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1724: Vor der Küste Englands wird die Dreimastbark "Hoffnung" von algerischen Piraten überfallen. Unter den gefangenen Seeleuten befindet sich der 15-jährige Hark Olufs aus Amrum, dessen Schicksal sich in diesem Augenblick für immer verändert. Auf dem berüchtigten Sklavenmarkt von Algier verkauft, sieht er sich grausamen Bedingungen und heimtückischen Intrigen gegenüber. Mit unerschütterlichem Mut und einer brennenden Entschlossenheit schafft er das Unvorstellbare: Vom Sklaven zum Schatzmeister und General des Bey. An der Spitze seiner Macht findet er sogar das Glück der Liebe.
Doch als alles perfekt scheint, droht ein aussichtsloser Feldzug, der sein neu gewonnenes Leben in höchste Gefahr bringt ...
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Seitenzahl: 490
Veröffentlichungsjahr: 2025
1724: Vor der Küste Englands wird die Dreimastbark "Hoffnung" von algerischen Piraten überfallen. Unter den gefangenen Seeleuten befindet sich der 15-jährige Hark Olufs aus Amrum, dessen Schicksal sich in diesem Augenblick für immer verändert. Auf dem berüchtigten Sklavenmarkt von Algier verkauft, sieht er sich grausamen Bedingungen und heimtückischen Intrigen gegenüber. Mit unerschütterlichem Mut und einer brennenden Entschlossenheit schafft er das Unvorstellbare: Vom Sklaven zum Schatzmeister und General des Bey. An der Spitze seiner Macht findet er sogar das Glück der Liebe.
Doch als alles perfekt scheint, droht ein aussichtsloser Feldzug, der sein neu gewonnenes Leben in höchste Gefahr bringt ...
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Udo Weinbörner
Der General des Bey
Das abenteuerliche Leben des Schiffsjungen Hark Olufs
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Widmung
Der Schatz des Wiedergängers
Des toten Mannes Kiste
Hark Olufs’ Vermächtnis
Eine Liebe zum Abschied
Das Zweite Gesicht
Ein Schiff, beladen mit Sehnsucht und Angst
Unter Hamburger Flagge und mit dem Teufel an Bord
Das Strafgericht
Die Wahrheit will niemand hören
Josef Bombai und Tom Mampe
Gekreuzte Klingen
Der Ritt auf dem Sturm
Im Auge des Orkans
Der Verrat
In eine ungewisse Zukunft
Piraten in Sicht!
Lieber tot als Sklave!
Gibraltar und die Mohrenküste
Der Sklavenmarkt von Algier
Mit Haut und Haaren
Fressen und gefressen werden
Durch die Wüste nach Constantine
Vom Glanz und Elend eines Sklaven bei Hofe
Von dem grausamen Ende einer Freundschaft
Kalyan Hasan Bey, genannt Bu Kamya – der Bey Assin
Lorenz stellt seine Fragen
Ein unverhofftes Wiedersehen
Leila
Die Intrige
Von allen guten Geistern verlassen
Ein Traum und der Tod aller Freundschaft
Die Kunst der Politik des Bey
Mit Todesmut und dem Glück an meiner Seite
Der Lohn des Sieges
Hochmut und Fall
Niemand pilgert so einfach nach Mekka
Der Bart des Propheten
Elgie
Das Herz vergisst nicht
Die Welt auf der Spitze des Schwertes
Eine Kriegslist und der Lohn für mein wundersames Überleben
Abschied und Rückkehr
Wie Lorenz die Sache sieht
Dank und Hinweise des Autors
Ein Begleitwort des Amrumer Buchhändlers Jens Quedens, der zudem ein Nachfahre von Hark Olufs ist
Erläuterungen
Impressum
Für Anne
und Amrum
… und immer nur mit dir
Der Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Marret stolperte, riss die Laterne in die Höhe, damit sie nirgendwo anstieß und das Glas zerbrach. Sie fiel auf die Knie. Der Wind trieb ihr Sand ins Gesicht und sie schimpfte mit sich selbst. Die Augen tränten von den Sandkörnern und sie spuckte Sand. Die Luft wurde ihr knapp. Für einen Moment hielt sie inne und lauschte. Was glaubte sie zu hören außer dem Wind, dem Meer und dem Rauschen und Schlagen im spärlichen Geäst? Sie hätte den längeren Weg an der Wattenmeerseite und nicht die einsame Strecke unterhalb der Dünen nehmen sollen. Obwohl sie keine ängstliche Natur war, gruselte es ihr. Irgendetwas stimmte nicht.
Es war noch früher Abend, aber schon stockfinster. Die mitgeführte Handlaterne war kaum mehr als eine schwache Funzel. Der böige Wind ließ das Licht flackern, und dann schien es so, als lösten sich die Strahlen des Lichts auf, bevor sie den Boden berührten. Ungefähr so wie Regen über der Wüste, dessen Tropfen auf halbem Weg vom Himmel herab verdunsteten. Seltsam, dass Marret ausgerechnet jetzt in dieser Eiseskälte die Wüste einfiel. Sie erinnerte sich, wie Hark Olufs von der großen Leere, der flirrenden Hitze, von dem Durst, den Oasen und der Fata Morgana erzählt hatte. Niemand konnte so erzählen wie er, so ausdauernd, so packend und so spannend, dabei hatte er das, was man sich in seinen wildesten Träumen ausdenken konnte, selbst erlebt.
Jetzt erkannte Marret genau, wo sie sich befand. Rechts von ihr ragte die dunkle Masse der Ulvsdüne auf, von der aus ihr Vater früher Tag für Tag Ausschau nach seinem verlorenen Sohn Hark gehalten hatte. Sie war schon ein schönes Stück weiter gekommen. Spukte es hier wirklich, wie man es sich in den Dörfern erzählte? Erk Bohm sollte der Geist angeblich erschienen sein. Vor Schrecken habe er wirres Zeug geredet und sei drei Tage im Fieber fantasierend gelegen. Man hatte sogar nach Pastor Mechlenburg geschickt, von dem in weltlichen Dingen niemand viel hielt, und sie selbst hatte ihn schweigend mit bedenklichem Gesicht aus dem Haus treten sehen. Seit seiner Genesung, für die alle gebetet hatten, schwieg Erk Bohm über seine Begegnung mit dem Geist. Was zudem mehr als ungewöhnlich schien, denn er war allerorts als Schwätzer und Geschichtenerzähler bekannt. Pastor Mechlenburg war kurze Zeit danach bei der Witwe Antje Harken[1] erschienen, um bei Gerstenkaffee mit schrägem Blick auf Olufs’ Wasserpfeife, die einen Ehrenplatz in der Stube erhalten hatte, mehrfach zu betonen, sie solle nichts auf das Geschwätz geben. Ein guter Christenmensch irre nicht als Geist umher und Hark Olufs sei in Gottes Hand. Sein Angebot, Grab und Grabstein erneut einzusegnen, lehnte Antje Harken jedoch entschieden ab, denn das wäre ihr wie ein Eingeständnis erschienen, bei dem Geist könne es sich tatsächlich um ihren Hark handeln. Man hat sie viele Tage zur späten Stunde allein zur Ulvsdüne gehen sehen, doch der Geist erschien ihr nicht mehr. Sollte sich einer einen Reim auf die Gehässigkeiten der Mitmenschen machen, mit denen sie eine arme Witwe und ihre Kinder quälten!
Waren das Schritte hinter ihr? Marret riss die Handlaterne hoch und starrte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Nichts!
Mit einem Spitzentuch wischte sie sich den Sand aus dem Gesicht und zwang sich, ruhig zu atmen. Hier war Amrum, ihre Heimat, eine Insel und keine große Stadt wie Hamburg oder Kopenhagen, wo Raub, Mord und Totschlag zum Alltag gehörten. Nebelschwaden raubten ihr die Sicht auf die Lichter des Dorfes. Wüste, Mord und Totschlag! Was war nur mit ihr los? Hinter ihr lag Norddorf, vor ihr zur Linken irgendwo Nebel und Süddorf. Marret würde jetzt aufstehen und einfach mehr auf den Weg achten. Zu viele Spukgeschichten und Spökenkieker – wenn es doch erst wieder Frühling würde!
Der Wind heulte und riss Marret die Haube vom Kopf, die landeinwärts in die Dunkelheit flog, noch bevor sie danach greifen konnte. Nicht ihr Tag! Sie zwang sich zu einem lauten, trotzigen Lachen. Da ihr kein Lied einfiel, redete sie mit sich selbst – das half gegen die Einsamkeit und gegen die Angst.
Genau in dem Moment, als Marret sich mühsam wieder hochrappelte, stand er wie aus dem Nichts vor ihr. Sie erkannte ihn sofort an seinen kostbaren türkischen Pantoffeln, die er ohne Strümpfe trug, und an seiner roten Pluderhose, die zu seiner türkischen Generalsuniform gehörte. Marret sprang auf, schrie vor Entsetzen und machte ein paar rasche Schritte rückwärts, um Abstand zu gewinnen. Wieder schrie sie, keuchte, ihr Herz raste. Sie wollte in Panik fliehen, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Im schwachen Schein der Laterne blickte sie in die vertrauten Gesichtszüge ihres Halbbruders Hark. Doch den hatten sie vor einem Jahr zu Grabe getragen! Das konnte nicht sein! Ihre Atemluft reichte gerade noch aus, um die Worte hervorzupressen: »Wer bist du?« Der Rest ging in ein Keuchen und Schluchzen über. Ihre Gefühle und ihre Reaktionen gerieten völlig außer Kontrolle.
»Du kennst mich, kleine Schwester.« Seine Stimme, wie aus großer Ferne, glich dem Rauschen des Windes. »Marret, ich bin es, Hark, dein Bruder.« Er machte mit den Händen vorsichtige Bewegungen, um sie zu beschwichtigen.
»Das kann nicht sein. Du bist tot. Dort ist dein Grab!« Ihr zitternder Arm deutete in die Richtung, in der sie den Kirchhof von St. Clement hinter den Nebelschwaden vermutete. »Gäbe Gott, es wäre nicht wahr, aber du bist tot!« Einer plötzlichen Eingebung folgend, presste sie die Augen wieder fest zusammen, bekreuzigte sich dreimal und rief, so laut es ihre schwindenden Kräfte noch zuließen: »Verschwinde, bei Gott! Wer immer du bist! Im Namen Gottes, du bist nicht mein Bruder Hark!« Doch als sie die Augen wieder aufschlug und die Handlaterne hochhielt, blickte sie erneut in die wächsernen, aber vertrauten Gesichtszüge ihres Bruders Hark Olufs. Eine Teufelei! Sie glaubte ihre letzte Stunde gekommen. »Nein! Nein! Zu Hilfe!«, schrie sie und bekreuzigte sich in einem fort. Blindlings flüchtete sie einige Schritte ins Gestrüpp, nur um feststellen zu müssen, dass sie in der Dunkelheit nicht weiterkam. Panisch wandte sie den Kopf hin und her und rief: »Zu Hilfe! Hört mich denn niemand! Zu Hilfe!« Doch da war niemand, der ihr helfen konnte. Die Gestalt folgte ihr langsam, versuchte sie an der Schulter zu packen, doch die Hand des Mannes glitt einfach durch sie hindurch. Marret spürte nicht mehr als einen kalten Lufthauch, der sie erschaudern ließ.
Fast flehentlich klang jetzt seine Stimme: »Marret, bitte hör mich an. Beruhige dich. Nichts wird dir geschehen. Ich bin doch dein Bruder.« Ganz sanft war seine Stimme, wie das Säuseln des Windes in der Pause zwischen zwei Stürmen. Ein trügerischer Frieden. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Sinne drohten ihr zu schwinden. Für einen Moment taumelte sie. Nein! Sie wollte nicht sterben! Sie wollte leben! Sie spürte so etwas wie Kampfesmut in sich wachsen: »Du bist tot! Tot! Tot! Ich habe meine Hand auf deine kalte Wange gelegt, bevor du zu Grabe getragen worden bist. Gib endlich Frieden und lass mich gehen!«
Hark Olufs, sein Geist oder wer immer der Kerl sein mochte, stand mitten auf dem Weg nach Süddorf wie aus einem Block gehauen. Seine kräftige Statur, die langen grauen Haare, das feste Gesicht, die großen Hände und die Art, wie er jetzt zu ihr sprach und sich bewegte, alles versammelte sich in dem Eindruck. An der Ulvsdüne waren die Hoffnungen seines Vaters auf seine Rückkehr zu Hause gewesen. Wie oft hatte Hark in der Fremde davon geträumt, dass der Vater auf der Düne stehen und nach ihm Ausschau halten würde. Hier hatte er sich mit Antje nach seiner Rückkehr heimlich getroffen, um ihr das Eheversprechen abzuringen, war sie doch längst mit einem anderen verlobt. Wenn das vor ihr der Geist von Hark Olufs war, der bittend und flehend mit dem Wind um die Wette säuselte, dann war dieser Ort tatsächlich der einzige Platz, der für sein Erscheinen in Frage kam.
Marret fürchtete sich davor, dass er erneut versuchen könnte, sie zu berühren. Unheimlich und kalt war seine Nähe. Also bemühte sie sich, ihm dafür keinen weiteren Anlass zu geben, und verhielt sich ruhig, während alles in ihr raste und tobte und bebte.
Da stand ihr Bruder und sah so aus, wie ein Mann aussehen musste, der alles erreicht hatte im Leben. Entkommen aus der Sklaverei, als General in der Fremde sich einen Namen gemacht, Reichtum erworben, seit 18 Jahren verheiratet, einen Sohn und vier Töchter … Warum konnte er nicht seinen Frieden machen und ruhen bis zur Auferstehung?
Marret beruhigte sich ein wenig. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg, dem Geist zu entkommen. Doch das Wesen in Gestalt ihres Bruders, das sie jetzt wieder kleine Schwester nannte, stand hier, als wären es gerade alle die Erfolge in seinem Leben, die ihn verunsichert und verdammt hätten.
»Ich bin nicht nur der, für den ihr mich alle gehalten habt. Ich bin der fremde Sohn, der Schuld auf sich geladen hat, und brauche deine Hilfe um meines ewigen Friedens willen.«
»Warum bist du nicht Antje erschienen, die Tag für Tag nach dir gesucht hat?«
»Ich habe sie zu sehr geliebt, wie hätte ich sie in Angst und Schrecken versetzen mögen? Es hätte mich auf ewig hier gebunden.« Seine Stimme dröhnte ihr in den Ohren und der Wind zerzauste ihre langen blonden Haare. Sie glaubte ihm und war jetzt überzeugt, wirklich ihren toten Bruder vor sich zu haben. »Mein Gott, Hark, wie kann das sein? Hast du Gott gesehen? Gibt es ein Paradies?« Ihre Angst schlug in aufgeregte Neugierde um und die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus. Das Licht in der Handlaterne wurde von den Windböen erfasst und erlosch. Vor Schreck ließ Marret die Laterne fallen und das Glas zersplitterte. Dennoch stand sie jetzt nicht in völliger Finsternis. Von dem Geist ging ein Leuchten wie von einem Feuer in großer Ferne aus, nur dass die Erscheinung, so schien es ihr, immer weiter an Kraft verlor. Sie hörte sein vertrautes, dröhnendes Lachen: »Kleines Schwesterherz, so wahr es Gott gibt, so wahr sage ich dir, dass es nicht der Gott ist, den die Christenmenschen und die Türken zu besitzen glauben. Ich wusste schon zu Lebzeiten, dass noch niemand durch Lug und Trug, durch Ränkespiele und Glockengebimmel und Pöttekiekerei das ewige Leben erlangt hat! Ich habe große Schuld auf mich geladen und wäre ein gar seltsamer Heiliger fürs Paradies. Habe mich an manchem Menschen versündigt, betrogen, gelogen, gar gemordet und alles geleugnet, zuerst fürs Überleben, dann für ein bequemes Leben. Ich bin es nicht wert, dass man mich rettet, und doch erflehe ich nichts Geringeres von dir!« Es folgten wilde Flüche in arabischer Sprache, die Marret nicht verstand, und zugleich mit der schwächer leuchtenden Erscheinung des Geistes schwanden auch spürbar ihre Kräfte. Sie spürte, wie sie ohnmächtig zu werden drohte. Seine Stimme war wie Donner, das Brausen des Windes wuchs sich zu einem Sturm aus und drohte, alle Worte zu verschlingen. »Der Tod kam über mich wie ein Schuss aus dem Hinterhalt – und doch, ich hatte immer wieder Gelegenheit, meine Sachen zu ordnen.«
Marret wusste jetzt, dass keine Zeit mehr blieb für ihre Fragen. Sie hatte ihren Bruder geliebt und gefürchtet zugleich. Doch sie war entschlossen, ihm zu helfen. »Schnell, sag, was ich tun kann, wenn es keine Teufelei ist.« Ihre Stimme war nur noch ein kraftloses Krächzen. Mit zitterndem ausgestrecktem linken Arm und allen Fingern seiner rechten Hand deutete er beschwörend auf den Boden: »Grab! Hörst du! Gleich was die Leute sagen, lass dich nicht davon abbringen! Grab!«
»Wo denn um Himmels willen? Hark, wo?« Die Finsternis und der Sturm gewannen immer mehr an Kraft.
»Unter der Türschwelle. Die Kiste, kleine Schwester. Ein Schatz. Ich hätte längst … Alles Trug. Teilt es auf in Frieden! Grab, befreie mich!«
»Ein Schatz? Unter der Türschwelle?« Marret wiederholte die Worte geistesabwesend, ihre Beine versagten und sie fiel auf den Rücken. Der Sand drang ihr in die Nase und den Mund, wehte über ihren Körper hinweg und sie fürchtete zu ersticken.
»Vor dem Haus, die Türschwelle, locker, nicht tief.« Dann ein donnerdröhnendes Lachen. »Ein Buch wird alles erklären – nicht mehr lügen, nicht mehr schweigen. Sag Antje, wie sehr ich sie liebte. Sie soll alles wissen. Und reicht es weiter noch in dreihundert Jahren, wenn die Welt sich gedreht hat, alles auf dem Kopf steht – und wenn vielleicht die Menschen fliegen wie die Vögel. Tausend Jahre, Marret, wie ein Tag! Das ist die Wahrheit, kleine Schwester!« Noch einmal beugte sich der Mann zu ihr herab, versuchte sanft über ihre Wange zu streichen. Die Kälte auf ihrer Haut schmerzte, dass sie aufschrie.
So plötzlich, wie die Erscheinung über sie hereingebrochen war, so unerwartet umgab sie jetzt inmitten des tosenden Sturms die absolute und schwärzeste Finsternis und Einsamkeit der Hölle. Sie hustete, spuckte und sank in Sekundenschnelle in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
Es dämmerte bereits, als Marret wieder zu sich kam. Auf allen Vieren kroch sie voran. Ihr Körper glühte vor Fieber, doch sie fror erbärmlich, dass die Zähne hart aufeinander schlugen. Ihr Gesicht brannte und ihre linke Schulter schmerzte. Marret besaß keine Kraft mehr, um auf die Beine zu kommen oder gar um Hilfe zu rufen. Ihre Sinne kreisten nur um ihr nacktes Überleben. Irgendwie vorwärts! Den Weg nicht verlieren! Nach Süddorf, zu ihrem Mann, Rettung!
Erst im Morgengrauen fand ihr Mann Hark Nickelsen sie jenseits des Weges inmitten der braunen Heidebüsche liegend, nicht weit von ihrem Haus entfernt. Er trug sie auf seinen Armen in die warme Stube und erregte damit im Dorf einiges Aufsehen, denn im Fieberwahn rief sie kaum bei Bewusstsein immer wieder den Namen »Hark!« und deutete über seine Schulter in Richtung Ulvsdüne. Damit war jedem klar, dass sie nicht ihren Ehemann meinen konnte. Sie hatte den Geist gesehen!
Hark Nickelsen barg seine Frau sicher und warm im Alkoven. Dort saß sie von Kissen im Rücken gestützt wie eine leblose Puppe. Halb erfroren, wie sie war, flößte er ihr vom stärksten Tee ein, den sie im Haus hatten. Es dauerte nicht lang, da schlug Pastor Mechlenburg an das Holz der Tür und begehrte Einlass.
»Marret, ich meine, hat sie ihn gesehen?«, fragte er noch atemlos. Er musste trotz seines Leibesumfanges gelaufen sein. »Das muss ein Ende haben, hörst du, Hark! Aberglaube ist Teufelei und Hexenwerk, das ausgetrieben gehört! Lass mich rein, ich will sie sehen!« Das war keine Bitte, sondern eine eiskalte Forderung. Und direkt hinter ihm drängten sich die neugierigen Nachbarn, die ihr Maul nicht halten konnten.
»Nichts ist! Verlaufen hat sie sich, ihre Handlaterne in der Dunkelheit verloren. Hier gibt es nichts für dich zu tun, Pastor!«
Breitschultrig stand Hark Nickelsen in der Tür und blickte dem Pastor finster geradewegs in die Augen. Seine Nachbarn ignorierte er zunächst. Mit dem ausgestreckten rechten Arm schob er den Pastor langsam, aber nachdrücklich von der Türschwelle. Dessen Blick ruhte unstet, seine Augenlider flackerten nervös. »Versündige dich nicht, Hark Nickelsen!«, rief er drohend aus. »Unser Schöpfer hat ohnehin ein Auge auf dich geworfen. Dein Hausstand ist ohne Kinder. Eine schwere Prüfung, Gott weiß, zu welchem Zweck und aus welchem Grund.«
Schritt für Schritt drängte Hark Nickelsen den Pastor zurück in den Kreis der umstehenden Nachbarn. »Einen Segen abzulehnen an einem solchen Tag gebührt keinem Christenmenschen. Oder hast du was zu gestehen?« Pastor Mechlenburg schaute sich Zustimmung heischend zu den Nachbarn um, die jedoch interessiert abwarteten, was geschehen würde, und keine Partei ergriffen. Mechlenburg, entschlossen, die Wahrheit aus Nickelsen herauszuholen, provozierte und sagte nun laut, dass es jedermann hören konnte: »Vielleicht erscheint deiner kinderlosen Frau der Geist Hark Olufs’, weil du mit ihm doch der Christenheit abgeschworen und in Todsünde gelebt hast!«
Die Erinnerungen an die Qualen der Gefangenschaft in Arabien standen Hark Nickelsen deutlich vor Augen und seine Wut über den stubenhockenden Pfaffen wuchs turmhoch. Sein Blick sprühte abgrundtiefen Hass und kalte Entschlossenheit. Mechlenburg hielt ihm jetzt nicht mehr stand, wich ihm aus und blickte für Sekundenbruchteile zu Boden. Der Moment des erfahrenen Kämpfers! Mit einem verdeckten, blitzschnell ausgeführten Faustschlag in die Magengrube schickte Hark Nickelsen den Pastor zu Boden. Das geschah so rasch, dass kaum jemand seine Bewegung wahrnehmen konnte und die Umstehenden erschreckt zur Seite sprangen, als der Pastor keuchend, hechelnd und pfeifend vor Schmerz und Luftnot taumelnd auf die Knie sank.
»Fürchten solltest du mich und auf deinem Kirchhof bleiben, denn das ist dein Revier, Pastor. Lass meine Frau in Ruhe und störe nicht das Angedenken meines toten Freundes!« Dann spuckte er aus und kehrte ihm den breiten Rücken zu.
»Land unter! Die Sturmflut kommt!« Erk Bohms Stimme schreckte alle auf. Die Männer und ihre Söhne liefen davon, die Boote zu sichern, die Häuser sturmfest zu machen, das Vieh in die Stallungen zu treiben. Andere hasteten wiederum zur Ulvsdüne und zum Strand, um Ausschau nach gestrandeten Schiffen zu halten. Der Geist schreckte sie nicht länger – das Jagdfieber, die leichte Beute, lag ihnen im Blut und ernährte sie auch in schlechten Tagen hier wie überall auf den Inseln. Auf Amrum gab es des Öfteren Beute, befand sich die Insel doch vorgelagert in der Nordsee, inmitten tückischer Strömungen und Sandbänke, die manches Schiff in die Hände des Klabautermanns spielten.
Hark Nickelsen störte sich nicht daran, doch er schaute sorgenvoll über seine Schulter. Seine Jolle, mit der er zum Fischen rausfuhr, lag in Steenode, und so, wie der Sturm von Osten her tobte, schien nichts mehr sicher. Doch er würde jetzt Marret nicht allein lassen. Die Nachbarn zerstreuten sich rasch, die Ungeheuerlichkeit, mit der er den Pastor angegangen war, interessierte längst keinen mehr. Reet flog von einigen Dächern, die Luft war voller Sand. Hustend rief Pastor Mechlenburg ihm seinen Protest hinterher. Als er erkennen musste, wie vergeblich sein Bemühen blieb, jemanden für seinen Fall zu interessieren, schüttelte er hilflos die Fäuste gegen den Himmel und verfluchte Nickelsen. Den ließ das völlig gleichgültig. Als hätte es den Pastor und seinen Auftritt nie gegeben, trat er einfach in die Stube und verschloss die Tür hinter sich. Mechlenburg wusste es halt nicht besser, war nie weiter als bis Kopenhagen gekommen. Einem Hark Nickelsen konnte er mit seinen Drohungen von Höllenqualen und seinen Mutmaßungen über Kinderlosigkeit nichts anhaben, hatte der die Höllenqualen bereits auf Erden in Sklavenketten erlebt. Hark Nickelsen wusste genau, nicht Gottes Fluch lastete auf ihm, sodass Marret keine Kinder gebar, sondern das war allein Menschenwerk. Er sprach nicht darüber, auch nicht mit seiner Frau. Nur mit Hark Olufs hätte er seine geheimsten Gedanken und die Qualen seiner Alpträume teilen können – und jetzt, nach dessen Tod, war er allein zurückgeblieben. Was wussten die Leute hier schon von Gott? Bildeten sich ein, ihm drohen zu können. Keine Ahnung hatten die meisten von der Welt da draußen! Nichts wussten sie von Gott, mochte einer noch so studiert sein wie Friedrich Marstand Mechlenburg und sich auf der Kanzel recken, als stünde er näher beim Herrn. Wer nicht auf Erden durch die Hölle gegangen war und dem Tod tausendfach ins Auge geblickt hatte, der konnte zwar wie ein Kind seine Hände falten und die Augen verschließen, hatte jedoch längst keine Ahnung, wie weit der Weg zum rettenden Gott sein konnte. Keine Ahnung von Gottes tausend Gesichtern, von denen am Ende eines so wahr war wie das andere. Keine Ahnung!
Hark Nickelsen heizte den Bilegger ein und bereitete eine Suppe zu. Heiße Flüssigkeit mit Salz, das könnte Marret helfen. Lorenz trat ein, der Sohn von Hark Olufs. Stand da in der Stube, eingeschüchtert, drehte seinen Hut verlegen in den Händen. Wahrscheinlich war ihm der Pastor begegnet und er fürchtete sich, seinen Onkel anzusprechen. Schließlich fragte er nur: »Stimmt es? Ich meine, hat sie ihn …?«
»Ja, sie ist ihm begegnet. Und Hark Olufs’ Geist hat uns etwas mitzuteilen.« Ihre Blicke trafen sich. Der Junge nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Wenn Marret wieder wohlauf ist, kommen wir zu euch rüber und erzählen. Im Moment wäre ich dir dankbar, wenn du nach meinem Boot schauen könntest.«
Der Junge schlüpfte wieder durch die Tür nach draußen, da rief Hark Nickelsen ihm hinterher. »Pass auf dich auf, Junge!« Lorenz beeilte sich, den Oberkörper vornübergebeugt gegen den Wind pressend, und winkte über die Schulter. »Und halte dich von der Ulvsdüne fern.« Mein Gott, wie glich der Junge seinem Freund zu der Zeit, als ihr Abenteuer begonnen hatte! Hark Nickelsen brannte darauf, der Sache mit dem Geist und seinem Schatz auf den Grund zu gehen. Aber er würde sich etwas gedulden müssen. Draußen herrschte tiefstes Wolkendunkel mit Hagel, Regen und Gewitter. Die Sturmflut stieg und tobte drei Tage, die Wellen brausten haushoch an Land und zerschlugen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Luft schmeckte nach Tang und Salz. Selbst in den Stuben brauste das tosende Element in den Ohren. Allmächtig und von nicht endendem Schrecken raubte das Unwetter in der Finsternis allen den Schlaf. Die Insulaner flüchteten des Nachts in das Kirchenschiff von St. Clement, um zu beten und Pastor Mechlenburg von Buße, dem Jüngsten Gericht und der Sintflut predigen zu hören. Das Studium musste ja einen Wert haben, denn Studierte konnten was erzählen, obwohl sie selbst nichts erlebt hatten, dachte Hark Nickelsen, der nicht vom Bett seiner Frau wich und sie pflegte. Andere hockten bei Kerzenschein eng beieinander in den Stuben und suchten Trost in den Erzählungen ihrer Vorfahren. Über Generationen lebten sie am Rand des Königreichs Dänemark, hatten hier ihre Wurzeln und nährten sich jetzt von der Zuversicht daraus für eine bessere Zukunft. Doch niemand hatte in den letzten Jahren und Jahrzehnten solches Unwetter erlebt!
In den Sturmtagen erschien der Geist von Hark Olufs drei weiteren Männern. Er sprach nicht zu ihnen, dennoch reichte die Begegnung mit dem Wiedergänger aus, auch ausgewachsenen Kerlen und vierschrötigen Seefahrern nachhaltig die Sinne zu verwirren. Später erzählte jemand, man habe das Leuchten des Geistes von der Spitze der Insel Sylt trotz der Wetterlage deutlich und unheimlich sehen können. Wie durch ein Wunder kamen während all der Tage des Unwetters keine Menschen zu Schaden. Am Morgen des vierten Tages spannte sich der Himmel weit und blau über der Landschaft, die Luft war klar und reingewaschen, dazu herrschte eine Stille, die absolut schien. Müde und zerschlagen saßen sie in allen Dörfern Amrums am Frühstückstisch, zugleich jedoch in der frohen Gewissheit, Zeugen eines ungewöhnlichen Naturereignisses gewesen zu sein und überlebt zu haben.
Marret schlug die Augen auf, lächelte ihren Mann an, als sähe sie ihn zum ersten Mal, und verlangte nach einem Frühstück. Untergehakt überquerte sie in Süddorf den breiten Fuhrweg und klopfte beim roten Haus ihrer Schwägerin an. Sie wohnten nicht nur in enger Nachbarschaft, sie waren von Kindesbeinen an wie eine Familie und standen stets füreinander ein. Dieses Vertrauen gab Marret jetzt den Mut, ihrer Schwägerin die ganze Geschichte von der Begegnung mit dem Geist von Hark Olufs zu erzählen. Hark Nickelsen holte aus der Scheune seines verstorbenen Freundes das Werkzeug und machte sich ohne weitere Erklärung daran, die Türschwelle auszugraben und den Balken zur Seite zu schaffen. Drinnen saß Marret bei Antje und den vier Mädchen und berichtete von ihrer Begegnung mit dem Geist. Es flossen Tränen der Trauer und des Mitgefühls für das Leiden des toten Ehemanns und Vaters. Lorenz wollte nichts hören von den Geschichten und ging Hark Nickelsen zur Hand. Passanten sprachen ihn an, denn sein Schiff war gesunken und schien unrettbar verloren. Sie wunderten sich, dass er jetzt nichts Besseres zu tun hätte, als die Türschwelle seiner Schwägerin auszugraben. »Die Tür schließt nicht mehr richtig. Das nächste Unwetter kommt bestimmt«, beschied Nickelsen allen knapp.
Sie brauchten nur zwei Stunden, dann stießen sie auf das Holz einer kleinen Seemannskiste. Marret hatte also nicht geträumt und es gab den Schatz wirklich! Sie bargen die Kiste am späten Abend im Laternenschein. Sie war trotz ihrer bescheidenen Ausmaße so schwer, dass ihnen die Frauen zur Hand gehen mussten. Schwere Eisenbeschläge und kunstvolle Verzierungen vor allem auf dem gewölbten Holzdeckel verrieten eine arabische Handarbeit, die es hierzulande nicht zu kaufen gab. Kein Zweifel – es handelte sich um den Schatz, von dem der Geist Hark Olufs’ gesprochen hatte, und sie würden Hark Olufs von dem Fluch befreien, als Geist auf Amrum gefangen zu sein. Sie sprachen nicht viel, doch die Aufregung, hier und jetzt etwas Bedeutendes zu erleben, das über den Verstand eines Menschen hinausging, ließ sie nicht selten sinnlose Dinge verrichten und immer wieder die gleichen Fragen stellen, die Marret zumeist nicht beantworten konnte, obwohl sie doch dem Geist wirklich nahe gekommen war. Sie suchten einen Schlüssel, fanden ihn aber nirgends. Lorenz und Hark Nickelsen gruben noch einmal vor und unter der Türschwelle. Dann brachen sie schließlich das Schloss mit einem Stemmeisen auf.
Sie hockten vor der Kiste und keiner von ihnen griff nach dem Deckel – als ob eine Leiche drin läge oder ein böser Geist aus ihr herausspringen könnte. Marret schaute auf Antje Harken, deren Gesicht weiß und deren Lippen blutleer vor Anspannung waren. Lorenz gab sich entschlossen, aber in Wirklichkeit dachte er nur an seinen Vater, und er fürchtete sich vor dem, was er jetzt entdecken würde. Die vier Mädchen saßen steif auf ihren Stühlen um den Tisch und starrten herüber. Hark Nickelsen stand auf, stellte sich vor die Kiste und erklärte: »Wir wissen ja, was drin ist – jedenfalls haben wir dank meiner Frau eine gewisse Vorstellung davon. Geld und Papiere.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Er ist jetzt frei von jedem Fluch und auf dem Weg zu seinem Schöpfer. Es gibt Harks Geist nicht länger. Sein Leiden hat ein Ende, Antje, das sei dir Trost.«
Marret griff nach dem zerstörten Schloss und alle starrten sie an, als sie den Deckel einfach aufklappte. Obenauf lagen über hundert handgeschriebene Seiten, die mit Schnur und einem Siegel verbunden waren. Ganz vorsichtig legte sie die Blätter zur Seite. Hark Nickelsen schaute ihr über die Schulter und blickte jetzt auf die bis zum Rand mit Münzen gefüllte Kiste. »Großer Gott!« Er hatte nicht mit einem solchen Fund gerechnet.
Antje hielt sich die Hand vor den Mund und lachte und weinte abwechselnd. Die Töchter lagen sich in den Armen und riefen nur: »Wir sind reich! Wirklich reich!« Sie versicherten sich das abwechselnd und immer wieder aufs Neue, als könnten sie so den traumhaften Zustand des Reichtums für immer in der Wirklichkeit verankern. Nur Lorenz interessierte sich für die Papiere. Nicht dass ihn die Münzen gleichgültig gelassen hätten, aber der Schatz des geschriebenen Wortes schien ihm schwieriger zu heben. Er nahm die Seiten und blätterte neugierig in ihnen, las sich an verschiedenen Stellen fest und gewann rasch den Eindruck, dass der Mann, den er als seinen Vater gekannt hatte, nicht unbedingt mit dem Mann identisch war, der die Blätter beschrieben hatte.
»Was sagst du?« Marret fasste Antje, die ans Fenster getreten war und sich die Tränen von den Wangen wischte, bei den Schultern. »Wir werden uns doch vertragen wegen des Geldes, oder?«
»Ich will das nicht. Uns geht es gut. Da ruht kein Segen drauf. Wenn wir wirklich Not hätten …«
»Mutter!«
Ihre Töchter protestierten, doch sie wehrte alle Einwände energisch ab. »Ich habe euren Vater geliebt, schon als junges Mädchen. Mit diesem Teil seines Lebens habe ich nichts zu schaffen.«
»Wir, das heißt Hark, mein Mann, und ich, haben uns gedacht, wir verwalten das Geld, und da wir keine eigenen Kinder haben, fällt sein gesamtes Erbe an deine Kinder, Antje. Jederzeit könnt ihr etwas davon haben in der Not und für Anschaffungen. Was hältst du davon?«
Lorenz rief nach den Frauen, die drehten sich erschrocken um und sahen Hark Nickelsen auf dem Boden vor der Kiste hocken und ohne Unterlass mit dem Oberkörper vorwärts und rückwärts wippen. Sein glasiger Blick war in weite Ferne auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet, ohne etwas wahrzunehmen. Mit halblauter Stimme brabbelte er arabische Laute, die niemand im Raum verstand, dann plötzlich griff er mit beiden Händen nach den Münzen, ließ sie wie Wasser wieder zurück in die Kiste fallen und rief dann ganz deutlich, fast schreiend: »Blut! Blut! Blut überall!« Antje Harken schickte ihre Töchter, die bleich vor Schreck weinten, ins Nachbarzimmer.
Marret befahl Lorenz: »Schnell, bring Schnaps, Rum oder irgendetwas!« Zur Schwägerin gewandt: »Ihr habt doch was im Haus?«
Lorenz packte seinen Onkel beim Oberkörper, seine Frau hielt ihn bei den Armen, während Antje Harken ihm in mehreren großen Schlucken den Schnaps einflößte.
»Es sind die Alpträume. Sie kommen immer wieder. Er muss viel Schreckliches erlebt haben in der Sklaverei und während der Zeit auf See«, sagte Antje Harken voller Mitgefühl. »Mein Mann ist ebenfalls häufig des Nachts von Angstfantasien aufgeschreckt und umhergegangen.«
Hark Nickelsen beruhigte sich rasch. Der Alkohol lief ihm übers Kinn auf die Brust. Er atmete schwer, kam jedoch wieder zu sich.
»Hör zu! Ich will nichts von dem Schatz. Habe mein Auskommen – Hark hat gut für uns gesorgt. Es klebt Blut daran und ich will nichts davon wissen. Von dem Geld nicht und nicht von den Papieren. Versprich mir, dass ihr für die Kinder sorgt und alles gut verwaltet.«
Hark Nickelsen füllte die Münzen in viele kleine Lederbeutel und nahm sie in Gewahrsam. Lorenz, Marret und er zählten sie zuvor am Küchentisch. Es war die unvorstellbare Summe von nahezu fünfzigtausend Mark, zweihundert arabischen Goldtalern und tausend Piastern. Niemand auf der Insel, wahrscheinlich kaum jemand im ganzen Königreich Dänemark, hatte jemals so viel Geld aufgehäuft gesehen! Während Hark Nickelsen und seine Frau kauften, investierten und spekulierten, um den unfassbaren Reichtum zu vermehren, interessierte sich Harks Sohn vor allem für die Aufzeichnungen seines Vaters. Nachdenklich beobachtete ihn Antje Harken, wie er so dasaß in der Ofenecke, vertieft in die Papiere, den Blick für seine Umgebung verloren. Längst war er kein Kind mehr. Kaum aufgefallen war es Antje Harken, dass aus ihrem einzigen Sohn ein Mann wurde.
»Bist du wirklich schon sechzehn?«
»Was fragst du, Mutter?« Lorenz sah sie erstaunt an. »Ich fahre jetzt seit zwei Jahren zur See und werde es nun wohl mit dem Geld des Vaters bis zum Kapitänspatent bringen.«
Antje Harken nickte nur, denn alle ihre Ängste, Bedenken und Pläne, ihn vom Meer und seinen Gefahren fernzuhalten, wären ohnehin von ihm als Weibergeschwätz vom Tisch gewischt worden. Daher sagte sie nur: »Das Geld und das Kapitänspatent sind mir gleichgültig. Als Sohn bist du mir lieb, wie du bist, und am liebsten wäre es mir, ich müsste mich nicht sorgen. Nur um eines bitte ich dich. Kein Wort zu niemandem über die Papiere. So wie Arabien ihn verschlungen hat, wird uns die Wahrheit seiner Lebensbeichte hier in den Abgrund reißen. Wenn irgend jemand erfährt, was er wirklich erlebt und wie er darüber gedacht hat, können wir alle hier nicht mehr leben. Bitte gib die Papiere nicht aus der Hand, sprich nie davon und versteck sie, wenn du alles gelesen hast, an einem sicheren Ort. In dreihundert Jahren vielleicht wird man Hark verstehen.«
Ernst blickte der sechzehnjährige Sohn seiner Mutter in die Augen. Sie vertraute ihm und er war stolz darauf. »Ich verspreche dir, nichts, was in diesen Papieren steht, wird mich an Vater zweifeln lassen, und ich werde dafür sorgen, dass niemand von den Papieren und ihrem Inhalt erfährt.« Dann nahm er die Blätter wieder auf und begann zu lesen.
Mein Gott, im Angesicht meines nahen Todes scheint es mir, als hätte ein anderer mein Leben gelebt und ich hätte ihm dabei zuschauen müssen. Es ist wahr, ich habe mir mein Leben nicht gewählt, ich wurde von einem Leben erwählt und musste damit fertigwerden, im Guten wie im Schlechten. Ich denke, der Tod wird mich eines Tages auch nicht nach meinen Plänen fragen und mich einfach hinterrücks morden.
Amrum, in der West-See liegend und zum Stifte Ripen in Jütland, Königreich Dänemark gehörend, im Jahr des Herrn 1754. Mein Name ist Hark Olufs aus Süddorf und mein abenteuerliches Leben währte bis heute 46 Jahre. Ich schreibe dies, um der Wahrheit standzuhalten, in der Hoffnung, dass man mich versteht, wenigstens später einmal.
Man nennt mich einen Helden, einen Türkengeneral, siegreich aus großen Schlachten hervorgegangen. Man zieht den Hut vor mir, verneigt sich vor meinem Geld, fürchtet mich vielleicht sogar wegen meiner Andersartigkeit. Es sind eigens Männer nach Amrum rausgekommen, um mich in meiner Türkenhose zu bestaunen und Gott weiß was über die Schönheit orientalischer Frauen zu hören. Ich habe ihnen allen die Geschichten erzählt, derentwegen sie mich aufgesucht haben, gar den Pastoren ihre Seelenruhe gegeben, versichert, es sei allein unserem Christengott zu verdanken, dass ich überlebt habe und jetzt zu seinem Ruhm ein gottgefälliges Leben führe und ihn preise. Einer verfasste sogar eine erbauliche Geschichte aus meinem Leben und ich führte ihm die Feder dazu. Jedes Wort, das ich erzählte, war die reine Wahrheit, aber eben nicht die ganze Wahrheit. Mein Leben ist wie ein tausendfach geschliffener Kristall, der funkelt und spiegelt, je nachdem von welcher Seite man ihn beleuchtet. All die vielen Seiten hier sind gleichermaßen nichts weiter als Lug und Trug. Niemand kann aufrichtig ein Leben in zweihundert, dreihundert Seiten pressen – was wäre das für ein armseliges Dasein! Und schon gar nicht lässt sich mit der Wahrheit handeln – sie zu Geld machen, sich Freunde erwerben und die Gunst der Mächtigen.
Ich habe mit der halben Wahrheit gespielt. Was ich verschwiegen habe, lastet schwer auf mir. Ich bin kein Heiliger! Ich habe die Ehe gebrochen, geschworen mit dem festen Vorsatz, den Schwur bei nächster Gelegenheit zu brechen, und gleiche eher Petrus in der Stunde, in der er den Herrn dreimal verleugnet hat, ehe der Hahn krähte. Ich bin kein Held! Zu viele sind von meiner Hand und durch meinen Befehl gestorben. Gnadenlos war ich auf meinen Vorteil und mein Überleben bedacht. Nur wer keine Skrupel kennt und ohne einen Moment des Zögerns über Leben und Tod entscheidet, kann zu Macht und Ansehen gelangen. Die Toten sind stumm und klagen nicht an.
Ich bin sicher, dass solche Sünden jene sind, die mit einer Prise Buße auf Erden mit leichter Hand vergeben werden. Doch selbst die schlimmste aller Todsünden habe ich zu bekennen: Gott nicht zu ehren und andere Götter neben ihm anzubeten. Ich kenne nur einen Gott, der im fernen Arabien Allah heißt und dessen Sohn auf Amrum Jesus Christus ist. Nur einen Gott, zu dessen Heiligtum ich bis nach Mekka gepilgert bin und mit dessen Segen man mich hier zweimal christlich getauft hat. Er hatte für mich stets das gleiche Gesicht.
Heute scheint mir, mein Leben wäre anders verlaufen, wenn unser Schiff nur einen Tag später ausgelaufen wäre, wenn wir dem Zweiten Gesicht und der bösen Ahnung der Großmutter geglaubt hätten. Doch nichts in unserem Leben ist vorbestimmt, alle Begebenheiten sind eine Kette von Zufällen, gegen deren Grausamkeiten wir aufbegehren. Dennoch ist man geneigt, in der Rückschau alles für eine Fügung oder gar eine Gottesprüfung zu halten, um gerade den außergewöhnlichen Dingen einen Sinn zu geben. Auch auf mich trifft das zu, während ich an einem Tisch mit Leinentuch und zierlichem Teegeschirr sitzend schreibe und versuche, mir den Schrecken beim Anblick der aus dem Nebel auftauchenden schmutzigen Segel des Piratenschiffs vorzustellen. Für einen Moment hing unser aller Leben in der Schwebe, waren wir alle noch Schiffer aus Amrum, bereit, unsere Ladung in Hamburg zu löschen und unser selbstzufriedenes Leben weiterzuführen. Dabei hatte im selben Moment der Zufall alles entschieden – über die einen bereits ihr Todesurteil gefällt und die anderen zu einem Leben verdammt, das sie sich nie erwählt hätten. Man spricht von Schicksalsschlägen, von gottgewollten Prüfungen, dabei handelt es sich nur um einen Zufall. Ein Zufall, der aus einem Fünfzehnjährigen einen Mörder, aus einem Christen einen Muslim macht.
Ihr wollt alles lesen? Die ganze Geschichte? Vielleicht juckt es euch, euch in Gefahr zu begeben, gar auf meinen Spuren nach Constantine ins ferne Algerien zu reisen? Ich warne euch. Das Land wird euch verschlingen und ihr seid nicht mehr dieselben. Eine Rückkehr gibt es nicht, sogar wenn ihr nach vielen Jahren wieder euren Heimathafen anlauft. Selbst die Erinnerung an schöne Tage wird euch Schmerzen und Qualen bereiten. Macht, was ihr wollt – ich schreibe die Geschichte nur für mich und meine Seele. Im Namen des Dreieinigen, des Gottes, des Vaters und des Sohnes! Lâ ilâha illâ llâh; Muhammadan rasûlu llâh![2]
Mit dem Wind im Gesicht stapfte ich den Dünenweg hinauf. Da schrie jemand hinter mir her. Ein Mädchen. Es war Antje Sörensen, die Tochter des Steuermanns Lorenz Wögens und seiner Frau Jung Ellen aus Süddorf. Sie winkte mir mit beiden Armen. Ich wusste nichts damit anzufangen, wollte lieber allein sein am letzten Tag vor meiner Abreise, winkte zurück und ging jetzt auf der anderen Dünenseite abwärts zum Strand, wo Holz und Abfälle zu kleinen Pyramiden aufgeschichtet bereitstanden, um zum jährlichen Biaken[3] in die Dörfer geschafft zu werden. Auf dieser Seite der Düne konnte ich sie nicht mehr sehen, wusste jedoch, sie war da, hatte mir gewinkt, und ich hätte wenigstens warten sollen. Vorbei war es mit der Strandeinsamkeit, meine Gedanken kreisten um sie, wie sie hinter mir hergekommen war und gewinkt hatte. Ich schalt mich einen Narren: Mädchen! Was hatte ich noch mit dem allem zu schaffen, den Mädchen, dem Biaken? Morgen wäre ich wieder für Monate weg von zu Hause und auf dem Schiff. Doch jeder Schritt fiel mir schwerer, als ginge ich in Ketten. Bis auf wenige Wachen, die jedes Dorf zurückgelassen hatte, damit niemand das aufgeschichtete Holz vorzeitig anzünden konnte, denn das war ein beliebter Wettstreit, war der Strand verlassen. Ich grüßte ein paar bekannte Gesichter aus der Ferne und lief, als gälte es, etwas Wichtiges zu besorgen, nur um nicht angesprochen zu werden.
Weiter Richtung Süden gehörte der Strand mir allein. Doch der Wind blies mir fletzig ins Gesicht. Die Haut spannte und brannte. Ich lief auf den Kniepsand zu, der sich wie eine kleine Insel aus der Flut erhob. Die See riss ihr geiferndes Maul auf und rollte heran, schäumte tosend vor meinen Füßen und trug einen eiskalten Hauch aus der Tiefe. Der nasse Sand funkelte im faden Sonnenschein wie tausend winzige Eiskristalle. Ich schaute raus auf das brüllende Wasser, dessen eisige Kälte mich schon beim Anblick frösteln ließ. Was wollte ich hier allein? Ich stapfte Muster in den glatten, gewaschenen Sand. Ich spürte, wie die Füße kalt wurden, schüttelte sie aus, hüpfte abwechselnd von einem Bein auf das andere und schlug mit den Armen um den Oberkörper, um wieder warm zu werden. Verdammt, was wollte ich hier? Ab morgen würde ich wieder eingesperrt sein in der Enge der Schiffswanten mit ein paar Schritten zwischen Backbord und Steuerbord – war die Strandeinsamkeit die richtige Art, den letzten Tag zu verbringen? Ich grinste, als ich an meine Freunde dachte, die ganz sicher anderes im Sinn hatten. Was hatte Nick geflüstert von Rum und feurigen Weibern? Angeber, alter Aufschneider! Wenigstens den Rum würde er besorgt haben. Zurück in Süddorf, um noch einmal meinen Seesack zu prüfen, dass ja nichts fehlte, würden er und seine Kumpanen schnarchend in der Ecke liegen und morgen stinken wie eine Kloake. Morgen, morgen …
Da rief mich Antje erneut. Sie rief: »Hark!« Und noch etwas, was vom Wind und dem Tosen der Wellen verschluckt wurde. Ich entdeckte sie oben auf einer Düne. Ihre blonden Haare wehten im Wind und schlugen ihr immer wieder in Strähnen vors Gesicht. Ich verließ den Meeressaum, ging ein paar Schritte strandeinwärts und blickte zur Düne hoch. Antje war allein und kam jetzt heruntergelaufen, direkt auf mich zu. Sie war den ganzen Weg hinter mir her gelaufen. Nur meinetwegen. Ich verbat mir jeden weiteren Gedanken in diese Richtung. Morgen würde ich nicht mehr hier sein. Morgen … Aber vielleicht wäre sie ein guter Grund, Heimweh zu haben, sich nach einer baldigen Rückkehr zu sehnen und nicht nach Abenteuern.
»Das Wasser ist verdammt kalt!«, schrie ich ihr entgegen, als sie näher kam, und schämte mich dafür. Verdammt kalt – verdammt einfallslos.
Ihre Augen zu scharfen Schlitzen zusammengepresst, lief sie gegen den Wind und stand dann neben mir. »Nimmst wohl schon Kurs.«
»Nee, ist doch nichts Aufregendes. Ich meine, nur so ’n Handelsschiff. Könnte ich genauso gut dableiben.« So war ich damals, fand das alles nicht zu bedeutend, meinte, fast alles besser machen und alle Abenteuer bestehen zu können, wenn man mich nur ließe. Wollte sagen, wenn ich mit den Walfängern aus der Nachbarinsel Föhr auslaufen würde, angetan mit Nagelschuhen das Harpunieren lernen und mein Leben riskieren bei dem gefährlichen Handwerk, ja, dann hätte ich ganz sicher Kurs genommen, aber so? Schiffsjunge auf einem Handelsschiff! Gesagt habe ich schließlich nichts, nur meine Gedanken verschluckt und blöd und aufgeblasen dagestanden.
»Kannst ja dableiben, ich gäbe was drum, fahren zu dürfen«, erwiderte sie halblaut, ein wenig traurig, und ich blickte ihr ins Gesicht, sah ihre Lippen, spröde und rau vom Wetter und Salz in der Luft, und ihre rotgefrorenen Wangen.
»Ich habe mir den Knöchel verstaucht, als ich gerade die Düne runter bin«, sagte sie. »Könntest du mal nachschauen, ich glaube, der Knöchel wird dick.«
Und was, wenn ich nachschaue und der Knöchel tatsächlich dick wird?, dachte ich. Bin ich Arzt? Ich schaute ein wenig hilflos drein, zögerte, mir war das Ganze peinlich. Ich war nicht der Typ, der Mädchen den Rocksaum anhob, um ihre nackten Waden zu berühren. Antje wartete und ihre Augen sprangen unruhig hierhin und dorthin. Schließlich hob sie die Röcke vorn höher, als es erforderlich gewesen wäre, und mein Blick konnte sich nicht von ihren weißen Oberschenkeln losreißen.
»Nun, siehst du was?«
Ich fühlte, wie ich vor Verlegenheit rot wurde bis über beide Ohren. Ging rasch auf die Knie und schaute so intensiv auf ihre Füße, dass ich dort noch jeden Sandfloh ausgespäht hätte, nur um nicht wieder auf ihre bloßen Schenkel starren zu müssen. »Quatsch, der Knöchel ist völlig in Ordnung.«
»Wenn du das sagst, muss es ja stimmen!« In ihrer Stimme klang ein wenig Spott mit. Sie hatte kleine, kräftige Füße, schlanke Waden. Für einen Moment vergaß ich mich, strich zart mit dem Handrücken von der Kniekehle über die Waden bis zu den Füßen, wischte den Sand von der zarten Haut. Sie sagte nichts, hielt noch einen winzigen, unschicklichen Moment still, dann ließ sie ihre Röcke fallen – und vorbei war der Zauber.
Danach ging sie mit mir am Strand entlang und ich guckte, ob nicht am Kniepsand etwas zu entdecken wäre, worüber man reden könnte. Ich fand nichts. Kein Strandgut, nicht einmal irgendeinen winzigen Abfall, nichts. Nur Möwen, vier, fünf und in Schwärmen. Die waren aber wie die Landschaft und bedurften keiner Erwähnung. Weiter hinten die Pyramiden fürs Biaken. Darüber könnte man reden. Aber wie anfangen? Ich blickte verstohlen zur Seite. Antje bemerkte es, schaute mich mit ihren großen blauen Augen an, lächelte, und ich sagte nur verwirrt: »Das wird schöne Feuer geben dieses Jahr. Haben viel zusammengetragen.«
»Sieht so aus. Wenn niemand das Holz vorher abfackelt und die Mühe umsonst war.« Sie wirkte geradezu ausgelassen entspannt.
»Und dein Knöchel? Wollen wir lieber zurück?« Mein Gott, hatte ich wirklich wir gesagt? Ich spürte, wie meine Ohren heiß wurden, und setzte, so gut es ging, möglichst gleichgültig hinzu: »Ich begleite dich gerne.« Dann kam mir die Frage, die ich eigentlich schon längst hätte stellen wollen: »Warum bist du hinter mir hergelaufen? Ich dachte schon, du könntest mich nicht leiden.«
Jetzt blinzelte sie verlegen zur Seite: »Nur so.«
»Nur so? Den ganzen Weg von Süddorf hier raus?«
Sie antwortete nicht mehr darauf und ich bückte mich nach einer länglichen blauschwarzen Muschel, die noch geschlossen war. »Vielleicht ist eine Perle drin. Ein Schatz, was meinst du?«
»Nicht doch, wirf sie zurück ins Meer. Das bringt dich rasch wieder zurück.« Antje wurde zusehends verlegen.
»Ist dir das wichtig?« Wieder ein scheuer Seitenblick von mir. »Du glaubst dran?«
»Du bist mir wichtig. Warum, meinst du, bin ich sonst den ganzen Weg rausgelaufen zu dir?« Jetzt war’s raus, endgültig. Ich hatte keine Erfahrung mit solchen Dingen. Ich lernte nun seit zwei Jahren den Beruf des Schiffers und an Bord gab es für Gefühle dieser Art keinen Platz. Wie ein Kiesel flog die Muschel flach und weit durch die Luft auf das offene Meer. Eine Möwe drehte plötzlich ab und schnappte im Sturzflug nach der Muschel.
»Zählt die Möwe auch für meine Rückkehr oder muss die Muschel überleben?«
Antje lachte über den Zwischenfall.
»Wenn du das so lustig findest, werde ich wohl in einer Woche wieder zurück sein.«
»Ach du.«
Der Wind flaute ab und die Sonne gewann noch einmal an Kraft und wärmte sogar ein wenig. In einer Sandkuhle zwischen zwei Dünen gruben wir uns zum Schutz vor der Kälte ein, lagen jetzt nebeneinander und blickten über den Rand Richtung Kniepsand. Ein schläfriger Winter, kaum Stürme, die weißen Wolken, jetzt am blauen Himmel aufgehängt, spazierten träge Richtung Festland. Wir redeten kaum, unsere Gegenwart war uns genug. Mein Herz wurde still, meine Gedanken ruhig, und ich hätte ewig neben ihr liegen mögen und den Möwen auf Krebsjagd zuschauen können. Sie hockte sich auf ihre Fersen. »Mir wird kalt.«
Ich schaute sie an, ihre weichen Gesichtszüge, die hellen blauen Augen, ihre vom Wind zerzausten hellblonden Haare, schaute sie an, wie ich es noch nie getan hatte. Sie schien mir auf eine Art schön, dass ich sprachlos wurde. Dabei kannte ich sie schon immer, wohnten wir doch Tür an Tür.
»Ich muss bald denken, ich gefalle dir nicht.« Ihre Stimme flüsterte, war jedoch deutlich genug, um nicht vom Wind verschluckt zu werden. Ich spürte, dass jetzt etwas geschehen musste, mein Herz schlug schneller, aber mein Kopf war ein einziger Hohlraum, in dem es jetzt aufgeregt brauste. »Ich will mich nicht aufdrängen, hörst du?« Antje machte Anstalten aufzustehen, wirkte mehr enttäuscht als verärgert.
»Warte. Bitte sei mir nicht böse.«
Sie zögerte, schaute auf mich herunter, wie ich so dalag, schaute mit einem wissenden Blick, so wie sie ein interessantes Insekt beobachten würde. Ich versuchte es mit der Wahrheit, da ich mir dachte, das sei ich ihr schuldig. »Weiß nicht, was ich machen soll. Ich bin halt so. An Bord wird nicht viel geredet über so was. Ich hatte noch kein Mädchen.« Jetzt raste mein Herz. Sie würde doch nicht lachen und mich für einen uninteressanten Angsthasen halten? Aber sie blieb hocken in der Sandkuhle, hatte nur Augen für mich, ihr Blick war eine einzige Frage.
Ich hatte bloß Angst, etwas falsch zu machen. Doch der Druck wuchs in mir mit jeder Sekunde des Schweigens, des Verharrens, des Schauens. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, schnellte hoch, griff mit beiden Händen nach ihrem Kopf, presste meine Lippen auf die ihren, die sich ein wenig öffneten und mir zu meiner Überraschung entgegenkamen. Ich schmeckte das Salz auf ihren Lippen. Sie roch nach Seife und am liebsten hätte ich sie eng an mich gepresst, geküsst, gestreichelt, ohne jemals aufzuhören. Doch mit einem Ruck riss ich mich los, atemlos geworden und stolz zugleich, dass ich mich getraut und sie geküsst hatte. Eine sanfte Brise kühlte den Kopf. Antje schob ihre Hand unter meinen rechten Arm, der jetzt beschäftigungslos neben dem Körper pendelte wie eine offene Frage. Ich spürte den Druck ihrer Finger und fand endlich meine Sprache wieder: »Ich habe dich schon immer gemocht, Antje. Ich habe bloß nicht gewusst, dass du so hübsch bist.«
Antje sprang auf und zog mich ausgelassen hinter sich her, um sich mir im nächsten Moment überraschend an die Brust zu werfen, ihre Unterarme eng um meinen Nacken geschlungen, um meinen Mund und die Wangen mit kleinen Schmetterlingsküssen zu überschütten. Dann sprang ich wie wild geworden mit meinem Herz um die Wette und vollführte vor überschäumender Lebensfreude Purzelbäume auf dem Strand.
Wie selbstverständlich überließ sie mir ihre Hand, die ich fest umschloss. Sollten es nur alle sehen, dass Antje zu mir gehörte! Vor dem Ortsrand von Nebel zog sie mich hinter eine Scheune. Es dunkelte schon, wir waren spät dran. Ich wunderte mich noch, wollte sie wieder küssen, doch sie knöpfte ihr Kleid oben vom Hals bis zur Brust auf, nahm das Schultertuch ab, griff dann nach meiner rechten Hand und schob sie langsam unter den Kleiderstoff. Ich fühlte ihre kleine Brust, wie sie sich warm und weich in meine Handfläche schmiegte, fühlte, wie sie heftiger atmete, fühlte meine eigene Erregung, wusste nicht wohin. Dann flüsterte sie zärtlich: »Das ist mein Geschenk für dich, damit du mich nicht vergisst. Ich liebe dich, Hark Olufs, obwohl ich zu jung dafür bin und nichts davon verstehe. Ich verspreche dir, dass ich dich immer lieben werde.«
Ich schluckte, streichelte mit dem Daumen ganz zart ihre Brust. Sie kicherte, es schien sie zu kitzeln.
»Du wartest auf mich, ganz bestimmt?«
»Ich gehöre nur dir. Und du bleibst mir treu.« Es folgten noch weitere Liebesschwüre und verzweifelte Küsse, getrieben von Leidenschaft, Erregung und dem wachsenden Abschiedsschmerz.
Schließlich schob Antje mich mit ihrer rechten Hand von sich, knöpfte sich das Kleid wieder zu und sagte mit noch etwas unsicherer und leiser Stimme: »Nun lauf schon zum Kirchhof. Ich warte auf dem Weg auf dich. Mach, bevor es ganz dunkel wird.«
»Woher weißt du?« Ich war verblüfft.
»Hark, ich weiß vieles über dich. Zum Beispiel, dass du am Abend vor deiner Abreise zum Friedhof gehst, um Abschied zu nehmen. Ich liebe dich schon lange.«
Ich lief also voraus zur St.-Clemens-Kirche, die geduckt ohne Kirchturm und Glocken auf dem Gottesacker stand. Das Wattenmeer dahinter lag schon im nachtschwarzen Nebel. Fröstelnd stand ich am Grab meiner Mutter Marret, die vier Wochen nach meiner Geburt gestorben war und an deren Tod ich mich als Kind immer schuldig gefühlt hatte. Meinetwegen hatte sie ihr Leben gelassen. Das lastete wie eine schwere Verpflichtung auf mir, und Vater ließ es mich mehr als einmal spüren, wenn ich seinen Vorstellungen nicht entsprach oder über die Stränge geschlagen hatte. Ich stand jetzt dort, starrte auf den Grabstein, dessen Buchstaben in der Dunkelheit nicht richtig zu entziffern waren, und dachte nur an Antjes Brust in meiner rechten Hand, an unsere Küsse, an das Versprechen. Ich seufzte, bat schließlich meine Mutter um ihren Segen für diese Liebe und meine Heimkehr, bekreuzigte mich und trat seitwärts an das Grab meines älteren Bruders Peter Olufs, der vor vier Jahren plötzlich gestorben war und nicht einmal so alt hatte werden dürfen, wie ich heute war.
Ihm gegenüber fühlte ich mich verpflichtet, denn seit seinem Tod genoss ich Vaters Aufmerksamkeit und Gunst als einziger Sohn. Sein Tod hatte mich für die Familie wertvoll gemacht und man begegnete mir das erste Mal in meinem Leben mit mehr zärtlicher Aufmerksamkeit und Besorgnis als mit Strenge. Das hatte ich Peter, meinem Bruder, zu verdanken, der Platz gemacht hatte für mein Leben, und ich würde ihm, der manche Begabung zum Seefahrer gehabt und in dem jeder den zukünftigen Kapitän gesehen hatte, zum Dank keine Schande machen. Sein Tod verpflichtete mich zum Erfolg, obwohl ich manchmal zweifelte, ob ich an Bord des Handelsschiffs meines Vaters glücklich werden würde.
Da stand ich nun und vollzog das alljährliche Ritual, indem ich die Hände faltete und meinen Bruder einfach um Kraft und Verstand bat und darum, dass er mich vor allem Unglück und bösem Fieber bewahre. Die Zwiesprache mit dem Toten fiel kurz und rasch dahingemurmelt aus, denn ich sah Antje bereits am Friedhofstor warten.
Mein Vater Oluf Jensen erwartete mich bereits in der Tür mit der Handlaterne in der Hand. Er blickte Antje verstimmt hinterher, die artig knickste, grüßte und sich jetzt beeilte, nach Hause zu kommen. »Weiberröcke«, knurrte er, »bisschen früh für so ’n Kram, mein Sohn.«
Ich hätte gern etwas erwidert, hielt es jedoch angesichts der Tatsache, dass ich mich den ganzen Tag herumgetrieben hatte, für ratsamer zu schweigen. Da torkelte auf dem Sandweg mitten durchs Dorf ein Betrunkener und sang laut und schräg Seemannslieder der anzüglichen Art, wenn man die Katzenlaute für Gesang halten mochte.
»Jens! Jens Nickelsen! Brauchst du Hilfe?«, rief ich dem älteren Bruder meines besten Freundes zu. Statt einer Antwort fiel er auf die Knie und begann zu würgen.
»Lass ihn. Der findet schon nach Hause«, sagte mein Vater, fasste mich bei den Schultern, und ich wusste, spätestens jetzt war das kleinere Übel, die Weiberröcke, abgehakt. »Die Gundel ist krank. Du sollst noch Sachen für den Kapitän mit an Bord nehmen und sie will dich sehen.« Im Stehen nahm ich vom aufgewärmten Haferbrei auf dem Ofen, trank vom Tee und folgte meinem Vater zu meiner Schwipptante, wie ich sie nannte. Sie war die Frau meines Patenonkels – also irgendwie mit mir verwandt, wie so ziemlich jeder mit jedem verwandt ist auf unserer Insel – spätestens im Vollrausch oder wenn es etwas zu feiern gibt, erinnert man sich heftigst an irgendeinen Grad der Verwandtschaft. Das hat auf Amrum Tradition.
Meine Schwipptante mochte damals schon um die sechzig Jahre alt sein, hatte einen Narren an mir gefressen und vertrat – wie sie meinte – meine verstorbene Großmutter. Denn Großeltern seien wichtig für das Leben und die Einsichten junger Leute, fand sie. Sie war häufig krank und verlangte noch häufiger, mich zu sehen. Daher dachte ich mir nichts dabei, als mein Vater und ich vor dem schmucken Haus standen und anklopften.
Sie saß aufrecht im Bett, gestützt von dicken Kissen im Rücken. Ihre weiße Haube mit fein gewirkten Spitzen klebte ihr schweißnass am Kopf. Das Bett stand zwar in der Ecke des Raumes, dennoch spürte ich sofort, dass sie der Mittelpunkt des Hauses, der Anlass für alle hier Versammelten war. Ihr Blick richtete sich in eine weite Ferne, kam zurück, dann wanderten der linke und rechte Augapfel in unterschiedliche Richtungen, dass niemand mehr zu sagen gewusst hätte, wohin sie schaute und ob sie überhaupt noch etwas sah. Speichel tropfte ihr vom Kinn, denn der Mund stand schief in den Gesichtszügen und schloss nicht mehr richtig. Ich blickte in ein vertrautes und doch fremdes, unbekanntes Gesicht, die seltsam fratzenhafte Maske voll Hoffnungslosigkeit und Erschrecken. Ihre Lippen bewegten sich jetzt schnell, als sie den Kopf hin und her warf, und dumpfe, stöhnende Laute erfüllten die Kammer wie das Heulen eines Sturms.
Ich versuchte wegzuschauen, nahm die Kräuterbüschel wahr, die man zur Abwehr von Krankheiten unter die Zimmerdecke gehängt hatte, roch ein Gemisch aus Schweiß und Schnaps. Tatsächlich standen neben der Tür, durch die wir eingetreten waren, mehrere leere Flaschen. Hierzulande heilte man mit Hochprozentigem, trank bei Krankheit, um die schlechten Körpersäfte zu besänftigen, rieb schmerzende Gelenke und den Rücken ein. Es gab Menschen, die behaupteten, Insulaner würden bei jeder Gelegenheit in Schnaps baden, innen wie außen, und bei Lichte betrachtet, je älter sie würden, desto mehr bestünde ihr ganzer Körper aus Schnaps. Das war natürlich eine Lüge, zumindest eine grobe Übertreibung, denn hochprozentiger Alkohol war, selbst in eigener Herstellung, teuer genug, um nicht der alltäglichen Maßlosigkeit anheimzufallen. Andererseits war niemandem bekannt, dass der Aderlass der Doktoren auf dem Festland größere Erfolge und weniger Todesfälle zur Folge gehabt hätte. Auf den Inseln jedenfalls hielt man die vom Festland deswegen durchweg für blutleere Geschöpfe. Ausnahmen bestätigten die Regel.
Doch ehe ich meine lebensphilosophisch-medizinischen Betrachtungen bis zu irgendeinem Ende verfolgen konnte, machte Gundel Erken eine schwache Kopfbewegung, richtete ihre Augen mit großer Aufmerksamkeit abwechselnd auf mein und meines Vaters Gesicht und hatte dabei den ungläubigen, verzweifelt flehenden Ausdruck eines erschreckten Kindes, das sich allein und verlassen im Dunkeln eingeschlossen fand. Ihr Mund öffnete und schloss sich, ihr Atem ging rasselnd. Plötzlich schluchzte Gundel Erken mit herzerweichender Stimme lauthals auf: »Mein Gott, der Junge, der Junge! Verloren alles! Seine Liebe, seine erste Liebe, seine Heimat, große Gefahr! Mein Gott!« Ihre langen knochigen Hände zogen die Decke bis unters Kinn, als gälte es, Eis und Schnee abzuwehren. Einzelne Tränen, große dicke Tränen, quollen ihr aus den Augenwinkeln und fielen wie Regen auf die Wolldecke. Ich fühlte, wie sich eine quälende Angst mit beklemmendem Druck auf mein Herz legte. Woher wusste sie von Antje, wo ich selbst bis vor wenigen Stunden nichts von der Liebe zu sagen gewusst hätte? Mit der Gefahr, von der sie sprach, und der verlorenen Heimat meinte sie mich, ausschließlich mich!
»Sie hat das Zweite Gesicht! Sie blickt in die Zukunft! Wir sind verloren!« Die Stimme kam aus dem hintersten finstersten Winkel der Stube. Erst jetzt bemerkte ich Jürgen Oksen aus Föhr, der morgen mit an Bord gehen würde und schon am Tag vorher angereist war, um bei uns zu übernachten. Sein weißes Gesicht und die weit aufgerissenen Augen starrten auf die Bettstatt mit der alten Frau.