Die Stunde der Räuber - Udo Weinbörner - E-Book

Die Stunde der Räuber E-Book

Udo Weinbörner

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Beschreibung

In „Die Stunde der Räuber“ geht es um Schillers Verlust der Kindheit, die Unfreiheit, aber auch um Freundschaft, Liebesrausch und Aufbegehren – die schwierigen Anfangsjahre des Dichters … Unterhaltsam, kenntnisreich und zugleich spannend erzählt Weinbörner von den Jugendjahren Schillers bis zur Erstaufführung der Räuber und den Anfangsjahren als freier Schriftsteller in seiner Mannheimer Zeit. „Die Stunde der Räuber“ von Udo Weinbörner ist die stark überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des Erfolgsromans „Schiller – Der Roman“ (Langen-Müller-Verlag, München, 2004) als zweibändige Taschenbuchausgabe. Jeder Band für sich ist ein abgeschlossener historischer Roman.

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Die Stunde der Räuber

Der Schiller-Roman

Roman

Udo Weinbörner

Fehnland-Verlag

Erstausgabe

Alle Rechte beim Verlag

Copyright © 2019

Fehnland-Verlag

26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

Cover-Design: Tom Jay (www.tomjay.de)

unter Verwendung des Gemäldes "Schiller als Regimentsarzt" von Philipp Friedrich von Hetsch (im Besitz des Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar)

Gedruckt bei Bookpress.eu in Polen

9783947220328

Ich bin nicht tot,

tausche nur die Räume,

Inhalt

Erstes Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Zweites Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Drittes Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Danksagung

Der Not ge­hor­chend,

nicht dem eige­nen Trieb.

(Schil­ler: Die Braut von Mes­sina, Ein­gangs­szene)

Und setzt ihr nicht das Leben ein,

nie wird euch das Leben ge­wonnen sein.

(Schil­ler: Wallen­steins Lager, 11. Auf­tritt)

Erstes Buch

Kapitel 1

»Und wenn er schon weg ist?«, El­wert war un­gedul­dig, mochte nicht zu spät kommen. Die Sonne brann­te am frühen Morgen schon vom Himmel herab, sodass einem selbst das kühle Schul­ge­bäude als vor­stell­bar er­schei­nen konnte, und sei es um den Preis eines lang­weili­gen Vor­mit­tags. Fritz und sein Freund El­wert lun­gerten auf der Land­straße herum, und ihr Weg führte sie keines­wegs zum Reli­gions­unter­richt, bei dem ihre Auf­merk­sam­keit nur durch die Furcht vor drasti­schen Be­stra­fungen durch Dekan Zil­ling auf­recht ge­halten werden würde. Fritz schüt­telte den Kopf, kannte seinen Freund besser. »Der Ho­ven muss bald kommen! Der macht so etwas nicht. Oder meinst du, er konnte seine Sehn­sucht nach unse­rem Dekan nicht be­zähmen?« Diese Frage war so ab­surd, dass Fritz lachen musste. Doch El­wert schien mit ande­ren Dingen be­schäf­tigt und re­agierte über­haupt nicht. »So setzen wir uns doch wenigs­tens ein wenig«, schlug El­wert jetzt vor, der selt­sam matt aus­sah. Aber auch diesem Vor­schlag wider­sprach Fritz: »Ich sehe ihn besser, wenn ich stehe.«

Die Zeit ver­strich und eine Be­stra­fung wegen der Ver­spä­tung war ihnen beiden in­zwi­schen sicher. Doch was wog eine Be­stra­fung gegen den Ver­lust des besten Freun­des Ho­ven? Un­ent­schlos­sen und lang­sam traten jetzt beide doch den Schul­weg an. Die schnur­gerade Straße flim­merte in der Sonnen­glut. Immer wieder blieb Fritz stehen, reckte sich bis auf die Zehen­spit­zen und hielt kopf­schüt­telnd Aus­schau. Sie waren allein unter­wegs auf der Land­straße. Ver­lassen von der Welt, dachte Fritz. Die Ein­sam­keit ließ ihn seine Furcht vor der Prügel, die sie gleich er­warte­ten, noch deut­licher spüren. El­wert schien es in­zwi­schen völlig die Spra­che ver­schla­gen zu haben. Fritz press­te die tro­ckenen Lippen fest auf­einan­der. Ho­ven würde heute nicht mehr kommen. Nie­mand kam. Mut­los und ent­täuscht ließ sich Fritz jetzt doch in den Schat­ten neben dem am nächs­ten ste­henden Baum nieder­glei­ten. Mit hoch­gezo­genen Knien lehnte er mit dem Rücken an dem kanti­gen Stamm. El­wert folgte seinem Bei­spiel. Eine Stunde früher oder später, was schien über­haupt noch von Be­deu­tung?

»Der Zil­ling wird eine ganz schöne Wut auf uns haben«, be­gann El­wert das Ge­spräch nach einer Weile. Fritz, der sich wegen seiner Angst und Ent­täu­schung Luft zu machen suchte, be­gann sofort, seinen Freund zu be­schimp­fen: »Denkst immer nur an dich! Und wenn dem Ho­ven was ge­sche­hen ist? Wenn er gar über­haupt nicht mehr kommt? Du bist mir ein schö­ner Freund! Lamen­tierst wegen ein paar blauer Fle­cken und ver­gisst deine Freun­de!«

Er­schro­cken über die eigene Heftig­keit be­obach­tete Fritz die Re­aktion seines Schul­kame­raden, aber El­wert nahm den Wut­aus­bruch wie einen er­fri­schenden Regen­guss. Fritz ver­stand ihn plötz­lich. Nichts war schlim­mer, als still und allein an seiner Angst zu kauen, die einem wie ein Kloß im Hals steck­te. Er wünsch­te sich nur die Kraft, das Schick­sal zu zwin­gen. »Natür­lich ist mir der Ho­ven nicht gleich­gültig! Warum, meinst du, sitze ich hier!«, protes­tierte El­wert und knuff­te ihn in die Seite. Er kramte in seinem Ranzen, zog einen Kreu­zer­wecken hervor, teilte diesen und hielt Fritz eine Hälfte hin. »Da, nimm.« – »Keinen Appe­tit. Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken!«, er­boste sich Fritz. – »Wenn Ho­ven hier hocken und auf uns warten würde, hätte er schon drei von der Sorte ver­drückt, das kannst du mir glau­ben!«, grins­te El­wert und biss mit be­däch­tiger Ruhe in seinen Wecken. Fritz nahm die andere Hälfte. Auch die letz­ten Krümel waren bald ver­tilgt und die drü­ckende Ein­sam­keit des Sommer­mor­gens las­tete ebenso schwer auf Fritz wie die Hitze. Wenn Ho­ven gar nicht mehr kam … Wenn alles zer­fiel auf dieser Welt und keine Freund­schaft mehr Be­stand hatte?

El­wert stand auf, klopf­te sich die Hose sauber und griff nach seinem Ranzen. Doch Fritz quälte die Ge­wiss­heit des Ver­lustes von Ho­ven. »Und wenn ihm was ge­sche­hen ist, El­wert? Wenn wir jetzt alle ster­ben müssen und es viel­leicht nur noch nicht wissen? Eine schreck­liche Krank­heit, eine Seuche, ein Hinter­halt. Hin­gemäht wie das Vieh! Und mühen uns Jahr für Jahr nach Stutt­gart des Land­schul­ex­amens wegen. Wofür quälen wir uns, wenn es keine Freund­schaft mehr gibt und uns am Ende nur der Tod er­wartet? Ein Held, El­wert, möchte ich sein! Ein Strei­ter für die Freund­schaft. Doch wo ist die Hoff­nung? Alles ist schal und tro­cken und kein Fleiß lohnt wirk­lich.«

El­wert schritt voran und zog Fritz durch seine Ent­schlos­sen­heit mit. »Tro­cken, mein Freund, ist bei der Hitze vor­nehm­lich meine Kehle!« – »Die Welt zer­fällt in Scher­ben und du machst Witze.« Voll hilf­losem Zorn trat Fritz mit seinen Schnal­len­schu­hen nach Stei­nen und be­för­derte diese in El­werts Rich­tung. Der sprang, um diesen aus­zu­wei­chen. »Nun quäl dich nicht un­nötig und lass den Quatsch.« El­wert nahm einen der Steine auf und warf ihn zurück. »Mal nicht die ganze Welt schwarz, weil dein Groß­vater ge­stor­ben ist. Der Mann war alt, und wir haben unser ganzes Leben noch vor uns. Der alte Mann hat’s über­stan­den. Komm, proben wir unse­ren Helden­mut und stre­cken einst­weilen dem Zil­ling unse­ren Hin­tern für eine zünf­tige Ab­rei­bung ent­gegen!«

Zwei Stra­ßen­züge von der Schule ent­fernt stand die Stadt­kirche von Lud­wigs­burg. Von weit her hörten sie schon die Orgel­musik. Fritz ent­deckte die an­gelehn­te Kir­chen­tür.

»Hörst du die Orgel? Da probt be­stimmt der Schub­art. Es ist das Lut­her­lied ›Ein feste Burg‹. Hör doch, wie er­haben die Töne daher­kommen, als könne sie nichts er­schüt­tern.«

»Fritz, lass die Tür. Komm doch weiter!«

Doch die Musik war ihm wie ein Band, dem er folgen musste. All seine Ent­täu­schung und Trauer schwang mit in den dunk­len Tönen der Orgel. Er be­trat die Kirche, ver­harrte eine Weile im Ein­gangs­be­reich. Das Dröh­nen der Orgel füllte die Leere in seinen Ge­fühlen und ver­dräng­te die Pro­bleme der Gegen­wart. Fritz wagte, keinen Schritt mehr weiter zu gehen. Faszi­niert lausch­te er. Auch wenn er nur wenig von Musik ver­stand, dies schien ihm große Kunst zu sein. Etwas, das nicht nur sonn­tags in der Kirche ge­spielt werden durfte.

Doch die Musik ver­stumm­te jäh mit einer schril­len Dis­sonanz, die un­miss­ver­ständ­lich zum Aus­druck brach­te, dass nicht nur Schub­art, son­dern gleich­sam die Orgel selbst ver­stimmt war. »Wer in drei Gottes Namen lärmt da unten rum und hat kein Ohr für die Musik und keinen Ver­stand! Trete er hervor!« Schub­arts Stimme don­nerte ge­waltig von oben herab und Fritz fühlte sich an die alt­testamen­tarische Zwie­spra­che von Mose mit Gott­vater er­innert. Fast im glei­chen Moment sah er El­wert die Flucht er­grei­fen. Wenn er schon für ihn, viel­leicht auch für Ho­ven, eine Tracht Prügel von Dekan Zil­ling ris­kierte, so wollte er wahr­schein­lich seinen Mut nicht über­strapa­zieren. Fritz er­wi­derte Schub­arts wüten­den Blick von unten mit einem Achsel­zucken: »Ich bin’s nicht ge­wesen. Sie hätten ewig so weiter­spie­len mögen und von mir wäre in An­dacht kein Laut zu hören ge­wesen …« – »Rotz­lümmel!«, fluch­te Schub­art, der die ihm er­wie­sene Ehr­erbie­tung aus dem Mund eines fast vier­zehn­jähri­gen, bleich­gesich­tigen Knaben für einen Scha­ber­nack hielt und von der Empore hin­unter stürm­te.

El­wert kam nicht weit, denn er lief vor der Kirche gerade­wegs in die Arme des Dekans Zil­ling, der ihn bei einem Ohr zu fassen be­kam und ihn in schmerz­haft ver­dreh­ter Hal­tung zurück in die Kirche zwang. Den er­schro­ckenen Fritz be­grüßte Zil­ling mit den Worten: »Da haben wir ja das Lumpen­pack bei­sammen!«

Für einen Moment setzte Fritz alle Hoff­nung auf Schub­art. Ein Künst­ler mit so tiefen Empfin­dungen musste Ver­ständ­nis haben und die Welt in eine ge­rech­tere Bahn zwin­gen. Tat­säch­lich stie­ßen Schub­art und Zil­ling am Fuß der Holz­stiege zur Empore fast zu­sammen. »Hat er sie an­gestif­tet, der Musik zu lau­schen, die so dröh­nend über die Straße weht, dass mir ein geist­voller Unter­richt schier un­mög­lich ist?« Wenn Zil­lings Zorn wallte, konnte nie­mand ihn be­sänf­tigen. »Was ver­steht der Herr Dekan denn von Musik? Sie soll­ten viel­leicht mit mehr Feuer in Reli­gion unter­rich­ten und Ihre Schü­ler ließen sich nicht so leicht ab­lenken. Viel­leicht ist auch die Musik der bes­sere Gottes­dienst.« Schub­art schmun­zelte über­legen und seine ge­samte Körper­hal­tung ver­riet, dass er nicht viel von dem Geist­lichen hielt. Zil­ling schäum­te vor Wut: »Das wird ein Nach­spiel haben! Glaubt er, sich dem Müßig­gang an der Orgel un­ge­straft hin­geben zu dürfen und das Ganze noch als Kunst und Gottes­dienst zu ver­brämen, wäh­rend sich unser­eins müht, gute Men­schen zu er­ziehen. Ich weiß sehr wohl eini­ges über ihn!« Da­zu hob er dro­hend den Zeige­finger der linken Hand in die Höhe. »Er soll auf­rühre­rische Verse ver­brei­ten!« – »Ich kenne da wohl so man­chen Vers, der Ihnen, Herr Dekan, nicht schmeckt, der All­gemein­heit aber munden würde! Eine Kost­probe?« Schub­art lachte fast aus­gelas­sen. »Wenn Zil­ling, Er, kein Flegel wär, dann spräch er nicht mit Er …« – »… end­gültig genug von diesen Frech­heiten!«, schrie Zil­ling da­zwi­schen und trat ihm ge­fähr­lich nah. »Oho, der Herr Dekan will raufen. Zu dieser Re­spekt­losig­keit ließe noch nicht ein­mal ich mich im Gottes­haus hin­reißen!«, ent­geg­nete Schub­art.

Ohne es wirk­lich zu be­merken, hatte Zil­ling das Ohr seines Schü­lers El­wert los­gelas­sen und dieser be­fand offen­bar, wie Fritz klein­mütig fest­stel­len musste, dass er für heute ge­nügend Mut be­wiesen hatte, und ent­wisch­te aus der offen ste­henden Kir­chen­tür. Gern wäre Fritz ihm ge­folgt, aber er stand noch immer un­beweg­lich und hoffte auf ein Wunder, das von Schub­art aus­gehen könnte. Nur einen ver­zwei­felten Augen­blick lang schien der Dekan ver­sucht, dem Orga­nisten an den Kragen zu langen. Fritz schätz­te wohl nicht zu Un­recht, dass Zil­ling nicht nur rheto­risch, son­dern auch körper­lich unter­legen wäre, wenn er tat­säch­lich zu­ge­langt hätte. Und hätte Zil­ling seiner Wut nach­gege­ben, für Fritz und sein un­ent­schul­digtes Fern­blei­ben vom Unter­richt hätte sich wohl nie­mand mehr interes­siert. Doch der Dekan maß die ge­drun­gene, kräf­tige Statur Schub­arts. Er hielt den Blick in Schub­arts rundes, flei­schiges Ge­sicht nicht auf­recht. Nur kurz er­hob sich sein rech­ter Arm wie zum Schlag und Fritz hielt den Atem an. Dann aber brach­te er nur ein ge­quäl­tes Lachen hervor, und mit den Worten: »Ich lass mich doch nicht von ihm provo­zieren!«, ging er ent­schlos­senen Schrit­tes auf Fritz zu, griff mit un­nachgie­biger Härte nach dessen Arm und zog den Schü­ler, der ihm wider­willig folgte, mit einem kräf­tigen Ruck hinter sich her.

Fritz be­wun­derte den Orga­nisten. Das Ge­fühl eines er­neuten Ver­lustes über­wäl­tigte ihn jetzt. An seinem Schick­sal nahm Schub­art jedoch offen­bar keinen An­teil, denn ohne ein weite­res Wort warf er hinter beiden die Kir­chen­tür zu und ver­rie­gelte diese. Die Welt, die Fritz so viel be­deu­tete, ver­schloss sich hinter ihm und lie­ferte ihn der Un­gerech­tig­keit und den Quäle­reien eines tob­süch­tigen und viel­leicht auch sadisti­schen Geist­lichen aus.

Kapitel 2

El­wert war­tete auf der Land­straße auf Fritz und stütz­te seinen schwer humpeln­den Freund auf dem Nach­hause­weg. Fritz brach­te aber außer einer kurzen Be­grü­ßung kaum ein Wort über die Lippen. Er ver­biss sich die Schmer­zen und ver­lor mit helden­hafter Hal­tung kein Wort über die er­lit­tene Schmach der Prügel­strafe. El­wert, ver­legen und schuld­be­wusst, plap­perte das Blaue vom Himmel her­unter. Fritz fühlte sich schließ­lich er­leich­tert, die letz­ten Meter zum elter­lichen Haus allein gehen zu können. Denn die Ver­let­zungen, die er durch die Züchti­gungen er­halten hatte, setz­ten ihm zu. Er zit­terte am ganzen Körper.

In der Stube saß Frau von Ho­ven bei seiner Mutter und schwätz­te bei Kaffee und Kuchen. Fritz nahm sich auch ein Stück und hockte sich vor­sich­tig auf die Tür­schwel­le zur Küche. Von draußen hörte er Christ­ophi­ne, die mit den beiden klei­nen Schwes­tern spiel­te. Fritz hoffte, aus dem Ge­spräch etwas über seinen Freund Ho­ven zu er­fahren, und gab sich alle Mühe, trotz seines er­bar­mungs­würdi­gen Zu­stan­des, der Unter­hal­tung zu folgen.

»Ihr Vater, Frau Schil­ler, war ein auf­rech­ter Mann. Weiß Gott, er wird vielen fehlen.«

Frau Doro­thea Schil­ler trock­nete sich darauf­hin ein paar Tränen. Sie hatte sehr an diesem mürri­schen alten Mann ge­hangen und viel mit ihm ge­litten, als ihm Krank­heiten und Alters­gebre­chen immer mehr zu­setz­ten. Fritz liebte seine Mutter dafür, wenn­gleich er sich nur eine un­ge­fähre Vor­stel­lung davon machen konnte, wie viel Kraft es sie ge­kostet haben mochte, für ihre fünf­köp­fige Fami­lie zu sorgen und sich gleich­zeitig um den Groß­vater zu küm­mern. »Ja, es ist schwer, die Eltern zu Grab zu tragen. Denn ehe man sichs ver­sieht, rückt die Reihe an einen selbst. Und Sie, liebe Frau Schil­ler, haben ja noch Ihre große Fami­lie.« Jetzt legte Frau von Ho­ven eine ge­wich­tige Pause ein und ließ diese letz­ten Worte auf ihre Zu­höre­rin wirken.

Fritz er­schrak zu­tiefst. Es stimm­te also doch! Fried­rich von Ho­ven und seinem Bruder war etwas ge­sche­hen! Aber wie konnte dann diese Frau so teil­nahms­los da­sitzen, Kuchen essen und Kaffee schlür­fen? Nein, das durfte nicht sein!

»Aber, Frau von Ho­ven, Sie haben doch auch Ihre Jungs. Die machen ihren Weg und werden Ihnen Freude be­reiten«, antwor­tete Doro­thea Schil­ler.

»Leer ist es und still im ganzen Haus, als sei ein Marder im Hühner­stall ein­gefal­len. Jetzt habe ich nur noch für meinen Haupt­mann zu sorgen, der ohne­hin den ganzen Tag aus dem Haus ist. Die Zeit schleicht den ganzen Tag laut­los vor sich hin und die Stun­den zerren zäh an meinen Nerven. Auch wenn Sie, werte Freun­din, Ihren Vater ver­loren haben, es ist noch junges Leben um Sie. Aber wer weiß, wie lang …« In der Stimme der Frau von Ho­ven schwang etwas Patheti­sches mit, das Fritz hätte be­ruhi­gen können. Aber, zer­schla­gen wie er sich fühlte, stei­gerte sich sein Er­schre­cken. Der Fried­rich tot, hin­ge­rafft von einer heim­tücki­schen Krank­heit! Keinen klaren Ge­danken mochte Fritz mehr fassen. Ihm fiel der Teller zu Boden und er sprang auf. »Sagen Sie, Frau von Ho­ven, was ist mit Ihren Söhnen? Sind sie tot? Das darf nicht sein!«

»Nein, so be­ruhig dich doch, Fritz!« Doro­thea Schil­ler ver­suchte, ihn in die Arme zu schlie­ßen, aber Fritz wich ihr aus und hum­pelte ent­schlos­sen auf Frau von Ho­ven zu, warf sich vor ihr auf die Knie und hing mit beiden Händen an ihrem Rock. Ihm war es dabei völlig gleich­gültig, wel­chen Ein­druck dies auf die eben­falls er­schreck­te Mutter seines Freun­des machen würde. Zu tief war sein Schmerz.

»Was hat er nur!«, rief Frau von Ho­ven aus. »Natür­lich leben beide Jungen noch. Fritz, komm zu dir!«

»Wo sind sie? Ich will es wissen!«, be­harrte Fritz jetzt, der die von Frau von Ho­ven künst­lich er­zeugte Un­sicher­heit nicht mehr länger er­tragen konnte.

»Des Herrn Her­zogs Order ging an alle Offi­ziere, die Söhne haben. Jetzt hat er beide aller­gnä­digst auf der Soli­tude be­halten … So nimm doch bitte deine Hände von meinem Rock und steh auf!« Ver­legen strich Frau von Ho­ven ihre Rock­falten zu­recht, wäh­rend Doro­thea Schil­ler die Kuchen­reste vom Boden auf­sam­melte und das Ge­schirr in die Küche brach­te. »So ist es also wahr, dass der Her­zog die Jungen in seine militä­rische Pflanz­schule zwingt«, sagte Doro­thea Schil­ler.

Fritz ver­stand über­haupt nichts, stand aber jetzt ge­horsam auf und nahm am Tisch gegen­über von Frau von Ho­ven Platz. Sein Freund und dessen Bruder lebten noch. Das blieb das Wich­tigste für den Moment! Ihm wurde schwin­delig, aber er hielt sich tapfer.

»Mein Fried­rich hat es nicht ge­wollt! Ganz sicher wollte er nicht fort!«, protes­tierte Fritz.

»Er lässt dich auch schön grüßen.«, Frau von Ho­ven lächel­te ihn nach­sich­tig an. »Es ist eine Ehre für ihn.« – »Er hat das nicht ge­wollt! Und er nimmt es nicht als Ehre! Warum lügen Sie? Lügen ist klein und häss­lich.« Fritz mochte sich nicht mehr be­ruhi­gen.

»Mein Gott, Doro­thea, was ist nur mit Ihrem Kind los?« – »Fritz, so komm doch zu dir. Dem Fried­rich und seinem Bruder geht es gut«, ver­suchte Doro­thea Schil­ler, auf ihn ein­zu­wirken, aber was wusste sie schon von dem Ver­lust, der ihn traf? »Lassen Sie ihn nur. Und recht hat er irgend­wie auch«, sagte Frau von Ho­ven mit weiner­lichem Ton. »Immer hab ich es dem Ho­ven ge­sagt, aber ein Offi­zier nimmt es nicht so arg, so­lang es ihn nicht höchst­selbst be­trifft. Dabei habe ich mich immer so ge­fürch­tet. Warten Sie nur, liebs­te Freun­din, das trifft auch Sie.« Und dabei schau­te sie Fritz direkt ins Ge­sicht, dass ihm angst wurde.

»Mein Mann hat mir noch nichts davon er­zählt«, antwor­tete Doro­thea Schil­ler auf­geregt. »Davon hätte er ge­spro­chen.« – »Unser Her­zog ver­schont keinen, meine liebe Freun­din. Wer sollte es ihm ver­bieten? Wir haben noch ge­meint, ein Kind her­zu­geben, muss rei­chen. Unse­ren Ältes­ten haben wir ver­sucht zu ver­bergen. Aber der Her­zog hat meinen Mann an­gefah­ren: Warum glaubt er, mir seinen zwei­ten Sohn ver­heim­lichen zu können? Der muss auch her! Ge­mein ge­lacht hat er dabei. Mir zer­reißt es das Herz.« Theatra­lisch griff sie sich an die Brust, dort wo Rü­schen und Spit­zen des Brust­tuches sie be­deck­ten, um so­gleich Kaffee und Kuchen zu loben.

Fritz spürte den Boden unter sich schwan­ken. Seine schlimms­ten Be­fürch­tungen wurden Wahr­heit: Er ver­lor seinen besten Freund. Auch wenn er nichts von der dral­len Frau von Ho­ven mit ihrem Hang zu Klatsch­geschich­ten hielt, ihre Kinder waren ihr ent­führt. Daran ließ sich nicht rüt­teln – und er selbst schien der Nächs­te zu sein, dem dieses Schick­sal un­abwend­bar drohte.

»Nach dem Land­schul­examen stu­diert unser Fritz Theo­logie. Das ist so aus­ge­macht. Was sollte der Her­zog da­gegen haben?« Doro­thea Schil­ler suchte nach Argu­menten, ihre innere Ruhe wieder­zu­finden. Fritz sah es seiner Mutter an, dass sie zwar ver­nünf­tig sprach, aber keines­wegs be­ruhigt schien. Rücken und Ge­säß brann­ten ihm immer noch wie Feuer, doch sein Stolz ver­bat es ihm, über die von Dekan Zil­ling empfan­gene Prügel zu be­rich­ten und sich seine Wunden be­han­deln zu lassen. Kein Wort dar­über sollte ihm in Gegen­wart der klatsch­süch­tigen Frau von Ho­ven über die Lippen kommen!

»Es hatte auch was Gutes. Der August hat so bitter­lich ge­weint, als er seinen Ranzen packen musste, dass wir ihn nicht aus dem Haus be­kommen hätten, wenn nicht der Fried­rich mit­gegan­gen wäre. Jetzt ist wenigs­tens mein Kleins­ter nicht allein«, erzähl­te Frau von Ho­ven. Doro­thea Schil­ler schwieg be­trof­fen. Fritz fragte ge­quält: »Macht er keine Aus­nahme, der Herr Her­zog?«

Ohne Fritz weiter zu be­achten, redete Frau von Ho­ven weiter auf ihre Freun­din ein. »Seine Neue, die Frau Baro­nin, soll er in Bay­reuth kurzer­hand in die Ka­rosse ge­hoben haben und schon in der­selben Nacht mit ihr ab­gestie­gen sein. Ge­betet werden sie nicht die ganze Nacht haben. Jetzt wohnt sie bei ihm auf dem Schloss …« Ge­sprä­che dieser Art wurden im Schil­ler’schen Haus­halt übli­cher­weise nicht über den Her­zog ge­führt. Und wenn sich Fritz auch noch so elend fühlte, wollte er doch jetzt nichts ver­säumen. Vor seinen Augen ver­schwamm aber die Um­gebung lang­sam und das Ge­sicht der Frau von Ho­ven ge­riet zur Fratze, zum In­be­griff seiner Ängste.

»Man hört, die Gräfin wird sich schei­den lassen von ihrem Mann, wo sie doch evange­lisch ist.«

Frau von Ho­ven schüt­telte un­gläu­big vor so viel Naivi­tät ihrer Freun­din den Kopf. »Das macht die Sache doch nicht besser, wo er katho­lisch ver­heira­tet bleibt. Außer­dem glaube ich das mit der Schei­dung nicht ein­mal. Diese Herr­schaf­ten brau­chen nicht den Segen der Kirche, um sich hin­zu­geben. Das war schon immer so. Schon seinen seli­gen Vater küm­merte die Reli­gion wenig. Ist er doch katho­lisch ge­worden beim An­blick des kaiser­lichen Reiter­regi­ments. Die leben wie die Wilden. Dem Schmied seine Marga­rete – noch keine acht­zehn – hat jetzt auch schon ein Kind von ihm.« Frau von Ho­ven hob vor Er­regung den Zeige­finger dro­hend in die Luft. »Sie wird bald nieder­kommen.«

»Dabei hätte er die Macht, könnte so viel Gutes tun«, seufz­te Doro­thea Schil­ler. In diesem Moment stürm­ten Luise und Maria Char­lotte, die beiden jüngs­ten Schil­ler­kinder lär­mend in die Stube und Frau Schil­ler rief nach Christ­ophi­ne. »Geh, bring die Klei­nen wieder nach draußen. Was hier be­spro­chen wird, schickt sich nicht für Kinder­ohren.« Ver­legen strich sich Doro­thea Schil­ler, der es wohl am liebs­ten ge­wesen wäre, wenn auch Fritz mit nach draußen ge­gangen wäre, eine Haar­sträh­ne aus der Stirn. Ge­sprä­che über un­ver­fäng­liche Themen lägen ihr mehr, dachte Fritz, der dem Phi­ne­le zu­lächel­te. Aber Frau von Ho­ven war ein­deutig keine Frau für den Aus­tausch von Koch­rezep­ten. Fritz wun­derte sich zum wieder­holten Mal, dass sie zu den Freun­dinnen seiner Mutter ge­hörte. Schon kehrte sie zu ihrem Thema zurück. »Glau­ben Sie nicht, der Her­zog wird eine Aus­nahme machen, nur um Würt­temberg einen neuen evange­lischen Kutten­sprin­ger zu schen­ken. Ein schnei­diger Offi­zier oder ein ver­schla­gener Jurist sind ihm da alle­mal lieber. Wie man hört, soll Fritz in diesem Schul­jahr große Fort­schrit­te ge­macht haben …« – »Lassen Sie doch meinen Jungen in Ruhe. Wer weiß, wie sich alles fügen wird. Schau­en Sie nur, er ist schon ganz blass. Sie ängs­tigen ihn mit Ihren Reden, liebs­te Freun­din. Fritz, komm, trink etwas.« Doro­thea Schil­ler stell­te ihm eine Tasse Wasser auf den Tisch. Fritz spürte die Be­sorg­nis seiner Mutter, regis­trierte den Seiten­blick von Frau von Ho­ven und hörte wie aus großer Ferne noch: »Die Fran­ziska von Leu­trum soll übri­gens gar nicht so hübsch sein. Da hat der Her­zog schon besse­ren Ge­schmack be­wiesen. Aber sie wird schon ihre Quali­täten haben …«, dann schwand ihm das Be­wusst­sein und er spürte noch einen stechen­den Schmerz, als er seit­lich vom Stuhl kippte und auf den Boden schlug.

Nasse Tücher kühl­ten seinen Rücken und sein ent­blöß­tes Hinter­teil. Die Haut dar­unter pochte heiß. Seine Mutter saß am Bett­rand und wisch­te ihm mit einem kalten Tuch über Nacken und Stirn. Fritz fie­berte ein wenig, aber er fühlte sich besser. Er ge­noss die Für­sorge. Gleich­zeitig machte er sich, kaum dass er wieder zu Be­wusst­sein ge­kommen war, Ge­danken dar­über, wie er seinem Vater die Ver­let­zungen er­klären könnte, ohne dessen Zorn zu reizen. Aber zu­nächst küsste ihn seine Mutter auf die Stirn und flüs­terte ihm Worte des Tros­tes ins Ohr. Lang­sam schärf­ten sich seine Sinne wieder.

Da hörte er Männer­stim­men aus der Stube und schon nach kurzem Lau­schen er­kannte er die Stimme seines Vaters und die des Präzep­tors Hon­hold von seiner Schule. Zu seiner größ­ten Ver­wunde­rung schalt sein Vater die von Dekan Zil­ling vor­genom­mene Züchti­gung als nicht hin­nehm­bare Härte und Prä­zeptor Hon­hold ent­schul­digte sich wort­reich für den Dekan, den er er­mahnt habe, nicht fahr­lässig mit der Gesund­heit der ihm an­ver­trau­ten Schü­ler um­zu­gehen. Ge­hor­samst er­kun­digte sich der Prä­zeptor Hon­hold nach dem Be­finden des Jungen. Darauf­hin trat Kaspar Schil­ler an das Bett seines Sohnes, sah, dass dieser das Be­wusst­sein wieder er­langt hatte, und ord­nete an, er möge sich sein Nacht­hemd über­werfen und in der Stube er­schei­nen. Doro­thea Schil­ler, die mit der Ent­schei­dung ihres Mannes nicht ein­ver­stan­den war, half ihrem Sohn beim Auf­stehen und An­klei­den. Etwas un­sicher fühlte sich Fritz auf den Beinen und angst­voll trat er seinem Vater und dem Prä­zeptor unter die Augen. Letz­terer gab ihm freund­lich lä­chelnd die Hand und schien offen­bar er­leich­tert, Fritz be­reits wieder auf dem Weg der Besse­rung zu finden.

»Jetzt be­richte er mir, warum dort blaue Fle­cken und blu­tige Strie­men auf seinem Hinter­teil blühen. Stell er sich grade hin und be­ginne er zu erzäh­len!« Der militä­risch ge­stren­ge Ton­fall in Kaspar Schil­lers Stimme ließ keine Aus­flüch­te zu. Auch auf die Be­schwich­tigungen des Herrn Präzep­tors ging der Vater nicht weiter ein. Ge­senk­ten Haup­tes, rast­los mit den Händen den Hemd­zipfel dre­hend, gab Fritz schüch­tern zur Ant­wort: »Ich habe den Unter­richt bei Herrn Dekan Zil­ling ver­säumt und Herrn Schub­art beim Orgel­spiel zu­gehört. Dies hat den Herrn Dekan Zil­ling sehr wütend ge­macht. Ins­beson­dere weil er sich mit dem Herrn Schub­art aufs Hef­tigste ge­strit­ten hat.« – »So, der Schub­art … Und dann hat er brav Hinter­teil und Kreuz hin­gehal­ten, damit der Herr Dekan seine Wut auf Schub­art an ihm ab­reagie­ren kann!«

Fritz schau­te vor­sich­tig seinen Vater an, in dessen Stimm­lage sich so etwas wie Mit­gefühl an­zu­deuten schien. »Nichts ge­sagt hat er seiner Mutter von dem Vor­fall und den Schmer­zen, als er nach Hause kam?«

»Ich habe nichts er­zählt, denn ich habe mir ge­dacht, der Herr Dekan meint es nur gut …«

Der Prä­zeptor Hon­hold wandte sich ab, um seinen Ge­sichts­aus­druck zu ver­bergen. Aber Kaspar Schil­ler rief: »Ist er toll ge­worden oder ist er ein Duck­mäuser, der Angst hat, sich zu seinen Taten zu be­kennen? Das nächs­te Mal gibt er Be­scheid, damit seine Wunden ver­sorgt werden können. Hat er mich ver­stan­den? Geh er jetzt schla­fen.«

Fritz blick­te dank­bar zu seinem Vater auf, dessen Stimme sogar mild klang. Rasch trugen ihn seine nack­ten Füße über den kalten Boden zurück zu den Salben und kalten Um­schlä­gen. Für heute war er in der Fami­lie tat­säch­lich so etwas wie ein Held und selbst die klei­nen Ge­schwis­ter schli­chen an­däch­tig umher. Gegen Abend stell­te ihm seine ältere Schwes­ter, das Phi­ne­le, selbst ge­pflück­te Wiesen­blumen ans Fens­ter. Auch wenn Fritz fand, dass Blumen für einen männ­lichen Helden nicht das rich­tige Mittel der Gunst­bezeu­gung und Ver­ehrung waren, rührte ihn die Geste schon sehr.

Fritz lag an diesem Abend noch lange wach. Er hatte zwar kein Fieber mehr, aber sein Herz schlug noch un­regel­mäßig. Sein Kopf arbei­tete rast­los an un­sinni­gen Ge­danken, von denen er keinen zu Ende führte. Im Zimmer neben­an hörte er die Stim­men seiner Eltern. Seine bis­herige Kinder­welt schien zu zer­bre­chen. Nur eine Frage der Zeit blieb es offen­bar, bis der Her­zog auch ihn von zu Hause weg­befahl. Immer wieder musste er an Schub­arts Orgel­spiel denken, an dessen furcht­loses Auf­treten. Was Fritz brauch­te, war eine Mitte, etwas, das er völlig über­zeugt als die Wahr­heit in seinem Leben akzep­tieren konnte – so wie der Schub­art seine Kunst. Fritz fühlte sich zer­rissen von wider­strei­tenden Ge­fühlen und Ge­danken und suchte die Nähe seiner Eltern. Er schlich zur Tür und horch­te den ver­trau­ten Stim­men.

»Die Welt da draußen ist größer, wahr­haft groß, Doro­thea, außer­halb unse­rer klei­nen miss­güns­tigen Welt hier in Lud­wigs­burg und im Ländle. Und vor allem ist sie ge­rech­ter, als es uns der Her­zog glau­ben lassen mag, wenn er uns den Lohn schul­dig bleibt und wir darben und unser Augen­merk nur aufs täg­liche Leben rich­ten müssen. Dies macht die Nasen­spitze zum Hori­zont! Der Klop­stock da­gegen ist ein Poet! Einer, der weit schaut ins Land – über Gren­zen hinweg. Schub­art hat es als Erster be­grif­fen! Was sage ich! Ein großer, ein deut­scher Poet – mitten in dieser halb­herzi­gen Klein­staa­terei, die uns klein und in Ketten hält!«

»Sprich leiser, Kaspar. Du weckst sonst noch die Kinder auf«, bat Doro­thea.

»Es ist schwer, seine Zunge im Zaum zu halten, wenn das Herz über­quillt. Und das mir altem Haude­gen! Es waren noch viele da, ein rich­tiges Er­eig­nis.« Kaspar Schil­ler ging offen­bar in der Kammer umher, denn Fritz hörte die Dielen knar­ren. Aber Fritz ver­ließ seinen Horch­posten nicht. Klop­stock? Fritz er­in­nerte sich, den Namen schon ein­mal im Zu­sammen­hang mit Schub­art vom Vater ge­hört zu haben. Wie das klang! Ein Poet … Konnte dies sein eige­ner Weg sein? Konn­ten die Worte, wohl ge­setzt in Vers und Reim die Welt weiten, Stütze sein auf der Suche nach der Wahr­heit und Frei­heit?

»Fritz, komm ins Bett. Wenn der Vater dich dort er­wischt, wie du lauschst …«, Phi­ne­les Stimme flüs­ternd aus der Dunkel­heit. »Sei still!«, zisch­te Fritz seiner Schwes­ter zu. »Ich er­zähle dir nach­her alles.« Sein Herz schlug so heftig, dass ihm schwind­lig wurde. Sein Ohr klebte förm­lich an der Tür. Für einen Moment er­schrak Fritz, als sein Vater direkt vor der Kammer­tür stehen blieb, und er suchte schon fieber­haft nach einer pas­senden Aus­rede. Deut­lich er­klang Vaters Stimme, als er aus einem Ge­dicht vor­las:

»Ihr habt der Mensch­heit hei­lige Wunde

Tief her­unter ent­weiht. Sie hätten Engel mit Jauch­zen

Und mit wei­nendem Dank von der Könige König emp­fangen.

Oh, ihr stan­det er­hoben; um eure Throne ver­sam­melt

Stand das Men­schen­ge­schlecht. Weit war der Schau­platz, der Lohn groß,

Mensch­lich und edel zu sein. Die Himmel sahen euch. Es wand­ten

Alle Himmel ihr An­ge­sicht weg, wenn sie sahen, was ihr tatet;

Wenn sie sahen den mor­denden Krieg, des Men­schen­geschlech­tes

Brand­mal alle Jahr­hun­derte durch, der unters­ten Hölle

Lau­testes, schreck­lichs­tes Hohn­geläch­ter, den ewigen Schlum­mer

Eurer Augen, das neben euch drück­te der krie­chende Lieb­ling,

Keine Tugend be­lohnt und keine Träne ge­trock­net! …«

Be­deu­tungs­voll ver­stumm­te die Stimme seines Vaters und Fritz spürte, wie diese Worte, so er­haben über die Fins­ter­nis, ihn be­schäf­tigten und nicht los­ließen.

»Mit laut tönen­der Stimme, dass es von den Decken wider­hallte, hat uns der Schub­art das vor­getra­gen und ge­for­dert, dass die Mensch­heit das Joch der Unter­drü­ckung ab­schüt­teln müsse, damit ein jeder genug habe und in Frie­den leben könne. Diese Poesie, Doro­thea, ist zu etwas nutze! Eine deut­sche Dich­tung für eine neue Zeit!« Kaspar Schil­ler konnte sich nicht be­ruhi­gen und sprach trotz der er­neuten Er­mah­nung seiner Frau mit un­ver­min­derter Laut­stärke weiter. Als er schließ­lich noch be­rich­tete, wie sie ge­packt vom Feuer des Vor­trages alle Klop­stocks Buch be­stellt hätten, em­pörte sich Doro­thea Schil­ler: »Das Geld reicht nicht für das täg­liche Brot! Jetzt, wo der Fritz bald mit dem Stu­dium be­ginnt, müssen wir doch alles zu­sammen­halten. Wenn du wenigs­tens etwas Geist­liches ge­kauft hät­test, das er viel­leicht hätte ge­brau­chen können …« – »Doro­thea, du ver­stehst das nicht. Man meint, man müsste flie­gen, wenn man es nur könnte«, Kaspar Schil­lers Stimme wurde rau vor Sehn­sucht. »Natür­lich hast du auch recht. Und den wacke­ren Schub­art wird es die Stel­lung kosten. Ihn zurück nach Geis­lingen zwin­gen, wenn nicht sogar außer Landes. Der Dekan Zil­ling hockte auch da, jener, der ihm nicht grün ist. Ein so freies Wort weiß die Obrig­keit nir­gend­wo zu schät­zen! Und Feinde hat der Schub­art mit seiner fre­chen Art wahr­lich genug. Aber Mut hat er und öffnet uns die Augen. Dem Schub­art ge­bührt An­erken­nung, Doro­thea.«

»Dieser Mensch mit seinen Weiber­geschich­ten pre­digt seine wein­selige Art von Frei­heit. Er soll sich lieber um seine beiden Kinder und seine Frau küm­mern«, Doro­thea Schil­ler urteil­te nüch­tern. Fritz in seinem Ver­steck be­dau­erte, dass sie die Glut der Verse, das Un­erhör­te der Worte nicht ein­mal emp­finden konnte. Gern hätte er seiner Mutter zu­geru­fen, dass er auf alle Stu­dien ver­zich­ten wolle, wenn ihm solche Poesie ver­schlos­sen bliebe. Die Hand von Kaspar Schil­ler legte sich auf die Tür­klinke. Fritz sprang auf und floh ins Bett. Ihm ge­lang es nicht mehr, sich zu­zu­decken, da kroch schon der Licht­schein durch den offe­nen Tür­spalt. Fritz press­te die Augen fest zu und stell­te sich schla­fend. In seinem Kopf klan­gen die Verse nach: »Keine Tugend be­lohnt und keine Träne ge­trock­net.«

Der Vater trat an sein Bett und zog ihm die Decke über die Schul­tern. Neben­an weinte die kleine Maria Char­lotte, die zahnte. Fritz hörte, dass seine Mutter sie auf­nahm und ihr be­ruhi­gend zu­redete. Dann sagte sie zu ihrem Mann: »Diese Poesie ist nicht für unser­einen. Sie macht nicht satt.« – »Ja, ja. Sie macht un­ruhig. Doch wie kann man in Frie­den leben, wenn der Her­zog seine Schul­den gegen mich nicht be­gleicht, wo wir das Geld so nötig haben? Da hat er fünf­zig mit lebens­großen ver­golde­ten Götter- und Fabel­wesen ge­schmück­te Pracht­schlit­ten für den Winter in Auf­trag geben lassen, von denen jeder zehn Mal so viel kostet, wie ich in einem halben Jahr ver­diene. Aber ein Offi­zier wie ich, hat das Maul zu halten und zu parie­ren …«

Die Tür fiel ins Schloss und neben­an er­losch das Licht. An den gleich­mäßi­gen Atem­zügen er­kannte Fritz, dass seine Schwes­ter be­reits ein­geschla­fen war. Wohin sollte er sich in solch einem Leben wenden? Noch lange lag er wach und spürte in seinen Wunden auf dem Rücken das Blut pochen.

Am nächs­ten Morgen saß Fritz am Tisch in der Stube und malte latei­nische Verben auf die vor ihm lie­gende Schie­fer­tafel. Aus der Küche quoll der süß­liche Dunst, ein­gekoch­ter Früch­te, die Christ­ophi­ne und Mutter in den letz­ten Tagen ge­pflückt hatten. Sie nahmen ge­mein­sam den schwe­ren Topf von der Feuer­stelle und Doro­thea Schil­ler rührte zäh­flüs­sigen Honig unter die Früch­te. Fritz schau­te ihr bei den Ver­rich­tungen zu. Er be­merkte die ge­bückte Hal­tung seiner Mutter, wie sie sich vor Sorgen und Müdig­keit kaum auf den Beinen halten konnte. Was waren seine Sorgen schon gegen die Not, täg­lich für die Fami­lie sorgen zu müssen? Nein, er würde hart gegen sich selbst sein, arbei­ten, lernen und es ihr so ent­lohnen!

»Mir geht der Honig aus«, sagte Doro­thea zu ihrer Toch­ter. »Ich fürch­te, ich muss noch zum Imker, und dies jetzt, wo es uns ohne­hin am Nötigs­ten man­gelt.« – »Lass nur, Mutter!«, rief Fritz eilig, sprang auf und lief zur Haus­tür. »Mir kann er nichts ab­schla­gen. Ich laufe schon!« – »Warte«, rief sie ihm zu, kam hinter ihm her, fasste ihn bei der Schul­ter, strich ihm die wider­spens­tigen roten Locken aus dem Ge­sicht und mus­terte ihn ver­sonnen. Fritz wurde ver­legen und ver­suchte, sich ab­zu­wenden. Aber noch be­vor er selbst die Haus­tür öffnen konnte, flog ihm diese ent­gegen und er stieß mit El­wert zu­sammen. »Komm mit zur Schule! Der Prä­zeptor Hon­hold hält heute eine An­spra­che. Sie haben den Schub­art davon­gejagt.«

»Unse­ren Schub­art?« Fritz stürm­te ins Zimmer, griff sich seine Schul­sachen und eilte dem Freund hin­kend hinter­her. Keinen Ge­danken mehr an seine Mutter, die sich sorgte und ihm noch hin­ter­her­rief. Keinen Ge­danken mehr an die Wunden, die höl­lisch brann­ten, als er zu schwit­zen be­gann.

»Lau­testes schreck­lichs­tes Hohn­geläch­ter… Keine Tugend be­lohnt und keine Träne ge­trock­net!« Alles würde er dran­setzen, etwas aus sich zu machen! Und wenn es das Leben kosten würde! Fritz wollte fort­an keine Gren­zen mehr akzep­tieren, außer denen, die er sich selbst setzte. Wenn du es nicht schaffst, sagte er zu sich selbst, bleibe hart, bleibe hung­rig, durs­tig nach Erfolg und Leben! El­wert lief voran, froh, seinen Freund wieder auf den Beinen zu sehen.

Kapitel 3

Jetzt plagte ihn die Gicht schon im Spät­sommer. Haupt­mann Kaspar Schil­ler zog schwer­fällig das rechte Bein nach. Im vorde­ren Schloss­hof ver­schnauf­te er und sah sich um. Er kam nicht gern hier­her. Die hohen Fens­ter in immer glei­chem Ab­stand blick­ten gleich­gültig aus dem hellen Ge­viert der Mauern auf ihn her­unter. Die Fräcke und reich be­stick­ten Uni­formen wichen ihm aus, als er lang­sam die prunk­volle Treppe empor­stieg. Die Fuß­garde an der Tür des Warte­raums ließ den Haupt­mann Schil­ler pas­sieren. Kalt und düster wirk­ten die großen Innen­räume auf Kaspar Schil­ler, ob­wohl das Sonnen­licht fast un­gehin­dert durch die Fens­ter­spros­sen fiel. Eine angst­volle Ahnung be­schlich ihn.

Durch die letzte hohe Flügel­tür schritt mit schwar­zem Mäntel­chen und weißem Beff­chen Dekan Zil­ling auf ihn zu. Scheu grüßte Kaspar Schil­ler und ver­beugte sich. Über die klei­nen, heim­tücki­schen Schweins­augen des Dekans senk­ten sich die Augen­lider zum Dank ein wenig. Dann schritt der Dekan vorbei, stolz und frech. Denun­zianten leben wohl in diesem Staat, dachte Kaspar Schil­ler ver­bit­tert und wünsch­te sich, es wäre Schub­art ge­wesen, der dort durch die Tür ge­kommen wäre. Er ballte die Faust hinter dem Rücken: Im nächs­ten Leben sehen wir uns wieder, Herr Zil­ling! Wie mochte es um den Glau­ben des Dekans be­stellt sein, wenn er davon über­zeugt war, zu seinem eige­nen Vor­teil un­ge­straft andere ins Un­glück stür­zen zu dürfen …

Vor dieser letz­ten Tür zum herzog­lichen Kabi­nett warte­ten gut ein Dut­zend wei­tere Perso­nen auf eine Au­dienz. Eine Ge­meinde­abord­nung stand dicht ge­drängt bei­sammen. Man sprach sich Mut zu. Kaspar Schil­ler wusste, dass es ihnen darum ging, dass der Her­zog seine Resi­denz wieder von Lud­wigs­burg nach Stutt­gart ver­legen sollte. Man wollte nicht ver­gebens zwölf Mil­lionen Gulden Schul­den für den Landes­herrn über­nommen haben. Doch so be­kannt jeder­mann das An­liegen dieser wohl ge­klei­deten Herren war, die größ­ten­teils die wohl­ha­bende Lud­wigs­burger Bürger­schaft ver­traten, so offen­sicht­lich trat schon vor der Tür zum herzog­lichen Arbeits­zimmer ihre Macht­losig­keit zu­tage. Der Her­zog wird leich­tes Spiel haben, die Sache in seinem Sinn zu ent­schei­den, dachte Kaspar Schil­ler. Er wird ihnen neue Rech­nungen auf­machen, seine Lust­bar­keiten zu finan­zieren. Ein paar Bürger­meis­ter vom Land in ihrer schlich­ten schwar­zen Sonn­tags­klei­dung mit Silber­knöp­fen und in ihren klobi­gen Schu­hen drück­ten sich ängst­lich in der Nähe der hohen Fens­ter herum und blick­ten ver­ächt­lich auf die in ihren Augen eitlen Städ­ter. Sie würden den Her­zog bitten, ihre Klee- und Hafer­felder zu ver­scho­nen und sein Wild nicht für die See­feste und Mond­jagden auf ihre Kosten zu mästen. Natür­lich würde auch dieses An­liegen den Her­zog nicht in seinen all­täg­lichen Ge­schäf­ten weiter be­lasten, schätz­te Kaspar Schil­ler, aber er würde sie viel­leicht freund­lich und ver­ständ­nis­voll emp­fangen, da er sie für seine Land­par­tien als Trei­ber und Be­diente noch ge­brau­chen konnte. Außer­dem schien nie aus­geschlos­sen, dass der eine oder andere über eine hüb­sche Landes­toch­ter ver­fügte, die ihm bei Ge­legen­heit die Ehre er­weisen könnte.

»Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«, seufz­te Kaspar Schil­ler. Nie wäre er auf den Ge­danken ge­kommen, ohne aus­drück­lichen Be­fehl hier vor dem Her­zog wegen irgend­etwas vor­stel­lig zu werden. Dies hier ge­hörte ganz ent­schie­den nicht in seine Welt. Mit Fleiß, Spar­sam­keit und tiefem Gott­ver­trauen rich­tete er sein Leben – Dinge, die bei Hofe gar nichts oder nur wenig zähl­ten. Zu seiner Über­ra­schung wurde er als Erster herein­geru­fen. Er spürte, wie ihm die Blicke aller War­tenden und Ängst­lichen folg­ten. Mit ge­senk­tem Kopf schritt er in die Mitte des großen Kabi­nett­raumes. Die von Gicht ge­plag­ten Kno­chen schmerz­ten sehr bei der tiefen Ver­beu­gung, die er ab­sicht­lich etwas ver­län­gerte. Dann stand er un­beweg­lich in stram­mer militä­rischer Hal­tung, den Blick starr auf den Wand­behang hinter dem mit Blatt­gold ver­zier­ten Schreib­tisch des Her­zogs ge­rich­tet.

Her­zog Carl Eugen er­hob sich und ging mit leicht federn­dem Schritt über das ver­schie­den­far­bige Holz­par­kett des Zim­mers. Die Hände auf dem Rücken ver­schränkt, schien er über etwas nach­zu­denken.

Kaspar Schil­ler kämpf­te gegen die Un­sicher­heit, die seinen Puls­schlag be­schleu­nigte. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er er­in­nerte sich an die Stun­den und Minu­ten vor den großen Schlach­ten, an denen er als Soldat in würt­tem­bergi­schen Diens­ten teil­genom­men hatte. An diese atem­lose Stille vor der ersten Ge­wehr­salve, dem ersten Kano­nen­donner. Nur die Leere nicht Be­sitz er­grei­fen lassen in diesen letz­ten Momen­ten, den Geist wach­halten und schär­fen! Die Wehr­haftig­keit und der Über­lebens­wille stan­den in diesen Augen­bli­cken auf der erns­testen Probe. Es gab kein Aus­wei­chen, kein Zurück. Er, Kaspar Schil­ler, ge­reift zum er­fahre­nen Sol­daten, ge­übt im Über­leben, aus den unters­ten Rängen sogar bis zum Haupt­mann be­för­dert, hatte seine Lebens­lek­tion ge­lernt. Er straff­te seine Hal­tung, den Hut fest unter den linken Arm ge­klemmt, und er wich dem Blick des Her­zogs nicht aus, als dieser un­ver­mit­telt nah vor ihm stehen blieb. Gleich würde er fallen, dieser erste Schuss in diesem un­glei­chen Kampf … Das Augen­duell dau­erte nur einige Sekun­den, dann wandte sich Carl Eugen ab und sprach: »Be­ruhige er sich. Hat wohl ge­dacht, ich hätte ihn ver­gessen? Dabei kenne ich ihn wohl. Außer­dem hat er gute Freun­de, die auf ihn auf­merk­sam machen – wohnt doch die Frau von Ho­ven im glei­chen Haus? Mein Kammer­diener ist be­kannt mit dieser Fami­lie. Wie ich höre, soll sein Sohn Fort­schrit­te ge­macht haben – auch Empfeh­lungen des Dekans Zil­ling im Griechi­schen und seines Leh­rers Jahn im Lateini­schen liegen mir vor. Ein wenig un­gestüm noch, der Herr Sohn, wie?« Carl Eugen legte das Papier, das er vom Schreib­tisch auf­genom­men hatte, wieder zur Seite.

Kaspar Schil­ler war es mehr als un­an­genehm, dass sich jetzt der Her­zog er­neut un­mittel­bar vor ihm auf­baute und seinen direk­ten Blick­kon­takt suchte. Aber er schwieg, ließ sich nicht zu einer un­bedach­ten Äuße­rung heraus­for­dern.

»Ist er nicht ge­beten worden, seinen Sohn zur herzog­lichen Schule an­zu­melden, damit aus ihm ein rech­ter Würt­tem­berger werde? Er hat sich noch nicht ein­gefun­den für die Erledi­gung der For­mali­täten. Er ist an­schei­nend so be­deu­tend, dass ich selbst mich be­mühen muss.« Her­zog Carl Eugen lachte kurz auf und ging im Zimmer auf und ab.

»Eure Herzog­liche Durch­laucht mögen ent­schul­digen, aber …« – »Ich weiß, ich weiß«, mit einer Arm­bewe­gung, als würde er ein Orches­ter diri­gieren, schnitt ihm Carl Eugen ein­fach das Wort ab, »jetzt kommt die alte Leier von seiner Gicht, die ihn plagt. Ist er ein Kerl oder ein Wasch­weib? Was meint er, warum ich ihn die Uni­form eines Haupt­manns tragen lasse! Nicht damit er sich müßig ins Bett lege, seine Zipper­lein zu pfle­gen und den Inter­essen seines Landes­herren zu trot­zen! Er soll nicht so schau­en und sich be­ruhi­gen!«

Kaspar Schil­ler spürte, wie seine Lippen bebten. Waren es nicht die Jahre im Feld unter freiem Himmel, die Ent­beh­rungen als Soldat und seine nie ge­bro­chene Loyali­tät ge­wesen, die ihm diese Gicht ein­ge­bracht hatten? Er hatte sich ge­schun­den für seinen Sold, dem ihm dieser auf­gebla­sene Hage­stolz jetzt schon wieder für Monate schul­dig ge­blie­ben war! Immer schwe­rer fiel es ihm, zu schwei­gen zu diesen un­gerech­ten Vor­würfen. Es biss die Zähne auf­einan­der – dies hier war ein Kampf ande­rer Art. Kaspar Schil­ler wusste, dass es nur noch darum gehen konnte, seine Nieder­lage in Gren­zen zu halten.

»Er weiß nichts kontra zu sagen? Nein? Er schweigt. Nun gut, dann gib er mir seinen Sohn für meine Schule, damit ich aus ihm was Ge­schei­tes machen kann!« Der for­dernde Unter­ton des Her­zogs ließ keinen Zwei­fel an seiner Ent­schlos­sen­heit mehr zu. Den­noch wollte Kaspar Schil­ler seinen ein­zigen Sohn nicht kampf­los her­geben. »Ich und meine Frau werden Eurer Herzog­lichen Durch­laucht auf ewig dank­bar sein, wenn unser Sohn der Nei­gung zum geist­lichen Be­ruf folgen darf. Es ist auch Herrn Dekan Zil­ling nicht ver­borgen ge­blie­ben, mit wel­chem Eifer und Erfolg sich unser Sohn um eine geis­tige Reife be­müht und seine Kennt­nis in den Schrif­ten der Bibel ver­voll­stän­digt hat. Mit Eurer gnädigs­ten Herzog­lichen Er­laub­nis müsste er für die Fort­füh­rung seiner Stu­dien nach Tübin­gen.« Kaspar Schil­ler wun­derte sich über die Festig­keit seiner Stimme, und fast war ihm so, als könne er sich selbst in dieser Situa­tion zu­schau­en und höre jeman­den Drit­ten spre­chen. Er stand auf un­siche­rem Grund und durfte es bei allem Wider­stand gegen das herzog­liche Be­gehren nicht ris­kieren, seine eigene Exis­tenz und die seiner Fami­lie zu ge­fähr­den.

»Haupt­mann Schil­ler, hat er nicht sein ganzes Leben treu seinem Land ge­dient? Es ist ihm wohl nicht schlecht be­kommen. Er ist wer und nütz­lich für das Ge­mein­wesen und seinen Her­zog!« Her­zog Carl Eugen stand vor ihm und wippte auf den Zehen­spit­zen. »Die Reli­gion hat noch kein Land reich und seine Bürger satt ge­macht. Ich sage ihm: Es sind schon genug Kutten­sprin­ger im Land, die sich im Wort­ver­drehen üben! Ich brau­che Staats­diener, Beamte! Sein Sohn könnte dem Land nütz­lich sein wie er selbst. Warum ziert er sich? Sein Sohn lernt etwas, be­kommt eine Zu­kunft und wird in herzog­lichen Gnaden auch noch durch­gefüt­tert!« Eine Weile schwieg der Her­zog und schau­te Kaspar Schil­ler prü­fend ins Ge­sicht. Dann senkte er seine Stimme, die damit einen be­droh­lichen Unter­ton an­nahm: »Was hat er, Haupt­mann Schil­ler, jetzt vor­zu­brin­gen, sich meinem Wunsch zu wider­setzen? Er soll es jetzt sagen, sofort! Oder er soll schwei­gen und sich fügen!«

Ge­wehr­salven und Pulver­dampf ver­zogen sich und Kaspar Schil­ler sah sich im Geiste allein und ver­lassen auf dem Schlacht­feld im An­ge­sicht einer heran­stür­menden, gut be­wehr­ten Über­macht. Nicht zu schnell auf­geben, dachte er, in tiefer Sorge um das Wohl­erge­hen seines ein­zigen Sohnes. Fritz war schon als Kind immer ein wenig schwäch­lich und kränk­lich ge­wesen. Alle Kinder­krank­heiten hatte er aufs Schwers­te durch­litten. Oft war er in Fieber­krämp­fe ge­fallen, sodass sein Leben an einem seide­nen Faden ge­hangen hatte. Kaspar Schil­ler konnte sich sehr wohl vor­stel­len, was der militä­rische Drill und die Härte, die den Offi­zieren zu Eigen war, die die herzog­liche Schule be­auf­sich­tigten, bei seinem Sohn an­rich­ten könn­ten. Er kannte sehr wohl alle Schat­ten­seiten des Sol­daten­lebens von herzog­lichen Gnaden. Die Gicht in seinen Kno­chen und der von Narben ge­zeich­nete Körper er­inner­ten ihn täg­lich an den Preis, den ein sol­ches Leben auch von den Här­testen for­derte. Alles hätte er daher dafür ge­tan, um Fritz ein ande­res, besse­res Leben zu er­mög­lichen. Nicht ver­gebens wollte sich Kaspar Schil­ler den priva­ten Latein­unter­richt für seinen Sohn beim Pfar­rer Moser in Lorch vom Mund ab­ge­spart haben, in einer Zeit zu­dem, in der ihm der Her­zog an die zwei­tau­send Gulden Lohn schul­dig ge­blie­ben war und sie nicht wuss­ten, wovon sie die Kinder er­nähren soll­ten. Er, Kaspar Schil­ler, war diesem Land und seinem Her­zog wahr­lich nichts schul­dig ge­blie­ben! Sein Sohn hatte sich die Frei­heit zu stu­dieren ver­dient.

»Er schweigt trot­zig! Sieht er denn nicht ein, dass ich das Beste für seinen Sohn will?« Carl Eugen trat er­neut in sicht­licher Er­regung einen Rund­gang durch das Zimmer an, die Hände auf dem Rücken ver­schränkt, die Finger in nervö­ser Be­wegung. Seine Sache stand schlecht, das wusste Kaspar Schil­ler, aber noch immer schlug das Kämp­fer­herz. Einen Haken schla­gen vor der Über­macht, eine Flucht an­deuten, um den­noch mit ge­zoge­nem Degen, sich wehr­haft zu stel­len … »Die Gnade Eurer Herzog­lichen Durch­laucht steht mir nur all­zu deut­lich vor Augen und ich werde mich ebenso wie meine Frau zeit­lebens in Dank­bar­keit daran er­innern. Der­art um das Fort­kommen und die Bil­dung der eige­nen Landes­kinder be­müht zu sein, zeugt von wahr­hafter Größe und Her­zens­bil­dung, die nie­mandem ver­borgen blei­ben darf. Und dass der Wunsch der Herzog­lichen Durch­laucht an meine Fami­lie ge­rich­tet wird, macht uns wirk­lich glück­lich. Aber man unter­rich­tet an der Pflanz­schule doch nicht geist­liche Wissen­schaf­ten, und ich kenne Nei­gung und Be­gabung meines Sohnes sehr wohl. Ich weiß nicht, ob er bei seiner zarten Natur sich der robus­teren Wirk­lich­keit eines ande­ren Berufs­stan­des, von dem ich sehr wohl eine Vor­stel­lung zu haben glaube, eignen wird. Das ist es, was einer Ent­schei­dung im Wege steht, und der Schmerz, der mit dem Ver­zicht auf den Berufs­wunsch ein­her­geht.«

Übel­launig griff der Her­zog nach dem Wein­glas auf seinem Schreib­tisch, leerte es in einem Zug, um es an­schlie­ßend in einer Ecke des Kabi­netts zu zer­schmet­tern. Das Klir­ren des Glases klang in des Haupt­manns Ohren wie das Auf­einan­der­tref­fen von Degen­klin­gen. Un­will­kür­lich trat Kaspar Schil­ler einen Schritt zurück, nahm aber sofort wieder Hal­tung an. Der Her­zog ver­fiel jetzt in einen Kaser­nen­hof­ton: »Was meint er, warum ich so lange mit ihm spre­che? Er ist Soldat und hätte doch ein­fach zu parie­ren! Sein Sohn soll groß ge­wach­sen sein und er, Haupt­mann Schil­ler, sei daher nicht so zimper­lich. Ich werde für seinen Sohn sorgen – auch dann noch, wenn er den Schul­hosen ent­wach­sen ist. Wähl er sich ein ande­res, ein nütz­liches Fach. Juris­pru­denz meinet­wegen – sie er­nährt auch ihren Mann.« Her­zog Carl Eugen nahm eine Schrift­rolle von seinem Schreib­tisch und hän­digte sie Kaspar Schil­ler aus. »Also? Ich habe einen Eleven auf der Pflanz­schule mehr! Faktum! Lies er das, unter­schrei­be er und seine Frau und reiche es ein in meiner Kanz­lei. Nach Weih­nach­ten er­warte ich seinen Sohn. Bei meiner sons­tigen Un­gnade. Weg­treten!« Der Her­zog trat ans Fens­ter und drehte ihm den Rücken zu. Das Blut schoss Kaspar Schil­ler zu Kopf und seine Hände zit­terten. Deut­licher als sonst quälte ihn die Gicht in seinem Bein. Un­gelenk fiel seine Gunst­bezeu­gung aus, die der Her­zog nicht wahr­zu­nehmen schien.

»Ich danke Eurer Herzog­lichen Gnaden für sein Inter­esse und die Ehre.« Er ent­fernte sich mit rück­wärts ge­wand­ten Schrit­ten und fand vor Auf­regung nicht sofort zur Tür. Warum nur musste die Ho­ven mit ihrer Klatsch­süch­tig­keit und Miss­gunst auch seinen Sohn ins Un­glück stür­zen? Er ver­ab­scheute dieses Weibs­bild zu­tiefst und er würde Doro­thea die nächs­te Zeit den Um­gang mit ihr unter­sagen. Aber jetzt war es zu spät. Es war ge­sche­hen. Fritz würde nie mehr nach Tübin­gen können, um dort zu stu­dieren. Mit ge­senk­tem Kopf und hän­genden Schul­tern eilte Kaspar Schil­ler durch den Emp­fangs­raum, ohne noch einen Blick für die dort War­tenden übrig zu haben. Diese schau­ten be­sorgt hinter­her, fürch­teten sie an­ge­sichts des offen­kundi­gen Miss­erfol­ges dieses Offi­ziers um das Ge­lingen ihrer eige­nen An­gele­gen­heiten.

Wolken zogen auf und schick­ten einen feinen, dich­ten Land­regen über die Schloss­an­lagen. Kaspar Schil­ler, nieder­geschla­gen und ver­zwei­felt, schau­te nicht mehr zu den hohen Fens­tern empor, die den Innen­hof um­schlos­sen. Es interes­sierte ihn auch nicht, ob der Her­zog oben noch immer am Fens­ter stand und ihm hinter­her­blick­te. Ganz sicher war er seinem Land ein guter Diener und daran würde sich auch nichts ändern. Das Parie­ren war ihm als Soldat zur zwei­ten Natur ge­worden, moch­ten seine Feier­abend­gedan­ken auch eigene Wege gehen. Aber wie sollte er seinem Sohn er­klären, dass er als Vater vor dem Her­zog ver­sagt hatte? Gra­de­wegs lief Haupt­mann Schil­ler in eine Gruppe von Sol­daten und Offi­zieren, die auf dem Weg in eines der Ge­bäude waren. Er rem­pelte sogar zwei von ihnen an, mur­melte eine nicht ver­ständ­liche Ent­schul­digung und ging, ohne militä­rischen Gruß, be­glei­tet von den Pro­test­rufen ein­fach weiter. Nur dem Ein­grei­fen eines älte­ren Offi­ziers ver­dankte er es, dass es nicht zu Hand­greif­lich­keiten kam. Dieser fasste die An­gerem­pelten am Arm und hielt sie mit den Worten zurück: »Lasst ihn. Das ist der Schil­ler. Der kommt gerade vom Her­zog …«. Un­will­kür­lich blick­te die Gruppe nach oben. Sie sahen tat­säch­lich ihren Carl Eugen am Fens­ter stehen und zu ihnen hin­unter­schau­en. Rasch zer­streu­te sich die Gruppe.

Unter einem der Tor­bogen ver­weilte Kaspar Schil­ler, zog die Schrift­rolle hervor und über­flog den ver­loge­nen und schick­sal­haften Text.

Nach­dem es Seiner regie­renden Herzog­lichen Durch­laucht zu Würt­temberg gnä­digst ge­fällig ge­wesen, unse­ren Sohn

Johann Chris­toph Fried­rich Schil­ler

in die Herzog­liche Mili­tär-Akade­mie zu unse­rer unter­tänigs­ten Dank­sagung in Gnaden auf­zu­nehmen, ( …) ver­spre­chen wir, dass oben­be­nann­ter unser Sohn dieser Ein­rich­tung sowohl als allen übri­gen Geset­zen und An­ord­nungen des Insti­tuts auf das Genau­este nach­zu­leben ge­flis­sen sein wird …

Kaspar Schil­ler las den Text er­neut, Wort für Wort. Tränen traten ihm, dem hart ge­sotte­nen Offi­zier, in die Augen und er weinte hem­mungs­los. Alle an­gestau­te An­span­nung, Wut und Ent­täu­schung ließen sich nicht länger zurück­halten. Pas­santen und Wacht­posten blick­ten ihm in sein tränen­über­ström­tes Ge­sicht. Aber nie­mand wagte, sich ihm zu nähern. Erst in der Nähe des Opern­hauses nahm Kaspar Schil­ler schließ­lich wahr, dass er durch die Schloss­an­lagen ging. Er blieb stehen, ver­suchte, sich zu be­ruhi­gen, und be­trach­tete den Prunk­bau mit all den Zier­raten und Ver­klei­dungen. In­zwi­schen hatte es auch auf­gehört zu regnen. Ihm fiel ein, dass es des Her­zogs An­ord­nung ge­wesen war, dieses Pracht­ge­bäude aus Holz zu er­rich­ten. Ein Holz, so dachte Kaspar Schil­ler mit inne­rer Be­friedi­gung, das sich dem durch­lauch­tigsten Be­fehl bald wider­setzen und im moras­tigen Grund ver­faulen musste. Tat­säch­lich be­ru­higte er sich ein wenig und wisch­te sich mit dem stei­fen Stoff seiner Uni­form­jacke über das Ge­sicht. Er nahm seinen Weg auf der schnur­gera­den Straße wieder auf, und als er vor Witt­leders Bude stand, in der man Amt und Würde all­jähr­lich kaufen musste, wollte man ihrer nicht ver­lustig gehen, stand sein Ent­schluss fest. Wenn die Zeit reif wäre, würde er Fritz den Ent­schluss des Her­zogs mit­teilen. Knapp und ohne un­nötige Ge­fühle würde er ihm er­klären, dass er seine künf­tige Lauf­bahn als die eines Beam­ten in Würt­tem­berger Diens­ten zu sehen habe. Und wenn es ihm als Vater auch das Herz brach, er würde von Fritz Ge­horsam for­dern, ihn schließ­lich auf seinem Weg zur Militä­rischen Pflanz­schule be­glei­ten und hoffen, dass er stark genug sei, dort sein Glück zu machen. Die Er­kennt­nis der eige­nen Hilf­losig­keit er­griff ihn und er wusste, dass es seinem Sohn genau­so er­gehen würde. Kaspar Schil­ler zog sich den Uni­form­rock grade, rückte sich den Degen zu­recht und rich­tete den Blick nach vorn. Fritz würde das erste Mal die Ein­sam­keit des Lebens­kamp­fes spüren, der er schon seit Kindes­beinen, als sein eige­ner Vater früh ge­stor­ben war, aus­ge­setzt ge­wesen war. Er würde er­wach­sen werden. Ganz sicher würde es ihn stär­ken. Darauf jeden­falls rich­tete Kaspar Schil­ler jetzt seine ganze Hoff­nung.

Kapitel 4

Noch ein­mal flehte Fritz ohne Hoff­nung: »Habt doch Mit­leid mit mir! Gebt mich nicht weg! Ihr wollt doch nicht mein Un­glück. Ich habe es ge­ahnt, seit der Ho­ven weg ist. Aber warum muss ich den glei­chen Weg gehen? Jeder Mensch hat doch etwas in sich, das sich nicht be­fehlen lässt! Gilt das Wort des Her­zogs so viel mehr als meine Not?«

Kaspar Schil­ler stand marsch­bereit in der Tür und sah wort­los zu Boden. Wäh­rend der ver­gange­nen Weih­nachts­feier­tage hatte Fritz ver­sucht, das Un­ver­meid­liche zu ver­gessen. Be­son­dere Auf­merk­sam­keit war ihm von seinen Eltern zu­teil­gewor­den, die er an seine Ge­schwis­ter weiter­gab. Jetzt quälte ihn der Ab­schied um­so härter. Frie­rend stand Fritz in der Fins­ter­nis vor seiner Mutter und den Ge­schwis­tern. Ein schwa­ches Kerzen­licht er­leuch­tete den Raum. Das Phi­ne­le fiel ihm schluch­zend um den Hals: »Ach, könnte ich nur für dich gehen! Ich halte zu dir und denke immer an dich!« Seine Mutter saß kraft­los auf einem Stuhl in der Stube und reich­te ihm einen Becher mit warmer Milch, den Fritz aber igno­rierte. Statt­dessen fiel er auf die Knie und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre Hände stri­chen sanft über seinen Nacken. Doro­thea Schil­ler flüs­terte Worte des Tros­tes, wie immer, wenn er schwer krank dar­nieder­gele­gen hatte. Fritz sah ihre Tränen, wie sie un­gehin­dert über ihre Wangen liefen. Es hatte keinen Zweck, das Leid des Ab­schieds zu ver­län­gern. Er wollte seine Fami­lie nicht mit der eige­nen Ver­zweif­lung quälen. Er trank die Milch, dann drück­te er seine beiden klei­nen Schwes­tern an die Brust, die ver­schüch­tert in ihren weißen Nacht­hemden in der fins­teren Ecke der Stube stan­den und ihn mit großen Augen an­schau­ten. Seinen Ranzen hatte Fritz be­reits ges­tern ge­packt. Doro­thea Schil­ler legte ihm noch ein Brot da­zu. Er schul­terte seine Hab­selig­keiten, trat vor seinen Vater. »Hat er an alles ge­dacht?«, fragte dieser und maß seinen Sohn mit prü­fendem Blick. Fritz nickte, blieb die Ant­wort schul­dig, weil ihm die Stimme ver­sagte.

Draußen emp­fing Fritz die bei­ßende Kälte des Win­ters. In der Nacht hatten Schnee­stürme ein­ge­setzt, die jetzt im fahlen Morgen­licht noch nichts von ihrer Heftig­keit ein­gebüßt hatten. Eisi­ger Wind zerrte an dem kahlen Ge­äst der Allee­bäume und raubte Fritz ein ums andere Mal den Atem. Schwer schlepp­te er an seinem Ranzen und stemm­te seinen schma­len Körper den Widrig­keiten dieses Tages ent­gegen. Die unter­drück­ten Tränen saßen ihm noch in der Kehle. Fast emp­fand er es als Er­leich­terung, dass der eisige Wind sie jetzt aus den Augen­win­keln trieb. Vor ihm stapf­te Kaspar Schil­ler, der ihm so ein wenig Schutz vor dem Wind bot und mit seinen Fuß­stap­fen den Tritt er­leich­terte. Fritz mus­terte die breite, ver­schnei­te Ge­stalt seines Vaters, der sich Schritt um Schritt, leicht nach vorn ge­beugt, nicht vom Weg ab­brin­gen ließ. Er stell­te sich vor, dass der Vater stehen blieb und ihn ein­fach in seine Arme schlie­ßen würde, aber er war sich zu­gleich sicher, dass dies so nicht ge­sche­hen konnte. Der Ruf einer hung­rigen Krähe klagte von weit her über das Feld, wurde aber bald vom Nebel und der nieder­sin­kenden Wolken­masse er­stickt. Die weißen Park­anla­gen lagen wie eine leb­lose Ebene vor ihnen. Fritz be­hielt die Schul­tern seines Vaters im Blick und schritt dem Un­ver­meid­lichen ent­gegen. In dieser ver­zwei­felten Situa­tion wurde ihm be­wusst, wie alt und hilf­los der Vater sich ge­fühlt haben musste, als er die Forde­rung des Her­zogs ent­gegen­genom­men hatte, wie schwer ihm selbst dieser Gang sein musste und wie müh­selig er an der inne­ren Un­auf­rich­tig­keit seines ge­duck­ten Lebens trug. Er würde nicht stehen blei­ben und sich nach ihm um­drehen. Kaspar Schil­ler konnte Fritz nicht ins Ge­sicht sehen und hatte doch keine Schuld daran. Sein Vater war klein und ihn drück­te die Last des Lebens schwer. All dies er­kannte Fritz in über­deut­licher Klar­heit. Irgend­wie machte ihm diese Er­kennt­nis seinen eige­nen Weg leich­ter.

Fritz blies die warme Atem­luft in die frost­blauen Finger seiner Fäuste. Der Weg, der jetzt durch den Schloss­park führte, schien nicht enden zu wollen. End­lich hob sich auf dem Hügel das Rokoko­schloss mit seiner um­lau­fenden Gale­rie aus der Nebel- und Schnee­wand hervor. Hoch wölbte sich die be­schnei­te Kuppel des Mittel­baus. Aus den Kami­nen stieg Rauch. Kaspar Schil­ler ver­lang­samte seinen Schritt, ließ Fritz näher heran­kommen. Dann deu­tete er, ohne sich um­zu­drehen, auf die mäch­tig ge­schwun­gene Doppel­treppe vor dem Schloss und sagte: »Dies wird dein neues Heim sein, mein Sohn …« Fritz schien es so, als habe er noch etwas Trös­tendes an­fügen wollen, aber sein Vater schwieg nach kurzem Zögern und stapf­te weiter durch den Schnee. Erst, als sie fast die Treppe er­reicht hatten, drehte sich Kaspar Schil­ler zu seinem Sohn um, fasste ihn bei den Schul­tern und sah ihm mit großem Ernst in die Augen. »Gib er mir sein Wort, dass er den Be­fehlen Folge leis­ten und flei­ßig lernen wird. Denk er daran, was ich ihm ein­ge­schärft habe. Dies hier ist keine Dorf­schule mehr und es herrscht militä­rische Ord­nung! Unter­schät­ze er dies nie! Er weiß, dass die Fami­lie von der Gunst des Her­zogs lebt. Be­denke er dies stets!« Als sich seines Vaters Blick für einen Moment in der Weite ver­lor, be­merkte Fritz, dass er angst­voll auf die Fes­tung Ho­he­na­sperg mit dem Ge­fäng­nis­turm schau­te. Fritz fror er­bärm­lich, dass ihm die Zähne hart auf­einan­der schlu­gen.

Stun­den­lang führte sie ihr Weg über die langen Flure des Schlos­ses von Kanz­lei zu Kanz­lei. Hier waren Papie­re aus­zu­ferti­gen, dort unter­suchte man ihn auf seine körper­liche und geis­tige Eig­nung und schließ­lich be­riet man über die vom Land­schul­examen und der Schule be­schei­nigten Leis­tungen. Noch nie hatte Fritz das Schloss­ge­bäude be­treten, und er staun­te über den zur Schau ge­stell­ten Reich­tum, be­merkte aber zu­gleich auch, dass sein Vater seinen siche­ren Ton ver­lor und sich in devo­ter Höf­lich­keit übte. Als ob es nicht genug ge­wesen wäre, dass er hier in Skla­ven­diens­te ein­trat, wurde offen­bar noch er­wartet, dass man sich duckte und buckel­te! Ein An­stalts­medi­kus diagnos­tizierte bei dem groß ge­wach­senen Jungen Unter­ge­wicht, eine Augen­ent­zün­dung und leich­te Er­frie­rungen an den Füßen. An­sons­ten wurde Fritz für taug­lich be­funden.

Man wies ihm seinen zu­künf­tigen Klas­sen­raum und sein Arbeits­pult zu. Fritz ver­staute seine Bücher. Der Drei­zehn­jäh­rige wurde ent­spre­chend der Ord­nung der An­stalt in eine blaue Uni­form ge­steckt, ver­voll­stän­digt durch weiße Weste und Hose, durch Degen und Stul­pen­stie­fel, durch einen Zwei­spitz mit Silber­tres­sen und Feder­busch sowie durch einen Zopf und den auf jeder Seite mit Gips ver­kleis­terten Schlei­fen­locken. Haupt­mann von Seeger hän­digte ihm die um­fang­rei­chen Regeln der Militä­rischen Pflanz­schule aus und be­fahl ihm, diese binnen zwei Tagen zu lernen. Man würde ihn ab­fragen und nach zwei Tagen kein Pardon bei Ver­stößen geben.

Ein Bett mit Namens­schild wurde Fritz zu­gewie­sen und im Schlaf­saal das rasche Ab­schied­nehmen be­fohlen. Vor den gaf­fenden Eleven, die nach ihrem mor­gend­lichen Exer­zieren jetzt ihre Betten mach­ten, reich­te ihm sein Vater die Hand zum Kuss. Fritz spürte, dass es jetzt end­gültig kein Zurück mehr geben konnte, dass seine Kind­heits­tage hinter ihm lagen. Un­sicher­heit, Angst und Ver­zweif­lung über­mann­ten ihn. Er wurde ein letz­tes Mal zum Kind. Tränen ström­ten ihm über die Wangen und ein Schluch­zen von tief unten aus seinem schmäch­tigen Körper schüt­telte ihn. Seine blas­sen Lippen such­ten die Hand des Vaters und er ver­weilte in dieser Hal­tung, wollte den Moment hinaus­zögern. Es küm­merte ihn nicht, was seine künf­tigen Mit­schü­ler denken moch­ten. In seiner Ver­zweif­lung waren ihm diese nicht exis­tent.

»Ich muss jetzt gehen, Fritz. Es ist ja kein Ab­schied auf immer, auch wenn ihn seine Ge­schwis­ter und seine Mutter hier nicht be­suchen dürfen. Aber das weiß er ja.« Selten hatte die Stimme seines Vaters so mild ge­klun­gen. »Es hat mich sehr ge­freut, was sein Latein­lehrer Jahn und der Prä­zeptor Hon­hold über ihn ge­schrie­ben haben. Er ist doch ein braver Junge, der uns auch hier Ehre machen wird.« Noch immer er­hob sich Fritz nicht aus der ge­bück­ten Hal­tung. Noch immer ließ er nicht ab von der Hand seines Vaters. Un­gebro­chen ström­ten die Tränen. »Achte er mir auf seine Füße. Mit Er­frie­rungen ist nicht zu spaßen. Das schmerzt sehr, wenn man diese Dinge nicht ernst nimmt.« Fritz hörte seinen Vater seuf­zen. Mit einer Hand griff er ihm unters Kinn und hob das Ge­sicht des Jungen empor. Tief­ernst und trau­rig sah er dem Jungen in die Augen. »Adieu, mein Sohn. Gott be­schüt­ze ihn!« Dann fuhr er ihm mit der Hand sanft wie nie über den Hinter­kopf. Diese Geste er­in­nerte Fritz an seine Mutter und er ver­lor den letz­ten Rest von Hal­tung. Er warf sich wei­nend an die Brust seines Vaters, der ihn mit beiden Armen um­fing und ver­legen nach dem Auf­seher schau­te, der im Flur war­tete. Ein paar Eleven lach­ten und rissen Witze über das Mutter­söhn­chen. Dies machte Kaspar Schil­ler zornig und in einem bar­schen Ton­fall, der dem eines Offi­ziers würdig war, wies er die Grün­schnä­bel zu­recht: »Gleich­gültig ist wohl nur der, meine Herren, der nie ein Eltern­haus ge­habt hat. Sie sind doch wohl ge­bil­dete Perso­nen oder jeden­falls solche, die auf dem besten Weg sind, es zu werden. Da soll­ten Sie wissen, was Schmerz heißt und Ab­schied nehmen, und sich nicht so kin­disch auf­führen und auf Kosten eines Schwä­cheren be­lusti­gen! Ich darf wohl an­nehmen, dass Sie meinem Sohn gute Kame­raden sein werden, die ihm sein Eltern­haus er­setzen und seinen Ver­lust, den er heute er­leidet, er­träg­lich machen werden? Ich bitte Sie darum, meine Herren!«

Doch ein­geschüch­tert reagier­ten die Eleven keines­wegs. Ein stäm­miger Kerl mit brei­tem Mund rief ver­gnügt: »Haben Sie keine Sorge, Herr Haupt­mann, beim Landes­vater selbst sind wir wie im Para­dies. Milch und Honig strö­men uns in den Rachen. Und ge­bra­tene Tauben pflü­cken wir uns all­täg­lich von den Bäumen …« – »Unser Vater sorgt gar väter­lich für uns, so als hätte er uns alle ge­zeugt!«, wusste ein ande­rer zu er­gänzen und ern­tete dafür Ge­läch­ter und tosen­den Bei­fall, vor allem von jenen zahl­rei­chen Eleven, die tat­säch­lich in Ver­dacht stan­den, un­ehe­liche Kinder von Carl Eugen zu sein.

»Dan­ne­cker, Scharf­fens­tein! Sie speku­lieren wohl auf Arrest!«, er­tönte die fros­tige Stimme des Auf­sehers.