Der Geliebte der Verlobten - Laura Lippman - E-Book

Der Geliebte der Verlobten E-Book

Laura Lippman

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Beschreibung

Tess Monaghan ist arbeitslos. Seit die Zeitung Baltimore Star eingestellt wurde, hält sich die Journalistin mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Der Zufall will, dass ihr Bekannter Darryl »Rock« Panson an akutem Liebeskummer leidet und er Tess eine hübsche Summe Geld bietet, um seine Verlobte Ava zu beschatten, die sich seit einiger Zeit reichlich seltsam verhält. Tess nimmt die Ermittlungen auf und beobachtet, wie sich die junge Anwältin jeden Mittag mit ihrem Chef Michael Abramowitz im Renaissance Park Hotel trifft. Haben die beiden eine Affäre? Tess' erster Fall scheint gelöst, da wird Abramowitz tot in seiner Kanzlei aufgefunden. Und der letzte registrierte Besucher war ausgerechnet Rock. Natürlich macht sich Tess sofort daran, seine Unschuld zu beweisen. Aber diesmal geht es um Mord, und Tess droht sich bei den Ermittlungen zu weit aus dem Fenster zu lehnen.

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Seitenzahl: 528

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Laura Lippman

Der Geliebte der Verlobten

Tess Monaghans erster Fall

Aus dem amerikanischen Englisch von Gerhard Falkner und Nora Matocza

Kampa

Meinen Eltern

Von allen Fluchtreaktionen ist Tod die wirkungsvollste.

H.L. MENCKEN, »Ein Buch der Burlesken«

Obwohl ich die gute alte Stadt Baltimore sehr liebe, und viele ihrer Bewohner noch mehr, lehrt mich die Vergangenheit, dass sie, was ihre kollektiven oder öffentlichen Fähigkeiten angeht, eine Ansammlung der dümmsten, gedankenlosesten, unentschlossensten, unpraktischsten und krankhaftesten Zweibeiner ist, die es je unter der Sonne gegeben hat. In ihrer Einbildung, auf die sie stolz sind, ertragen sie keinerlei Rat, sei er auch noch so überlegt und ausgereift, von keinem Menschen, und lassen sich stets von ihren eigenen primitiven und unüberlegten Vorurteilen leiten und nicht von dem, was der gesunde Menschenverstand nahelegen würde, der doch nur aus dem geduldigen Ausüben von Urteilskraft, Beobachtung und Nachdenken erwachsen kann.

DR. THOMAS HEPBURN BUCKLER aus Baltimore, in einem Brief aus seinem selbst gewählten Exil in Paris, erschienen in: »Baltimore: Seine Interessen – Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft« (1873)

Im schönsten Dreck lag ich und lachte

vor Glück, doch als ich dann erwachte

sah ich des Himmels Morgenröte schon

o Mann, dann war dies alles nur der Lüge Lohn

die Welt war immer noch die alte

ich war noch ich, nur die Klamotten nass und kalte

und mir blieb weiter nichts zu spinnen

als mit dem gleichen Spiel von vorne zu beginnen

ALFRED EDWARD HOUSMAN, »Terence, Das ist dummes Zeug«

1

Am letzten Abend im August ging Tess Monaghan in einen Drugstore und kaufte sich ein Schreibheft – eins mit einem schwarz-weiß marmorierten Umschlag. Das tat sie jedes Jahr im Herbst, schon seit sie sechs Jahre alt war, und sie sah auch keinen Grund, daran etwas zu ändern, obwohl inzwischen 23 Jahre vergangen waren. Ungeachtet dessen, dass sie einen Computer mit großem Speicher besaß, dem sie absolut alles hätte anvertrauen können, was sie aufzeichnen wollte, legte sie diese Gewohnheit nicht ab. Ungeachtet auch dessen, dass sie bis zum Rite Aid gehen musste, weil »Weinstein Drugs« von ihrem Großvater schon lange in den Ruin geführt worden war. Und schließlich auch ungeachtet dessen, dass sie nicht mehr zur Schule ging, keinen Job mehr hatte und das Ende des Sommers für sie wenig Bedeutung besaß. Doch Tess glaubte an Routine und Rituale. Also kaufte sie ein Schreibheft für einen Dollar neunundsechzig, nahm es mit nach Hause, schlug die erste Seite auf und schrieb:

Ziele im Herbst:

1. 60 Kilo Bankdrücken.

2. 1000 Meter in viereinhalb Minuten laufen.

3. Don Quijote lesen.

4. Einen Job finden, usw.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und las noch einmal, was sie eben geschrieben hatte. Die ersten beiden Punkte waren machbar, wenn auch mit Anstrengung: Sie konnte die fünfzig Kilo bis zu zehnmal heben und brauchte fünf Minuten für tausend Meter. Der Don Quijote hatte sie zwar beim ersten Mal noch besiegt, aber diesen Herbst fühlte sie sich ihm gewachsen.

Punkt 4 war da schon problematischer. Vor allem würde sie sich vorher überlegen müssen, was für einen Job sie überhaupt wollte, ein Dilemma, das sie bereits seit zwei Jahren lähmte, seit nämlich Baltimores vorletzte Zeitung, der Star, eingegangen war und die nunmehr letzte Zeitung, der Beacon, sie nicht hatte anstellen wollen.

Tess schlug das Heft zu, steckte es ins Regal neben die 22 anderen – alle leer bis auf die erste Seite –, stellte den Wecker und war binnen fünf Minuten eingeschlafen. Es war der Abend vor dem ersten Schultag und die Stadt begann, die Schläfrigkeit des Augusts abzuschütteln und frisch in den Herbst einzusteigen. Vielleicht würde das ja auch Tess mitreißen.

Der Wecker klingelte sieben Stunden später, um Viertel nach fünf. Sie zog sich schnell an und lief zu ihrem Auto, wobei sie in die Luft schnüffelte, um herauszufinden, ob der Herbst in diesem Jahr zeitig einsetzen würde. Die Luft aber war bedrückend dick und zäh und scherte sich keinen Deut um Tess’ Erwartungen. Ihr elf Jahre alter Toyota, das Zuverlässigste in ihrem Leben, sprang sofort an. »Danke, mein Schatz«, sagte sie, tätschelte das Armaturenbrett und lenkte den Wagen durch die verlassenen Straßen der Innenstadt.

Auf der anderen Seite des Hafens lag das Bootshaus noch im Dunkeln. Das war morgens um halb sechs oft so, denn für den Hausmeister stellte sein mickriger Lohn keinen besonders großen Anreiz dar, das Bett zu verlassen und noch vor Tagesanbruch in Cherry Hill einzutreffen. Aus diesem Viertel waren die Obstbäume, die ihm einst den Namen gegeben hatten, längst verschwunden, und es galt inzwischen als eine zu jeder Tages- und Nachtzeit üble Gegend. Und obwohl seine sanften Abhänge einen herrlichen Blick auf Hafen und Skyline von Baltimore boten, kam doch niemand wegen der Aussicht nach Cherry Hill.

Zum Glück hatte Tess einen eigenen Schlüssel zum Bootshaus, so wie die meisten Unentwegten unter den Ruderern. Sie sperrte auf, verstaute ihren Schlüsselbund in einem Schließfach im Umkleideraum, rannte die Treppe hinunter und packte ihre Ruder, weil sie unbedingt noch vor den Collegestudenten auf dem Wasser sein wollte. Sie mochte nicht in einen Topf geworfen werden mit Leuten, die sie bei sich die J.-Crew-Meute nannte, diese grünen Jungs mit ihrem ewigen Gequassel von den Prüfungen, die sie so blendend bestanden, und den Bierfässern, von denen sie so viele angestochen hatten. Aber ebenso deplatziert fühlte sie sich unter den erwachsenen Mitgliedern des Baltimore Ruderclubs, diesen tüchtigen Berufstätigen, die nach dem Morgentraining zur Arbeit davoneilten, und zwar zu einer richtigen, im Krankenhaus und im wissenschaftlichen Labor, in der Anwaltskanzlei und an der Börse.

»Pass auf meine Schnur auf, Mädel«, rief ein Krebsfischer, dessen Stimme von der feuchten Morgenluft ganz belegt klang.

»Seh ich schon«, sagte sie, während sie ihren Alden Ocean Shell über dem Kopf balancierte und das Dock hinunterging, vorbei an dem ganzen Durcheinander der Krebsfischer, das aus Leinen, Hühnerhälsen und 35- Liter-Eimern bestand. Die Krebsfischer – Leute aus Baltimore, die ihre Sozialhilfe durch die Gaben des Patapsco River aufbesserten – hatten heute Morgen Glück, auch wenn der größte Teil ihres Fangs illegal war: eiertragende Weibchen oder Krebse, die insgesamt weniger als zwölf Zentimeter lang waren. Tess würde sie nicht verpfeifen. Ihr war das egal. Sie aß grundsätzlich nichts aus den heimischen Gewässern.

Zumindest ließ sich der Alden, der städtisches Eigentum war, leicht im Wasser aufsetzen. Die Sonne lugte gerade erst hinter der Francis Scott Key Bridge hervor, als Tess in dem kabbeligen Wasser losruderte und Kurs Richtung Fort McHenry nahm. Fast automatisch summte sie »Star-Spangled Banner«. Oh say can you see? Immer wieder ertappte sie sich dabei, hörte zu singen auf, fing dann aber ganz automatisch wieder an; schließlich ruderte sie ja auch auf die Geburtsstätte dieser Hymne zu. And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air …

 

Das Wasser war an diesem Morgen sehr wellig, und das machte Tess nervös. Ein Alden kenterte zwar nur schwer, aber unmöglich war es nicht, und sie wollte unter keinen Umständen mit der trüben Brühe hier im mittleren Arm des Patapsco Bekanntschaft machen. Einmal hatte sie ein paar Spritzer Flusswasser in eine Wunde an ihrer Hand bekommen, und die war dann drei Monate lang nicht mehr zugeheilt. Am besten erst mal langsam rangehen, sich aufwärmen und die morgensteifen Muskeln entspannen und dehnen. Auf dem Rückweg konnte sie sich dann ja richtig reinlegen und wie in einem Rennen rudern.

Das war Tess’ Routine, ihre einzige, seit der Star eingestellt worden war. Sechs Tage die Woche ruderte sie morgens und lief abends. Dreimal die Woche ging sie zum Krafttraining in eine altmodische Boxschule in Ost-Baltimore. Am siebten Tag ruhte sie, weichte ihren langen Körper in einer heißen Wanne ein und träumte von einem Mann, der ihr gleichzeitig die Füße und den Nacken massieren konnte.

Auf dem College war Tess eine mittelmäßige Skullerin gewesen, die zu einem mittelmäßigen Team gekommen war, weil sie kräftig war und muskulöse Beine sowie die breiten Schultern einer Schwimmerin hatte. Der Übergang vom Skullen zum Rudern hatte ihren Stil nicht verbessert. Tess wusste, oder glaubte zu wissen, wie hässlich es aussah, wenn sie über das Wasser kroch. Wie ein Käfer in der Kloschüssel, nichts als Zuckungen und Krämpfe. Sogar jetzt, wo sie langsam hinausfuhr, runzelte sie die Stirn und biss sich auf die Zunge, so sehr musste sie sich konzentrieren. Nein, nichts an Tess sah beim Rudern natürlich aus. Sie war einfach nicht gut. Sie wollte auch gar keine Rennen gewinnen. Und doch ließ sie an fast keinem Tag das Training aus. Ihre Freunde sagten immer, es gebe einfach kein einziges eingefahrenes Gleis, das Tess nicht liebe. Das verletzte sie nicht. Es stimmte nämlich. Und ihre Liebe zur Routine hatte ihr auch geholfen, die Monate ohne Arbeit zu überstehen.

Aber an diesem Morgen, während sie versuchte, ihre Riemen flach zu halten, in einer Luft, die zum Schneiden dick war, kam ihr das alles plötzlich fadenscheinig vor. Der erste Tag im September sollte kühl sein, dachte sie, oder zumindest kühler als heute. Sie sollte in diesem Sport inzwischen gut sein, oder zumindest besser, als sie war. Ganz abrupt holte sie die Riemen ein und ließ das Boot treiben. Sie suchte den Himmel nach Regen ab, damit sie eine Ausrede hatte, aufzuhören. Dicker Nebel hing über der Skyline, aber keine Wolken. Von diesem Blickpunkt aus wirkte Baltimore einfach nur schmutzig und mutlos.

»Willkommen in Charm City«, sagte sie zu einer Möwe, die nach toten Fischen tauchte. »Willkommen in Baltimore, Süße.«

Weder Tess noch ihre Heimatstadt hatten ein gutes Jahr. Sie hatte keine Arbeit und bekam keine Arbeitslosenunterstützung. Baltimore war dabei, eine noch nie da gewesene Mordrate zu erreichen und den bisher für unschlagbar gehaltenen Rekord von 1993 zu brechen, der seinerseits einen damals für unschlagbar gehaltenen Rekord gebrochen hatte. Jeden Tag gab es einen kleinen Todesfall, die Art von Mord, die höchstens vier Absätzchen ganz weit hinten im Beacon füllte. Doch kaum jemand schien das zur Kenntnis zu nehmen oder sich gar darum zu kümmern – außer denen, die bei der Wette um die Mordziffer des Jahres mitspielten. Der Bürgermeister nannte Baltimore noch immer »Die Stadt, die liest«, aber ansonsten hatte man dieses Motto schon längst umgemodelt.

»Die Stadt, die schießt, Süße«, rief Tess der unbeeindruckten Möwe zu. Die Stadt, die verdrießt. Die Stadt, die niemand genießt. Die Stadt, die man vergisst. Nur konnte Tess das nicht, sie konnte ebenso wenig von hier weggehen, wie sie mit einem Anker um den Hals vom Grund der Chesapeake Bay hätte auftauchen können.

Während sich ihr Blick in der Ferne verlor, tauchte ein weiterer Ruderer aus dem Schatten unter der Hanover Street Bridge auf und bewegte sich so leicht und elegant auf sie zu, als wäre das Wasser eingefettetes Glas. Seine Technik war perfekt, sein Rücken breit, sein weißes T-Shirt bereits grau vor Schweiß. Sein Bild war so plötzlich aus dem Nichts hervorgeschossen wie in einem 3D-Film.

In Sekundenschnelle hatte er die Distanz zwischen ihnen verkürzt und hielt direkt auf Tess zu.

»Hinter Ihnen«, rief sie, in der Gewissheit, dass ein so sicherer Ruderer keine Schwierigkeiten haben würde, den Kurs zu ändern. Ihre Stimme trug in der Morgenstille gut, doch der Ruderer achtete nicht darauf.

»Hinter Ihnen!«, rief Tess noch einmal deutlicher, während das Boot direkt auf sie zuschoss. Ein Zusammenprall schien unvermeidlich. Aus diesem Blickwinkel hatte sie noch nie jemanden rudern sehen, hatte noch nie bemerkt, wie schnell so ein Boot sich bewegte, wenn man ihm im Weg war. Nervös begann sie mit ihren Riemen kleine nutzlose Bewegungen zu machen, um den Alden zu drehen und dem herannahenden Boot aus dem Weg zu gehen. Ihr einziger Gedanke war, den Schaden an dem fremden Boot möglichst gering zu halten, denn es sah zerbrechlich und folglich teuer aus.

Der Alden, dieses bewunderungswürdige Boot, das speziell für Anfänger entwickelt worden war, bewegte sich unter Tess so leicht und behänd wie eine große Kuh. Trotz aller Eile, mit der sie das Boot in hastigen, stümperhaften Bewegungen durch das raue Wasser zu bewegen versuchte, schien sie überhaupt nicht von der Stelle zu kommen. Verzweifelt rutschte Tess mit ihrem Sitz nach vorn und zog die Riemen so heftig durch, wie sie konnte, wobei sie die ganze Kraft ihrer Beine einsetzte. Ihr Boot schoss übers Wasser und dem herankommenden Boot aus dem Weg. Da presste der andere Ruderer die Riemen gegen den Körper und inszenierte einen perfekten Nothalt wenige Zentimeter vor der Stelle, an der sie sich eben noch befunden hatte.

Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie da war.

»Das kriegst du dafür«, schrie eine vertraute Stimme, »wenn du so lasch ruderst.«

»Vielen Dank, Rock«, schrie Tess zurück. »Vielen Dank, dass du mich zu Tode erschreckt hast. Ich dachte schon, du wärest so ein Kamikaze-Ruderer, der mich versenken will.«

»Nö. Nur dein Privattrainer, der dich dazu bringen will, dass du wirklich jeden Tag vollen Einsatz bringst. Wozu kommst du denn überhaupt hier raus, wenn du dich überhaupt nicht forderst?«

»Wozu komme ich überhaupt hier raus? Darüber hab ich gerade nachgedacht, bis ich dann wegen dir diese Überdosis Adrenalin ausschütten musste.«

Rock jedoch sah das Rudern als seine eigentliche Berufung an. An den Wochentagen beugte sich Rock, der dann Darryl Paxton hieß, von acht bis siebzehn Uhr in seiner Funktion als Forscher über eines der 20000 Mikroskope in der Johns Hopkins Medical School. Tess wusste nicht so genau, worüber er forschte, denn Rock gehörte zu den seltenen Menschen, die nie über ihre Arbeit sprachen. Rock arbeitete nur, um rudern zu können und so viel Geld wie möglich für seine einzige Leidenschaft beiseitezulegen. Er aß auch nur, um rudern zu können, schlief nur, um rudern zu können, hielt sich nur fit, um rudern zu können. Bis er sich in diesem Frühling verlobte, hatte Tess geargwöhnt, dass er überhaupt keine für das Rudern unwesentlichen Dinge tat. Es würde interessant sein, zu beobachten, wie seine Verlobte auf die Herbsttermine der wichtigsten Rennen reagierte, die Rock bis Thanksgiving zweimal täglich aufs Wasser rufen würden. Wenn die Verlobung diese Saison überlebte, dachte Tess, dann würde sie mit Freuden auf der Hochzeit im nächsten März tanzen. Vielleicht würde sie sogar mit der Braut tanzen. Schließlich sollte sie ja Brautführer sein.

Komisch, dabei hatte Tess sich zunächst von Rock ganz eingeschüchtert gefühlt. Er sah so aus, wie sich Tess einen Massenmörder vorstellte: stämmig und breit gebaut und so voller Muskeln, dass seine Haut darüber spannte. Hie und da machte sich denn auch ein Muskel selbstständig und zuckte an einer unerwarteten Stelle. Die Adern an seinen Armen waren dick und blau, als hätte er Kugelschreiber unter der Haut, und seine starken, gedrungenen Waden waren so überentwickelt, dass es aussah, als hätte er Baseball-Bälle unter die Knie implantiert bekommen. Ein angehender Arzt an der Johns Hopkins hatte einmal die Theorie aufgestellt, dass Rock aufgrund seiner Mitochondrien überhaupt keinen Schmerz empfinden könne. Tess aber wusste, dass er im Gegenteil alles nur zu tief empfand. Das sah man schon an seinem Gesicht – einem Kindergesicht, rein, arglos, mit runden braunen Augen wie eine Zeichentrickfigur.

»Du siehst ja wie Dondi aus!«, war sie vor fünf Jahren eines Morgens herausgeplatzt, als er nach einem harten Training am Dock anlegte, die blauschwarzen Haare vor Schweiß an den Kopf geklebt. Sie kannte ihn bis dahin nur vom Sehen, als einen der wenigen Einzelruderer in einem Club, der von Vierern und Achtern beherrscht wurde.

Zu ihrer Überraschung hatte das wilde Gesicht gelächelt. »Also, das war doch wirklich ein guter Comic. Wie konnte der Beacon den nur fallenlassen. Und genauso Tweedy. Ich kann immer noch nicht glauben, dass es Tweedy nicht mehr gibt.«

»Tweedy? Ach, ihr armen, benachteiligten Beacon-Leser, mit was für jämmerlichen Sachen ihr leben müsst. Der Star hat die ganzen guten Comics.«

Also waren sie zusammen frühstücken gegangen und hatten sich die Cartoons der drei Baltimorer Zeitungen angeschaut. Das war vor fünf Jahren und vor dem Aus von zwei Zeitungen gewesen. Tess war genauso wie Tweedy aus dem Zeitungswesen der Stadt verschwunden. Der Beacon, der die Light geschluckt und den Star erledigt hatte, besaß jetzt hervorragende Witzseiten, drei insgesamt, die übliche Ausbeute nach einem Zeitungskrieg. Doch Rock war noch immer ihr Freund, und ihre Beziehung lag fest verankert in der von Tess geliebten Routine – rudern, dann ein gemeinsames Frühstück in ihrem Viertel. Andere Ruderer ließen manchmal das Training ausfallen oder verschliefen oder benutzten das Wetter als Ausrede. Doch Rock, für die Nationalmannschaft nominiert, und Tess, ständig arbeitslos, blieben dem Ruderclub und einander treu.

Eingehend betrachtete sie ihren Freund, der die letzten zwei Wochen Urlaub genommen hatte, um zu rudern. Unter seiner sommerlichen Bräune sah er fahl aus, und seine Augenringe hatten sich vertieft.

»Hast du dich denn in New York nicht ein bisschen erholt? Ich dachte, das wäre der Sinn eines Urlaubs.«

Rock schüttelte den Kopf. »Diese ewigen Grillen. Und je mehr ich trainiert habe, desto schlechter konnte ich schlafen. Aber trotzdem geht es mir ganz gut.«

»Mir geht es auch ganz gut.« Das war nur eine halbe Lüge. Körperlich ging es ihr nämlich prächtig.

»Na, wenn du so gut in Form bist, wollen wir doch mal auf dem Rückweg ein Rennen machen, wer als Erster an der Glasfabrik ist. Verlierer zahlt das Frühstück.«

»Mach keine Witze. Ich würde wahnsinnig viel Vorsprung brauchen, damit es überhaupt ein Rennen wird. Wir können ja ein Autorennen auf der Hanover Street Bridge machen, wenn du unbedingt so was brauchst.«

»Ich geb dir fünfhundert Meter Vorsprung.«

»Das genügt auf dieser Strecke nicht. Du würdest mich auf halbem Weg überholen.«

»Also gut, tausend.«

»Um das Frühstück? Aber du lädst mich doch sowieso immer zum Frühstück ein.«

»Heute lade ich dich nicht ein, wenn du es nicht wenigstens versuchst.«

»Oh.« Mag ja sein, dass Armut manche Menschen adelt. Zu denen gehörte Tess jedenfalls nicht. Sie überlebte nur dank eines ausgeklügelten Systems von Nettigkeiten und Einladungen, wodurch sie knauserig und ein bisschen verwöhnt war. »Na gut, du kriegst dein Rennen.«

»Fahr, als wäre es ein wirklich wichtiges Rennen. Ich fahre nicht eher los, als bis ich dich unter der Brücke verschwinden sehe.«

Tess brachte ihr Boot in Stellung und rutschte mit ihrem Sitz nach vorn. Sie fuhr keine Rennen mehr, außer gegen sich selbst, aber die Routine war ihr zur zweiten Natur geworden.

»Leg los«, rief Rock. »Versuch, einen vollen Zehnerschlag aufzubauen.«

Das Wasser war ruhiger geworden, und so fand Tess schnell ihren Rhythmus. Sie ruderte so, wie sie es in alten Zeiten in ihrem Achter getan hatte, und folgte den Befehlen einer nicht vorhandenen Steuerfrau. Zehn Schläge lang volle Kraft, alles, was sie aufbieten konnte, dann zehn Schläge nur mit den Beinen. Sie durchfuhr den Schatten unter der Hanover Street Bridge und kam wieder ans Licht, und jetzt fühlte sie sich zuversichtlich und locker.

Da sah sie plötzlich Rock näher kommen. Sie hatte gedacht, er würde vielleicht ein wenig trödeln und ihr einen kleinen Vorteil lassen, aber Rock konnte nicht anders, als alles zu geben. Eine Art von Zuverlässigkeit, die sie nicht nachvollziehen konnte. Er durchfuhr das Wasser mit erstaunlicher Geschwindigkeit und einer so perfekten Technik, dass Tess am liebsten angehalten und ihm zugesehen hätte. Aber sie musste weitermachen. Es ging um Blaubeerpfannkuchen oder vielleicht sogar um ein Western Omelett.

Auf Höhe des Bootshauses schoss Rock an ihr vorbei. In einem Rennen zieht normalerweise ein Boot Stück für Stück an einem anderen vorbei, und der Steuermann schreit den Ruderern, die überholt werden, Beleidigungen zu. Rock dagegen schien an Tess mit einem einzigen Schlag vorbeizufliegen. Sie konnte einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, das grimmig und fast grausam aussah, während ihm der Schweiß über die Stirn lief.

Verbissen ruderte sie weiter. Hinter sich hörte sie den Lärm der Glasfabrik, einer übel aussehenden Stätte, die Schwaden von heißer Luft über den Fluss schickte. Dort schienen immer Dutzende von Feuern zu brennen, egal, zu welcher Tageszeit man vorbeiruderte, und doch war nie ein menschliches Wesen zu sehen. Tess ruderte auf diese Feuerwand zu und legte alle Kraft in die letzten dreißig Schläge. In den Armen fühlte sie ein Stechen von der vielen Milchsäure, die sich dort in ihren Muskeln bildete, und es kam ihr so vor, als müsse jeder Schlag ihr letzter sein. Rock hatte natürlich gewonnen, aber sie musste das Rennen zu Ende bringen. Gerade als sie dachte, sie könne keine einzige Bewegung mehr machen, glitt sie an seinem wartenden Boot vorbei.

Als sie aufsah, hatte Rock sich vorgebeugt, und seine Schultern zuckten. Er verausgabte sich oft so sehr, dass er sich erbrechen musste, und Tess war daran gewöhnt, ihren Freund mit ein wenig Speichel auf dem Kinn zu sehen. Ihr selbst war auch etwas übel. Sobald sie sich wieder bewegen konnte, paddelte sie nach vorn, wobei sie sich freute, dass sie ihm so viel abverlangt hatte.

Aber Rock übergab sich gar nicht, er weinte. Vornübergebeugt, das Gesicht auf den riesigen Schenkeln, bebte er am ganzen Körper in heftigen, stillen Schluchzern. Von hinten hatte er auf Tess gewirkt wie jeder Ruderer nach einem harten Training. Aus irgendeinem Grund musste sie an Moses und den brennenden Dornbusch denken. Es war faszinierend und bizarr. Sie streckte die Hand über das Wasser und versuchte, ihn beruhigend zu tätscheln. Ihre Hand rutschte an seinem Trizeps ab, als hätte sie versucht, einen Baum oder eben einen Felsen zu streicheln, wie Rocks Name schon sagte.

»Entschuldige«, sagte er.

Tess machte sich an ihren Ruderdollen zu schaffen, verlegen und unbeholfen.

»Ava«, sagte er knapp.

Ava. Seine Verlobte. Tess hatte sie vergangenes Frühjahr bei den Rennen kennengelernt. Wenn sie dabei war, schien Rock nie gut abzuschneiden. Vielleicht war das gar nicht Avas Schuld, aber trotzdem wäre sie nicht die Frau gewesen, die Tess für ihn ausgesucht hätte. Auch nicht die Frau, die seine Mutter für ihn ausgesucht hätte, oder seine Kollegen, oder sonst jemand, dem an seinem Glück lag, da war sich Tess sicher. Ava war Rechtsanwältin, gut aussehend, tüchtig – und eine richtige Zicke, auf eine Art, die nur eine andere Frau wirklich begreifen kann. Obwohl sie sich schon dreimal gesehen hatten, konnte sie sich nie an Tess’ Namen erinnern.

Aber Tess sagte nur: »Ava?«

»Ich glaube, sie hat …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Schwierigkeiten.«

»Was für welche denn?«

»Irgendwelche, über die sie nicht reden kann. Wenn ich sie spätabends anrufe, ist sie nicht zu Hause, aber auch nicht im Büro. Sie hätte in der zweiten Woche in die Adirondacks nachkommen sollen, aber sie rief in letzter Minute an und sagte, es gebe bei ihrer Arbeit einen Notfall. Ihr Chef, dieser Abramowitz, zwingt sie, sich zu Tode zu schuften wegen dieser Asbestfälle.«

Tess konnte sich noch gut erinnern, wie stolz er gewesen war, als Ava den Job bei O’Neal, O’Connor & O’Neill bekommen hatte, und wie stolz er war, dass der extravagante neue Partner Michael Abramowitz sie zur Assistentin haben wollte.

»Aber das ist doch klar, oder? Das ›Tri O‹ ist ’ne ziemlich hoch aufgehängte Anwaltskanzlei, und diese Fälle mit dem Asbest reißen einfach nicht ab.«

»Ja, vor allem, wenn einer der wichtigsten Klienten Sims-Kever ist, der lieber eine Million Dollar Anwaltskosten zahlen würde, als auch nur einen einzigen müden Dollar Schadenersatz an so einen alten Typ, der keine Luft mehr kriegt.«

Rock zupfte an einer seiner Schwielen herum. »Die Sache ist nur, Ava war vorige Woche gar nicht bei der Arbeit. Ich habe angerufen, und die Sekretärin sagte mir, dass sie Urlaub habe. Ich bin mir aber sicher, dass es trotzdem eine ganz einfache Erklärung dafür gibt.«

»Warum fragst du sie dann nicht einfach?«

»In dieser Hinsicht ist Ava ein bisschen komisch. Wenn ich sie fragen würde, würde sie das so verletzen, dass …« Er schüttelte den Kopf, als könne Tess sich gar nicht vorstellen, wie Ava war, wenn sie sich verletzt fühlte, wie aberwitzig einschüchternd und anbetungswürdig. »Sie ist sehr empfindlich.«

Sie trieben in der leichten Strömung. Hier, in einer kleinen Bucht in der Nähe des Jachthafens, war das Wasser glatt. Tess suchte nach etwas, was sie sagen konnte, etwas, was diesem Gespräch ein Ende setzen und sie näher an ihre Blaubeerpfannkuchen bringen konnte. Avas Verhalten legte alle möglichen Vermutungen nahe, die aber alle wenig schmackhaft für Rock wären.

»Ich bin überzeugt, dass sie einen guten Grund hat«, sagte sie schließlich.

»Aber es gibt nur eine Möglichkeit, es wirklich herauszufinden.«

»Sie zu fragen? Du hast doch gerade gesagt, dass du mit ihr nicht darüber reden kannst.«

»Nein, sie zu beschatten.«

»Würde sie es nicht merken, wenn du ihr folgst?«

»Doch, natürlich«, sagte Rock. »Aber ich habe mir gedacht, sie würde es nicht merken, wenn du ihr folgst.«

»Wie könnte ich ihr folgen? Ich meine, woher soll ich die Zeit dazu nehmen? Ich weiß, ich kann mir meine Zeit einteilen, aber ich sitze trotzdem nicht den ganzen Tag in meiner Wohnung herum und sehe fern.« Das war ein wunder Punkt bei Tess. Viele Leute schienen zu glauben, arbeitslos zu sein sei einfach nur ein Spaß. Aber sie musste zwei Jobs machen, nur um über die Runden zu kommen.

»Ich würde dich bezahlen. Dreißig Dollar Stundenlohn, wie es bei Privatdetektiven üblich ist. Du wirst sicher jemanden finden, der dich für die paar Tage in der Buchhandlung vertritt.«

»Aber ich bin keine Privatdetektivin«, wandte sie ein.

»Nein, aber du warst lange Zeit Reporterin. Hast du mir nicht erzählt, wie du einmal irgend so ein großes Tier aus der Stadt beschattet hast? Und du schreibst Berichte für deinen Onkel. Das könnte so etwas wie ein Bericht sein.« Er tat so, als würde er diktieren. »›Neunzehn Uhr dreißig; sah Ava in die Hemispheris-Klinik an der Johns Hopkins gehen. Empfangsdame bestätigt, dass sie Thrombozyten für jungen Krebskranken spendet.‹ Verstehst du?«

Mein Gott, dachte sie, ihm fällt nicht einmal eine gute Geschichte ein. Es war viel wahrscheinlicher, dass Ava in die Abteilung für Geschlechtsumwandlung an der Johns Hopkins Klinik ging und Rock erst wiedersehen wollte, wenn sie ihre neue Ausstattung hatte.

Trotzdem, dreißig Dollar Stundenlohn, wenn auch vielleicht nur für fünf oder sechs Stunden, das war eine schrecklich verlockende Aussicht. Leichtes Geld. Wenn Ava nichts anstellte, würde Tess einen Freund glücklich machen. Wenn Ava Böses im Schilde führte, würde sie dafür bezahlt, einen Freund vor einem verheerenden Fehler zu bewahren.

»Einen besseren Computer«, säuselte Rock. »Autoreparaturen. Eine erste Rücklage für ein eigenes Boot, damit du nicht immer auf diese Scheißteile hier angewiesen bist.«

Tess stellte bei sich eine andere Liste zusammen: ein Paar Ohrringe, die ausnahmsweise einmal nicht aus dem Dritte-Welt-Laden kamen. Lederstiefel, samt Sohlen. Studiengebühren. Aber sie schob diese Gedanken wieder beiseite und versuchte, den Haken an der Sache zu finden.

»Warum nimmst du dir nicht einen richtigen Privatdetektiv, wenn du schon so einen Preis bezahlen willst?«

Rock blickte über den Fluss, als sei er plötzlich von den drei kleinen Kindern völlig in Anspruch genommen, die am nördlichen Ufer herumwateten.

»Ein richtiger Privatdetektiv wäre schäbig«, sagte er langsam, als müsse er sich die Antwort erst selbst noch zurechtlegen. »Es geht hier um einen Gefallen unter Freunden. Ich biete dir deshalb an, dich zu bezahlen, weil ich weiß, dass deine Zeit wertvoll ist. Und weil ich weiß, dass du nie genug Kohle hast.«

Als Freiberuflerin setzte Tess ihren Stundenlohn bei 20 Dollar an, arbeitete aber oft auch für weniger. Als Staatsangestellte mit Vertrag verdiente sie zehn Dollar pro Stunde. Ihre Tante versorgte sie mit Essen, zahlte ihre Krankenkasse und gab ihr sechs Dollar die Stunde für die Arbeit im Buchladen. Noch nie hatte jemand den Wert ihrer Arbeit auf dreißig Dollar pro Stunde geschätzt.

»Wo arbeitet Ava denn?«, fragte sie.

Er lächelte. Er sah wirklich wie Dondi aus, nur hatte er keinen so leeren Blick.

»Das erzähl ich dir alles bei Jimmy’s.«

2

Tess aß dann doch keine Blaubeerpfannkuchen. Sie hätte zwar gerne, doch in dem Augenblick, wo sie Jimmy’s in Fells Point betrat, warf der Koch zwei Bagels zum Toasten auf den Grill und schenkte frischen Orangensaft in einen roten Plastikbecher. Ihr übliches Frühstück: zwei Bagels, einer mit Frischkäse, einer ohne. Dieses Frühstück aß sie jetzt schon seit zwei Jahren bei Jimmy’s, mindestens fünfmal pro Woche.

Immer schon hatte sie sich gewünscht, dass sie ein Lokal betreten und jemand fragen würde: »Das Übliche?« Natürlich hatte dieses Lokal in ihrer Phantasie ursprünglich eine lange Bartheke in Mahagoni, die Männer dort trugen Anzüge und die Damen Hüte, und sie selbst würde sich einen Martini bestellen, einen Martini pur. Ohne Olive, bitte.

Rock entschied sich nach einem kurzen Blick auf die Speisekarte, die auf dem Platzdeckchen aufgedruckt war, für das »Carbohydrat Spezial«, ein Frühstück, das er selbst kreiert hatte: Toast, Pfannkuchen, Orangensaft, einen Früchtebecher und Müsli mit fettarmer Milch.

»Keinen Sirup, keine Butter«, sagte er zu der Bedienung. »Nur jede Menge Marmelade extra.«

»Sonst noch etwas?«

»Haben Sie vielleicht auch Reis? Oder Buschbohnen?«

Die Kellnerin stolzierte davon, sie fand das gar nicht lustig. Rock war ein leidenschaftlicher Anhänger der These, dass die Ernährung die sportliche Leistung steigere, auch wenn sich die Regeln für eine solche Ernährung immer wieder änderten. Zurzeit mied er Fett und das meiste Fleisch. Wenn man aber bedachte, wie sehr er sich verausgabte, musste er ungeheure Mengen essen und Proteinersatzstoffe trinken, um sein Gewicht zu halten. Er aß nie, um zu genießen, und er trank keinen Alkohol. Sein einziges Laster war Koffein, das, wie er behauptete, seine Leistung steigerte. Die Küche in seiner kleinen Wohnung in Charles Village war ein Kaffeetempel. Rock besaß keinen Videorekorder, keinen CD-Player und keine Mikrowelle, aber eine französische Druckfilterkanne, eine Cappuccino- und eine Espressomaschine sowie einen Tiefkühlschrank, der mit nichts als Eiswürfelschalen und Tüten voller Kaffeebohnen gefüllt war, alle beschriftet und datiert. Seine ständige Schlaflosigkeit überraschte niemanden außer ihn selbst.

Das Frühstück kam in Minutenschnelle, und sie aßen beide hingebungsvoll und schnell, als gehöre auch das noch mit zum Rennen. Für Tess war Essen der Höhepunkt des Tages, und das machte sie nur noch hungriger. Rock dagegen wollte einfach nur die gewaltige Maschinerie seines Körpers auftanken und dann das Ganze hinter sich haben. Tess war noch an ihrem zweiten Bagel, als Rock schon mit dem letzten Stück Pfannkuchen den letzten Rest Marmelade vom Teller wischte.

»Also«, fing er an und durchwühlte seine Brieftasche. Er schob Tess einen Umschlag über die Tischplatte, den sie freudig in Empfang nahm. Ein Scheck, dachte sie. Ein Vorschuss. Doch sie fand nur ein kleines Foto von Ava darin und zwei Blätter mit Telefonnummern und Adressen. Rock hatte auch ein ungefähres Schema von Avas Tagesablauf beigelegt: wann sie zur Arbeit ging, wann sie heimkam – und was sie sonst noch gerne frequentierte. So jedenfalls nannte er es auf seiner Liste. Sie frequentierte ein Fitnessstudio in Federal Hill, eine Bar in der Nähe ihres Büros und ein italienisches Restaurant, das hauptsächlich für seine atemberaubende Aussicht und das ungenießbare Essen bekannt war.

»Komisch«, sagte Tess, während sie den Inhalt des Umschlags durchsah.

»Was?«

»Du hattest das alles schon fertig bei dir. Bist du davon ausgegangen, dass ich sowieso Ja sagen würde?«

Rock wurde rot. »Ich weiß einfach, dass du ein bisschen zusätzliches Geld gut brauchen kannst.«

»Na ja, es ist aber nicht so, dass ich für Geld grundsätzlich alles tun würde. Ich habe schon PR-Jobs abgelehnt.« Pleite zu sein war bei Tess ein bisschen zu einer Masche geworden.

Er lächelte nicht.

Sie verabschiedeten sich auf der Kopfsteinpflasterstraße vor Jimmy’s und waren plötzlich beide etwas verlegen. Tess hatte schon für viele Verwandte gearbeitet, aber noch nie für einen Freund. Rock schien sich mit dieser neuen Art der Beziehung genauso unwohl zu fühlen. Er knuffte ihr immer wieder in die Schulter, mit für ihn ganz zarten Berührungen, die aber bei ihr kleine blaue Flecken hinterließen. Schließlich nahm er sein zehngängiges Rennrad aus Tess’ Kofferraum und fuhr den Broadway hoch, den sich lang hinziehenden Berg hinauf zum Johns Hopkins Hospital, und zu seinem Leben als Darryl Paxton.

Tess fuhr über den weiten Platz am Broadway und hinüber in die Shakespeare Street, wo sie hie und da einen Blick in ein unverhülltes Fenster werfen konnte. Es war erst acht Uhr morgens, und die anderen Leute, die normalen Leute, wie Tess sie bei sich nannte, saßen noch am Frühstückstisch oder traten im Bademantel vor die Tür, um den Beacon reinzuholen. So eine Existenz hatte sie sich früher auch für sich vorgestellt, und zwar tatsächlich bis in diese prosaischen Einzelheiten. Ein Gatte, ein Baby, ein Esszimmertisch. Manchmal legten ihre Tante und deren jeweiliger Liebhaber ein Gedeck für sie am Frühstückstisch mit auf, aber dieser Versuch, es ihr häuslich zu machen, verstärkte nur Tess’ Gefühl von Fremdheit. Es kam ihr seltsam vor, sich zusammen mit ihrer Tante und ihrem »Mann des Monats«, beide gewöhnlich im Bademantel und noch etwas gerötet, zu heiterem Geplauder und Blaubeermarmelade hinzusetzen.

Die Shakespeare Street mündete in die Bond Street, in der Tess wohnte. Sie hielt an und blickte auf das Haus, das sie Zuhause nannte, ein klobiges Lagerhaus aus granatroten Ziegeln, die Türen und Fenster weiß umrandet und alles von der liebevollen Fürsorge ihrer Tante bestens instand gehalten. Die Fenster glänzten im Morgenlicht, und die Bücher im Inneren – in feinen Nuancen von Rot, Grün und Elfenbein – leuchteten wie Edelsteine in einer Schatulle. Über der Tür strahlten die scharlachroten Buchstaben so stark, dass sie förmlich aus der Wand sprangen: FRAUEN UND KINDER ZUERST. Und in kleinerer Schrift darunter, für den einen oder anderen Ungebildeten, der etwa dachte, es sei ein Geschäft für Rettungsboote: DIE GANZ BESONDERE BUCHHANDLUNG.

Nicht jeder hätte viel Umsatz von einem Laden erwartet, der nur Frauenliteratur und Kinderbücher verkaufte. Aber Tess’ Tante, Katherine »Kitty« Monaghan, war eben nicht wie jeder. Sie war überhaupt nicht wie irgendjemand anders. Nach fast zwanzig Jahren als Bibliothekarin in städtischen Schulen war sie in Frührente gegangen, nachdem sich eine Mutter beschwert hatte, dass Märchen gottlos seien und den Glauben an Satan und den Okkultismus förderten.

Das war jedenfalls die offizielle Version. Die ausführlichere Version umfasste den Super Fresh Markt, einen Kohlkopf und eine Gelbe Rübe. Kitty war entlassen worden, nachdem sie eine Mutter verziert hatte, die sie in der Gemüseabteilung angesprochen und sich über »Hans und die Bohnenranke« beschwert hatte. Dieses Märchen fördere unsoziales Verhalten, hatte sich die Mutter beschwert. Es glorifiziere das Räubertum. Kitty verpasste ihr ein blaues Auge. Die Stadtverwaltung entließ sie. Es gab offenbar Vorbehalte dagegen, Eltern anzugreifen. Kitty strengte eine Klage wegen unrechtmäßiger Entlassung an und verwies darauf, dass die Frau sie im Super Fresh angepöbelt habe, wo sie eindeutig als Privatperson unterwegs gewesen sei, und ihr einen Kohlkopf an den Kopf geworfen habe, als Kitty ihr nicht zustimmte. Das war der Punkt, der Kitty so wütend gemacht hatte – nicht, dass sie einen Kohlkopf an den Kopf bekommen hatte, sondern dass jemand es wagte, sie ausgerechnet dann auf die Schule anzusprechen, wenn sie sich in der Gemüseabteilung aufhielt, an einem Ort also, den sie auch unter den günstigsten Umständen schon ziemlich anstrengend fand. Sie warf eine Gelbe Rübe zurück, und sie zielte besser.

»Es war schlicht und einfach Selbstverteidigung«, sagte sie gerne über den Vorfall. Zum Glück stimmte der gewerkschaftliche Schlichter dem zu. Die Schulverwaltung von Baltimore willigte ein, eine beträchtliche Summe zu zahlen, und daraufhin kaufte Tante Kitty diesen alten Drugstore von der Familie von Tess’ Mutter, den Weinsteins, nachdem diese den Bankrott erklärt hatten.

Sie verwandelte das dreistöckige Gebäude in einen Laden und eine Wohnung, mit einer zusätzlichen Einliegerwohnung im obersten Geschoss, um ein paar weitere Einnahmen zu haben. Mehr aus Faulheit denn aus innenarchitektonischen Bedürfnissen behielt sie die alte Theke, die die vordere Abteilung, nämlich die für Kinderbücher, von der dahinter liegenden trennte – der für feministische Traktate, Erotika, alles, was von Frauen und manchmal auch über Frauen geschrieben worden war. So konnte man beispielsweise auch Bücher von Philip Roth und John Updike in FRAUEN UND KINDER ZUERST kaufen.

FUKZ war ein gemütlicher Laden, mit Lehnstühlen, zwei funktionierenden Kaminen, abgetretenen Teppichen und der alten Zimmerdecke aus Zinn. Man kam, um zu kaufen, blieb, um ein bisschen zu schmökern, und ging schließlich, mit mehr Büchern als geplant. Der Profit war zwar bescheiden, aber doch weitaus höher, als Kitty sich je hätte träumen lassen. Vom Kapitalismus hingerissen, sprach sie ständig vom Expandieren. Vielleicht würde sie an der alten Theke auch noch Espresso anbieten, oder Fünfuhrtee. Oder das nebenstehende Gebäude kaufen und eine Pension einrichten. Oder vielleicht eine Buchhandlung nur für Männer? Als Neuling im Rennen hatte ihr das Anfängerglück gefährlich den Kopf verdreht. Tess hätte sich nicht gewundert, wenn sie ihr ganzes Geld genauso schnell wieder verlieren würde, wie sie es gewonnen hatte.

»TOTE WEISSE MÄNNER, wie findest du das als Namen, Tesser?«, fragte Kitty, als Tess zur Tür hereinkam. Kitty saß auf der alten Theke, in einem Seidenkimono mit Kirschblüten, und nippte an einer Tasse Kaffee. »Was wir da verkaufen könnten – also, ich glaube, da könnten wir einfach alles verkaufen, die ganzen Klassiker. Das wäre eben genau der Witz daran. Es wäre eine ganz normale Buchhandlung, aber die Leute würden glauben, es sei etwas Besonderes. Und mit den beiden Läden hätte ich dann praktisch alles abgedeckt. Schließlich stirbt ja jeder irgendwann einmal. Sogar Norman Mailer.«

»Find ich gut«, sagte Tess. »Andererseits, wenn man bedenkt, dass die hiesige Bevölkerung gegen Ironie völlig immun ist, sehe ich schon vor mir, wie eine Männergruppe und die NAACP draußen vor dem Laden Mahnwachen aufstellen und den Eingang blockieren, weil sie der Ansicht sind, dass du den Geschlechtermord verherrlichst und Farbige diskriminierst. Und diese ›Mütter gegen Gewalt‹ – du weißt schon, die MÜGG – würden es als etwas pro Gewalt auffassen.«

»MÜGG! Die gibt es doch gar nicht, nicht einmal hier in Baltimore.«

»Liest du denn keine Zeitung? Sie haben einen ständigen Blockadeposten vor dem Multiplex in Towson aufgestellt. Das ist sehr praktisch fürs Einkaufen. Sie marschieren eine Stunde lang auf und ab, dann machen sie eine Pause und gehen im Nordstrom shoppen.«

Kitty lachte, ein überraschend lautes, wunderbares Lachen. Die meisten Monaghans waren etwas mürrisch, auch Tess, und deshalb wirkte Kitty ein bisschen wie ein Wechselbalg. Sie war der glücklichste Mensch, den Tess kannte, mit einer schier unbegrenzten Begeisterungsfähigkeit. Sie wollte nur, dass das Leben greifbar sei, voller Dinge, die man anfassen und festhalten, riechen und schmecken konnte. Weiche Stoffe, neue Bücher, vollmundige Weine, gut geschneiderte Kleider, ausgeprägte Waden. Sie war zwölf Jahre älter als Tess und über zwanzig Zentimeter kleiner, mit flammend roten Locken und den einzigen grünen Augen innerhalb von drei Generationen. Ihr letzter Beau war einer der neuen städtischen »Polizisten zu Rad«, der in den Laden gelockt worden war, nachdem Kitty seine Beine hatte vorüberfliegen sehen. Thaddeus Freudenberg. Er war vierundzwanzig, so groß und knuddelig wie ein Labrador und mit einem nur geringfügig niedrigeren IQ als ein solcher. Tess nahm an, dass er deshalb bei der Fahrradstreife war, weil er die Führerscheinprüfung nicht geschafft hatte.

Thaddeus war an diesem Morgen nirgends zu sehen. Tess lehnte sich gegen die Theke. »Ich habe ein interessantes Angebot bekommen«, fing sie an und unterrichtete Kitty über Rocks Vorschlag. Sie dachte, ihre Tante würde beeindruckt sein, vor allem, da Tess oft kaum die Miete bezahlen konnte.

Aber Kitty hatte ihre Zweifel. »Das klingt, als müsstest du dich für Lohn in anderer Leute Privatsachen einmischen. Hast du denn keine moralischen Bedenken?«

»Moral kann ich mir nicht leisten. Der Sommer war lahm, und ich brauche dringend ein bisschen Bargeld.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie sah Tess von oben herab an, was ihr nur deshalb gelang, weil sie oben auf der alten Theke saß und Tess daran lehnte. »Aber du magst diese Frau doch eigentlich nicht. Wie kannst du da objektiv sein? Wenn du etwas siehst, worüber du dir unklar bist, könntest du falsche Schlüsse ziehen, nur weil du sie ertappen willst. Und das merkst du dann wahrscheinlich nicht einmal.«

»Zum Beispiel?«

»Na ja, zum Beispiel siehst du sie jemanden auf der Straße küssen, und du denkst natürlich, das ist ihr Liebhaber. Es könnte aber auch ihr Bruder sein, oder einfach ein Freund.«

»Ich glaube, den Unterschied zwischen einem Liebhaber und einem Bruder kann ich schon noch erkennen.«

»Ich weiß nicht, Tesser. Es ist schon eine Weile her, seit ich außer dir noch jemand anderen die Treppe in den zweiten Stock habe hinaufsteigen hören.« Kitty lächelte und zog sich den rutschenden Kimono wieder über die linke Schulter hoch.

»Sei bloß nicht so süffisant, nur weil du jeden Abend von deinem Leutnant Strahlemann in den Arm genommen wirst. Manche Leute schlafen eben auch gern allein, verstehst du?«

»Vielleicht taucht ja Jonathan bald mal wieder auf. Ist schon ’ne Weile her, oder?«

»Ich habe auf Jonathan seit Beginn der Fastenzeit verzichtet.«

»Und an Yom Kippur wirst du ihm dann wieder verzeihen. Du hast es schon immer geschafft, alles aus deinen beiden Religionen herauszuholen, Tesser, schon als du noch ein kleines Mädchen warst.«

Und damit schwang sich Kitty von der Theke, marschierte in den Wohnbereich hinter dem Laden und überließ Tess sich selbst, sodass sie über Jonathan Ross nachdenken konnte. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er ihr fehlen könnte, bis Kitty ihn jetzt erwähnte. Yom Kippur, der Tag der Buße, war nächsten Monat. Und Jonathan hatte für mehr Buße zu tun als sie, für viel mehr.

Ihre Gedanken wurden zerstreut, als Crow, einer der Angestellten, an der vorderen Eingangstür klopfte.

»Na, heute nur zwei Stunden zu früh«, sagte Tess, als sie ihm aufmachte, und kam sich dabei etwas gemein vor. Crow, der in Kitty verknallt war, tauchte oft schon um sieben Uhr zu seiner Vormittagsschicht auf und blieb bis spät abends, damit beschäftigt, die Lagerbestände zu computerisieren.

»Ja, also, ich dachte, ich könnte vielleicht hier frühstücken.« Er hielt eine etwas fettfleckige Tüte Donuts und eine Flasche Orangensaft in die Höhe. Auf dem Rücken trug er einen ziemlich ramponierten Gitarrenkasten. »Ich mag das Morgenlicht hier drin. Es ist für mich so … inspirierend.«

Tess hatte fast Mitleid mit Crow, denn er war einfach nur der Neueste in einer langen Reihe von Aushilfskräften, die sich in Kitty verliebten. Die Kunststudenten von Marylands Institute of Art schienen besonders anfällig dafür zu sein. Aber ihr Mitleid wurde von einer unbestimmten Verärgerung gedämpft. Sie würde er nie so anschauen, mit seinen feuchten braunen Augen und seinem hübschen Mund. Crow schwang sich auf die Theke, als würde er ganz automatisch von dem Platz angezogen, an dem noch vor ein paar Minuten Kittys Kimono verrutscht war. Ohne sich um sein Frühstück zu kümmern, nahm er seine Gitarre heraus und fing an zu spielen. Etwas Selbstkomponiertes, urteilte Tess, oder die besonders schlechte Interpretation von etwas Bekanntem.

»Ich schreibe gerade einen Song«, erzählte er ihr.

»Da bist du nicht der Erste. Aber denk daran – es reimt sich praktisch nichts auf Kitty.«

»Nicht unbedingt.« Er schlug ein paar Töne an und fing an zu singen. Seine Stimme war zwar dünn, aber charmant und echt. »Ach, vor Kurzem traf ich Kitty / Die schönste Frau der ganzen City / Tapocketa. Tapocketa. Tapocketa / Ich bin schon fast ein Held.«

»Wenn du etwas findest, was sich auf Monaghan reimt, bin ich wirklich beeindruckt.«

»Wenn ich etwas finde, dann könnte ich ja auch für dich einen Song schreiben«, sagte Crow und grinste sie an. »Es gibt so viel, was sich auf Tess reimt.«

»Stress«, sagte sie. »Darauf reimt sich hauptsächlich Stress.«

Damit überließ sie Crow seinen Donuts und seinen Träumen und ging die Hintertreppe zu ihrem Apartment hinauf. Sie war steil, denn die unteren beiden Stockwerke waren ziemlich hoch, und so war es fast, als müsse man vier Stockwerke erklimmen. Als Kitty das Gebäude renovierte, wollte sie das zweite Stockwerk vermieten, um ihre Hypothek leichter abzahlen zu können. Tess als erste und einzige Mieterin zahlte weitaus weniger, als Kitty auf dem freien Wohnungsmarkt hätte verlangen können.

Die Wohnung war klein und bestand praktisch nur aus einem einzigen großen Raum, der durch Bücherregale unterteilt war. Der Wohnbereich war gerade groß genug für einen Schreibtisch, einen Lehnsessel und einen kleinen Tisch im Kolonialstil, den sie zum Essen benutzte. Die Küche bestand nur aus einer Kochnische mit einem winzigen Kühlschrank und einem Herd mit zwei Flammen. Man musste sie durchqueren, um ins Schlafzimmer zu gelangen, den größten Bereich. Auch das war schlicht und bot nur Platz für ein massives Doppelbett, einen kleinen Tisch und eine Spiegelkommode.

Dennoch besaß das Apartment noch etwas ganz Besonderes: eine Terrasse vor dem Schlafzimmer mit einer Leiter aufs Dach. An diesem Morgen stieg Tess sofort hinauf, in der Hoffnung, dass die Aussicht ihren Geist erweitern und klären werde, damit sie sich auf ihren seltsamen neuesten Job konzentrieren konnte.

Sie bevorzugte den Blick nach Osten, auf die Fabrikschornsteine und das neonrote Emblem auf dem Domino-Sugar-Hochhaus, mit dem Rücken zur Altstadt und zu Baltimores berühmter Uferpromenade. Mit diesem Teil von Baltimore, der als Attraktion für die Touristen neu gestaltet worden war, konnte Tess überhaupt nichts anfangen. Ihrer Ansicht nach gab es hier kaum einen Unterschied zu den vorherigen Stripteasebars, die keinen Eintritt verlangten, dafür aber drinnen die Preise für alles umso höher ansetzten. Sie hatte manchmal Albträume, bei denen sie in einen Kopf aus Pappmaschee eingesperrt war und Leute begrüßen musste: »Na, Süßer, wie geht’s? Na, Süßer, wie geht’s?«

Tess sah noch einmal die Adressen durch, die Rock ihr gegeben hatte. Avas Leben war fein säuberlich unterteilt. Sie wohnte in einer Eigentumswohnanlage auf der einen Seite des Hafens. Sie arbeitete auf der anderen Seite für die angesehene Anwaltskanzlei O’Neal, O’Connor und O’Neill. Sie konnte in weniger als einer Viertelstunde zu Fuß zur Arbeit gehen – falls Ava überhaupt jemals zu Fuß ging.

Das Foto war grob zu einem Oval geschnitten, was die ungeschickte Hand eines Mannes verriet. Wahrscheinlich hatte es in einem Rahmen neben Rocks Bett oder auf seinem Schreibtisch gestanden. Ein Foto von einer Frühlingsregatta, auf dem Ava neben Rock stand. Er trug ein rotes T-Shirt und schwarze kurze Ruderhosen aus Lycra. Sie hatte ein nagelneues T-Shirt mit Marinestreifen an, das aussah, als hätte es mehr gekostet als Tess’ bestes Kleid. Ihre Rechte konnte Rocks Handgelenk nicht einmal ganz umspannen, trotzdem schien sie ihn fest in der Hand zu haben. Ihr Haar schwebte wie eine dunkle Wolke um ihr Gesicht, ein Gesicht, das so vollkommen war, dass man leicht verstehen konnte, warum ihre Eltern es gewagt hatten, sie nach einer Göttin der Erotik zu benennen. Ava kam in ihrem Leben dieser Vorgabe nach.

Tess kannte sich mit schönen Frauen aus. Seit sie lebte, war sie von ihnen umgeben – ihre Tante, ihre Zimmergenossin auf dem College, Whitney, sogar ihre Mutter. Einige waren großzügig und erlaubten einem, sich in ihrem Glanz zu sonnen. Andere waren abweisend und erreichten immer, dass man sich neben ihnen dick und ungeschickt vorkam. Ava gehörte zu Letzteren.

Mit neunundzwanzig hatte Tess Frieden mit ihrem Gesicht und ihrem Körper gemacht. Sie war nicht schön, aber ihr Aussehen tat ihr gute Dienste. Sie hielt alles einfach: lange braune Haare, auf dem Rücken zu einem Zopf geflochten, kein Make-up in ihrem blassen Gesicht oder um ihre hellbraunen Augen, Kleidung, die auf Bequemlichkeit und schnelle Bewegung zugeschnitten war. Eins stand jedenfalls fest: Sie besaß die richtige Garderobe für eine Spionin – ganze Schubladen voll alter, ausgebeulter Sachen in dunklen Farben. Sie verstand es, sich unsichtbar zu machen.

3

Ava wohnte in Eden, genauer gesagt, im Eden’s Landing, einer Wohnanlage mit nicht allzu vielen Stockwerken, errichtet aus rosa Marmor und Glasbausteinen, in der Nähe des National Aquarium. Unhistorisch und unsymmetrisch, war es der Sonnenpyramide in Tenochtitlán nachempfunden und hätte irgendwo zwischen San Diego und Malibu bestimmt ganz gut ausgesehen. Doch hier in der Hafengegend von Baltimore wirkte das Gebäude, als würde es vor seinen Nachbarn zurückschaudern und seine Terrassen ganz eng an sich ziehen. Eden’s Landing schien die Vorstellung, hier in Baltimore gelandet zu sein, als Horror zu empfinden. Was Tess betraf, so beruhte dieser Horror auf Gegenseitigkeit.

Sie hatte an einer Bushaltestelle in der Pratt Street Position bezogen, weil sie dachte, von dort aus könne sie Ava in ihrem Mazda Miata am besten aus der Tiefgarage kommen sehen. Nach Rocks Aufzeichnungen müsste sie um 7:15 Uhr zur Arbeit gehen. Um genau 7:20 Uhr erschien Ava zu Fuß. Gleich die erste Überraschung des Tages, dachte Tess. Tatsächlich erleichterte das die Sache für sie, da sie ihren Toyota auf einem Parkplatz auf der anderen Seite der President Street abgestellt und die Verfolgung mit dem Fahrrad geplant hatte, weil das in der Innenstadt viel praktischer war. Sie verstaute ihr Fahrrad im Kofferraum und eilte zurück in die Pratt Street.

Zum Glück ging Ava die Pratt Street ganz langsam hinunter. Die Fahrbahn war zwar verstopft, aber zu Fuß ging um diese frühe Stunde noch kaum jemand. Tess blieb kurz stehen, dann ging auch sie die Pratt Street entlang und versuchte, ihren Schritt der gemächlicheren Gangart von Ava anzupassen. Da ihr Haar von einer schnellen Dusche im Ruderklub noch etwas feucht war, kam sie sich auf dem fast leeren Gehsteig äußerst auffällig vor.

Ava war nicht der Typ, der zum figurbetonten kleinen Kostüm Sportschuhe und weiße Söckchen getragen hätte. Sie schlenderte in Wildlederpumps dahin, mit etwa acht Zentimeter hohen Absätzen und Riemchen um die Knöchel, wobei sie geradeaus vor sich hin schaute, ohne auf den klaren Morgen oder den atemberaubenden Blick auf den Hafen zur Linken oder den dunklen Schatten der USS Konstellation zu achten. Tess hätte ihr auf einem Dreirad folgen und dabei mit einem Fahrradglöckchen bimmeln können, und Ava hätte es nicht bemerkt. Das Einzige, was sie sah, waren teure Autos und gut angezogene Männer. Wenn beides zusammentraf, drehte sie sogar den Kopf und gestattete Tess einen Blick auf ein wohlbekanntes Profil. Die Hälfte der Frauen in Baltimore hatte genau dieses Profil, dank eines bestimmten Schönheitschirurgen.

Trotz ihrer vollkommenen Nase sah Ava für Tess nicht wie eine echte Rechtsanwältin aus, sondern eher wie das Bild, das ein Modemagazin von einer Anwältin hatte – was ein großer Unterschied war. Ihr glänzendes schwarzes Haar trug sie gelockt und offen, ohne Haarband oder etwa Schildpattspangen. Ihr perlgrauer Rock war kurz und saß gut, ihre karminrote Bluse war aus Seide und kurz geschnitten. Die Pumps, die farblich zur Bluse passten, hätten sich vier Straßen weiter nördlich bestimmt wie zu Hause gefühlt, auf diesem Straßenabschnitt voller Nacktbars und Pornoläden, der als »der Block« bekannt war. Und Avas Aktentasche aus glänzendem schwarzen Leder, das weicher aussah als Tess’ Kopfkissen, schwang ihr viel zu locker in der Hand, als dass mehr darin hätte sein können als Wimperntusche und Lippenstift.

Sehr verdächtig, sagte sich Tess. Als junge Mitarbeiterin bei O’Neal, O’Connor und O’Neill müsste Ava doch mit Arbeit überladen sein, und zwar mit Arbeit, die wenig Ruhm, dafür aber viel Papierkrieg mit sich brachte. Aber wozu auch Ruhm, wenn man mit 80000 Dollar pro Jahr anfing? Jeder wäre froh um so ’ne Arbeit, summte Tess, als Ava im Lambrecht Building verschwand, dem verspiegelten Wolkenkratzer, der der Sitz des Tri Os war. Die verspiegelte Außenhaut ließ ihr Eintreten ins Gebäude wie einen Zaubertrick erscheinen: Jetzt sah man sie noch, dann nicht mehr. Tess wartete ein paar Sekunden und ging dann um das Gebäude herum, wobei sie den Hintereingang entdeckte, der auf eine kleine Seitenstraße führte. Außerdem gab es noch ein kleines Café mit einem separaten Eingang. Sie fand keinen Punkt, von dem aus sie alle Eingänge klar im Blick behalten konnte. Und wenn Ava das Gebäude mit jemandem im Auto über die Tiefgarage auf der Ostseite verließ, würde Tess überhaupt nichts davon mitkriegen.

Wie ließ sich das ändern? Tess hatte noch nie jemanden beschattet. So eine Reporterin war sie nicht gewesen. Da sie über ganz verschiedene Themen schrieb, war eher sie diejenige gewesen, die von den Leuten verfolgt wurde, so gierig waren die immer auf Publicity. Sie hatte über Straßenprediger geschrieben, über frühreife Jugendliche, die ihren Uniabschluss viel früher machten als üblich, sogar über Lyndon B. Johnsons Facharzt für Fußkrankheiten, der sich jetzt in Arbutus zur Ruhe gesetzt hatte. (»Füße, die viel leisten müssen, die aber zarter aussehen, als man denken sollte«, hatte der Arzt zu ihr gesagt.)

Sie kehrte zurück zur Vorderseite und suchte sich eine Bank, von der aus sie einen ungehinderten Blick auf den Vordereingang und die Kreuzung zwischen Pratt und Howard Street hatte. Eine Obdachlose beäugte sie misstrauisch.

»Kennen Sie die Kraft des Geistes?«, wurde Tess von der zahnlosen Frau gefragt.

»Ja«, antwortete Tess, zog ein abgewetztes Exemplar von Love’s Lonely Counterfeit aus ihrem ramponierten Rucksack hervor und kramte nach ihrem Walkman.

Die Frau rutschte ein Stückchen näher. Die Temperatur betrug bereits über 25° C, und obwohl sich der Morgennebel nur langsam auflöste, sah Tess voraus, dass es wieder ein schwüler Tag werden würde. Trotzdem trug die Frau eine graue Strickjacke über einem karierten Baumwollkleid, dicke Wollsocken und schwere Wanderschuhe. Sie roch nach Zigaretten, Schweiß und billigem Fusel. Doch dahinter nahm Tess ganz vage noch einen anderen, vertrauten Geruch wahr. Das Parfum Lily of the Valley. Ihre Großmutter, Momma Weinstein, benutzte es.

»Mache ich Ihnen Angst?«, fragte die alte Frau hoffnungsvoll.

»Nein. Nein, überhaupt nicht.«

»Haben Sie dann vielleicht ein wenig Kleingeld?« Tess griff in ihre Hosentasche und reichte ihr eine verschrumpelte Dollarnote. Sie hatte wenig Mitgefühl für Bettler und gar keins für ihre Großmutter, die bei ihren nächsten Verwandten als alte Vettel galt. Aber für einen Dollar konnte sie sich vielleicht einen ruhigen Vormittag erkaufen. Die Frau versenkte den Geldschein in den üppigen Falten ihres Kleides und schaukelte sich glücklich vor und zurück, wobei sie leise sang. Tess seufzte und schaltete ihren Walkman an. Ella Fitzgerald, Das Johnny Mercer Songbook.

So saßen sie und ihre neue Freundin vier Stunden lang nebeneinander auf der Bank, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Johnny Mercer wurde von Jerome Kern abgelöst. »All the things you are«, »You couldn’t be cuter« »I’ll be hard to handle«. Ein Lied, das auf Ava passte. Tess hatte ihr Buch ausgelesen und fing wieder von vorne an. Für Beschattungen offensichtlich ein zu kurzes Buch.

Sie wollte das Buch gerade zum dritten Mal anfangen, als kurz nach zwölf Ava wiederauftauchte. Sie ging mit frischen Schritten nach Osten, die Aktenmappe in der Hand, jeder Zoll die wichtige Rechtsanwältin auf ihrem Weg zu einer wichtigen Verhandlung. Eine Rechtsanwältin, dachte Tess, die Selbstvertrauen besaß, weil sie heute Morgen das richtige Deodorant benutzt hatte. Ich boshaftes Ding, schalt sie sich selbst. Ich bin doch nur neidisch, weil ihr Kostüm mehr gekostet hat, als ich in einer Woche verdiene. Außerdem saß es auch noch perfekt, wie Tess bemerkte. Tess fand sich selbst schon gut angezogen, wenn ihre Hose nicht rutschte und ihre Bluse nicht aus dem Gürtel hing.

Aber heute hatte sich Tess natürlich so gekleidet, dass sie unsichtbar war. Jeans, ein weißes, weites T-Shirt, Turnschuhe. Sie machte sich keine Sorgen, dass Ava ihr Gesicht wiedererkennen würde, aber ihren Zopf hatte sie trotzdem unter einer schwarzen Perücke versteckt, einer Schöpfung der Geschwister Gabor. Die Perücke gehörte Kitty, die sie an einem erinnerungswürdigen Halloween-Abend getragen hatte, als sie eine vierzigjährige Kleopatra an der Seite eines einundzwanzigjährigen Julius Cäsar spielte, ein Anachronismus, von dem Shakespeare ihrer Meinung nach begeistert gewesen wäre. Tess gefielen diese rabenschwarzen Haarflechten, aber sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich so unauffällig aussah, wie sie es beabsichtigte. Sie hatte das Gefühl, dass die miserablen schwarzen Strähnen sie eher wie eine Möchtegern-Rastafari aussehen ließen, oder wie Crow mit seinen grünen und schwarzen Dreadlocks.

Sie hätte angenommen, dass Ava zunächst nach Osten gehen, dann aber in nördliche Richtung abbiegen würde, in die St. Paul Street zum Gerichtsgebäude. Doch Ava ging geradeaus weiter und so zielstrebig wie eine heimkehrende Brieftaube auf die Galerie zu. Die Galerie war ein vierstöckiges Einkaufszentrum, im obersten Stock lag das Renaissance Harborplace Hotel und in den übrigen Stockwerken waren genau die Läden, die man in solchen Einkaufszentren in sämtlichen Städten Amerikas findet. Tess hätte eigentlich gedacht, dass das ein wenig zu gewöhnlich für Ava wäre, doch Ava gurrte geradezu vor Vergnügen, als sie durch die Glastüren ging, und breitete die Arme aus, als wolle sie all die möglichen Einkäufe umarmen, die ihrer harrten.

Tess, die unter ihrer Perücke höllisch schwitzte, schob und quetschte sich durch das überfüllte Einkaufszentrum und versuchte, den richtigen Abstand zwischen sich und Ava zu bewahren. Glücklicherweise hatte Ava nur Augen für die Schaufenster. Sie blieb stehen, um ihr perfektes Spiegelbild zu überprüfen, und ging dann wieder weiter, wobei sie hie und da auf die Uhr sah. Ihrem Einkaufsbummel schien ein Plan zugrunde zu liegen, eine Art Tagesordnung, die Tess jedoch nicht durchschaute.

Amaryllis, ein kleiner Juwelierladen, lockte Ava nach drinnen. Tess sah von außen zu, wie Ava eine Angestellte bat, ihr ein seltsames, auffälliges Halsband zu zeigen, eine Silberkette voller Amulette und Medaillons. An den meisten Menschen hätte es grässlich ausgesehen, aber für Avas weißen Hals und ihre karminrote Bluse war es genau das Richtige. Ava reichte es mit einem hübschen bedauernden Kopfschütteln zurück. Es ist einfach nicht ganz so perfekt wie ich, schien sie zu sagen.

Sie machte weiter mit ihrem Schaufensterbummel; viele Läden betrat sie nur, um die Ware mit Verachtung zu strafen. Immer wieder sah Tess sie etwas hochhalten – eine Tasche, ein Kleid, ein Tuch, einen Gürtel – und es dann wieder mit demselben bezaubernden Kopfschütteln zurücklegen. Nichts passte ihr. Je teurer der Gegenstand war, desto mehr schien es sie zu betrüben.

Bei Victoria’s Secret kam Tess Ava so nahe, wie sie es nur wagen konnte, und versteckte sich hinter einem Regal mit Push-up-BHs. Ava ließ ihre Hand über einen Verkaufstisch mit Unterwäsche gleiten, zog sie dann aber zurück, als habe der Polyesterstoff ihre Haut beleidigt. Und doch streckte sie sie gleich wieder aus und strich womöglich noch leichter über einen Stapel von burgunderroten Höschen. Diesmal fielen zwei Paar davon in ihre offene Aktentasche.

Tess blinzelte vor lauter Schreck mit den Augen. Die warnenden Worte ihrer Tante fielen ihr sofort wieder ein. Die Unterwäsche musste wohl zu Boden gefallen sein. Oder Ava benutzte ihre Aktentasche als Einkaufskorb und hatte vor, am Ende für alles zu bezahlen.

Sie konnte keine Diebin sein.

Ava ging zu einem Tisch voller Hemdchen und wiederholte denselben Trick. Berühren, zurückziehen, einstreichen – in die Aktentasche! Wenn Tess richtig mitgezählt hatte, besaß Ava jetzt zwei Paar Höschen in Burgunderrot und drei smaragdgrüne Unterhemdchen. Eine Verkäuferin näherte sich ihr, als sie die Spitze an einem Nachthemd befühlte, und Ava hob die rechte Hand in einer freundlichen, aber deutlichen Warnung. »Ich schaue mich nur um«, deutete sie mimisch an und verließ schnell den Laden. Niemand hielt sie auf.

Ava, die Ladendiebin. Vielleicht war sie einfach nur mit den Nerven völlig runter, dachte Tess. Ava, die Kleptomanin. Das könnte ihr seltsames Benehmen Rock gegenüber erklären. Aber war der Ladendiebstahl das Problem selbst oder nur ein Symptom? Und wenn er das Problem war, wie erklärte man damit die Tatsache, dass sie nachts nicht zu Hause war, oder den abgesagten Urlaub? Gehörte sie vielleicht zu irgendeinem seltsamen Verbrecherring, oder war sie einfach nur eine gelangweilte Anwältin, die sich in ihrer Mittagsstunde ein paar Kicks verschaffen wollte?

Rock wäre das egal. Er wäre mit diesem Bisschen Information schon zufrieden, würde sich geradezu darauf stürzen. Tess ging es anders. Instinktiv ahnte sie, dass das nur ein Teilchen aus einem ganzen Puzzle war, ein Schlüssel zu einer Tür, die sie noch nicht gefunden hatte. Eine einzige Tatsache war wie eine unreife Avocado, etwas, das man nicht drängen kann. Man wendete sie in Mehl und wartete ab.

So in Gedanken versunken, bemerkte Tess gar nicht, dass Ava weitergegangen war. Sie sah sie erst wieder, als sie gerade ein Stockwerk weiter unten von der Rolltreppe trat. Tess versuchte ihr schnell zu folgen, aber die Rolltreppe war mit gedankenlosen Touristen vollgestopft, mit der Art von Leuten, die sich nicht rechts in die Reihe stellen, damit andere links vorbeigehen können, sondern davon ausgehen, dass jeder gerade Urlaub hat. Wenn sie jetzt keine Leute durch die Gegend werfen wollte, musste sie einfach abwarten, bis sie an der Reihe war, die drei Meter gerippten Gummi zu überqueren, die Ava bereits überschritten hatte.

Als Tess endlich das Erdgeschoss erreichte, war Ava verschwunden. Tess glaubte noch, sie am Ende des Gebäudes zu erspähen, wo die Läden aufhörten und die Hotellobby begann. Aber nein, da war kein Aufblitzen von Karminrot oder Perlgrau, keine Aktenmappe, die von grünen Hemdchen und burgunderroten Höschen überfloss, keine dunklen Haare.

Ava war verschwunden.

Tess rannte nach draußen, in der Annahme, sie könne sie da doch noch aufspüren. Möglicherweise kehrte sie in ihr Büro zurück, um Todesanzeigen in die Akten der Asbestopfer einzuordnen oder wieder einmal einen unglücklichen Angehörigen abzuwimmeln. Oder sie war vielleicht bei dem kleinen Amphitheater auf der anderen Straßenseite stehen geblieben, wo in den warmen Monaten Jongleure und Feuerschlucker auftraten. Aber als sich Tess einen Weg durch den Halbkreis von glotzenden Touristen gebahnt hatte, gab es da gar keine Darbietung, sondern nur einen alten Mann, der auf dem heißen Gehsteig schlief.

»Ob der tot ist?«, fragte eine Frau unbestimmt in die Runde.