haben, noch werden wir es jemals finden.

Angesichts ihrer geringen Größe überrascht es Mikal immer wieder aufs Neue, wie schwer eine Gewehrkugel ist.

Er hält sich in dem hohen Zimmer auf, das er in einer von der Grand Trunk Road abzweigenden Gasse gemietet hat. Als er zum ersten Mal davon träumte, dass Jeo starb, war er in diesem Zimmer aufgewacht, die Luft voll vom Widerhall seiner verängstigten Schreie. Das war kurz vor der Hochzeit gewesen, und die Albträume hatten über Monate angedauert.

Er nimmt einen Beutel mit Kugeln sowie einige andere Gegenstände aus dem Schrank, packt sie in einen Segeltuchrucksack und macht sich auf, denselben Nachtzug zu erreichen, den auch Jeo und Rohan nehmen werden. Montagabend in einem Weltkrieg. Mikal trägt einen marineblauen Pullover und darüber eine schwarze westliche Anzugjacke; im Holster unterm Pullover steckt eine Beretta M9.

Seine Eltern hatten in dieser Wohnung gelebt, ebenso wie er selbst bis zu seinem zehnten Lebensjahr. Knapp zwei Monate nach dem Tod seiner Mutter hatte er einem Ehrfurcht gebietenden, würdevollen Fremden die Tür geöffnet, der einen sherwaniGehrock trug und eine Karakulmütze. Mikal weiß noch, dass der Mann sagte, er sei gekommen, sich die Wandbilder anzuschauen, und erinnert sich, den Mann wortlos angestarrt zu haben, um dann beiseitezutreten und ihn einzulassen. Der Fremde war besonders vom Bild einer Frau fasziniert, ihr Gesicht zwischen einer hohen Bücherwand und einem Stuhl. Er stand davor, als wollte er sie sich für immer einprägen. Und dann raschelten seine Kleider, als er sich auf den Stuhl setzte und Mikal sanft auszufragen begann, sich nach seinem Namen erkundigte und danach, wo die Erwachsenen seien. Mikal, der seit der Beerdigung kein Wort gesagt hatte, erwiderte, er und sein achtzehnjähriger Bruder lebten nun allein.

»Mikal, ich heiße Rohan«, sagte der Mann. »Und ich bin gekommen, um dich und deinen Bruder nach Hause zu holen.« Er zeigte auf die Frau an der Wand. »Sie hat mich geschickt.«

Mikal schaut auf seine Armbanduhr. In jener halben Stunde im Hauptquartier der Wohltätigkeitsorganisation, in der er seinen Namen eintrug, hat er dreizehn Mal das Wort »Tod« gehört, und seither spürt er, wie das Unbekannte näher und näher rückt. Laut einer Zeitung war ein Ziegelstein aus dem in Schutt und Asche gelegten Haus von Mullah Omar in die Vereinigten Staaten geflogen worden, eine Kriegstrophäe für das Weiße Haus. Und einer anderen Zeitung zufolge wurde einem paramilitärischen Offizier des CIA von seinem Vorgesetzten in Langley, Virginia, gesagt: »Ich will, dass Sie mir bin Ladens Kopf in einer Kiste mit Trockeneis bringen. Ich will ihn dem Präsidenten zeigen. Das habe ich ihm versprochen.«

Eine Kerze flackert in einem Alkoven unweit seines Platzes am Fenster. Es geht kein Wind, und es ist dunkel, die Sternbilder leuchten mit frostigem Licht, tröpfeln fahles Licht auf Heer herab, auf seine Stadt. Von dieser hohen Warte aus lässt er den Blick wandern, prüft, welche anderen Bezirke von Heer heute Abend keinen Strom haben. Seine Stadt inmitten dieser bedrohten armen Nation, hier in der Dritten Welt. Er schaut nach rechts in die Ferne, dorthin, wo Rohan wohnt. Und ihm kommt eine Erinnerung an jenen Tag, an dem er gesungen hat und sie seine Hände hob, um sie sich auf die Ohren zu legen, sie an sich zu pressen, eine an jede Seite ihres Kopfes. So stand sie und lauschte dem Lied, das über seine Arme zu ihr drang, nicht durch die Luft, das über Knochen, Blut und Muskeln in sie strömte. Zwischen ihr und dem Lied gab es nichts außer ihm selbst, und es sollte zu einem Ritual der beiden Liebenden werden, das sie noch oft wiederholten, ein Spiel des Staunens.

Er stellt das Transistorradio an, legt sich auf den Betonboden, auf die unbezogene Matratze, und hört Nachrichten, die Augen geschlossen. Noch sind in Afghanistan die Taliban an der Macht, aber die Amerikaner haben Spezialeinheiten ausgesandt – Special Forces, Guerillakrieger, die Allianzen zwischen Bevölkerungsgruppen schmieden und den Aufstand organisieren. Währenddessen ziehen unablässig Düsenjäger mit zigtausend Kilo schweren Bomben über den Himmel nach Afghanistan. Dahin will Jeo.

»Bist du dir sicher?«, hatte Mikal gefragt.

»Ja.«

»Hast du gehört, dass die Taliban unerfahrene pakistanische Jungen an die Front schicken, wo sie abgeschlachtet werden?«

»Die Organisation, der ich mich angeschlossen habe, hält sich aus allen Gefechten raus. Wir gehen da nicht hin, um zu kämpfen.«

Mikal hatte genickt. »In Ordnung.«

Wieder blickt er auf die Uhr. Dann schultert er den Rucksack, kneift ohne hinzusehen die Kerze aus, schließt die Tür, geht die Treppe hinunter und tritt auf die dunkle Straße. Zu spät fällt ihm das Radio ein, aber er kehrt nicht um, stellt sich lieber vor, wie Musik und Nachrichten durchs Zimmer hallen, bis die Batterien versagen.

Jeden Augenblick jetzt wird die Rikscha kommen, um sie zum Bahnhof zu bringen. Rohan spitzt die Ohren und lauscht auf die Hupe des Fahrers, während er Sofias Zimmer betritt und auf dem Tisch zwei große Bücher mit Landkarten liegen sieht, deren Farben auch im Halbdunkel leuchten. Und selbst bei diesem Licht fällt ihm auf, dass einige Seiten herausgerissen wurden. Er fragt sich, wann das passiert ist.

Er streicht über die Farben, fast ein Abschiedsgruß. Sechzig Jahre ist er jetzt alt, und seit zwei Jahrzehnten werden die Augen schwächer. Noch fünf Jahre höchstens, länger wird er nicht mehr sehen können. Danach wird Helles zum Rätsel. Er muss die Augen in Belladonna und mit Tau verdünntem Honig baden, muss Licht ab einer bestimmten Intensität meiden, doch auch heute schon gibt es kurze Phasen, in denen ihm Schatten weiß erscheinen oder der ganze Himmel grün, die Hände kohlschwarz. Kleine indigofarbene Umrisse schieben sich wie Landmassen ins Blickfeld. Oder plötzlich herrscht eine goldene Abwesenheit von allem, eine leuchtende Auslöschung, die er selbst mit geschlossenen Lidern wahrnehmen kann.

Er ist gekommen, um ein Buch für die Fahrt auszuwählen. Dies ist das Haus Bagdad, dicht umrankt von den Rosen Iraks, zwei Zimmer, die für Sofia durchbrochen wurden. Er trägt die Atlanten auf die andere Seite des lang gezogenen Raums. Letzte Woche kamen zweihundert Kisten mit Büchern. Der Lastwagenfahrer, der sie lieferte, reichte ihnen einen an Rohan und Sofia adressierten Brief. Ein ehemaliger Schüler aus der Anfangszeit von Ardent Spirit war kürzlich gestorben. Den Brief hatte er wenige Tage vor seinem Tod verfasst, und er schrieb, sie beide hätten in ihm eine heiße Liebe fürs Lernen geweckt, weshalb er im Laufe seines Lebens Abertausende von Büchern gesammelt habe. Diese hier vermache er nun Ardent Spirit, da er sich noch gut daran erinnere, wie kärglich die Schulbibliothek seinerzeit bestückt gewesen war. Zwanzig Kisten hatten sie in Sofias Zimmer untergebracht, den Rest im Haus verteilt; ein Flur war mit einem Mal nur noch halb so breit.

Rohan legt die Atlanten in eine der Kisten. Er begleitet Jeo nach Peschawar, weil er dort die Familie des verstorbenen Schülers aufsuchen will, um ihr seinen Dank für das Geschenk zu überbringen und ein Gebet am Grab zu sprechen.

Kurz schlägt er Das Gilgamesch-Epos auf, dann Die Kartause von Parma und Naiyer Masuds Taoos Chaman ki Mynah; anschließend wirft er einen Blick in ein Buch über Geschichte; in der anderen Hand hält er die brennende Kerze.

Nach dem Fall Granadas im Jahre 1492 wurden zweihunderttausend Muslime zwangsweise zum Christentum bekehrt. Die Inquisition ließ Leichen ausgraben, um sicherzustellen, dass man sie nicht mit dem Gesicht nach Mekka begraben hatte, und Frauen war es verboten, einen Schleier zu tragen…

Er hört die Hupe des Rikschafahrers, der am Tor wartet, schließt die Fenster und schaut zum Fluss, an dessen Ufern sich jetzt Reiher und Kraniche zwischen hohen Schilfhalmen und Rohrkolben ihren Schlafplatz suchen. Das neue Gebäude der Ardent Spirit auf der anderen Seite des grünen, kaum bewegten Wassers besteht aus Beton, Glas und Stahl, ist aber immer noch in sechs Häuser eingeteilt. Vor fünf Jahren hatte man Rohan aus der Schule gedrängt; seinen Platz nahm jetzt ein ehemaliger Schüler ein, der Rohans Kritik an dem, was den Kindern beigebracht wurde, nicht länger ertragen hatte.

Er verlässt Haus Bagdad und verriegelt die Tür. Jeos Wunsch, nach Peschawar zu fahren, um zu helfen, macht ihn ungeheuer stolz. Er weiß, wäre er selbst noch ein junger Mann, würde er wohl kaum in Peschawar bleiben: Er hätte sich nicht davon abhalten lassen, weiter nach Afghanistan zu reisen. Und nicht nur, um zu helfen – er hätte gekämpft, das Land eigenhändig verteidigt. Sicher, wäre er im September damals in den Vereinigten Staaten gewesen, hätte er alles in seiner Macht Stehende getan, um die Unschuldigen in den attackierten Städten zu retten, hätte an ihrem Elend Anteil genommen.

Wie wollte man in diesen Tagen auch nicht um Hilfe bitten – Hilfe von anderen, von Gott –, wo es doch schien, dass um einen herum die Idee des Menschlichen selbst zerstört wurde?

Er ging zu Jeos Zimmer und murmelte dabei Verse aus dem Koran.

Man kann sich vorstellen, dass es einen Duft gab, ehe Blumen geschaffen wurden, die ihn verströmten; und so ist es, dass Gott die Welt erschuf, um sich zu offenbaren, um Gnade zu erweisen.

Ein-, zweimal im Jahr, vielleicht auch dreimal, kommt eine Frau in den Garten, das Gesicht uralt, der Blick gelassen, aber keineswegs teilnahmslos; sie geht zum Rosenholzbaum und beginnt, jedes einzelne gefallene Blatt aufzuheben und sich genau anzusehen. Man weiß nicht, ob sie im völligen Besitz ihrer geistigen Kräfte ist. Vielleicht ist sie bei Verstand und spielt die Verrückte nur zu ihrem eigenen Schutz. Vor vielen Jahrzehnten – lang ehe das Haus gebaut wurde, damals, als dieser Ort noch eine Wildnis war – hatte sie den Namen Gottes auf einem Blatt entdeckt, grüne Adern, die seine geheiligte Kalligrafie formten. Nun hebt sie jedes kleine Blatt auf und hofft auf eine Wiederholung des Wunders, nimmt es in die Hände mit einer Geste, als würde sie beten. Um sie herum geht das Leben im Haus weiter, und manchmal schaut sie zu, verfolgt die gewöhnlichsten Verrichtungen mit einem Interesse, das andere nur für bedeutsame Ereignisse aufbringen. Wenn es Herbst wird, muss sie stundenlang im Garten ausharren, dem Hin und Her des Windes folgen, der die Blätter in alle Winkel fegt. Später dann, wenn die Dämmerung hereinbricht, sitzen sie beieinander, sie und der Baum, bis irgendwann nur noch der Baum übrig bleibt.

Welch Bedürfnis ihre Suche befriedigt, ist ungewiss. Vielleicht gab es das Heilen, lang ehe es Wunden und Leiber gab, dem es sich widmen konnte.

4

Wird eine Münze geprägt, küsst sie der Teufel.

Major Kyra steht auf dem Dach von Ardent Spirit, neben ihm der Hund. Es heißt, ein Saluki habe über den Propheten gewacht, sooft Mohammed betete, weshalb ein Hund dieser Rasse in der islamischen Welt gern gesehen wird.

Mit militärischem Schritt läuft der Major das halbmondförmige Dach ab, die Fingerspitzen im Fell des Saluki; die Ardent-Spirit-Flagge flattert im Dunkeln. In der nächtlichen Stille hört er hoch über sich deutlich einen Schwarm Kraniche, das Schwirren der Flügel, eine Reihe bebender, heiserer Rufe.

Immer wieder schaut er zum alten Schulgebäude hinüber, zu den vereinzelten Kerzenlichtern in den Fenstern. Rohan wohnt jetzt dort, der Schulgründer. Nach dem Tod seiner Frau vor zwanzig Jahren hat er die Leitung seinem ehemaligen Schüler Ahmed überlassen, da Geld der Ruch des Teufels anhaftet und er, Rohan, sein Leben frei von aller Verstrickung mit Wohlstand, Gütern und Besitz halten wollte. Er blieb nur als bezahlter Direktor mit der Schule verbunden.

Ahmed war vor zehn Tagen in Afghanistan gestorben, und als sein Bruder hatte Major Kyra Ardent Spirit geerbt.

Der Hund belauert den Mond, als wäre er von ihm überrascht worden. Nebel steigt in breiten Schwaden vom Fluss auf, kreideweiß über schwarzem Schilf. »Ahmed die Motte«, so war er genannt worden, ein Name, den er sich mit fünf Jahren in der Kindermoschee in Abbottabad verdient hatte. Dort hieß es eines Tages, die ins Feuer geworfene Tüte enthalte Geld und Spielzeug, und Ahmed sah gelassen zu, wie sie verbrannte. Als man ihm aber erklärte, die Tüte sei in Wahrheit voll mit Seiten aus dem Koran, verbrannte sich Ahmed die Hände bei dem Versuch, sie zu retten, wovon Narben zurückblieben und sein Name.

Letztes Jahr hatte Major Kyra Ardent Spirit besucht und gesehen, wie eine Reihe Jungen mit bandagierten Händen aus den Klassenzimmern kamen. Ahmed die Motte nachzuahmen gehörte inzwischen zum Unterricht.

Er weiß, dass Rohans Sohn Jeo und sein Ziehsohn Mikal heute Nacht nach Afghanistan aufbrechen. Und man hat ihm garantiert, dass sie nicht zurückkehren. Zumindest nicht lebend.

Fast zweiundsiebzig Stunden hat er jetzt nicht mehr geschlafen. Vorgestern ist er aus der Armee ausgeschieden, da er sich nicht mit der Allianz abfinden konnte, die die pakistanische Regierung mit den Vereinigten Staaten und dem Westen eingegangen war, um besagten Mächten bei der Vernichtung Afghanistans zu helfen.

Der elfte September. Allmählich beginnt er zu glauben, dass das alles gelogen war. Eine Verschwörung. Große Flugzeuge in niedriger Höhe über eine Stadt zu fliegen ist keine leichte Sache. Da muss es wen gegeben haben, der die Flugsicherung manipuliert hat. Und es muss wen gegeben haben, der das Warnsystem fürs Pentagon ausschaltete. Nach dem, was er gelesen und gehört hat, scheint sich die Luftwaffe über eine Stunde lang nicht gerührt zu haben. Kyra ist Soldat, kennt sich also mit solch grundlegenden Dingen aus. Das war alles nur inszeniert, um einen Vorwand dafür zu haben, in ein muslimisches Land nach dem anderen einmarschieren zu können.

Er sieht hinüber zum Torbogen über dem Eingang zu Ardent Spirit. Zum Umzug der Schule in die neuen Gebäude wurde er vom ursprünglichen Haus hierhertransportiert. Als Rohan mit seiner Frau die Schule eröffnete, stand auf dem Bogen: Bildung ist die Grundlage von Gesetz und Ordnung. Bald darauf wurde dem von Rohan selbst das Wort Islamische vorgesetzt, offenbar gegen den Wunsch seiner Frau. Mit den Jahren hatte man den Spruch weiter verändert, von Islamische Bildung ist die Grundlage für Gesetz und Ordnung zu Der Islam ist die Grundlage des Gesetzes, dann zu Der Islam ist der Sinn des Lebens, und heute steht dort: Der Islam ist der Sinn des Lebens und des Todes.

Unter Ahmed der Motte hatte Ardent Spirit Verbindung mit dem ISI aufgenommen, dem pakistanischen Geheimdienst. In vom ISI geführten Dschihad-Lagern wurden geeignete Schüler zu Kämpfern ausgebildet, die man dann zu Undercover-Operationen nach Kaschmir schickte. Das war der Grund für Rohans Streit mit Ahmed gewesen, der Grund, warum man Rohan vor fünf Jahren aus der Schule gedrängt hatte.

Mit Ahmeds Tod war die direkte Verbindung zum Geheimdienst gekappt. Kyra könnte sie wieder knüpfen, aber seit Armee und ISI Afghanistan im Stich gelassen haben, spürt er bei dem Gedanken daran nur einen großen Widerwillen. Die Schüler von Ardent Spirit gehören jetzt ihm allein; durch sie wird er seine Pläne verwirklichen, wird sie zu heiligen Kriegern ausbilden, geschult in der Irreführung des Westens und dessen Sympathisanten in diesem Land.

Wir sind keine Männer des Hasses, aber wir müssen Männer der Gerechtigkeit sein.

Als er gestern eintraf, um die Leitung der Schule zu übernehmen, bereiteten sich die älteren Schüler darauf vor, in den Kampf nach Afghanistan zu ziehen, viele in Tränen aufgelöst angesichts der jüngsten Zerstörungen und Gräueltaten. Eine Million Menschen sind nach Pakistan geflohen, acht Millionen warten auf Hilfe. Manche Lehrer und einige ältere Schüler erzählten Geschichten über Rettungsmissionen und Heldentaten aus der islamischen Vergangenheit, über fromme Streiter, die bedrängte Völker erlösten, und die Zuhörer waren so hingerissen, dass sie laut riefen: »Fürchtet euch nicht! Aus Heer ist Hilfe auf dem Weg!« Hofften, dass man sie über die Jahrtausende hinweg hörte.

In einem der östlichen Stadtbezirke gibt es eine Wohltätigkeitsorganisation mit Madrasa, bislang von Ahmed die Motte geführt, aber dem ISI unterstellt. Die Organisation ist eine Fassade, hinter der Jungen und junge Männer zu Dschihad-Kriegern ausgebildet werden. Gestern hatte ihm einer der Leute dort einen Stapel Papiere gebracht – Kyra wollte im Einzelnen wissen, wie Ahmed das Tagesgeschäft bewältigt hatte.

Der Mann hatte ein mit Namen vollgeschriebenes Blatt ausgewählt und ihm gegeben. »Der oberste Eintrag in der dritten Spalte.«

Der Name Jeo hatte Kyra nichts gesagt, doch entfuhr ihm ein überraschter Ausruf, als er im Feld Name des Vaters »Rohan« las.

»Er will nach Afghanistan zu einem Lazarett in der Nähe der Kampfgebiete«, berichtete der Mann, »ohne seiner Familie etwas davon zu sagen.«

Kyra hatte das Blatt angestarrt. »Und warum verbindet eine rote Linie seinen Namen mit einem Namen weiter unten? Mit Mikal?«

»Rohans Ziehsohn. Ein Eigenbrötler und Herumtreiber. Ein Ausreißer. Ich dachte daran, Rohan Bescheid zu geben, da ich mich fragte, ob wir ihm das angesichts seiner früheren Verdienste für Ardent Spirit nicht schuldig sind.«

Das Ausmaß seiner Wut war für Kyra selbst überraschend. Der Schlafmangel. Die Art, wie sein Bruder vor kaum zwei Wochen ums Leben gekommen war. »Jetzt ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, sich Mitleid oder Barmherzigkeit hinzugeben«, erwiderte er. »Lassen Sie es mich in aller Deutlichkeit sagen: Ich möchte, dass dieser Junge mitten ins Zentrum des Kriegsgeschehens geschickt und in eines der Gefechte dort verwickelt wird. Tun Sie dies zu Ehren von Ahmed. Ihm schulden wir mehr als Rohan. Wissen Sie denn genau, wohin Jeo soll?«

»Natürlich. Wir sind schließlich diejenigen, die ihn losschicken. Also kennen wir nicht nur sein Ziel, sondern mehr oder weniger auch die Route, die er nehmen wird.«

»Dann kümmern Sie sich drum.«

Auf einem Markt in Kaschmir war eine Bombe explodiert und hatte zwei indische Soldaten, aber auch einige unbeteiligte Passanten getötet. Etwa zur gleichen Zeit war in einem anderen Teil Kaschmirs ein Sprengsatz verfrüht detoniert und hatte den Jungen getötet, der ihn anbringen sollte. Da man beide Vorfälle zu Ardent Spirit zurückverfolgte, hatte Rohan den Schulleiter zur Rede gestellt, aber Ahmed hatte nur geantwortet, er hege schon lange Zweifel an Rohans Glaubensfestigkeit.

»Du hast mir immer wieder versprochen, dass in dieser Schule nichts passiert, was irgendwie mit dem Dschihad zusammenhängt«, sagte Rohan. »Du hast mir dein Wort gegeben.«

»Ich gab es einem Ungläubigen.«

»Dein Ehrenwort.«

»Es kommt immer darauf an, wem man es gibt.«

Und dann hatte Rohan für Empörung gesorgt und alle gegen sich aufgebracht, als er sagte, es freue ihn, dass der zweite Attentäter beim Anbringen des Sprengsatzes gestorben sei, ja, es stimme ihn zufrieden und dankbar, denn so sei es dem Jungen erspart geblieben, seine Mitmenschen zu töten. »Allah bewies Mitleid mit diesem irregeführten Kind, ehe es unschuldiges Blut vergießen konnte.«

Da hatte man ihn dann gezwungen, Ardent Spirit zu verlassen.

Major Kyra – er muss lernen, sich in Gedanken nur noch Kyra zu nennen – geht die Treppe hinab zum Haus Bagdad; der Saluki tollt vor ihm her, kehrt auf dem untersten Absatz um und rennt geschmeidig alle Stufen wieder hinauf. Als Kyra eine Lampe anzündet, wirft er einen flüchtigen Blick auf sein Spiegelbild im Fenster, das Gesicht vernarbt seit der Explosion vor zwei Jahren im Krieg gegen Indien.

Er denkt an den Zug, der Rohan und die beiden Jungen in diesem Moment nach Peschawar bringt, schlägt den Koran auf und beginnt zu lesen. Bei den schnaubenden Rennern, die Feuerfunken schlagen, alsdann frühmorgens anstürmen und damit Staub aufwirbeln, und so in die Mitte des Feindes eindringen! Wahrlich, der Mensch ist undankbar gegen seinen Herrn; und wahrlich, er bezeugt es selber…

5

Nach drei Stunden Zugfahrt verlässt Mikal seinen Platz. Jeo hat ihm gesagt, welches Abteil Rohan für sie reservieren ließ. Vier Waggons von hier. Die Passagiere regen sich nicht, als er den Gang entlanggeht; der Lärm des Zugs vermag sie in ihrem Schlaf nicht zu stören.

Nach dem ersten Klopfen schiebt Jeo den Riegel zurück; Zärtlichkeit regt sich in Mikal, als er auf dem unteren Bett die hagere, in eine Decke gehüllte Gestalt des schlafenden Rohan sieht. Sein Ziehvater weiß nichts davon, dass er mit nach Peschawar fährt. Sie haben es ihm verschwiegen, um unnötige Fragen zu vermeiden, auch weil sie fürchteten, ihre Antworten könnten seinen Verdacht wecken.

Jeo hat die Karten dabei. Sie gehen über den langen schmalen Gang, hocken sich nebeneinander an die Zugwand und studieren die Karten mithilfe einer Taschenlampe; im Fenster über ihren Köpfen gleitet die Nacht vorbei. Der helle Lichtkreis wandert über das Terrain, weshalb es aussieht, als wäre die Sonne an die Erde herangerückt, wie es laut Koran am Jüngsten Tag geschehen wird, sehr nahe, auf anderthalb Speerlängen. Langsam liest Mikal die englischen Wörter auf der Karte, Silbe um Silbe. Manchmal Buchstabe um Buchstabe. Mit der Sprache haperte es während seiner Schulzeit am meisten. Vom Lesen, Schreiben oder Sprechen einmal ganz abgesehen, hatte er, als er das letzte Mal zu lesen versuchte, einen Teil des Alphabets auch vergessen.

»Da oben«, sagt er und deutet auf einen Berg, »habe ich letztes Jahr mit einigen Männern Gold geschürft.«

»Es gibt Gold in den Bergen Pakistans?«

»Hier und da. Als ich auf diesem Hang war, lag auf den Gipfeln so viel Schnee, dass die Wölfe in die Dörfer flüchteten.«

»Wir müssen mal hinfahren, wenn wir wieder aus Afghanistan zurück sind. Hast du eine Waffe dabei, Mikal?«

»Da oben kann es so still sein, dass man hört, wie eine Schneeflocke fällt. Ich nehme dich mit.«

»Das wird Naheed gefallen.«

Mikal steht auf, dreht sich zum Fenster um und schaut nach draußen, während der Zug durch einen Bahnhof fährt; in der Ferne liegt verstreut das knochenweiße Licht einiger Häuser, der Mond eine einzige helle Musiknote in den Telegrafendrähten neben den Schienen, sein Spiegelbild verzerrt vom strömenden Wasser eines flachen Flussdeltas; hoch oben unter den Sternen jagen Nachteulen.

»Da ungefähr werden wir sein.« Jeo ist auch aufgestanden und deutet auf die Karte, eine Gegend in Afghanistan gleich hinter der Grenze. Stammes- und Clanterritorium. Wo Kinder außer Schmuck und Land auch Raketen erben.

»Sieht aus wie ein Netz aus Fels.« Mikal hält die Karte auf Armeslänge von sich.

Jeo lächelt. »Wenn ich mich verirre, wirst du mich finden.« Mikal kennt die Namen und Positionen aller siebenundfünfzig Navigationssterne.

Sie blicken ins Dunkel.

»Was hast du in den Bergen gesucht?«

»Manchmal, beim Singen, habe ich es fast gewusst. Etwa anderthalb Sekunden lang, dann war es wieder weg.«

»Das Singen hat dir verraten, wonach du suchst?«

»Manchmal. Meist aber habe ich mir gesagt: ›Du wirst es wissen, wenn du es siehst.‹ Hat aber nicht gestimmt.«

Jeo faltet die Karte zusammen, nimmt eine neue und schlägt sie auf. »Du hast es nicht gesehen? Oder du hast es gesehen und nicht gewusst, dass es das war, wonach du gesucht hast?«

»Ist das nicht dasselbe?«

»Davon kriege ich Kopfschmerzen.«

»Ich auch.«

Jeo wendet sich der Karte zu. »Man sagt, der Krieg wird nicht schnell zu Ende gehen. Selbst wenn Kabul fällt, dauert er noch mindestens ein bis anderthalb Jahre. Wobei ich nicht glaube, dass die eigentlichen Kämpfe vor der Schneeschmelze im nächsten Frühjahr beginnen. Bis dahin werden die Soldaten aus dem Westen in den Hügeln und Bergen bleiben, gekochte Ziege essen, mit gesenktem Kopf um Pferdemistfeuer hocken und sich von Winterstürmen beuteln lassen.« Er schaut auf seine Uhr. »Ich schätze, ich sollte langsam zurück. Vater könnte aufwachen.«

»Ich komme am späten Vormittag zu dir ins Krankenhaus. Lass mir solange die Karten.«

»Wir müssen auf dem Basar noch ein Satellitentelefon kaufen, damit ich von Afghanistan zu Hause anrufen und so tun kann, als melde ich mich aus Peschawar.«

Jeo dreht sich um und will gehen, als Mikal sich flüchtig unter den Arm fasst, dahin, wo die Beretta im Holster sitzt, und sagt: »Ja, Jeo, ich habe eine.«

Nachdem Jeo gegangen ist, steckt Mikal sich eine Zigarette an, nimmt einen Zug und bläst den Rauch aus dem Fenster. Dann knackt er das Schloss eines Abteils im angrenzenden Waggon, schleicht sich hinein, tastet sich durchs pechfinstere Innere, bis er die Plastiklilien findet, die am frühen Abend hierher gebracht wurden, was er zufällig beobachtet hatte. Zwei Stationen weiter wird der Sohn eines Feudalherrn heiraten, weshalb die Familie in den umliegenden Städten Blumen gekauft hat. Wären sie echt, würde Mikal sich vom Geruch leiten lassen. Moschus, Zimt, Flussschlamm, Äther, Blut und Monsunmoos. Sie wachsen in Rohans Garten. Er nimmt eine Blume aus jedem Strauß und geht, das weiße Bukett an sich gedrückt, zurück zum Fenster im Gang – der obligatorische Zehnte. Draußen der Rundblick in die Nacht; und jedes Mal wenn der Zug an einer Baracke, einer armseligen Hütte vorbeifährt, bewirft er sie mit einer der großen weißen Blüten und reißt den Kopf herum, um zu sehen, wie sie auf ein halb verrottetes Strohdach oder gegen Pappe und Jutesäcke der Wände fällt.

Dann geht er zu seinem Platz zurück und schließt die Augen. An jenem Nachmittag, an dem er sich Naheed zum ersten Mal näherte – um ihr seinen ersten selbst geschriebenen Brief zu geben –, hatte sie im Schatten eines Baumes auf eine Rikscha gewartet. Und er war in den Baumschatten getreten, bis das Laubmuster sie beide bedeckte, war dann aber wieder einen Schritt zurückgetreten, damit sie sein Gesicht deutlich sehen konnte.

Der Zug legt sich in eine Kurve, die Schwerkraft versetzt das Blut in Schwingung.

Eines Tages – da schrieben sie sich schon seit sechs Wochen Briefe und trafen sich insgeheim – erwähnte sie, wie schön doch einer der Nachbarjungen sei, um dann gleich so etwas wie eine Entschuldigung für den Fall nachzuschieben, dass er sich in seinem Stolz verletzt fühlte. Doch er hatte nur mit den Achseln gezuckt.

»Aber du schaust ja bestimmt auch den anderen Mädchen nach«, sagte sie.

Er hatte den Kopf geschüttelt.

»Also liebst du mich mehr als ich dich.«

»Ich weiß.«

Diese Offenbarung schien sie fast mit körperlicher Wucht zu treffen. »Und das ist für dich kein Problem?«

»Nein, ich bin dir dankbar dafür, dass du jemanden wie mich wenigstens ein bisschen liebst.«

Sie sagte, erst nach diesem Gespräch habe sie sich ganz und gar in ihn verliebt.

Er schlägt die Augen auf, schaut ins Dunkel, und die Kälte lässt ihn die Jacke enger um sich ziehen.

Was hatte er tatsächlich in den Bergen gesucht? Er war dreizehn, als er anfing, die Schule zu schwänzen und sich in jeden Bus zu schmuggeln, der Heer verließ, Ausflüge, die mal auf halbem Weg nach Karatschi endeten, mal am Fuße des K2; dann wieder durchstreifte er mit einer Schar Wandersänger den südlichen Punjab, stieg durchs Dach in irgendwelche Kinos ein oder überlebte in der Wüste Belutschistan, indem er Wasser aus von Schmugglern gegrabenen Brunnen trank.

Rohan flehte ihn an, doch zu sagen, was los sei, was getan werden könne, damit er daheimbleibe, und eines Morgens war er dem Fünfzehnjährigen gefolgt, nur um festzustellen, dass Mikal eine Arbeit als Automechaniker gefunden hatte. Der Junge wollte nicht verraten, wofür er das Geld brauchte oder wo er so manche Nacht verbrachte, und alle fürchteten, es habe mit Heroin zu tun oder dem Dschihad in Kaschmir.

Das Geld war natürlich für das Zimmer, das er gemietet hatte, für den hohen Raum mit den bebilderten Wänden, den Tauben und Holztauben als seinen unmittelbaren Nachbarn in dieser heruntergekommenen Gegend, in der über die Hälfte aller Gassen im Nirgendwo endeten. Fremde mieden sie; hier waren Hausgehilfen und Tagelöhner zu Hause, Eunuchen und Hochzeitsunterhalter, Bettler und Lumpensammler, auch Prostituierte, Diebe und sonstiges Gesindel.