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Basketball gehört zu Baltimore wie Geldsorgen zu Tess Monaghan. Noch bekannter ist die größte Stadt im US-Bundesstaat Maryland allerdings für ihre hohe Kriminalitätsrate. Baltimore hat ein Imageproblem, und eine neue Basketballmannschaft soll Abhilfe schaf- fen. Großunternehmer und Millionär Gerard »Wink« Wynkowski nimmt sich der Sache an, ist aber selbst kein Saubermann. Ein gefundenes Fressen für die Presse. Der Beacon macht mit einem reißerischen Artikel über Wink auf - und wenig später wird der Millionär tot in seinem Auto gefunden, das mit laufendem Motor in der Garage steht. Selbstmord? Die Chefetage des Beacon bestreitet vehement, den vernichtenden Artikel freigegeben zu haben. Und so wird kurzerhand Tess Monaghan, ehemalige Journalistin und frisch gebackene Privatdetektivin, abgestellt, um in der Redaktion zu ermitteln. ärgerlicherweise hat ausgerechnet ihr alter Kollege und Freund Kevin Feeney den folgeschweren Artikel geschrieben.
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Laura Lippman
Die Witwe des Millionärs
Tess Monaghans zweiter Fall
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Hoffmann
Kampa
Für John
1 normaler Mann + 1 normales Leben = 0
1 normaler Mann + 1 ungewöhnliches Abenteuer = Story
1 normaler Ehemann + 1 normale Ehefrau = 0
1 Ehemann + 3 Frauen = Story
1 Bankkassierer + 1 Frau + 7 Kinder = 0
1 Bankkassierer – $ 10000 = Story
1 Chormädchen + 1 Bankpräsident – $ 100000 = Story
1 Mann + 1 Auto + 1 Waffe + 1 Flasche Whiskey = Story
1 normaler Mann + 1 normales Leben von 79 Jahren = 0
1 normaler Mann + 1 normales Leben von 100 Jahren = Story
GEORGEC. BASTIAN »Editing the Day’s News« (1922)
Wenn man sich entscheidet, sein Leben mit einem Windhund zu teilen, dann ist das ein Akt, der fast so alt ist wie die Zivilisation selbst. Dies sind dieselben Hunde, die neben Pharaonen schliefen, mit den Edlen des Mittelalters jagten und die über Tausende von Jahren Künstler und Poeten inspirierten. Ohne Zweifel sind sie edel genug für uns. Die Frage ist: Sind wir edel genug für sie?
CYNTHIAA. BRANIGAN »Adopting the Racing Greyhound«
Drive-by-shootings sind out. Hinrichtungen sind in.
BALTIMORE POLICE COMMISSIONER THOMASC. FRAZIER 1997 in einem Interview über die regionaleVerbrechensstatistik
Vom Himmel fiel nichts Nasses. Kein Schnee, kein Eis, kein Hagel; kein Regen, der sich in Graupel verwandelte, kein Schauer, der zu Dauerregen wurde. Das allein war Grund genug, befand Tess Monaghan, zu feiern. Sie würde zu Fuß nach Hause gehen, statt wie sonst den Bus zu nehmen, vielleicht würde sie einen Zwischenstopp bei Bertha’s einlegen und die Nase über die muschelessenden Touristen rümpfen, oder sie könnte sich etwas Warmes, Alkoholhaltiges im Henniger’s gönnen. Ein Montagabend im März in Baltimore würde niemals Mardi Gras sein, nicht einmal Lundi Gras, aber es war nett, wenn man sich die Mühe machte, darauf zu achten. Und das tat Tess. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren hatte sie einen Vollzeitjob und einen Vollzeitfreund. Ihr Leben lief vielleicht nicht wie eine dieser Ganztagspartys in der Bierwerbung, aber immerhin war es langsam so angenehm wie in einem Werbespot für International Coffee.
Die ersten paar Blocks ihres Heimwegs war sie allein. Die Innenstadt wurde früh leer. Aber als Tess sich dem Inner Harbor näherte, war sie plötzlich von einer aufgeregten fröhlichen Menschenmenge umgeben. Tess war vielleicht keine Zeitungsreporterin mehr, aber ihre Instinkte funktionierten noch. Außerdem roch sie etwas zu essen: Hotdogs, Popcorn, Brezeln, irgendetwas leicht süßlich Angebranntes. Vielleicht Zuckerwatte – eine dieser verführerischen Sachen, die viel besser dufteten, als sie schmeckten.
»Kostet heute alles nichts, Schätzchen«, sagte ein Hotdog-Verkäufer und drückte ihr eines seiner Kunstwerke in die Hand. »Auf Kosten der Keys.« Tess hatte keine Ahnung, wovon er redete, nahm den Hotdog aber trotzdem.
Was würde an einem normalerweise gottverlassenen Montagabend so viele Leute hier in den Hafen locken, fragte sie sich und verschlang den Gratis-Heißhund mit drei Bissen. Geschäftsleute, die von der Arbeit kamen, junge Männer in Sportsachen und aufgedonnerte Frauen in Gabardine-Regenmänteln, deren hohe Absätze über einen Bürgersteig klickten, der gerade erst vom letzten Schneesturm freigeschmolzen war. Dann waren da noch die Vorstadtmuttis in Leggings, riesigen Pullovern und Daunenjacken, die sich fest an die Händchen von kleinen Kindern klammerten, die ihrerseits noch fester kleine schwarz-violette Fähnchen umklammerten.
Angezogen von der Menge und der begeisterten Vorfreude, landete Tess an dem kleinen Amphitheater zwischen den beiden Pavillons im Hafen. Hunderte von Leuten drängten sich bereits vor der kleinen Bühne. Ein Mann mit einem Megaphon, der Moderator des städtischen Fernsehsenders, feuerte die Menge an. Tess brauchte einen Moment, um die verzerrten, elektronisch verstärkten Worte zu verstehen.
»Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one!«
Dann kamen noch ein paar Männer auf die Bühne, eine Möchtegern-Basketballmannschaft in schwarz-violettem Aufwärm-Outfit. Ein paar Kerle trugen sogar Shorts, und ihre Beine überzog in der kalten Abendluft eine lila Gänsehaut. Wer war wohl verrückt genug, in einer solchen Nacht so aufzutreten? Tess erkannte den Gouverneur. Das passte; dem hatte bisher noch jedes Kostüm gefallen. Aber auch der Bürgermeister, der nicht gerade für seine Originalität berühmt war, stand da in einem schwarzen Trainingsanzug; sein üblicher Kente-Schlips ragte gerade noch über dem Reißverschluss heraus. Tess entdeckte noch einen Fernsehtypen, zwei Senatoren und ein paar arme Säcke der ehemaligen Baltimore Bullets, die inzwischen Washington Wizards hießen, wegen der zahlreichen Morde in der Stadt. Erstaunlicherweise hatte der Namenswechsel nicht dazu beigetragen, die Zahl der Gewaltverbrechen zu reduzieren.
»Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one!«
Über das Grölen der Menge hinweg konnte Tess blecherne Musik hören, ein alter Jingle der Stadt, mit dem man die Leute dazu hatte bringen wollen, die Straßen sauber zu halten, indem die Bürger »Müllball« spielten. Sie konnte sich noch ungefähr daran erinnern. Die orange-weißen Mülleimer der Stadt waren mit Slogans wie Jam One! oder Dunk One! beklebt worden. Dann hatten sie die Kampagne beendet, und Baltimorabilia-Sammler hatten alle Mülleimer gestohlen, bevor man sie hatte umstreichen können.
Nun hinkte noch ein Mann auf die Bühne, ein alternder Sportler, dessen Stock seinem scheußlichen Trainingsanzug einen eigenartig aristokratischen Touch verlieh. »Tuuuuutch, Tuuuuutch«, johlten die Männer, und ein paar Frauen kreischten tatsächlich, als er die Menge mit einem hochgereckten Daumen begrüßte. Ja, Paul Tucci sah immer noch gut aus und verfügte über den Körperbau des erstklassigen Sportlers, der er einst gewesen war, obwohl er nach der Knieoperation im Winter deutlich zugelegt hatte. Tess vermutete, dass die Frauen sich nicht so sehr für Tuccis Körper, sondern vor allem für Tuccis Geld interessierten. Er hatte mit Olivenöl angefangen und sich dann über praktisch jeden Aspekt des Lebens in Baltimore hergemacht, vom Import bis zur Müllverbrennung. »Die Tuccis spinnen Stroh zu Gold«, sagte man.
Über die Lautsprecher wurde nun ein fröhliches »Sweet Georgia Brown« ausgestrahlt, das man mit den Harlem Globetrotters in Verbindung brachte. Der Gouverneur, der ungeschickt mit einem Basketball dribbelte, löste sich aus der Gruppe, trat vor und spielte dann dem Bürgermeister den Ball zu, allerdings warf er ihn über seinen Kollegen hinweg. Die beiden hatten noch nie gut zusammengearbeitet. Der Bürgermeister rettete die Situation einigermaßen, holte den Ball wieder und spielte ihn durch die Beine hindurch einem Senator mit einem recht neuen, recht schlechten Haartransplantat zu. Die Menge johlte begeistert. Tess fragte sich, warum um Himmels willen. Schließlich fing Tucci den Ball und ließ ihn auf der Spitze seines Krückstocks kreisen, was noch ein paar Frauen mehr kreischen ließ. Dann übernahmen die echten Basketballspieler die Bühne, sie führten ein paar ordentliche Pässe und Moves vor.
Ein paar Minuten später trat der Fernsehmoderator ans Mikrophon. Zumindest ist er nicht blöd genug, mit nackten Beinen auf die Bühne zu kommen, fiel Tess auf.
»Haaaaallllllllloooooooooo, Baltimore.« Die Menge jubelte. »Wie ihr wisst, gibt es seit 1972 in dieser Stadt kein Basketball mehr, und erst vor Kurzem ist Football in unsere Stadt zurückgekehrt, obwohl die National Football League zuerst zögerlich war …«
»Nieder mit dem Commissioner!«, schrie ein durchgedrehter Fan direkt in Tess’ rechtes Ohr. »Nieder mit Tagliabue! Der verdammte Bob Irsay! Zur Hölle mit der verrottenden Leiche von Bob Irsay!« Irsay hatte die Baltimore Colts 1984 in einer Winternacht einfach weggeholt, und obwohl die Stadt mittlerweile eine neue Football-Mannschaft hatte und Irsay tot war, hasste man ihn immer noch. Baltimore vergaß vielleicht manchmal, aber vergab nie.
Der Fernsehmoderator sprach ungerührt weiter. »Aber ein Mann hat nie aufgegeben. Und jetzt wird dieser Mann den Basketball wieder zurück nach Baltimore holen. In wenigen Tagen will er einen Vorvertrag mit einer Profimannschaft abschließen, die in unsere ›Charm City‹ umziehen möchte. Im Gegenzug hat die Stadt sich bereit erklärt, ein wunderschönes neues Stadion zu bauen. Und alle Basketballfans sind heute hier angetreten, um der NBA zu zeigen, dass wir sehr wohl eine Mannschaft supporten können. Ja, das nenne ich Teamwork!«
Und eine großartige Verschwendung von Steuergeldern, dachte Tess verärgert. Aber der Staat hatte dasselbe ja schon für die Orioles und die Ravens getan. Wenn jemals eine Stadt ein Selbsthilfebuch brauchte, dann Baltimore: Städte, die zu sehr in den Sport verliebt sind, und die gierigen Mannschaften, die das ausnutzen.
»Also begrüßt bitte den Mannschaftskapitän, den Mann, der uns so weit gebracht hat, denjenigen, der allen ins Gesicht lachte, die ihm sagten, daraus würde nichts – unseren großartigen Gerard ›Wink‹ Wynkowski.«
Ein schlanker, nicht besonders großer Mann kam auf die Bühne. Er trug keinen Trainingsanzug, sondern ein lila Polohemd, eine schwarze Jeans und eine schwarze Motorradjacke. Grau-weiße Cowboystiefel aus irgendeinem exotischen, politisch sicher zweifelhaften Leder – vielleicht Strauß oder Schlange – ließen ihn ein paar Zentimeter größer werden, sodass er neben dem Gouverneur und dem Bürgermeister bestehen konnte. Aber er hielt sich fern von den Ex-Sportlern, die ihn meilenweit überragten.
»Seid ihr bereit für ein bisschen Basketball?«, knurrte er mit unverkennbarem Baltimore-Akzent.
Sein Gesicht war eckig und spitz, tief gebräunt, und seine braunen Locken trug er in einer Art Afro. Tess erinnerte sich, dass eine Karikatur dieses spitzen Gesichtes und wilden Haares das Logo für eine seiner Firmen gewesen war, aber welche? Im letzten Jahrzehnt hatte Winks Holding Montrose Enterprises mindestens ein halbes Dutzend Geschäfte gegründet, jedes erfolgreicher als das zuvor.
»Wink! Wink! Wink! Wink!«, bejubelte die Menge ihren Sportheiligen, genauso wie sie ihn vor 25 Jahren auf dem Basketballfeld der Highschool angefeuert hatten, als die Vorstellung, dass ein ein Meter achtzig großer Junge aus Polen Profi werden würde, nicht ganz so lächerlich gewesen war.
»Ihr seid die Größten«, verkündete er der Menge. »Ihr seid an diesem Abend hergekommen, obwohl ihr nicht mal wisst, mit welcher Mannschaft ich verhandle. Stellt euch mal vor, wie viele Leute in einer Woche hier sein werden, wenn ich offiziell unsere neue Mannschaft bekannt gebe – die Baltimore Keys.«
Die Menge grölte begeistert zurück: »Jam one! Slam dunk! Jam one! Slam dunk! Jam one! Slam dunk!«
Tess drängte sich durch die Menge nach vorne. Neugierig wollte sie einen besseren Blick auf diesen Lokalmatador erhaschen. Winks Lebensgeschichte könnte aus einem alten Dreißiger-Jahre-Spielfilm stammen: Er war ein vaterloser Kleingauner, der es tatsächlich zu etwas gebracht hatte, nachdem er als Jugendlicher für ein paar Kleindelikte in der Jugenderziehungsanstalt Montrose gelandet war. Sie hatte gewusst, dass er reich war, aber ihr war nicht klar gewesen, dass seine Restaurants und Fitnessclubs ihm genug Geld eingebracht hatten, um sich eine Basketballmannschaft kaufen zu können.
Als die Menschenmenge vor ihr zu dicht wurde, bog sie nach links ab und ging im Zickzack, bis sie an der Seite vorbei ganz nach vorne gelangte. Aus der Nähe waren Winks blaue Augen nicht die fröhlichen, tanzenden Lichter, die sie über so einem breiten Grinsen erwartet hätte. Sie ruhten groß und tief in seinem kleinen Gesicht, nahmen alles in sich auf und gaben nichts zurück.
Plötzlich schubste jemand Tess brutal von hinten, und zwar mit einer Selbstgerechtigkeit, wie sie nur Päpste, Könige und Kameramänner an den Tag legten. Da der Papst in der nächsten Zeit nicht erwartet wurde und Wallis Warfield Simpson Baltimores einziger Thronanwärter in diesem Jahrhundert gewesen war, wusste Tess schon im Voraus, dass sie in die Linse eines Kameramannes schauen würde, wenn sie sich umdrehte. Sie stand mitten im Pressebereich, wo die Fernsehreporter den ganzen Quatsch für die Elf-Uhr-Nachrichten aufnahmen.
»Du bist im Bild«, zischte der Kameramann sie an.
»Wie ungeschickt von mir.« Sie rührte sich nicht – jedenfalls nicht gleich.
In der Nähe standen zwei Zeitungsreporter, ein Mann und eine Frau, mit ihren Notizblöcken. Die Frau kritzelte wie wild in ihren, während der Mann Wink einfach nur anstarrte, als könnte er nicht glauben, was er sah. Einen Augenblick lang hatte Tess das Gefühl, sie sollte eine von ihnen sein, auch sie sollte einen Notizblock bei sich tragen. Dann erkannte sie den Mann – nicht an seinem Gesicht, das von ihr abgewandt war, sondern an seinen Knöcheln, die stets nackt waren, selbst an so einem Abend.
»Feeney!«, rief sie. Er schaute müde unter dem Schirm seiner wollenen Baseballkappe auf, lächelte dann aber, als er sah, wer seinen Namen gerufen hatte.
»Tess, meine Liebe!«, rief Kevin Feeney zurück und winkte ihr zu. »Komm hier rüber. Wir suchen bloß ein bisschen Stimmung.«
Die junge Frau neben ihm bedachte Tess mit einem schnellen tödlichen Blick. Tess konnte praktisch hören, wie sie insgeheim Punkte verteilte, wie es manche Frauen nun einmal taten: Größer – ein Punkt für sie. Hippie – ein Punkt gegen sie. Große Brüste, lange Haare – 2 Punkte für sie. Unfrisur, nur ein Pferdeschwanz – 2 Punkte gegen sie. Älter als ich – 3 Punkte gegen sie. Gesicht okay. Klamotten weder schick noch peinlich. Tess war nicht sicher, wie sie am Ende abschnitt, aber offensichtlich ein bisschen zu gut. Die Frau bedachte sie mit einem erschreckend falschen Lächeln, das zugleich darauf hindeutete, dass sie wenig Erfahrung mit echtem Lächeln hatte, und streckte die Hand aus.
»Rosita Ruiz.« Autsch. Die R’s rollten von ihrer Zunge wie Kugellager, und das T war eine akustische Machete. Rosita packte Tess’ Hand und zwickte sie zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein Krebs. Tess, die oft mit einem alten Tennisball Kraftübungen machte, während sie telefonierte, genoss es, Rositas Hand zu drücken und zugleich ihre eigene Inventur vorzunehmen.
Klein, aber Tess kamen die meisten Frauen klein vor. Sie sah aus wie eine Turnerin – schlanker Oberkörper, kräftiger Unterkörper. Gleichmäßige Züge und schwarz schimmerndes Haar – sie wäre hübsch, wenn sie nicht so säuerlich dreinblicken würde.
»Tess Monaghan«, sagte sie, ließ Rositas Hand los und wandte sich wieder Feeney zu. »Ich kann kaum glauben, dass du hier bist. Machen so was nicht Praktikanten? Oder Sportreporter? Du gehörst doch in den Gerichtssaal, wo du echte Nachrichten verfolgen solltest.«
»Ich hab’s dir doch schon gesagt. Wir sind hier nur auf der Suche nach ein paar Farbtupfern. Funkelnden Kleinigkeiten.«
»Weswegen?«
»Darf ich dir nicht sagen, meine Liebe, darf ich nicht sagen.«
»Wenn Feeney Farbtupfer sagt, meint er es nicht wörtlich«, erklärte Rosita allen Ernstes. »Sie müssen wissen, in der Zeitung bedeuten Farbtupfer …«
»Tess war eine von uns«, unterbrach Feeney freundlich, obwohl Tess das Gefühl hatte, keine Unterbrechung könnte für Rosita jemals freundlich genug sein. »Jetzt ist sie Privatdetektivin.«
»Na ja, so ähnlich. Ich muss immer noch meine Lizenz beantragen. Aber ich bin jedenfalls kein Mitglied der vierten Macht mehr.« Komisch, es tat gar nicht mehr weh, das zu sagen. Der Star war tot, das Leben ging weiter, Baltimore war eine Stadt mit nur einer Zeitung, und diese eine Zeitung war – egal, wie einem das gefiel – der Beacon.
»Sag uns Bescheid, wenn es so weit ist. Vielleicht kann Rosita was über dich schreiben, wenn du einen dicken Fall löst. Tess Monaghan, die rudernde Ermittlerin.«
»Um diese Jahreszeit rudere ich nicht«, erinnerte ihn Tess. »So hart bin ich nun auch nicht drauf. Ich geh am ersten April wieder aufs Wasser, keinen Tag früher.«
Feeney hörte sie nicht. Er strahlte, seine geheime Story ließ ihn von innen leuchten. Es war vielleicht etwas Politisches, vermutete Tess, wenn man bedachte, wer auf der Bühne stand. Für einen Artikel über den Gouverneur brauchte man auch immer frische Anekdoten, wie er sich wieder lächerlich machte. Oder vielleicht nutzte Familie Tucci auch ihre beachtliche Macht aus, um noch eine Müllverbrennungs-Konzession zu bekommen, obwohl immer weniger Stadtteile so eine Anlage herumstehen haben wollten. Aber wie die meisten reichen Familien beschwerten sie sich ganz schnell, wenn ihnen eine staatliche Regelung oder eine Gebühr nicht passte.
Viel wahrscheinlicher war, dass Feeney über das Ereignis des Abends schrieb, über Wink und seinen Basketball-Deal. Aber was hatte das mit einem Gerichtsfall zu tun? Und wieso hatte er noch eine andere Autorin dabei?
»Lass uns bald mal was trinken gehen«, sagte Tess, wobei sie die Stimme senkte, sodass Rosita nicht glauben könnte, sie wäre auch eingeladen. »Ist schon zu lange her.«
Er lachte. »Du willst von mir bloß alles erfahren.«
»Na klar. Aber das kann dir doch egal sein, wenn ich dich bei ein paar Drinks im Brass Elephant ausfrage? Du kriegst umsonst was zu trinken und wirst mir wahrscheinlich sowieso nicht antworten. Morgen Abend? Halb acht?«
»Sagen wir acht. Wer weiß – vielleicht ist dann schon Zeit zu feiern.«
»Okay. Bis dann.« Sie gab ihm die Hand, dann log sie Rosita ins Gesicht: »War nett, Sie kennenzulernen.«
Die junge Frau lächelte mit zusammengepressten Lippen, was die Temperatur stark abfallen ließ. Okay, ich bin auch nicht gerade warmherzig aufgetreten. Aber Tess fand, dass sie nur auf die Unhöflichkeit der kleinen Reporterin reagiert hatte, so wie man einen knallharten Aufschlag beim Tennis retournierte. Rosita trug ihren Ehrgeiz sichtbar zur Schau wie altgediente Reporter Trenchcoats. Zu ihrem jungen Körper passte das nicht gut.
Tess ließ sich noch einen Gratis-Hotdog geben und versuchte, damit den restlichen Weg nach Hause auszukommen. Von achtzehn Blocks war der Hotdog sechzehn zu kurz. Trotzdem war sie satt und zufrieden, als sie ihre Wohnung erreichte. Sie entschied sich, noch kurz im Buchladen ihrer Tante im Erdgeschoss hereinzuschauen und ihr von dem Menschenauflauf am Hafen zu berichten. Kitty wusste das Absurde zu schätzen, was man auch am Namen ihres Ladens erkannte: FRAUENUNDKINDERZUERST.
»Oh, Tesser, wo warst du denn?«, rief Kitty, bevor Tess anfangen konnte, das spastische Dribbeln des Gouverneurs nachzumachen, die pseudocoolen Moves des Bürgermeisters und Tuccis alberne Angeberei. »Tommy hat immer wieder angerufen. Er hat dich im Büro knapp verpasst, und seitdem ruft er alle fünf Minuten hier an.«
»Tommy, Spikes hysterisches Helferlein? Wieso, hat ihm jemand die Einlagen geklaut? Oder sich ein paar Brezeln zu viel genommen oder einen ungedeckten Sieben-Dollar-Scheck hinterlassen? Glaub mir, Kitty, Tommys Anrufe sind nie so wichtig, wie er glaubt.«
In Kittys blauen Augen schimmerten Tränen. »Es geht um deinen Onkel Spike, Tess. Er liegt im Saint Agnes Hospital. Jemand hat versucht, das Point auszurauben, und der verrückte alte Sack hat versucht, das zu verhindern – und es wäre ihm beinahe gelungen.«
»Nur beinahe?«
»Nur beinahe.«
»Tore, ich hab sie gesehen, die Tore«, murmelte Spike. Seine braunen Augen starrten milchig ins Nichts, sie konnten gar nichts sehen. »Tore.«
»Ich weiß, Onkel Spike, ich weiß«, sagte Tess und tätschelte seine Hand. Aber sie wusste gar nichts. Tore? Vielleicht sah er sein Leben vor sich, die Tore, die er in gut fünfzig Jahren geschossen hatte? Sie wertete dieses Klischee als gutes Zeichen. Wenn der Tod näher käme, würde man ja wohl origineller reagieren.
»Die Tore.«
Spikes Gesicht war geschwollen, überall waren kleine Platzwunden, und die Leberflecke, die ihn ein bisschen wie einen Spaniel aussehen ließen, wurden beinahe von rot-lilafarbenen Schwellungen verdeckt. Nur sein spitzer, kahler Kopf, der oben aus seinem braunen Haarkranz ragte, war immer noch weiß und unbefleckt.
»Tore«, murmelte er.
»Ich hab ihn gefunden?«, sagte Tommy, der Tellerwäscher aus Spikes Bar, der fast alles wie eine Frage aussprach. Diese Wischiwaschi-Tendenz, zusammen mit seinem starken Baltimore-Akzent und seiner Angewohnheit, Worte miteinander zu verwechseln, machte ihn für praktisch jedermann außer Spike unverständlich. »Vor ungefähr zwei Stunden? Ich wollte mich auf die Leute am Montagabend vorbereiten? Ich wollte ein paar hart gekochte Eier pellen, weil der neue Koch nicht gekommen ist, die faule Sau?«
»Ein Überfall?« Tess hatte das nicht als Frage gemeint, aber Tommys Aussprache war ansteckend.
»Ja, ein Überfall, aber am Montag haben wir nicht viel Geld, nicht außerhalb der Football-Saison? Deswegen haben sie sich aufgeregt? Deswegen haben sie ihn zusammengeschlagen?«
Tommy hatte schon recht: Onkel Spike sah aus wie eine schlecht gewordene Pflaume oder eine gehäutete zermatschte Tomate. Wer tat einem alten Mann das an? Aber Tess wusste Bescheid. Amateure. Kinder. Idioten, genau die Leute, derentwegen Verbrecher einen schlechten Ruf genießen. Die haben keine Ahnung von der Etikette, nach der man bei einem Kneipenüberfall einfach niemanden tötet, und schon gar nicht versucht, jemanden totzuprügeln. Überhaupt raubte man keine Kneipen aus, denn die Besitzer hatten normalerweise abgesägte Schrotflinten unter der Bar, vor allem, wenn sie nebenbei auch noch illegal als Buchmacher arbeiteten. Spike arbeitete nebenbei als Buchmacher, Spike hatte eine Schrotflinte. Wieso hatte er sie nicht benutzt?
»Nummern«, brachte er schwach hervor, als dächte auch er an die Wetten, die ihm viel mehr einbrachten als die Bar. Dann sagte er nichts mehr, die Augen fielen ihm zu.
So verharrten sie – Tess hielt Spikes Hand, Tommy saß auf der anderen Seite des Bettes und wippte nervös vor und zurück, er hatte sich die Arme um den Körper geschlungen – bis ein junger Arzt hereinkam und sie bat, zu gehen.
Der schlaksige Tommy bestand darauf, Tess zu ihrem eigenen Schutz zum Wagen zu begleiten. Auf dem Parkplatz waren die Pfützen zugefroren, und das vielversprechende Gefühl, das Tess am frühen Abend noch empfunden hatte, war verschwunden. Der März, mit seinem Morgenregen und den winterlichen Nächten, kam ihr plötzlich so bitter vor wie Kuvertüre.
»Er hat etwas für dich?«, sagte Tommy etwas zögerlich. »In der Bar? Bevor die Notärzte ihn mitgenommen haben, hat er mir gesagt, ich soll’s dir geben?«
»Er erwartet doch nicht, dass ich die Bar schmeiße, oder?«
Tommy keckerte laut los, er bog sich vor Lachen über die Vorstellung, dass Tess das Point, Spikes Bar, leiten könnte. Zwischen den Lachattacken brachte er sogar ein paar fragezeichenlose Sätze hervor.
»Nein, nicht die Bar. Aber es ist in der Bar. Komm mit, dann geb ich’s dir. Aber folge mir, okay? Ich nehm eine Abkürzung?«
Sie verließen das Saint Agnes Hospital und fuhren durch kleine Gässchen in Südwest-Baltimore zur Kneipe ihres Onkels. Die Highways waren in Baltimore selten der schnellste Weg, irgendwo hinzukommen, jedenfalls nicht von Osten nach Westen, aber Tommys Abkürzung schien doch ungewöhnlich viele Kreisfahrten zu enthalten, er näherte sich dem Point durch die gewundenen Straßen des Leakin Park.
Das Point war dunkel, verschlossen für die Nacht, vielleicht für immer. Tommy führte Tess durch den Hintereingang, durch die Küche – die Küche, in der sie ihre ersten Pommes frites gegessen hatte, ihren ersten Zwiebelring, ihren ersten Mozzarella-Stick, sogar ihren ersten gefüllten Jalapeño. Das war die Basis von Spikes Nahrungspyramide, und Tess konnte gut damit leben.
Tommy schloss einen Lagerraum auf, blieb auf der Schwelle stehen und schaute in die Dunkelheit.
»Da«, sagte er schließlich und zeigte auf etwas, das aussah wie ein schwarzer Sack.
»Was?«, fragte Tess. Erschreckenderweise begann der Sack sich zu bewegen, er erhob sich auf vier Stöckchen und kam auf sie zu, ins Licht. »Was zum Teufel ist das?«
Es war ein Hund, ein knochiger, hässlicher Hund mit mattschwarzem Fell und kahlen Stellen am Hintern. Seine braunen Augen waren genauso glasig wie Spikes, die Schultern hochgezogen wie die von Richard M. Nixon.
»Das ist ein Greyhound, ein Windhund? Spike hat ihn dieses Wochenende bekommen?«
»Greyhound? Aber er ist schwarz.«
»Die meisten Windhunde sind nicht grau, und wenn doch, dann nennt man es blau.« Tommy sagte das ganz entschlossen, er schien sich sicher zu sein. »Manche sind beige, andere sind fleckig, und es gibt auch schwarze. Es heißt, die Grauen laufen nicht so gut, aber das ist bloß ein Vorurteil.«
»Wollte Spike den Hund hier Rennen laufen lassen?«
»Nein, diese Hündin ist in Rente? Und sie war auch nie besonders gut? Spike hat sie von irgendeinem Typen?«
»Was für einem Typen?«
»Einem Typen aus diesem Laden, wo er manchmal hingeht?«
Die Hündin schaute zu Tess auf, und der herunterhängende Schwanz bewegte sich ein wenig, als hätte sie eine vage Erinnerung daran, vor langer Zeit einmal damit gewedelt zu haben. Tess schaute zurück. Sie war kein Hundemensch. Sie war auch kein Katzenmensch, Fischmensch oder Pferdemensch. An schlechten Tagen war sie noch nicht einmal ein Menschenmensch. Sie aß Fleisch, trug Leder und liebte heimlich den alten Nerz ihrer Mutter. Pelz war warm, und die Winter in Baltimore schienen immer schlimmer zu werden, trotz der globalen Klimakatastrophe.
»Wieso kannst du sie nicht nehmen, Tommy?«
»Ich kann keinen Hund in der Bar halten, dann macht die Gesundheitsbehörde uns zu? Ihr Name ist S.K.?«
»Was sind denn das für Initialen, S.K.?«
»Nein, Esskay? Wie die Wurst?«
»Wie in ›Schmeck den Unterschied der Kawalität?‹, diesem Spot, bei dem sich Cal Ripken Jr. eine Scheibe Speck in die Basketballfresse schiebt?«
»Ja, das ist ihr Lieblingsessen, aber das kriegt sie nur ausnahmsweise. Die restliche Zeit bekommt sie dieses besondere Hundefutter, das Spike ihr gekauft hat.«
Fünf Minuten später saß Tess in ihrem zwölf Jahre alten Toyota, das Hundefutter lag im Kofferraum, und Esskay stand mit durchgestreckten Beinen auf dem Rücksitz, rutschte in jeder Kurve vor und zurück und wimmerte bei jedem Schlagloch, also etwa alle zehn Meter. Baltimores Straßen, um die es sowieso nie gut gestanden hatte, litten unter diesem Winter mehr als alles andere. Und es half nicht, dass der Wagen hinter ihr das Fernlicht an hatte und offensichtlich bis nach Fells Point an ihrer Stoßstange kleben wollte. Letztendlich überfuhr sie an der Edmondson Avenue eine rote Ampel, nur um diesen Idioten endlich loszuwerden.
»Sitz! Setz dich hin!«, zischte Tess die Hündin an, aber Esskay starrte einfach nur zurück und glitschte weiter über den Vinyl-Rücksitz, sie stieß sich den Kopf am Fenster, dann rutschte sie zur anderen Seite und knallte mit dem Hintern ans andere Fenster. Aber sie bellte nicht, das fiel Tess auf, sie machte überhaupt kein Geräusch, außer diesem fast unhörbaren Wimmern ganz tief im Rachen.
Die Sonne war gerade schwächlich aufgegangen, als Tess am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Komisch, normalerweise wachte sie im Winter nicht so früh auf, es war die einzige Jahreszeit, in der sie ausschlafen konnte. Vom Frühjahr bis zum Herbst, wenn sie ruderte, war sie mit den Vögeln auf. »Und jetzt bist du mit Crow im Bett«, scherzte ihre Freundin Whitney immer wieder; ein bisschen zu regelmäßig in den letzten paar Monaten. Ihr war nicht ganz klar, ob Whitney etwas dagegen hatte, dass Tess einen Freund hatte, oder ob sie einfach nur diesen speziellen Freund lächerlich fand. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem.
Aber an diesem Morgen lag nicht Crows langer, warmer Körper neben ihr. Sie rollte sich in die Mitte des zu weichen Bettes und starrte plötzlich in das leichte Schielen Esskays, die ungeschnittenen Krallen der Hündin bohrten sich in ihren Arm, und die Hinterbeine zuckten spastisch.
Tess stützte sich auf einen Ellenbogen und starrte die Hündin an, die Hündin wich zurück, dabei riss sie die traurigen Augen auf.
»Nimm’s nicht persönlich, aber du bist der hässlichste Hund, den ich je gesehen habe.«
Die Schnauze erinnerte sie an einen Dinosaurier, genau genommen an den langen Kiefer des Velociraptors. Die Beine waren dürr, das Fell spärlich und zum Teil verklebt. An Rumpf und Schwanz leuchteten rote Stellen, und der wässrige Blick wich einem aus. Insgesamt ähnlich wie Tess mit dreizehn – zu langer Körper, zu dünne Beine, rote fleckige Haut, schlechte Manieren. Aber auch um die Zähne der Hündin war es schlecht bestellt, dem fischigen heißen Atem nach zu urteilen, den Esskay in schnellen Stößen aushechelte.
Tess murmelte leise vor sich hin. Sie zog einen Trainingsanzug und Wanderstiefel an, um schnell mit dem Hund rauszugehen. Die Hündin sprang begeistert auf, als sie ihre notdürftige Leine sah, eine lange, schwere Metallkette, mit der Spike wahrscheinlich sonst sein Parkplatztor sicherte. Aber am oberen Ende der Treppe blieb Esskay plötzlich stehen. Letzte Nacht war der Windhund auch nicht bereit gewesen, die Treppe zu Tess’ Wohnung hochzugehen, also hatte sie Esskay zwei Stockwerke hochgetragen; sie war davon ausgegangen, dass die Hündin zu schwach zum Klettern war. Aber jetzt stellte sich heraus, dass der Windhund prinzipiell etwas gegen Treppen zu haben schien.
»Komm schon, du blöde Töle«, sagte Tess und zog am Halsband der Hündin, aber Esskay rührte sich nicht. Sie kniete sich hinter sie und versuchte, sie die Treppe runterzuschieben, aber die Hündin stemmte sich dagegen, und ihre dürren Beinchen erwiesen sich als ganz schön kräftig.
»Na los, verdammt noch mal! Ich trag dich doch nicht jeden Tag die Treppe rauf und runter.«
Tess’ Ausbruch beeindruckte den Hund gar nicht, ließ aber ihre Tante auf den Absatz im ersten Stock treten. Kitty war normalerweise genau die Art Vermieterin, die man liebte: Sie stellte wenig Regeln auf und hatte kaum etwas gegen Lärm und merkwürdige Besucher. Aber sie konnte nichts ertragen, was unschön aussah, und was das anging, war Esskay ganz bestimmt ein Problem.
»Wie geht’s Spike?«, fragte sie und hüllte sich in eine braune Chenille-Robe. Ihr blasses Gesicht war gerötet, ihre roten Locken waren zerzaust. »Tut mir leid, dass ich weg war, als du gestern Nacht zurückkamst, aber ich musste zu diesem Meeting der Ladenbesitzer aus der Gegend. Wir kämpfen immer noch gegen diese Megabars. Und was ist das? Die größte Ratte der Welt?«
»Das ist ein Riesennervvieh, und ich verdanke es Spike.«
Ein kleiner, muskulöser Mann tauchte hinter Kitty auf. Er trug einen karierten Bademantel, den Tess in den zwei Jahren, die sie über ihrer Tante wohnte, schon an vielen Männern gesehen hatte. Sie kannte diesen Typen nur vom Sehen – er war Barkeeper in einem neuen Laden an der Thames Street, einer der sogenannten Megabars, gegen die sich die Nachbarschaft in Fells Point engagierte. Aber Kitty war immer schon sehr offen gewesen; sie konnte sich gegen ein Geschäft einsetzen, aber sich dennoch gut mit den Angestellten verstehen.
»Das ist einer dieser Windhunde von den Hunderennen«, stellte der Barkeeper selbstzufrieden fest. »Wie lang hast du ihn schon?«
Erstaunlich, wie manche Männer ihr eigenes Geschlecht auf alles projizieren, als müssten alle Lebewesen männlich sein bis zum Beweis des Gegenteils.
»Ich hab sie seit ungefähr zwölf Stunden.«
»Na, da hast du die Ursache des Problems. So ein ehemaliger Rennhund hat noch nie Treppen gesehen, also musst du ihn erst dran gewöhnen. Ein Fuß, anderer Fuß. Ein Fuß, anderer Fuß. Mein Cousin hatte mal einen Windhund. Man hilft ihnen rauf und runter, bis sie’s kapieren. Sie kennen auch keine Spiegel.«
»Das Glück sollten Frauen haben«, murmelte Kitty. »Das ist übrigens Steve. Steve, das ist meine Nichte Tess.«
»Nichte?«
Andere Frauen hätten ihm sofort versichert, dass Tess’ Vater viele Jahre älter sei. Tess’ Tante Kitty war der Nachschlag in einer Familie mit vier Jungs, und sie war keine fünfzehn Jahre älter als die 29-jährige Tess. Aber Kitty war selbstsicher, lächelte einfach nur und nickte.
Tess kniete sich vor Esskay und führte die Vorderbeine der Hündin eine Stufe herunter. Die Hündin war erstaunlich kooperativ, sie ließ jede Pfote hochnehmen und absetzen. Aber sie ging nicht alleine weiter. Eins-zwei, Vorderbeine runter, drei-vier, Hinterbeine. Wiederholen. So brauchte Tess ein paar Minuten, um auch nur den Treppenabsatz zu erreichen, wo sie innehielt, um Atem zu schöpfen. Sie war gut in Form, aber ganz offensichtlich hatte sie bei ihren normalen Workouts die Muskeln vernachlässigt, die man für das Windhund-Treppentraining brauchte. Und Kauern war die Hölle für ihren Rücken und die Knie.
»Was wissen sie außerdem noch nicht?«, rief Tess zu Barkeeper Steve hoch, als sie mit Esskay die zweite Treppe in Angriff nahm.
»Sie sind an Zwinger gewöhnt, aber nicht stubenrein. Und du solltest sie nicht anschreien, wenn sie was nicht hinbekommt. Sie sind richtig, richtig empfindlich.«
»Sind wir das nicht alle?«
Tess war völlig fertig, als sie das Erdgeschoss erreichte, aber die Hündin war plötzlich ganz aufgeregt. Sie hob die Schnauze und bleckte die Zähne, sodass sie aussah wie James Cagney. Tess umrundete mit ihr ein paar leere Grundstücke in Fells Point, die Esskay geruchlich faszinierend fand. Tess meinte sich zu erinnern, dass es eine städtische Regel gab, nach der man hinter seinem Hundchen herputzen musste, aber andererseits ging sie davon aus, dass Hundekot das geringste Problem auf Grundstücken wäre, die seit fünf Jahrzehnten mit Chemikalien und Giften belastet wurden.
Es roch gut aus Kittys Küche im Erdgeschoss, als sie nach Hause zurückkehrte. Tess blieb im Flur stehen und fummelte an Esskays Leine herum. Sie hoffte hereingebeten zu werden, und sei es nur, um den langen Aufstieg zu ihrer Wohnung noch hinauszuzögern. Kitty ging wie alle Monaghans davon aus, dass Spike der Weinstein-Seite der Familie zuzuordnen war, aber sie hatte ihn immer gemocht. Sie wollte also mehr über seinen Zustand wissen. Und deshalb öffnete die großzügige Kitty ihre Tür und bat Tess herein.
Kittys Küche war eigenartig für jemanden, der hochhackige Schuhe anziehen musste, um auch nur einsfünfzig zu erreichen. Alles war übergroß, sodass Kitty darin wie ein Püppchen aussah. Aber Tess war schon vor langer Zeit aufgefallen, dass das kein Zufall war, denn normalerweise führte es dazu, dass Kittys neuester Freund stets das Essen zubereitete. Der Freund war außerdem meist fünfzehn Jahre jünger als die über vierzigjährige Kitty, eine clevere Rothaarige, die die Sonne gemieden hatte, während andere Frauen ihrer Generation sich mit Babyöl eingepinselt hatten.
Heute gab es French Toast von Barkeeper Steve. Er wirkte kräftig, was Tess nicht gefiel. Kleine Männer, die so viel Zeit damit verbrachten, ihre Muskeln auszubilden, neigten dazu, andere wichtige Bereiche zu vernachlässigen. Aber ihr hatte sowieso keiner der Freunde ihrer Tante gefallen, seit Thaddeus Freudenberg auf die FBI-Akademie in Quantico gegangen war. Das war im Januar gewesen – zwei Monate im Kalender, vier Freunde in Kittys Kalenderrechnung.
»Hat Tommy dir sagen können, was gestern passiert ist?«, fragte Kitty, während Tess sich einen Kaffee eingoss. »Und wie geht es Spike?«
»Nicht so gut. Er wurde bewusstlos, während wir dort waren. Jemand – mehrere – haben ihn sich richtig vorgeknöpft. Und das wegen dreißig Dollar oder so.«
Steve interessierte sich nicht für weltliche Familienthemen wie den Raubüberfall und Beinahetod eines Verwandten, sodass er das Gespräch wieder auf ein Thema steuerte, bei dem er dominieren konnte.
»Hast du den Hund von einer dieser Tierrettungsgruppen der Stadt?«, fragte er und servierte Tess zwei Scheiben French Toast, dann streute er Puderzucker darauf. Tess wäre an einem Dienstagmorgen etwas weniger Klebriges lieber gewesen, ein Bagel oder eine Schüssel Müsli, aber sie würde sich nicht beklagen.
»Ich hab sie von meinem Onkel Spike.«
»Er muss sie gerade erst bekommen haben, wenn sie nicht weiß, wie man Treppen geht. Und diese wunden Stellen an ihrem Hintern, das kommt von den engen Zwingern.«
Esskay wimmerte, als hätte sie bemerkt, dass sie im Mittelpunkt eines nicht gerade schmeichelhaften Gesprächs stand. Kitty brach ein Stückchen Toast ab und hielt es der Hündin hin, die es erstaunlich flink verspeiste.
»Du solltest die Tierrettung anrufen und dir helfen lassen«, fuhr Steve fort. »Es gibt alles Mögliche, was du wissen solltest.«
»Zum Beispiel?« Kitty würde es nicht lange mit ihm aushalten, befand Tess, egal welche Talente er in Küche oder Boudoir hatte. Sie mochte es morgens ruhig.
»Essen. Bewegung«, sagte er vage und ließ seine Gabel durch die Luft kreisen. Tess hatte das Gefühl, das Ende seines Windhund-Wissens sei erreicht.
Als Steve seine Gabel mit einem Stückchen French Toast durch die Luft wedelte, sprang Esskay hoch und schnappte sich den süßen Bissen. Zum ersten Mal strahlten die Augen der Hündin, und sie ließ nicht mehr den Kopf hängen, als bettelte sie, nicht geschlagen zu werden. Esskay schien bereit zu sein, einen Kampf um den Rest des French Toast anzutreten.
»Ich hab eine Idee«, sagte Tess und schnitt den Rest ihres French Toast in kleine Stückchen. »Kitty, komm bitte mal kurz raus in den Flur.«
Am unteren Ende der Treppe reichte Tess Kitty den Teller und schickte sie auf halbe Höhe der ersten Treppe. Dann kniete sie sich selbst hinter die Hündin und legte die Hände auf deren Hinterbeine.
»Jetzt halt ihr eins der Toaststückchen hin«, sagte sie zu ihrer Tante. Kitty nahm eines der kleineren Stückchen zwischen Daumen und Zeigefinger, während Tess die Beine der Hündin die Treppe hinaufführte. Hinterbein, Hinterbein, Vorderbein, Vorderbein. Rechts, links, rechts, links. Sie konnte die Anspannung des armen Tieres spüren, während es den Hals streckte, um näher an das Stückchen French Toast zu kommen, das nur ein paar Zentimeter vor ihrer Schnauze in der Luft schwebte.
»Jetzt geh ein paar Stufen höher.« Kitty gehorchte. Hinterbein, Hinterbein, Vorderbein, Vorderbein. Wieder konnte die Hündin den Toast fast erwischen.
»Okay, gib ihr den Bissen, dann gehst du hoch zum Treppenabsatz und hältst ein größeres Stückchen hin.«
Das kleine Häppchen, sirupdurchtränkt und mit Zucker überpudert, ließ die Hündin fast durchdrehen. Wimmernd reckte sich Esskay in Kittys Richtung, die inzwischen den Treppenabsatz erreicht hatte. Tess kniete sich hinter die Hündin, sie kam sich vor wie eine Mutter, die gleich das Fahrrad ihres Kindes loslassen würde. Ein kleiner Stups, und Esskay stürzte vorwärts, sie nahm die restlichen Stufen in einem großen Satz. Kitty gab ihr wieder ein Stück French Toast, dann ging sie vier weitere Stufen hoch. Die Hündin folgte ihr allein, Tess krabbelte hinter ihr her. Sekunden später waren sie am oberen Treppenende vor Tess’ Wohnung, und der Teller glänzte wie frisch aus der Geschirrspülmaschine.
Steve, der diese Spontan-Unterrichtsstunde vom unteren Treppenende aus beobachtet hatte, war unbeeindruckt.
»Ruf mal lieber eine dieser Windhund-Rettungsgruppen an«, rief er hoch. »Ich wage zu bezweifeln, dass French Toast ihr gut bekommen wird. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn sie dir nicht die ganze Bude vollscheißt.«
Kitty kraulte die Hündin hinter den Ohren. Die Hündin schaute sie voller Liebe an. Es war mehr als Toast. Crow hatte Tess einmal erklärt, dass es quasi zwingend war, sich in Kitty zu verlieben, wenn man sich an der Ecke von Bond Street und Shakespeare Street aufhielt. Er sollte es wissen: Crow arbeitete bei FRAUENUNDKINDERZUERST und war ewig in Kitty verknallt gewesen, bevor er sich plötzlich und unerwartet vor fünf Monaten auf Tess zu konzentrieren begonnen hatte.
»Sogar Hunde«, sagte Tess bewundernd. »Ist irgendjemand gegen deinen Charme immun?«
»Tausende. Ich verschwende bloß keine Zeit mit ihnen, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen.«
Kitty rief die Treppe hinunter: »Steve, du kannst schon mal abwaschen. Ich zieh mich um und schließ den Laden auf.«
Steve kehrte in die Küche zurück. Er pfiff vor sich hin, als wäre es eine Ehre, nach dem Essen, das er zubereitet hatte, auch sauber zu machen. Kitty schwebte einen Treppenabsatz hinab und verschwand in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock. Tess musste Esskay am Halsband festhalten, um die Hündin daran zu hindern, Kitty hinterherzutrotten.
Tess kannte sich aus mit Sportlern und ihren Bedürfnissen, also goss sie der Hündin eine große Schale Wasser ein und stellte sie auf eine Ausgabe des Beacon. Dann suchte sie ein altes Laken heraus und drapierte damit auf dem Schlafzimmerfußboden ein Bett. Erstaunt starrte Esskay darauf hinab. Sie betrachtete die blau karierte Wolle, als wartete sie darauf, dass etwas geschähe. Als Tess aus der Dusche zurückkehrte, stand die Hündin immer noch vor der Decke und knurrte leise.
Tess zog sich an und wollte zur Arbeit gehen, dann blieb sie in der Schlafzimmertür stehen und schaute die Hündin unsicher an. Sie hatte nie verstanden, wieso Leute mit Tieren redeten und sie wie Babys behandelten, aber es kam ihr auch komisch vor, ein warmblütiges Wesen ohne irgendeine Form der Verabschiedung zurückzulassen. Außerdem bedeutete diese Hündin Spike irgendetwas, also musste sie sie gut behandeln. Esskay und Tommy waren gar nicht so verschieden – nicht wirklich menschlich, aber Teil von Spikes Leben, und deswegen sollte man höflich zu ihnen sein.
»Heute gehe ich aus«, sagte Tess schließlich, »also komme ich erst spät wieder. Ich sage Kitty, dass sie nach dir schauen soll.«
Esskay schaute kurz auf, dann starrte sie wieder die Decke an. Na toll, dachte Tess. Ich rede mit einer Hündin, und die hört noch nicht mal zu. Dann rannte sie die Treppen hinunter, sie war zu spät. Das war einer der Nachteile, wenn das Büro nur zehn Minuten entfernt ist. Man konnte die Verspätung unterwegs nicht mehr aufholen.
Tyner Grays Anwaltsbüro befand sich in einem alten Stadthaus am Mount Vernon Square, in einer netten Gegend am Fuße von George Washington, der alles von seinem Sockel aus beobachtete. »Aber er ist älter als der in D.C.«, erzählte irgendein Einheimischer jedes Mal. Tess war das Denkmal egal, aber ihr gefiel der hübsche Park vor dem Bürofenster, sie mochte die klassische Musik, die vom Peabody Conservatory herüberhallte, und die ausgezeichneten Restaurants in der Gegend. Im letzten Herbst hatte das Schicksal sie hierher verschlagen, eigentlich hatte es nur ein Job auf Zeit sein sollen. Aber Tess war geblieben, obwohl Tyner sie jeden Tag daran erinnerte, dass es ihr Ziel sein sollte, eine Lizenz als Privatdetektivin zu erhalten und ihr eigenes Büro zu eröffnen.
Als sie um Viertel nach neun durch die schwere Eingangstür trat, konnte sie das Quietschen des altmodischen Fahrstuhls hören, den nur Tyner benutzte. Tess hetzte die breite Marmortreppe in den ersten Stock hinauf, dann nahm sie die schmalere Treppe in den zweiten Stock; sie war sicher, den Fahrstuhl überholen zu können. Sie hatten einmal mit Tyners Stoppuhr nachgemessen, derselben, mit der er auch Nachwuchsruderer quälte. Der Fahrstuhl brauchte genau eine Minute und 32 Sekunden, um in den zweiten Stock zu gelangen. Als Tyner kam, saß sie schon an ihrem Schreibtisch im Empfangsraum, den sie sich mit der Rezeptionistin Alison teilte, und machte Notizen über ein Gespräch, das sie letzte Woche mit einer Frau geführt hatte, die hoffte, ihren Nachbarn wegen falscher Grundstücksgrenzziehung verklagen zu können.
»Damit legst du mich nicht rein«, sagte Tyner und fuhr in seinem Rollstuhl an ihr vorbei.
»Wirklich, Mr. Gray, sie war die ganze Zeit schon hier«, sagte Alison ungefragt. Sie war eine echte Schönheit, überzüchtet wie ein Golden Retriever, aber Alison hatte ein gutes Herz. Und konnte überhaupt nicht lügen.
»Ich hab dich auf der Treppe gehört«, rief er über die Schulter Tess zu. »Du hast schwere Schritte. Ich vergesse es immer wieder – hast du Platt- oder Spreizfüße?«
»Platt«, sagte sie und folgte ihm in sein Büro, einen spartanisch eingerichteten Raum. Seit fast vierzig Jahren saß Tyner im Rollstuhl, und er hatte nicht darauf gewartet, dass jemand ihm die Welt zu Füßen legte. Obwohl sich sein Büro in einem Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert befand, das geradezu nach Antiquitäten schrie, hatte er sich für schlanke, moderne Möbel entschieden, die weniger Platz einnahmen. Sein Tisch war groß und niedrig, eine Spezialanfertigung, sodass er direkt heranrollen konnte. Die ihm gegenüber stehenden Stühle waren groß und schmal, teure Walnussholzstücke mit schmalen Lederstreifen als Sitzen. Sie waren ungeheuer unbequem, und nicht ganz zufällig erinnerten sie an die beweglichen Sitze in Ruderbooten. Rudern war Tyners wahre Leidenschaft, selbst wenn seine Rudererjahre nur einen Bruchteil seines Lebens ausgemacht hatten.
»Mein Onkel wurde letzte Nacht überfallen«, erzählte Tess und kauerte sich auf einen der Stühle. »Irgendjemand hat ihn böse zusammengeschlagen.«
»O Gott. Welcher? Welche Seite?« Unvermeidbare Fragen und schwierige dazu, denn Tess hatte neun weitere Onkel – die fünf jüngeren Brüder ihres Vaters, die vier älteren ihrer Mutter. Spike war in Wahrheit ihr Cousin, und um die Sache noch komplizierter zu machen, hatte man sich nie darauf einigen können, zu welcher Seite der Familie er gehörte. Sein Nachname war Orrick. Früher bestimmt mal O’Rourke, hatte Tess’ Mutter stets gesagt. Das könnte einer dieser osteuropäischen Judennamen sein, hatte ihr Vater stets gekontert, den die Immigrationsbeamten versaut haben.
»Der, dem das Point gehört, die Bar an der Franklintown Road. Es war ein Raubüberfall, und sie waren sauer, weil er kein Geld hatte.«
»In dieser Stadt kann man wirklich nicht mehr leben.«
»Das sagst du jeden zweiten Tag. Du suchst nur nach einem Grund, das Haus in Ruxton zu kaufen.« Dieser grüne behütete Vorort keine fünf Meilen außerhalb der Stadtgrenze war eine Art Codewort zwischen ihnen: Er symbolisierte die endgültige Aufgabe.
Tyner lächelte reuig. »Die Stadt macht es Steuerzahlern nicht leicht, hierzubleiben, Tess. Vor allem nicht nach diesem Winter. Meine Straße wurde nicht ein einziges Mal geräumt oder gestreut. Jedes Mal wenn es geschneit hat, war ich gestrandet.«
»Das musst du mir nicht erzählen. Vergiss nicht, ich bin fünfmal zu dir da rausgefahren, ich bin mit Skiern deine Straße entlanggeschliddert. Und du hast immer so getan, als wäre es ganz schrecklich, dass ich Gemüse vorbeibringe.«
»Ich wollte Brandy, kein Essen. Du wirst nie als Bernhardiner durchgehen, Tess.«
Bernhardiner. Tess dachte jetzt nicht mehr an die Vergangenheit, sondern an die Gegenwart. Hund. Sie sollte eine Windhund-Rettungsgruppe anrufen, wie Steve es ihr geraten hatte.
Sie überließ Tyner seiner wie üblich mäßigen Laune, ging zurück an ihren Schreibtisch und blätterte im Telefonbuch, bis sie tatsächlich einen Eintrag für Windhunde in Maryland fand.
»Windhunde Maryland.« Das atemlose Wesen am anderen Ende der Leitung war eine Frau mit einer netten, kehligen Stimme. Im Hintergrund bellten wie wild Hunde. Tess sah sie sofort in Blue Jeans vor sich, ganz voller Hundehaare. Igitt.
»Hi, ich habe anscheinend von meinem Onkel einen Windhund geerbt und würde mich gern schlau machen. Welches Futter brauche ich? Wie sieht’s aus mit Auslauf, besonderem Verhalten? Sowas.«
»Wie lang hat ihr Onkel den Hund gehabt? Ich meine, hat er ihn erst vor Kurzem adoptiert, oder ist er schon eine Weile bei ihm? Wie geht es ihm?«
Tess war verwirrt, sie dachte, »er« müsste ihr Onkel sein. Dann wurde ihr klar, dass die Frau den Hund meinte. »Äh, erst seit Kurzem, schätze ich. Sie wusste nicht, wie man Treppen geht.«
»Ist er von hier?«
»Der Hund? Weiß nicht.«
»Ihr Onkel. Wie heißt er?«
»Spike Orrick.«
»Bei dem Namen klingelt nichts, und wir kümmern uns eigentlich um die meisten Adoptionen in und um Baltimore.« Die Stimme der Frau klang plötzlich viel weniger freundlich. »Sind Sie sicher, dass er den Hund korrekt adoptiert hat? War er mit ihm beim Tierarzt? Man muss die Hunde nämlich sterilisieren lassen, wissen Sie. Das ist Teil der Vereinbarung. Ist der Hund jetzt bei Ihnen? Wir haben ein Identifikationssystem, und wenn Sie bloß …« Tess legte auf. Wem wollte sie etwas vormachen? Spike hatte noch nie etwas korrekt gemacht. Wenn Esskay nur reden könnte. Wenn Spike nur reden könnte.
Aber dann rief sie im Saint Agnes an und erfuhr: Spike lag jetzt im Koma, niemand wusste, wie es weitergehen würde.
»Was ist so selten wie ein Frühjahrstag? Was ist so selten wie ein Märztag in Baltimore, an dem tatsächlich die Sonne scheint?«, murmelte Tess vor sich hin, als sie am Abend die Treppe zum Brass Elephant hochstieg. Sie sorgte sich um Spike, freute sich aber auch auf die Zeit in ihrer Lieblingsbar mit einem ihrer Lieblingstrinkbrüder.
Die Brass Elephant Bar war ein gut gehütetes Geheimnis, und die Stammkunden waren froh darum. Sie war ein billiges Versteck über einem teuren Restaurant. Während Tess’ Arbeitslosigkeit war sie für sie unverzichtbar geworden, ein Fluchtort, an dem sie sich zivilisiert und umsorgt fühlen konnte und an dem sie für fünfzehn Dollar gut essen konnte. Das Licht war gedämpft, genau wie die Musik; Chet Baker, Johnny Hartman und Antonio Carlos Jobim murmelten ihre Liebeslieder so leise, dass man nur manchmal einen geflüsterten Reim wie love/above, art/heart oder sky/high hören konnte. Vor ein paar Jahren hatte es einen schrecklichen Augenblick gegeben, als eine neue Barkeeperin eine Jazzversion des Schmusehits aus dem neuesten Disney-Trickfilm gespielt hatte, aber das hatte man ihr schnell wieder abgewöhnt. Der Brass Elephant überlebte gute und schlechte Zeiten, von Marylands schwindsüchtiger Ökonomie bis zu diesen Best-of-Baltimore-Listen, die über die Martinis gestolpert waren, sodass plötzlich ein paar Leute auftauchten, die nicht unbedingt Martinis mochten, aber gerne betonten, dass sie die besten probiert hatten.
Gut, ihr Lieblingsbarkeeper war da. Und Feeney auch, er saß auf einer Bank in einer dunklen Ecke, seine Finger umklammerten den Stiel eines Martiniglases, und auf dem weißen Tischtuch vor ihm lag ein vielsagender Berg zahnstochergespickter Oliven. Tess deutete auf Feeneys Glas und zeigte damit an, dass sie dasselbe wollte, dann setzte sie sich auf den Stuhl Feeney gegenüber. Er war in sich zusammengesackt und schien sie auch nicht zu bemerken, es sei denn, man betrachtete ein paar genuschelte Zeilen von Auden als angemessene Begrüßung.
»Ich sitze in einer Spelunke / In der 52nd Street / Unsicher und voller Angst, / Während die klugen Hoffnungen / Eines niederträchtigen Jahrhunderts schwinden.«
Tess seufzte. Richard Burton hätte es nicht besser – oder besoffener – sagen können. Auden war ein besonders schlechtes Zeichen, er war reserviert für die ganz tiefen Tiefs. Nur Yeats oder Housman waren schlimmer.
»Du bist in der Charles Street, und der Brass Elephant ist keine Spelunke, obwohl ich mit dir nicht über die Nachteile dieses verdammten Jahrzehnts diskutieren würde.«
»Ich habe bloß meine Stimme / Um die fältigen Lügen ungesagt zu machen / Die romantische Lüge im Gehirn / Vom sinnlichen Mann auf der Straße …«
»Das wollten sie also von dir? Du solltest der Mann auf der Straße sein?« Das wäre ja gar kein so großes Problem, davon könnte sie Feeney ablenken. Tess kannte den unerschütterlichen Glauben der Medien, dass normale Menschen etwas von aktuellen Ereignissen verstünden. Wenn irgendetwas Wichtiges in weiter Ferne passierte, schickten die Redakteure gnadenlos Reporter auf die Straße, um gemeine Zitate von gemeinen Menschen einzuholen.
Der Barkeeper tauchte mit ihrem Drink am Tisch auf. Das Ritual war Teil ihres Vergnügens – die Drehung des Shakers aus dem Handgelenk, wie er den Martini künstlerisch einschenkte. Tess nippte daran und fühlte sich gleich besser, stärker, klüger, bereit für Feeney in extremis.
»Und was war heute die Frage? Irgendwas mit der NATO? Die NATO ist doch immer gut für einen Mann auf der Straße. Ich weiß noch, als ich beim Star war, hat jemand in Pigtown gedacht, die NATO sei ein überdachtes Schwimmbad, das der Bürgermeister im Patterson Park bauen wollte.«
»Du enttäuschst mich, Tess«, sagte Feeney bitter und begann, an einem der Zahnstocher von dem Hügel vor ihm zu kauen. »Du nimmst das alles genauso wörtlich wie meine bescheuerten Chefredakteure.«
Tess nahm einen zweiten größeren Schluck aus ihrem Glas, sie genoss die Kühle und dann den kleinen hitzigen Nachgeschmack. Wirklich ein wunderbarer Drink.
»Es ist auch schön, dich zu sehen, Feeney.«
»Schön, mich zu sehen? Du kannst es kaum ertragen, mich anzuschauen.«
Verloren in seinem eigenen Elend, hatte Feeney unwissentlich die Wahrheit ausgesprochen. Tess mied seinen Blick, der dunkel war von Bitternis, und sein nach unten gekehrtes Grinsen. Feeney war immer grau gewesen – grau-blaue Augen, grau-blondes Haar, selbst seine Haut wirkte grau-rosa, sie war nur ein wenig heller als die halbrohen Hotdogs, die er bei den Ständen vor dem Gerichtsgebäude kaufte. Aber heute sah alles noch etwas fahler aus als sonst, als bekäme er nicht genug Sauerstoff. Auf seinem blassen Gesicht wirkten die aufgeplatzten Äderchen in seinen Wangen wie Straßenkarten ins Nirgendwo. Gin-Blüten, die eine Blume, die man das ganze Jahr über im gottverdammten Baltimore finden konnte.
»Was ist los, Feeney?«
»Meine Karriere ist vorbei.«
»Das sagst du einmal im Monat.«
»Ja, aber normalerweise ist das bloß ungerechtfertigte Paranoia. Heute habe ich es ganz offiziell erfahren. Ich gehöre nicht dazu. Ich bin kein Mannschaftsspieler.« Er nuschelte schrecklich.
»Sie können dich doch nicht feuern.« Der Beacon war ein Gewerkschaftsblatt, was es schwierig, wenn auch nicht unmöglich machte, Angestellten zu kündigen. Aber Feeney war gut. Ein Profi. Es wäre schwer, ihn loszuwerden. Es sei denn, er hatte es ihnen leicht gemacht, indem er Anweisungen der Redakteure ignoriert hatte. Ungehorsam war Grund genug für eine fristlose Kündigung.
»Nehmen wir mal an, du hättest die Story deines Lebens geschrieben, Tess«, sagte er und beugte sich zu ihr herüber. Sein Gesicht war ihrem so nahe, dass sie den Gin riechen konnte, den er zu sich genommen hatte, und auch ein wenig Tabak. Merkwürdig – Feeney hatte vor Jahren aufgehört zu rauchen. »Die beste Story, die du dir vorstellen kannst. Stell dir vor, darin wäre alles, was du von einer Geschichte erwarten kannst, und für alles gibt es mindestens zwei Quellen. Und stell dir vor, diese gottverdammten feigen Ratten wollen es nicht drucken.«
»Das hat irgendwas mit dieser Basketballgeschichte zu tun, oder? Die Story, von der du mir gestern noch nichts sagen wolltest.«
Feeney nahm seine Gabel und begann, in den Happy-Hour-Ravioli herumzustochern, bis kleine Tomatensoßenspritzer das Tischtuch zierten. »Na, jetzt kann ich sie dir ja erzählen. Überhaupt wird sie nur dann jemand hören, wenn ich sie erzähle. Vielleicht sollte ich mich mit einem Schild an die Straßenecke stellen und anbieten, sie für einen Dollar vorzulesen.«
»Wie gut ist sie? Wie groß?«
Wieder antwortete er mit seiner Singsang-Dichterstimme: »Wink Wynkowski, Baltimores größte Hoffnung, eine Basketballmannschaft nach Baltimore zu locken, hat in seiner Vergangenheit vieles getan, über das er lieber nicht spricht, vor allem nicht mit der NBA. Seine Geschäfte sind ein Kartenhaus, er steht kurz vor der Pleite, wird von Anwälten verfolg wegen Sachen von ›Ambulanter Notdienst‹ bis ›Zippys Druckerei‹. Vielleicht kann er genug für eine Mannschaft zusammenkratzen, aber er ist nicht flüssig genug, sie anschließend zu finanzieren.«
»Warum will er dann eine kaufen, wenn es ihn in den Bankrott treibt?«
»Gute Frage. Zwei mögliche Antworten. Er ist dumm – das darf man bezweifeln. Oder er will die Mannschaft ziemlich schnell wieder verkaufen, sobald die Stadt ihm die neue Sporthalle gebaut hat, die den Wert der Mannschaft über Nacht verdoppelt.«
»Das kommt mir ein bisschen weit hergeholt vor.«
»Hey, erinnerst du dich an Eli Jacobs? Der hat 1980 die Orioles für 70 Millionen gekauft. Als in der Rezession seine Geschäfte zusammenbrachen, hat er sie für fast 175 Millionen verkauft, und es war Camden Yards, bezahlt vom Staat, das die Mannschaft so teuer machte. Wenn Wink es schafft, seine fliegenden Bauten noch ein paar Jahre intakt zu halten und die Mannschaft zu verkaufen, bevor seine Kreditgeber ihm die Luft abwürgen, streicht er einen Riesengewinn ein.«
»Gibt es noch mehr?« Feeney runzelte die Stirn. »Nicht, dass da mehr sein müsste«, setzte sie eilig hinzu. »Du hast die Punkte miteinander verbunden, ich kann das Bild sehen.«
»Aber es gibt mehr. Viel mehr. Dunkle Geheimnisse. Eine üble erste Ehe. Miese Angewohnheiten, die gar nicht zum Profisport passen. Wie viel würdest du für diese Story bezahlen? 39,95 Dollar? 49,95? 59,95? Warte, sag nichts – wie wäre es, wenn wir noch ein paar Ginsu-Messer dazugeben?« Er begann, leicht hysterisch zu lachen, dann riss er sich zusammen. »Glaub mir, Tess. Die Story steht. Ich wünschte, mein Haus stünde auf einem ähnlich soliden Fundament.«
»Wieso bringt die Zeitung sie dann nicht?«
»Alle möglichen Gründe. Sie behaupten, sie wäre nicht hieb- und stichfest. Dass es rassistisch wäre, so aggressiv mit einer NBA-Story an den Start zu gehen, wo wir doch den Football, der vor allem die Weißen interessiert, ohne Gegenwehr in die Stadt gelassen haben. Sie sagen, wir hätten zu viele anonyme Quellen, aber ein paar der Leute, die mit mir geredet haben, arbeiten nun mal noch für Wink, Tess. Die haben gute Gründe, anonym bleiben zu wollen. Einer vor allem. Die Chefredakteure haben uns heute Nachmittag gesagt, wir müssten ihnen alle Namen der Quellen nennen, bevor sie die Geschichte bringen. Sie wussten, dass ich das nicht tun würde, eher würde ich die Geschichte aufgeben. Und genau darum ging es. Sie brauchten eine Entschuldigung, um der Story den Garaus zu machen, weil sie uns nicht trauen.«
»Uns?«
»Rosie und mir. Du hast sie kennengelernt. Sie ist gut für eine Anfängerin. Du solltest mal die Sachen sehen, die sie über Winks erste Ehe rausgefunden hat.«
»Dann trauen sie doch wahrscheinlich ihr nicht. Weil sie neu ist und jung.«
Feeney schüttelte den Kopf. »Beim Beacon heutzutage ist es besser, neu und jung zu sein als alt und alt. Sie. Ich. Wir beide. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Ich bin müde, Tess. Ich bin so müde, und es ist so eine verdammt gute Story, und am liebsten würde ich mich einfach jetzt hier auf dem Tisch schlafen legen, aufwachen und dann feststellen, dass sie sie doch noch gedruckt haben.«
»Feeney, ich bin sicher, sie werden sich bei dir entschuldigen, und du wirst deine große Story bekommen«, sagte sie und schob sein Wasserglas näher zu ihm hin in der Hoffnung, ihn abzulenken. Er scheint sich zu beruhigen, dachte sie. Vielleicht ist der Abend noch zu retten.