Dieser Sommer in Triest - Udo Weinbörner - E-Book

Dieser Sommer in Triest E-Book

Udo Weinbörner

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Beschreibung

Viktoria Farber muss erkennen, dass ihr Leben als Handchirurgin seit ihrer Diagnose ‚Parkinson‘ keine Zukunft mehr hat. Verzweifelt flieht sie nach Triest. Dabei ahnt sie nicht, wie sehr diese ‚Stadt der Winde‘ mit ihren Prachtbauten und österreichischen Kaffeehäusern sie mitreißen und verändern wird. Schon bald findet sich Viktoria in einem Strudel von Konflikten wieder, die vom Vertrieb gefälschter Gemälde, bis hin zu Grundstücksspekulationen in der Lagune vor Grado reichen. Am Ende dieses Sommers steht ihre größte Entscheidung an: Kann sie sich trotz ihrer Krankheit auf die Liebe ihres Lebens einlassen?

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Dieser Sommer in Triest

Roman

Udo Weinbörner

Überarbeitete 2. Auflage im September 2019

Alle Rechte bei Verlag/Verleger

Copyright © 2019

Fehnland-Verlag

26817 Rhauderfehn

Dr.-Leewog-Str. 27

www.fehnland-verlag.de

9783947220281

Für Anne

und Jan und Justine

In Liebe & Dankbarkeit

Jeder Reisende sucht,

was er nicht ist,

wovon er aber weiß,

dass es erst die ganze Wahrheit

über ihn ausmacht.

Inhalt

– 1 –

– 2 –

– 3 –

– 4 –

– 5 –

– 6 –

– 7 –

– 8 –

– 9 –

– 10 –

– 11 –

– 12 –

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– 16 –

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– 47 –

– 48 –

– 49 –

Begleitwort des Autors und Literaturhinweise:

– 1 –

Ein leich­tes Zit­tern in der linken Hand. Kaum spür­bar. Aber aus­rei­chend, um den Be­we­gungs­fluss zu stören. Der Faden von Konzen­tration und Rou­tine zer­riss. Sie hielt inne, den Blick auf die ver­zerrt ver­grö­ßerte eigene Hand ge­rich­tet. Norma­ler­weise arbei­tete sie prä­zise wie eine Maschi­ne, die fili­grane Füh­rung des Skal­pells wie ein Zauber­stab. Sogar die Naht über­ließ sie keinem ande­ren. Und jetzt dieses Zit­tern! Dieser zer­ris­sene Faden! Seit Jahren über­rasch­te sie kein Sto­cken mehr. Präzi­sions­arbeit ließ keine Zwei­fel bei der Aus­füh­rung zu. Wenn sie an den OP-Tisch trat, war ihre men­tale Vor­berei­tung ab­geschlos­sen. Sie hatte es bei Renn­fah­rern be­obach­tet, wie diese vor dem Start in den Boxen hock­ten, die Augen ge­schlos­sen und die Stre­cke in Ge­danken fuhren. Wie diese den Körper jede Kurve mit­schwin­gen ließen. Genau­so war es bei ihr. Be­vor sie den Opera­tions­saal be­trat, kannte sie jeden Schnitt, hatte in Ge­danken jedes Instru­ment in die Hand ge­nommen, ihr Ge­wicht vom linken auf das rechte Bein ver­lagert. Sobald sie die Ver­größe­rungs­gläser auf­setzte, tauch­te der Rest der Welt um sie herum end­gültig ab.

Es hörte auf; ihre Hand – ganz ruhig. Sie wusste, jetzt musste sie wieder von vorn begin­nen mit ihrer Konzen­tration. Wo hatte sie auf­gehört?

Immer schon wollte sie Hand­chir­urgin werden, stau­nend vor diesem Gottes­werk­zeug stehen, be­grei­fen, was Jahr­mil­lionen an Evolu­tion für ein Wunder voll­bracht hatten. Die Über­legen­heit der mensch­lichen Rasse lag nicht allein in der Ent­wick­lung des Be­wusst­seins; die techni­sche Über­legen­heit rührte von der Fähig­keit des Be­grei­fens. Ver­wun­dert, als sähe sie die Hand des Patien­ten jetzt zum ersten Mal, schau­te sie auf das Opera­tions­feld. »Mehr Licht!« Ihre Stimme war bar­scher als ge­wöhn­lich, der Satz eine Brücke zur Nor­mali­tät. Kahn­bein­frak­tur. Ein schwe­rer Sturz. »Wi­schen bitte!« Die OP-Schwes­ter zur Linken tupfte ihr ober­halb der Brille den Schweiß von der Stirn.

Doch die Rou­tine wollte sich nicht wieder ein­stel­len. Die Ge­danken ordnen. Os-na­vi­cu­la­re-Frak­tur, ein Rou­tine­ein­griff am Hand­wurzel­kno­chen. Dia­gnose ge­si­chert durch Compu­ter­tomo­grafie. Präzi­sions­arbeit wie eine mathema­tische Be­weis­füh­rung, an deren Ende man die Voll­kommen­heit der Schöp­fung be­staunt, aber doch nur Flick­werk da­gegen zu setzen ge­habt hatte. Der Ehr­geiz, dem Origi­nal, der Natur mög­lichst nahe­zu­kommen. Sie war gut darin – die Beste ihres Jahr­gangs.

Irgend­jemand räus­perte sich. Der An­ästhe­sist gab Blut­druck­werte zum Besten, viel­leicht auch, um die un­gewohn­te Pause zu be­enden. Sie blick­te kurz zur Seite, aber er gab sich be­schäf­tigt. Warum sollte dies heute anders sein? Sie galt als kühler Profi. Ruhi­ger wer­dend, präpa­rierte sie zwei kleine Kno­chen­stücke frei und setzte sie an die rich­tige Posi­tion. Kon­troll­blick zu den Auf­nahmen auf dem Licht­feld an der Wand. Ein weite­rer Kno­chen­split­ter musste links von der Sehne des Mittel­fin­gers sitzen, doch sie fand ihn nicht sofort. Ver­drah­tung, um den Opera­tions­fort­schritt zu si­chern oder weiter­suchen? Sie stock­te er­neut, wurde nervös.

Nicht die Hand des Patien­ten, ihre eigene lag er­neut im ver­zerr­ten Blick­feld ihrer Ver­größe­rungs­gläser. Es kam wieder, das Zit­tern. Sie spürte es ganz deut­lich, jeder wei­tere Schnitt wäre jetzt fahr­lässig. Wie er­starrt, an­ge­sichts der Ent­de­ckung! Der Ver­such, das Zit­tern zu unter­drü­cken, führte zu einer un­mensch­lichen An­span­nung. Ihre Zähne knirsch­ten.

Sie über­gab das Skal­pell für das Des­infek­tions­bad, die Hände er­hoben, in steri­ler grüner Plas­tik­ver­pa­ckung, wie zur Auf­gabe bereit. Ihre Augen hielt sie halb ge­schlos­sen, jeg­liches Leben schien aus ihr ge­wichen. Reg­los stand sie da, bereit, ja ent­schlos­sen, weiter­zu­machen, doch die Eises­kälte kroch ihre Beine hinauf. Leb­los wie eine Plas­tik­puppe konnte sie nicht länger in der ihr eige­nen ele­ganten Fech­ter­pose ver­harren. Sie ge­riet ins Wanken, machte einen un­siche­ren Schritt nach hinten. Es ging gut, sie stürz­te nicht. Die Uhr im OP-Saal an der Wand über dem Ein­gang tickte laut in der Stille des Vor­mit­tags, die Zeiger stan­den auf zehn nach neun.

Der Chef sprach mit ihr, doch sie ver­stand ihn nicht. Irgend­etwas von Über­nahme und jemand solle sie raus­brin­gen. Seine Ver­ärge­rung hallte in ihr nach. Seine tiefe Stimme ver­klang erst all­mäh­lich in ihrem Inne­ren, als sie spürte, wie sie jemand bei den Schul­tern fasste und in den Vor­raum zu den Wasch­becken und zur Um­kleide führte.

Sie bat darum, allein sein zu dürfen. Es ginge schon wieder. Keine Er­klä­rungen, nicht jetzt. Sie suchte selbst noch nach Er­klä­rungen für das, was da drin­nen ge­sche­hen war. Wie aus der Zeit ge­fallen, stand sie un­schlüs­sig im Flur der Sta­tion und blick­te aus einem Fens­ter auf die Straße. Unten fuhr ein Kran­ken­wagen mit Blau­licht vor. Die Kälte und der Schre­cken saßen tief. Er­schöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.

»Na, Prin­zessin, Höchst­strafe? Dass dir auch mal so was pas­siert ist!« Der Spott Schrö­ders war nicht zu über­hören. Dr. Marcel Schrö­der, Knack­arsch, das strei­chelte sein Ego. Sie winkte nur ab: »Lass mich ein­fach in Ruhe! Ver­stan­den?« Doch er frot­zelte weiter, nahm sie nicht so ernst, ge­noss ihre Nieder­lage noch, be­vor er wissen konnte, worum es eigent­lich ging. Sie blick­te an­ge­strengt in die ent­gegen­gesetz­te Rich­tung aus dem Fens­ter, be­müht, ihn zu über­hören. Was hatte sie ihm nur an­getan, dass er sich so auf­spiel­te? Viel­leicht war er selbst­kri­tisch genug, sein eige­nes Mittel­maß zu er­kennen. Schrö­ders Un­geduld würde aus ihm nie einen Hand­chir­urgen werden lassen. Nicht ein­mal als Lieb­haber be­wies er Finger­spit­zen­gefühl. Sie er­tappte den Lieb­ling der Götter, wie er, wäh­rend sie sich lieb­ten, im Spie­gel mit einem Seiten­blick den Sitz seiner Frisur prüfte. Dr. Locke, wie sie ihn seit­dem spöt­tisch nannte, schwitz­te nicht gern, alles Animali­schen war ihm fremd. Sie wollte ihn halt mal nackt sehen. Der Preis dafür, sich eben­falls aus­ziehen und an­fassen zu lassen, schien ihr bei Prü­fung aller Um­stände an­gemes­sen zu sein. Die ganze Sache war es dann doch nicht wert ge­wesen. Irrtü­mer wie diese, dachte sie jetzt in einem Moment großer Klar­heit, pas­sieren mir immer häufi­ger, weil ich mich ein­sam fühle.

Sie brauch­te jetzt einen raben­schwar­zen Kaffee, den es im Schwes­tern­zimmer gab. Auf dem Weg dort­hin be­geg­nete ihr Sta­tions­schwes­ter Agnes, Schwan­ger­schaft im sechs­ten Monat, wunder­schöne schma­le Hände. Sie tausch­ten ein paar Freund­lich­keiten aus. Agnes fragte sie nicht nach dem Vor­fall im OP.

Es wurde auch für Vikto­ria Zeit, Bilanz zu ziehen. Der Ge­danke er­schreck­te sie in letz­ter Zeit bei den unter­schied­lichs­ten An­lässen. Ein Kind wäre eine Mög­lich­keit. Mit Freun­dinnen hatte sie dar­über ge­wit­zelt. Ge­legen­heiten hatte sie genug, sich eines zeugen zu lassen. Man bräuch­te ja keinen Vater da­zu. Einen Kerl, einen ordent­lichen Stän­der, ein wenig Spaß, gute Gene. Die bio­logi­sche Uhr schlug Kaprio­len. Und diese Ein­sam­keit, die sich danach nicht aus­radie­ren ließ, wenn man sich an einem frem­den männ­lichen Körper rieb, ein paar Nächte nicht allein schlief.

Sie ging am Schwes­tern­zimmer vorbei, holte ihren Mantel. Sie mel­dete sich krank, hoffte ins­geheim darauf, noch als Schwind­lerin ent­larvt zu werden. Ein Er­schre­cken, eine Zu­recht­wei­sung und alles könnte wie früher sein. Doch der ganze März war wie ein böser, wirrer Traum, das jeden­falls dachte sie, als sie durch die sich auto­ma­tisch öff­nenden Glas­türen des Haupt­ein­gangs ging, noch unter dem Vor­dach stand, am obers­ten Knopf des Mantel­kra­gens nes­telte und dem Regen zu­sah, der auf den As­phalt klatsch­te, um in Bächen zum Park­platz hin­unter zu strö­men. Diese Kälte, diese Fins­ter­nis, die nicht wei­chen wollte, diese Sehn­sucht nach ein wenig Sonne zwi­schen den Kran­ken­haus­schich­ten ließ sie jedes Jahr schier ver­zwei­feln.

›Wo blieb im März das Früh­jahr? Keinen Kerl, kein Auto und irgend­ein ver­damm­tes Zit­tern, was noch, du ein­same alte Schnep­fe?‹, be­gann sie sich in stum­mer Wut zu be­schimp­fen.

»Du bist zu gut für den Alten – viel zu gut. Das ver­trägt kein Mann auf Dauer«, da lief er wieder leicht­füßig auf sie zu. Dr. Locke, baute sich männ­lich breit­beinig vor ihr auf, spiel­te mit dem Auto­schlüs­sel in der Hand.

»Was willst du?«, es ge­lang ihr ein ge­quäl­tes Lä­cheln. Noch be­vor er ant­worten konnte, setzte sie nach: »Es war ein üb­licher Fall. Bei der Amputa­tion habe ich die linke mit der rech­ten Hand ver­wech­selt oder war es um­ge­kehrt? Egal! Jeden­falls, der Chef hat was zu nähen. War‹s das?«

»Wie wäre es mit ein wenig Ent­span­nung bei dir zu Haus? Ich fahre dich auch.«

Noch nicht ein­mal eine Ab­fuhr würde ihm etwas an­haben. Seine Selbst­bezo­gen­heit schirm­te ihn gegen jede Zurück­wei­sung ab, machte ihn un­an­greif­bar und natür­lich auch un­belehr­bar.

»Wieder­holun­gen lang­weilen mich.« Sie hielt die Hand in den Regen, als würde sie die Tempe­ratur einer köst­lichen Nässe kosten. »Und ich liebe dieses Wetter. Es macht einen klaren Kopf.« Dann schritt sie wie eine Köni­gin davon und ver­suchte tapfer, den Regen zu igno­rieren, der ihr hinten in den Mantel­kragen lief. Der Ge­danke, dass Dr. Locke, alias Knack­arsch Schrö­der, ihr kopf­schüt­telnd noch nach­schau­en würde, machte das alles halb­wegs er­träg­lich. Jeden­falls so lange, bis sie im nächs­ten Linien­bus in der letz­ten Ecke hockte und sich ihre Tränen von den Wangen wisch­te.

Sie schlepp­te sich die höl­zerne Stiege zu ihrer klei­nen Zwei­zimmer­woh­nung im drit­ten Stock eines Miets­hauses in billi­ger, weil lauter Kölner Stadt­lage, Nähe Zoll­stock, hinauf. Seit ihrer Stu­dien­zeit lebte sie hier, immer war etwas wich­tiger ge­wesen als die Suche nach neuen vier Wänden. Nicht ein­mal Regale hatte sie ge­kauft und auf­ge­stellt. Früher hatte sie Lite­ratur ge­liebt, jetzt las sie fast aus­schließ­lich Krimis und Fach­lite­ratur, Bücher, die sich, wenn sie diese nicht sofort den Schwes­tern schenk­te, in Um­zugs­kar­tons an der Wand sta­pelten. In das Chaos von Wohn­zimmer mit Küchen­zeile ließ sie ohne­hin keine Gäste. Sie ver­mied es, Ein­ladun­gen an­zu­nehmen, und kam es zur Not­wendig­keit einer Gegen­ein­ladung, gab sie, auch wenn sie es sich kaum leis­ten konnte, in den besten Loka­len der Stadt die per­fekte Gast­gebe­rin. Es sollte nicht über sie ge­redet werden. Der ein­zig vor­zeig­bare Raum der Woh­nung, ihr Schlaf­zimmer, war ihr Aller­heiligs­tes. Teuer ein­gerich­tet, in­di­rekte Be­leuch­tung, schöne eroti­sche Drucke an den Wänden. Ihr Rück­zug aus einer chaoti­schen Welt und der ein­zige Raum neben dem Bad, den sie, wenn es sich nicht ver­meiden ließ, mit Lieb­habern teilte.

Ein leich­tes Schlaf­mittel, dann drück­te sie sich ein Kopf­kissen an ihr Ge­sicht, ver­grub sich darin, um den Lärm aus­zu­blen­den. Die Stra­ßen­bahn, die unten vorbei­rum­pelte, die Nach­barin, die wieder mal Zoff mit ihrem Lover hatte. Ihre Stimme, immer schril­ler, wie split­terndes Glas. Gerade, als sie meinte, dieser Streit ginge end­los weiter, das Zu­schla­gen der Woh­nungs­tür. Draußen heulte der Motor des Wagens auf. Es war ein Trick, die Ge­räu­sche zu einem gleich­förmi­gen Band der Wahr­neh­mungen zu redu­zieren, das nur noch wenige Höhen und Tiefen kannte. Ge­lang es, ver­sank ihr Be­wusst­sein in einem gleich­förmi­gen Rau­schen. Doch heute arbei­tete es in ihrem Kopf immer weiter. Sie ver­ließ ihr Bett, zog das Rollo wieder hoch und starr­te ab­wech­selnd auf den Park­platz hinter dem Haus und auf ihr Spie­gel­bild auf der ver­dreck­ten Schei­be. Das Spie­gel­bild schloss sie nicht in die Arme, blick­te nicht freund­lich zurück, kein ein­ziges Mal, nur ihre fra­genden Augen in dem blei­chen Ge­sicht, die starr auf einen Punkt in der Ferne ge­rich­tet schie­nen, aber noch nichts zu er­kennen ver­moch­ten.

»Dr. Marcel Schrö­der«, sie er­tappte sich, als sie seinen Namen mur­melte. Ein Bild von einem Kerl. ›No Sports‹ und dabei wie von Michel­angelo in Marmor ge­mei­ßelt. Die Natur ver­schwen­dete sich immer an die Fal­schen. Eigent­lich war Locke nicht so übel, hatte auch seine guten Seiten. Ein Licht­blick von guter Laune, ein Leucht­turm im Meer der Schick­sale des Klinik­all­tags und der Stim­mungs­schwankun­gen in­folge der stän­digen Über­forde­rung und der Dauer­müdig­keit. Sie musste ihn jetzt nicht zum Heili­gen stili­sieren, um sich ganz even­tuell ein­zu­geste­hen, dass sie etwas zu schroff und zu arro­gant mit ihm um­gegan­gen war. Was, wenn es sich tat­säch­lich um be­sorgte An­teil­nahme ge­han­delt hatte? Sie wählte seine Nummer, ließ es fünf, sechs Mal klin­geln. Wollte schon auf­legen, um ihn nicht zu wecken, als sich eine ki­chernde Stimme einer jungen Frau mel­dete. »Hallo, wer da? Hallo? Hören Sie, das passt jetzt gar nicht.« Pause. Seine Stimme aus dem Hinter­grund. »Ja, ich leg schon auf, ich komme schooon.«

Die Frau am ande­ren Ende der Tele­fon­ver­bin­dung musste sich nicht vor­stel­len, sie er­kannte die Stimme am Klang: Elena, die Blonde, mit dem ge­bär­freu­digen Becken, den end­los langen blon­den Haaren und D-Körb­chen. Elena, aus Kasachs­tan, eine von den Sta­tions­mäus­chen, die mit ihren Körper­pfun­den an den rich­tigen Stel­len zu wu­chern wusste. Elena wusste auch, dass sie nicht in die Welt passen würde, in der Locke lebte, mit Kon­zerten, Aus­stel­lungen, Lite­ratur, eben Lo­ckes wirk­liche Leiden­schaf­ten. Kultur ge­hörte für Elena in die Männer­welt. Im wahren Leben konnte sie nur etwas mit Sachen an­fangen, wenn diese wenigs­tens mit Geld zu tun hatten.

Vikto­rias Tele­fon­hörer fiel ihr aus der Hand, als stünde er unter Strom. Doch sie lächel­te über ihre Naivi­tät. Weder eine Glucke, noch ein Mäus­chen wollte sie sein, und es sollte mit dem Teufel zu­gehen, wenn es ihr jetzt nicht end­lich ge­länge ein­zu­schla­fen.

– 2 –

Die Compu­ter­tomo­grafie machte ein ehe­mali­ger Stu­dien­kol­lege für sie und ver­buchte die Unter­su­chung als Geräte­test­lauf. Ge­mein­sam starr­ten sie auf das Innere ihres Ge­hirns, wäh­rend er ihr die schöns­ten Kompli­mente machte. Kein Tumor, kein Schlag­an­fall, das Er­geb­nis be­ru­higte sie nicht wirk­lich. Ihr Zit­tern in der linken Hand ver­schwieg sie ihm, auch die Schmer­zen in der Schul­ter und die Muskel­ver­här­tungen in der Wade. Schlaf­stö­rungen und De­pres­sionen nahm sie als Folge­wir­kungen ihrer Ängste. Nichts Lebens­bedroh­liches, daher für sie sekun­där. Aber sie hegte einen Ver­dacht, und sie brauch­te Sicher­heit. Ein Dat-Scan-Ver­fahren, bei dem mit­hilfe von in­jizier­ter Radio­aktivi­tät die Stoff­wech­sel­pro­zesse im Ge­hirn sicht­bar ge­macht werden konn­ten. Kost­spie­lig. Dafür bräuch­te sie die Kran­ken­kasse, das ging nicht als Freund­schafts­dienst, und sie wollte, dass nie­mand in der Klinik etwas davon er­fuhr. Also keine Unter­su­chung am Ort, keine Unter­su­chung unter Kolle­gen. Sie wollte allein dar­über ent­schei­den, wie sie mit dem Er­geb­nis um­gehen würde. Die Ent­schei­dung reifte in ihr, und sie spürte ihre Kraft zu diesem Schritt wach­sen. Das Termin­pro­blem um­ging sie mit einer priva­ten Sonder­zah­lung bei der An­mel­dung. Wofür sonst hatte sie Rück­lagen, wenn nicht für eine Not­situa­tion wie diese? Die Über­wei­sung schrieb ihr ein Neuro­loge aus Mün­chen, dem sie sich als Kolle­gin zu er­kennen gab und dem die Trag­weite einer mög­lichen Er­kran­kung sofort be­wusst war. Der ältere Arzt wurde schweig­sam, er­wies sich aber in der Folge als zu­ver­lässig und hilfs­bereit. Mehr ver­langte sie nicht.

Sie hatte sich in der Zwi­schen­zeit vom OP-Plan strei­chen lassen und machte Sta­tions­dienst. Der Chef schick­te die Ober­ärztin vor, ihr ins Ge­wissen zu reden. Sie solle nicht mit Nach­lässig­keiten ihre Kar­riere ge­fähr­den. Dr. Beate Her­bold, die in Ehren er­graute Kolle­gin kurz vor ihrem Ruhe­stand, sprach davon, dass es auch heute noch nicht für eine Frau selbst­ver­ständ­lich sei, eine solche Kar­riere zu machen. Gerade­zu einer Sensa­tion komme es gleich, dass der Chef ihre Posi­tion nicht von außen be­setzen wolle. Wäh­rend die Ober­ärztin die Sta­tionen des be­schwer­lichen Werde­gangs der Jünge­ren noch ein­mal ins Ge­dächt­nis rief, ihre fünf­jäh­rige Assis­tenz­arzt­zeit in der Chir­urgie, ihre Assis­tenz­arzt­zeit in der plasti­schen Chir­urgie, ihre Weiter­bil­dung zur Gefäß­chir­urgin und jetzt die drei Jahre hier als Sta­tions­ärztin hörte sie zu, sah die Mühen, die Prü­fungen, ihre Kolle­gen an sich vorbei­ziehen und konnte den Blick nicht von ihren Händen ab­wenden. Den schlan­ken, langen Händen einer erfolg­rei­chen Chir­urgin. Sie sei doch als Ober­ärztin ge­setzt. Was denn los sei mit ihr? Vikto­ria ge­lang ein dank­bares Lä­cheln für die Be­sorg­nis. Sie schwieg, bis auf den Hin­weis, sie könne noch nicht dar­über spre­chen. Ent­täu­schen wolle sie nie­manden.

Am nächs­ten Tag über­nahm Dr. Locke ihre Auf­gaben. Seine zur Schau ge­tra­gene An­teil­nahme schmerz­te sie. Doch sie gab sich un­ge­rührt und be­antrag­te Urlaub.

– 3 –

Seine Jeans hing ihm unter den Hüften und gab hinten den Blick auf den An­satz der schwar­zen Unter­hose frei. Das Sweat­shirt hätte einem Bei­trag für eine Alt­klei­der­samm­lung aller Ehre ge­reicht, und sein Pflege­zu­stand ent­sprach seinem Ein­satz­gebiet – Keller, Atom­bunker. Das also war der Arzt, der die Er­geb­nisse in den Händen hielt, die über ihr weite­res Leben und Ster­ben ent­schei­den würden.

»Vikto­ria Far­ber?«, er lächel­te sie an, als würde er sie zu einem Drink ein­laden, for­derte sie mit einer lässi­gen Arm­bewe­gung auf, ihm zu folgen. Es ging vom Warte­zimmer zurück in den Keller, in dem sie be­reits quä­lende Stun­den bei Kunst­licht und nied­rigen Decken ver­bracht hatte. In einem Raum, voll­ge­stopft mit Compu­tern reich­te ihm ein Assis­tent, eben­falls von der Güte Ramsch­ver­kauf Reste­rampe Super­markt, einige Unter­lagen. Jetzt stell­te er sich vor, was nichts zur Sache tat, denn sie ver­gaß seinen Namen sofort, hätte ihm die Auf­nahmen am liebs­ten aus den Händen ge­rissen. Aber sie war hier nichts ande­res als eine Kassenpa­tientin mit Zu­zah­lung.

»Wo sagten Sie, haben Sie die Ein­schrän­kungen?«

»Links, ein Zit­tern in der linken Hand und eine Nacken­stei­fig­keit.«

Er nickte zur Be­stäti­gung, so als hätte er es auch erst gerade ent­deckt. Hielt ihr eine Auf­nahme vor Augen, sodass sie un­will­kür­lich einen Schritt zurück­trat, um besser sehen zu können. »Sehen Sie hier, rechts, patho­lo­gisch, die Sub­stan­tia Nig­ra, die Zellen, die für die Do­pa­min­pro­duk­tion und Ihre Muskel­ver­sor­gung ver­ant­wort­lich sind, ster­ben ab. Und links, hier«, mit der Spitze des Kugel­schrei­bers deu­tete er in die Mitte des Ge­hirns, »de­gene­rativ, eine deut­liche Schädi­gung. Sie sind Rechts­hände­rin?«

Sie nickte nur schwei­gend.

»Da haben Sie noch Glück im Un­glück. Die meis­ten trifft es an ihrer akti­veren Seite zu­erst. Also, ich würde sagen, wir sehen uns dann zur noch­mali­gen Unter­su­chung in einer Woche.«

»Wieso? Das Ganze noch ein­mal?« Es gab nur einen Stuhl und auf dem hockte der Assis­tent und schau­te un­betei­ligt. Sie zit­terte, hatte Mühe, die Ge­danken zu ordnen. »Hören Sie, ich kann das nicht noch ein­mal!«

»Morbus Par­kinson – oder Multi­system­atro­phie. Sie müssen mit Ihrem Neuro­logen dar­über reden. Aber ge­si­chert ist die Dia­gnose erst nach einem weite­ren Scan-Ver­fahren. Eine Multi­system­atro­phie wäre nicht so güns­tig.«

Sie hatte keine Kraft mehr, um wütend zu werden. »Nicht so güns­tig? Das wäre eine Katas­trophe, ein paar Jahre Lebens­erwar­tung viel­leicht …«, ihre Stimme ver­ebbte zu einem kraft­losen Flüs­tern. Gleich würde sie um­fallen.

»So kann man das auch sehen«, der Bur­sche warf noch einen Blick auf die Unter­lagen, um diese dann für den Be­richt an den Neuro­logen zur Seite zu legen. Er schau­te auf die Uhr.

»Tut mir leid. Wir soll­ten jetzt den Termin ver­ein­baren.«

Ein Rest Wider­stand regte sich in ihr. »Wie kommen Sie darauf? Wie stehen meine Chan­cen? Fif­ty fif­ty, neun­zig zehn? Das CT war un­auf­fällig, keine Ver­ände­rungen an der Ge­hirn­struk­tur.«

»Wie ge­sagt, letzte Ge­wiss­heit bringt nur der nächs­te Test.«

Die Ver­su­chung, sich als Kolle­gin zu er­kennen zu geben, der sie dann schließ­lich doch nicht nach­gab. Das würde nichts ändern. Wut, Panik, Hilf­losig­keit … Sie er­in­nerte sich daran, dass die Tech­niker unter den Medi­zin­stu­denten schon an der Uni immer anders ge­tickt hatten. Ein Eis­block wäre gegen ihn und seinen Kumpa­nen in diesem Keller­loch noch heiß ge­wesen. »Keinen Termin. Kein Inter­esse an der wissen­schaft­lichen Gründ­lich­keit. Es reicht. Danke, ich kann nicht mehr …«

Wofür be­dankte sie sich jetzt auch noch? Sie hatte kein Inter­esse daran, ob sie jetzt ra­scher oder lang­samer ster­ben würde. Es war ihr scheiß­egal – denn eigent­lich war sie schon tot. So oder so: Par­kinson – das war das Ende ihrer beruf­lichen Pläne, das Ende ihres bis­heri­gen Lebens. Statt­dessen ihre Garan­tie, noch vor dem Renten­alter zum Pflege­fall zu werden. Wie konnte das sein? Sie war doch viel zu jung dafür! Eine von zwei­hun­dert­tau­send, schoss es ihr durch den Kopf, es er­schien ihr un­wahr­schein­lich, als junge Frau daran zu er­kran­ken.

Vikto­ria Far­ber sank nicht in Ohn­macht, ihre Beine trugen sie irgend­wie nach draußen. Die Ge­wiss­heit, jetzt die Seite vom Leis­tungs­träger der Ge­sell­schaft zur be­dau­erns­wert un­heil­bar Kran­ken ge­wech­selt zu haben, um­gab sie wie eine un­durch­dring­bare Fins­ter­nis. Schick­sale ande­rer Men­schen waren ihr aus dem Klinik­all­tag ver­traut und gerade darin hatte sie sich stark ge­wähnt, als sie hier­hin ge­kommen war. Aber jetzt brach sie zu­sammen. Sie würde nicht mehr dazu­gehö­ren, nicht mehr zur Chir­urgen­gilde, zu ihrer Sta­tion. Keine Ver­siche­rung würde sie mehr nehmen. Wie war sie über­haupt vor­berei­tet? Freun­de würden sie meiden, schon aus Un­sicher­heit, wie man ihr be­gegnen sollte. Sie kannte das und die Sehn­sucht nach der Nor­mali­tät einer all­täg­lichen Über­forde­rung in der Klinik fraß sie schier auf. Sie wollte arbei­ten, schuf­ten, stu­dieren, doch es gab nichts mehr für sie zu tun. Keine Kinder, keine Fami­lie, keine Zu­kunft … Ihr Herz raste, ob­wohl sie seit einer Stunde un­bewegt auf einer Park­bank hockte und heulte. Sie würde ster­ben, und ihr Tod rückte in greif­bare Nähe.

Sie hatte ja nicht mehr alle. Und jeden, der sie künf­tig so von der Seite an­gehen würde, könnte sie davon infor­mieren, dass er ver­dammt recht hätte, sie für ver­rückt zu er­klären, da ihr nach Schät­zungen der Medi­zin Jahr für Jahr 20.000 Ge­hirn­zellen ab­ster­ben würden. Ihr Körper starb, mess­bar und bald für jeden sicht­bar. Schwer­behin­dert, von einem Tag auf den ande­ren als be­dau­erns­wertes Ge­schöpf ge­zeich­net. Sie lachte sich aus und dachte zur glei­chen Zeit daran, sich um­zu­brin­gen, spiel­te ver­schie­dene Mög­lich­keiten durch, konnte sich nicht ent­schei­den. Die Panik, schon jetzt ver­rückt zu werden …

Es war Frei­tag­abend. Sie stand vor dem Privat­haus des Münch­ner Neuro­logen, von dem sie in­zwi­schen eini­ges ge­lesen hatte. Sollte er sie wieder weg­schi­cken, es wäre sein gutes Recht. Seine Toch­ter öff­nete und be­äugte sie miss­trau­isch. Was wollte sie eigent­lich hier? Hilfe! Ver­dammt noch mal, ich brau­che Hilfe! Das Miss­trauen wich nicht, sie ließ sie draußen warten. So waren junge Töch­ter eben.

»Frau Kolle­gin«, seine Stimme hieß sie will­kommen, »ist es so schlimm? Kommen Sie doch bitte herein.« Er fasste sie be­schwich­tigend am Arm und half ihr damit, sich aus ihrer inne­ren und äuße­ren Er­star­rung zu lösen. Nur wenige Augen­blicke später ras­tete Vikto­ria Far­ber aus: »Was ist das für ein Ratten­bunker, in den Sie mich da ge­schickt haben! Wer rekru­tiert eigent­lich diese schmie­rigen Typen da? Sind Sie sicher, dass die über­haupt was von Medi­zin ver­stehen? Die sind wahr­schein­lich durch eine Auto­mecha­niker­prü­fung ge­fallen und ver­wech­seln mein Ge­hirn mit einem defek­ten Ver­gaser!«, kräch­zend spru­delte der Un­sinn aus ihr heraus. Die Toch­ter des Hauses flüch­tete nach oben in ihr Zimmer.

›Situa­tions­ange­messene schwe­re de­pres­sive Phase‹, stand in seinem Gut­achten später zu lesen und, ›Ver­dacht auf Morbus Par­kinson‹. Ver­dacht, die Wissen­schaft nahm es ihr übel, dass sie auf die wei­tere Unter­su­chung ver­zich­tete, nicht dem Atom­gott der Ge­hirn-Stoff­wech­sel­pro­zesse im Bunker hul­digte. Sie blieb ›ver­däch­tig‹, ob­wohl Er­fah­rungs­werte für sie spra­chen. Jetzt sollte sie schon dank­bar sein, dass sie zwi­schen Vier­zig und Fünf­zig zum Pflege­fall werden würde.

Die Psycho­phar­maka, die ihr der Neuro­loge aus den Praxis­bestän­den zu­steck­te, halfen ihr für die Heim­reise. Als sie jedoch fest­stell­te, dass sich ihr Zit­tern durch die rosa­roten Pillen trotz der Ein­nahme von Par­kinson Medika­menten ver­stärk­te, warf sie die Tablet­ten­pa­ckung weg. Sie stell­te sich der Fins­ter­nis der De­pres­sion, be­waff­net mit Johan­nis­kraut­präpa­raten. Die gute alte Haus­apo­theke sorgte dafür, dass ihr Lebens­faden nicht riss. Sie schloss sich ein, ma­gerte ab und fraß sich durch Berge von Fach­lite­ratur zur Krank­heit, ohne ein Schlupf­loch zu finden, durch wel­ches sie hätte flüch­ten können. Ihr Leben redu­zierte sich auf einzel­ne Stun­den des Tages und auf mini­male Ver­rich­tungen.

Objek­tiv be­trach­tet, halfen die Medika­mente. Das Zit­tern wurde über­deckt, sie ge­wann an Be­weg­lich­keit, doch die Bei­pack­zettel ihrer Medika­mente be­wahr­ten sie vor Illu­sionen. Übel­keit, Schlaf­stö­rungen, Kreis­lauf- und Konzen­trations­stö­rungen, häufi­ges Ver­schlu­cken, Muskel­zuckun­gen in den Beinen wurden ihre ersten Be­glei­ter. Es soll­ten noch wei­tere folgen. Wahr­schein­lich texte­ten kleine Teufel­chen diese Zettel in ihren Stoff­wech­sel­atom­bun­kern und er­ziel­ten Best­seller­auf­lagen damit. So ge­sehen hatte sie ihren Be­ruf ver­fehlt. Wenn sie über­lebte, sollte sie sich Sorgen um ihre Finan­zen machen. Solide ge­rech­net reich­ten ihre Er­spar­nisse für den Rest nach einer sol­chen Lebens­katas­trophe nicht aus.

– 4 –

Vikto­ria Far­ber stieg am nächs­ten Morgen, immer noch wie be­täubt von dem folgen­schwe­ren Schritt, in den ICE nach Mai­land via Verona. Ihr Handy lag auf dem Küchen­tisch in der Woh­nung, ihr Leben stand in einem Koffer und einem prall ge­pack­ten Ruck­sack neben ihr. Dies würde ein Auf­bruch ins Un­ge­wisse, ohne Perspek­tive werden. Reisen ohne Rück­fahr­karte, über­legte sie, war eigent­lich das Letzte, wofür sie in ihrer Situa­tion Kraft auf­brin­gen konnte. Aber wenn es kein Voran mehr gab, wurde es Zeit, die Lauf­rich­tung zu ändern. Sie sah furcht­bar aus, zit­terte am ganzen Körper und schlich wie eine Diebin, die Ge­päck­stücke hinter sich her zer­rend als Letzte den Gang des ICE ent­lang.

Der junge Mann, der ihr gegen­über­saß, schau­te mit einem glasi­gen Blick durch sie hin­durch oder schlief. Was hätte er auch an ihr ent­decken sollen? Die Musik aus seinem MP3-Player, eine leise, aber nicht zu über­hö­rende Ge­räusch­ku­lisse. Nach einer Weile fühlte sie sich un­sicht­bar, und das er­schien ihr nicht das Schlech­teste.

›Honey­moon-Phase‹ nann­ten die Medi­ziner die ersten zwei Jahre einer norma­len Par­kinson­erkran­kung, weil die Medika­mente die schlimms­ten Aus­fall­erschei­nungen über­deck­ten und man sich der Illu­sion hin­geben konnte, ein norma­ler, gesun­der Mensch zu sein. Mit ihrem Ent­schluss, nicht mehr die Mög­lich­keit einer noch schwe­reren Er­kran­kung in Be­tracht zu ziehen, die Multi­system­atro­phie ein­fach für sich selbst aus­zu­schlie­ßen, hatte sie die Kraft für diese Reise ge­funden. Das also war ihre ›Hoch­zeits­reise‹. Keine Jung­mäd­chen­träume von schep­pernden Dosen an der Stoß­stange einer weißen Limou­sine, von durch­toll­ten Näch­ten mit einem feuri­gen Lieb­haber, von Champa­gner, teuren Klei­dern und Kon­zert­besu­chen, Hoch­zeits­suiten in sagen­haften Grand Hotels. Von welch perfi­der Teufe­lei musste ein Medi­ziner be­seelt sein, um den Be­griff ›Honey­moon‹ für solche Lebens­situa­tionen zu ge­brau­chen?

Wenn schon, dann Ita­lien. Nicht an das schmach­tende Vene­dig mit Gon­do­lie­ren­ro­man­tik dachte sie, was nur zu zweit im Über­schwang der Ge­fühle zu er­tragen ge­wesen wäre. Sie wollte dem Früh­ling ent­gegen, Glyzi­nen und Sonnen­schein, mittel­alter­liche Gassen, Cas­tell­los. Auf der Piazza sitzen im ersten Sonnen­schein des Jahres und nicht fragen, wie lange das Geld rei­chen würde. Der Zug glitt durch die Land­schaft, Regen­nasen liefen quer an den Schei­ben ent­lang, graue Städte druck­ten sich im fahlen Licht der letz­ten Winter­tage. Die Köpfe der Pas­santen ver­schwan­den anonym unter Schir­men und Kapu­zen, wäh­rend sich Vikto­ria Far­ber hinter all diesen vorbei­rau­schenden Bil­dern be­reits das Leuch­ten des Meeres im glei­ßenden Sonnen­licht, das Wasser, das von einem Wind­stoß leicht ge­kräu­selt wurde, vor­stell­te und von alten Ge­mäuern in strah­lendem Sonnen­schein träum­te. Das erste Mal seit Wochen, dass sie träum­te und nicht mehr in der Hölle auf Erden briet. Sie traute diesem Ge­fühl nicht, aber sie klam­merte sich daran.

Beim Stu­dium der Ab­fahrts­an­zeige­tafel auf dem Bahn­hof Porta Nuo­va in Verona fiel Vikto­ria ein, dass sie, ab­gese­hen von Tee und Toast, einem Rest Käse und einer Fla­sche Mine­ral­wasser noch nichts zu sich ge­nommen hatte. Unter­zu­ckert, diagnos­tizierte sie die schwin­delnde Leich­tig­keit, die es ihr schwer machte, sich in­mitten der drän­gelnden Men­schen­massen auf dem Bahn­steig zu be­wegen. Café Latte, ein Cor­net­to mit Erd­beer­marme­lade. Ein milder Luft­zug strei­chelte ihre Wangen.

Wohin jetzt? Noch weiter nach Süden. Stadt oder Dorf, Meer oder Berge? Noch be­vor ihre Ängste wieder in ihren Ein­gewei­den rumor­ten, kaufte sie sich eine über­dimen­sionale Sonnen­brille, von der Art, wie sie hier offen­bar zum Kult ge­worden waren. Sie starr­te durch das so ent­ste­hende Halb­dunkel er­neut auf die Ab­fahrts­an­zeige­tafel des Bahn­hofs. Was wusste sie von Ita­lien? Vikto­ria mochte dieses Land, trotz Go­et­her­ei­se und klassi­scher Deutsch­lek­türe. Sie ver­spürte nicht die ge­ringste Eile. Sie machte eine ganz persön­liche italie­nische Be­stands­auf­nahme. Ihre Er­inne­rung malte Lebens­bilder wie Post­karten, zau­berte Ge­schmacks­nuan­cen und Ge­räu­sche. Mit ihren Eltern war sie in ihrer Kind­heit meh­rere Male nach Ita­lien ver­reist. Cam­ping­urlau­be, kleine Pen­sionen, ein­mal ein teures Hotel, in dem sich ihr Vater nie wohl­ge­fühlt hatte. Er­inne­rungs­bilder stie­gen in ihr hoch. Viel­leicht sprach sie noch ein paar Bro­cken Italie­nisch. Viel­leicht würde ihr sogar der eine oder andere Satz ge­lingen. Doch wohin wollte sie jetzt? Sie blick­te sich um und eigent­lich war ihr alles gleich­gültig. Nur die blei­erne Müdig­keit ver­ließ sie nicht.

Von hinten sah sie seine brei­ten Schul­tern. Er führte nicht weni­ger Ge­päck mit sich, aber er trug es in Ruck­säcken und Hipp­bags aller Art am Körper und be­wegte sich mit der Ge­lassen­heit eines Nie­be­sieg­ten. Ohne Ab­sich­ten folgte sie ihm ein­fach. Von der Statur her sprach vieles dafür, dass er ein Deut­scher war. Sie has­tete ein wenig auf dem Bahn­steig des Neben­glei­ses ent­lang, um ihn von vorn sehen zu können. Sein ovales Ge­sicht mager, um die Backen­kno­chen musku­lös, mit stren­gem Nasen­schwung, der dem Ganzen einen asketi­schen Zug ver­lieh. Sie konnte sich dieses Ge­sicht gut in einer mittel­alter­lichen Mönchs­kutte vor­stel­len. Komi­sche Idee. Seine Haare lässig ge­schei­telt, stan­den ein wenig wirr in der milden Vero­neser Luft. Seine Augen, zwei hell­blaue ste­chende Punkte unter dich­ten blon­den Brauen. Der Hals lang, etwas ge­wunden, halb im Profil die Kopf­hal­tung wie ein Raub­tier. Seine Arme wirk­ten fremd, als such­ten sie nach einer sinn­vollen Be­schäf­tigung in­mitten dieses Ge­drän­ges auf dem Bahn­hof. Sieben auf einen Streich, wenn er sie an­heben und ein­mal herum­wir­beln würde.

Triest, warum eigent­lich nicht Triest? Irgend­wo Rich­tung Grenze, Slowe­nien, Adria. Sie kaufte sich das Ticket und folgte ihm Rich­tung Zug. Das ent­hob sie einer Ent­schei­dung. Im Groß­raum­abteil half ihr ein älte­rer Herr, das Ge­päck zu ver­stauen. Für einen kurzen Moment schau­te der junge Deut­sche zu ihr her­über. Dann stie­gen zwei wei­tere junge Männer zu. Ita­liener, mit Seilen und Ruck­säcken be­laden. Wahr­schein­lich für eine Ge­birgs­tour. Gab es bei Triest Berge? Vikto­ria schwin­delte. Sie hatte zu wenig ge­gessen. Der Zug fuhr an. Sie fand noch recht­zeitig Halt an der Kopf­leh­ne. Fast wäre sie hin­geschla­gen. Vor­sich­tig setzte sie sich und war dank­bar, dass nie­mand in ihrer Nähe Platz ge­nommen hatte und jetzt Fragen stel­len konnte. Sie schloss die Augen. In ihrem Kopf ein Ge­fühl, als säße sie in einer Achter­bahn auf dem höchs­ten Punkt der Stre­cke, eben in jenem Moment, in dem sich der vor­derste Wagen mit ihr nach vorn be­wegen würde. Bruch­teile von Sekun­den im ab­solu­ten Schwe­be­zu­stand, der sie jedoch im realen Leben jetzt stun­den- und tage­weise nicht ver­ließ. Das war ihre Krank­heit: Das Ster­ben der Ge­hirn­zellen in der Sub­stan­tia Nig­ra und ihr von den Medika­menten ge­schun­dener Körper, der sie voll­kommen zweck­los dauer­haft alar­mierte. Vikto­ria Far­ber be­wohnte ihren Körper nicht mehr allein. Eine stän­dige Be­glei­tung war dort ein­gezo­gen, ein zittern­des, schwe­bendes Etwas, das krampf­te und sie stol­pern und stür­zen ließ, wenn sie ihm nicht hul­digte. Nervös kramte sie in ihrem Ruck­sack. Sie hatte sich einen klei­nen Tablet­ten-Schie­ber (Morgen – Mit­tag – Abend – Nacht) ge­kauft. Für meine Omi hatte sie lä­chelnd in Apo­theke be­haup­tet, und sie hatten ihr einen mit großen Fä­chern und be­son­ders großer Be­schrif­tung ge­geben. Sie warf die Pillen, aus der hohlen Hand ein und spülte mit einem Schluck aus der Mine­ral­wasser­fla­sche nach.

Die Panik­atta­cke war vorbei, doch der Schwin­del blieb. Sie starr­te auf ihr Spie­gel­bild. ›Sieht man es mir an? Bin ich durch­sich­tig ge­worden? Wie lange schon interes­siert sich kein Mann mehr für mich?‹ Ihre Ge­sichts­züge kamen ihr ver­traut und fremd zu­gleich vor. Ihr Blick wurde un­scharf, ver­sank in ihrem Spie­gel­bild. Sie musste einige Zeit mit diesem Stu­dium ver­bracht haben, denn das Bild ihres Kör­pers als Ganzes stand ihr schließ­lich vor Augen: ihre langen, festen Arme und Beine, die glatte, leicht ge­bräun­te Haut, die dunk­len Locken auf den Kopf und auf dem Ge­schlecht. Es war das Be­wusst­sein von diesem Mäd­chen­körper, diesem ande­ren Körper, das jetzt Abend für Abend einen Schock in ihr aus­löste, wenn sie sich zit­ternd aus­zog, um zu du­schen, und ins Bett zu flüch­ten. Warum hatte ihr Körper sie im Stich ge­lassen? Die De­pres­sion, wie ein schwar­zes Loch, würgte sie und drohte Vikto­ria in den Sekun­den, in denen sie wieder in die Gegen­wart zurück­kehrte, immer weiter zu ver­schlin­gen. Irgend­wie flüch­teten sich ihre Ge­danken wieder in das Foto­album der Kind­heits­tage.

Sabine Grün, blond, blau­äugig mit Zahn­spange schob sich in Vikto­rias Er­inne­rungs­bilder. Bibi, ihre Bank­nach­barin beim Abitur, dann hatten sie einige Semes­ter zu­sammen stu­diert, bis Bibi ab­gebro­chen und er­klärt hatte, lieber würde sie Natur­wissen­schaf­ten stu­dieren, als Men­schen be­han­deln. Wo war sie ab­geblie­ben? Ozeano­grafie in Kiel und dann – eine Karte aus Triest, ein paar Briefe noch, be­vor der Kon­takt ab­riss. War sie damals nicht im ›Meeres­bio­logi­schen Insti­tut‹ in Triest ge­landet? Das wäre gerade­zu eine Be­stim­mung …

Vikto­ria wurde un­end­lich müde. Der Schwin­del in ihrem Kopf raubte ihr jedes Be­wusst­sein. Auf ihr Ge­päck wollte sie Acht geben, sah noch neben der Bahn­linie die Küste auf­tau­chen, auf die sie so lange ge­wartet hatte. Das Meer, eine grau-blaue Fläche im Sonnen­licht er­starrt. Es lag da, keines­wegs ver­hei­ßungs­voll, son­dern eigen­artig un­erreich­bar. Der Zug nahm hinter Vene­dig mäch­tig Fahrt auf. Wenige schwe­re Wolken am Himmel scho­ben sich immer wieder für Minu­ten vor die Sonne. Dann ein klei­ner Bahn­steig. Als der Zug wieder an­fuhr, schlief sie fest.

– 5 –

La Sta­zio­ne Cen­tra­le Triest – das Ge­päck war nicht ver­loren ge­gangen. Be­nommen stand Vikto­ria Far­ber auf dem Bahn­steig und war ver­blüfft über die milde, bei­nahe süße Luft. Un­schlüs­sig ver­harrte sie neben dem Zug und lausch­te auf das fremde Spra­chen­gewirr. Den jungen Deut­schen und seine Freun­de hatte sie aus den Augen ver­loren. Viel­leicht wäre sie ihm ein­fach weiter ge­folgt? Hastig, von irgend­wel­chen Termi­nen ge­trie­ben, ström­ten die meis­ten Rei­senden dem Aus­gang ent­gegen. Andere gegen­läufig, ent­schlos­sen zum Auf­bruch, jagten zu den Zügen, die sich wie voll­gefres­sene Raupen der Stadt ge­nähert hatten, um hier ge­duldig neue Beute zu machen. Vikto­ria ließ sich Zeit und schlen­derte der laut­star­ken Masse hinter­her, die sich an der Piazza del­la Li­bertà sofort auf die Bus­sta­tionen, die war­tenden Autos oder Taxen ver­teilte. Wie aus großer Ferne be­trach­tete sie die Szene­rie: ›Das also ist das to­sende Leben!‹, dachte sie ver­wun­dert, und: ›Will­kommen im Früh­ling‹.

Vikto­ria kaufte einen Stadt­plan und stand un­schlüs­sig vor dem Portal des Bahn­hofs auf der Piazza del­la Li­bertà. Gegen­über an den Halte­stel­len mit den blauen Über­land­bussen, die mit offe­nen Türen und lau­fendem Motor das hohe Lied des Auf­bruchs sangen, das von einem steti­gen, fast tröst­lichen ›Pron­to!‹-Stac­cato der Ita­liener, laut­stark in ihre stän­dig wimmern­den Mobil­tele­fone ge­sungen, be­glei­tet wurde, genau gegen­über der Szene­rie, ein paar Rent­ner, Vo­yeure, arbeits­un­wil­lige Taxi­fahrer auf den weißen Plas­tik­stüh­len eines Cafés. Männ­liche Be­trach­ter eines Schau­spiels, das hier An­kunft oder Ab­schied hieß. Vikto­ria schul­terte ihren Ruck­sack, zerrte an dem Koffer und ging zu dem Café hin­über. Sie grüßte freund­lich, nahm Platz und be­stell­te Wasser, Espres­so und ein Cia­batta.

»Germa­nia«, sagte Vikto­ria, »in der Nähe von Köln, Co­logne.« Das waren ihre ersten Worte seit Verona. Der ältere Mann, des Deut­schen mäch­tig, machte ihr Kompli­mente, und wäh­rend sie den Espres­so hin­unter­stürz­te, stell­te sie er­leich­tert fest, dass sie noch nicht un­sicht­bar ge­worden war. Sie sprach vom Dom, dem Rhein und ihre Reise. Ein ande­rer schien in Köln ge­lebt und ge­arbei­tet zu haben, Ford-Werke, be­tonte er immer wieder. Der erste Mann ging jetzt auf das Wetter ein. Es sei be­reits un­gewöhn­lich heiß, man habe erst fünf Regen­tage ge­habt, aber be­reits Tempera­turen über 25 Grad und Stürme. Zu tro­cken. Vikto­ria nickte und antwor­tete, es sei ein wunder­schö­nes Licht hier, die Sonne in Ita­lien bringe alles zum Strah­len. Die ande­ren Männer und die Be­die­nung hörten ihr zu. Wo sie hin wolle? Ob sie länger bliebe? Wäh­rend sie ihr Cia­batta ass, sprach sie von einer Schul­freun­din, die hier im Meeres­bio­logi­schen Insti­tut arbei­ten würde. »Sabine Grün«, sagte sie mit er­war­tungs­voller Stimme, so als ob es wahr­schein­lich wäre, dass jetzt einer auf­sprin­gen, ihr auf die Schul­ter schlü­ge und er­regt, »Sabine!«, aus­rufen würde. All­gemei­nes Nicken. Man be­schrieb ihr den Weg zum Insti­tut. Jetzt wusste sie, zum Hafen und Meer musste sie sich links halten. Als sie er­klärte, sie reise ohne Zeit­vor­gabe und wisse nicht, wie lange sie bleibe, wann sie weiter­fahren würde, nickte man an­erken­nend. Dies sei, meinte der erste ältere Mann, die ein­zige Art, irgend­wo an­zu­kommen. Kaum jemand reise mehr so. Er deu­tete dabei auf die aus dem Bahn­hof has­tenden Men­schen. »Nie­mand kommt mehr wirk­lich an. Keiner sieht, wo er an­kommt.« Die ande­ren stimm­ten zu, als sei Vikto­ria damit heraus­geho­ben und in einen gehei­men Klub auf­genom­men worden. Ihr schie­nen die auf­gedreh­ten Alten ein wenig aus der Oliven­öl­re­klame von Ber­tol­li ent­sprun­gen, so agil und neu­gierig wirk­ten sie.

»Kommen Sie«, er­bot sich der Zweite, »mein Wagen steht dort, ich fahre Sie zum Hafen und an­schlie­ßend zu einem billi­gen, guten Hotel.« Als sie ver­suchte ab­zu­lehnen, protes­tierten alle im Chor so laut, dass es ihr rasch pein­lich wurde und sie das An­gebot an­nahm. Zu­erst jedoch pil­gerten ihre beiden Ge­sprächs­part­ner mit ihr zum Sis­si-Denk­mal »Eli­sa­bet­ta«, der wohl noch immer be­lieb­testen Herr­scherin aller Zeiten hier. Das Denk­mal gegen­über vom Bahn­hofs­ge­bäude war eine künst­le­risch italie­nische Ant­wort auf das Habs­burger Hof­zeremo­niell – jeden­falls wie Vikto­ria es sich vor­stell­te.

Ihr Ge­päck lan­dete in dem klei­nen Fiat auf der Rück­bank neben ihr, und wäh­rend sich die beiden älte­ren Herren als Reise­führer lang­sam in Rage rede­ten und gegen­seitig über­boten, dachte sie in einem ihrer pein­lichen Mo­mente an Mäd­chen­händ­ler und fins­tere Ver­schlä­ge auf Con­tainer­schif­fen. Ent­schlos­sen ver­dräng­te sie ihr Un­sicher­heits­gefühl in die hin­terste dunkle Ecke ihres Unter­be­wusst­seins. Sie zog ihre Mund­winkel nach oben und machte artig Kompli­mente. Jetzt sahen die beiden sie tat­säch­lich an, als hätten sie irrtüm­lich eine Tou­ristin ver­laden, und es ver­schlug ihnen für einen Moment die Spra­che. Als Vikto­ria, ärger­lich über sich selbst, ihren Blick wieder auf die Straße rich­tete und fluch­te, ge­wannen beide Männer wie auf Knopf­druck ihre Leben­dig­keit wieder.

Sie fuhren auf der Hafen­straße. In Triest fiel es dem Be­sucher leicht, die häss­lichen Seiten der Industria­lisierung und der Groß­stadt auf den ersten Blick zu igno­rieren. Gerade an der Küsten­linie er­in­nerte das Stadt­bild nost­al­gisch ver­klärt an das Wien der Habs­burger. Ein Prome­naden­band aus den hell leuch­tenden weißen Fassa­den der Pa­lazzi im impo­santen Stil des Wiener Klas­sizis­mus, be­ein­dru­ckende Repräsen­tations­bauten der Reeder, Händ­ler, Ver­siche­rungen und Be­satzer des 18. und 19. Jahr­hun­derts.

Schon sprach Giu­seppe, ihr erster Be­glei­ter, von den Kaffee­häu­sern im Wiener Stil, von Pala­tschinken. Er hatte in einem frühe­ren Leben in Öster­reich als Koch ge­arbei­tet und betete jetzt Zunge schnal­zend eine Ab­folge öster­reichi­scher Mehl­spei­sen her­unter.

Sie hiel­ten am Strand von Mira­mare. Ein paar Schrit­te, um sich die Beine zu ver­treten, meinte der eine, wäh­rend sich Giu­seppe eine Ziga­rette an­steck­te und hinter dem Lenk­rad ver­weilte, wegen der Koffer, wie er meinte. Viel­leicht auch, um ihn nicht auf fal­sche Ge­danken kommen zu lassen, ver­sicher­te Vikto­ria, völlig über­flüs­siger­weise, dass da nichts von Wert drin sei. Giu­seppe zuckte nur mit den Schul­tern und paffte. Am Strand eine bunte Mi­schung von Japa­nern, Indern, Ameri­kanern, Afrika­nern, ja es gab sogar einige Ita­liener und Slowe­nen. Bei eini­gen hätte Vikto­ria er­wartet, dass sie zu den Wissen­schaft­lern aus dem renom­mierten meeres­bio­logi­schen For­schungs­insti­tut Tri­ests ge­hörten. Doch an der dorti­gen Pforte er­klärte man ihr, sie solle wäh­rend der Büro­zeiten wieder­kommen. Von ihrer Schul­freun­din Bibi keine Spur. Viel­leicht war das auch keine gute Idee, nach all den Jahren.

Sie fuhren ge­mäch­lich mit offe­nen Fens­tern. Ihre Haare vom Wind zer­zaust. Giu­seppe sprach vom Hafen, aus dem alles ent­stan­den sei. ›Il pun­to‹, dem Herz aller Dinge. Einem Poeten ähn­lich, ver­glich er das Leben mit einem Hafen und kurvte gleich­zeitig ein­händig durch enge Gassen der Stadt.

Vikto­ria spürte den kalten Schweiß der Er­schöp­fung auf ihrer Stirn, dachte daran, dass es schon wieder Zeit für ihre Tablet­ten und das Medi­zin­pflas­ter war. Sie ver­bat sich jedoch, den Tablet­ten­schie­ber aus­zu­packen. Frau Doktor genier­te sich, lehnte sich nur zurück, hörte Giu­seppe zu und seinem älte­ren Freund, der die Schön­heit der Alt­stadt und das Hotel an­pries. Wie von Ferne, wie eine auf- und ab­klin­gende Suada, ein Rede­schwall, ein Strom von Tönen, ver­traut und fremd zu­gleich, dran­gen die Worte zu ihr. Sie lächel­te dank­bar, weil man sich küm­merte, keine Ant­worten er­war­tete, außer einem ›si‹ oder ›no‹. In­zwi­schen er­fuhr sie auch, dass der andere Mann Gus­tavo hieß. Giu­seppe und Gus­tavo, besser hätte man die Namen nicht er­finden können!

Nuo­vo Al­ber­go Cen­tral, Via Roma – unter den ein­fache­ren, das beste Hotel in zen­traler Lage, wie ihr Gus­tavo ver­sicher­te. Ganz in der Nähe des Ca­na­le Grande, gerade­zu roman­tisch. Nein, auf Aben­teuer dieser Art sei sie nicht aus, antwor­tete Vikto­ria. »Eine junge Frau im Früh­ling, Bel­lis­si­ma!«, war von Giu­seppe, die un­gefrag­te Be­mer­kung zu hören. Der Wagen hielt. Vikto­ria schwank­te beim Aus­stei­gen. Das Zit­tern hatte wieder von ihr Be­sitz er­grif­fen. Ein Doppel­zimmer hätte sie ordern sollen, für sich selbst und den Frem­den in ihrem Körper, spot­tete sie über sich selbst, wäh­rend sie sich um Hal­tung be­mühte. ›Rabatt für Mr. Par­kinson …‹ Giu­seppe griff nach ihrem Ge­päck und ver­schwand in dem Hotel. Gus­tavo sah sie be­sorgt an und fragte, ob sie krank sei. Vikto­ria lächel­te ge­quält: »Nein, nur über­müdet von der Fahrt. Darf ich Sie ein­laden?«

Hinter der Rezep­tion stand ein Mann mitt­leren Alters mit pech­schwar­zem Haar und einem Ge­sicht von solch klassi­scher mediter­raner Schön­heit, das schon Michel­angelo als Profil hätte dienen können. Vikto­ria wun­derte sich ein wenig, dass sie in ihrem Zu­stand für so etwas noch einen Blick hatte. Giu­seppe und er gingen sehr ver­traut mit­einan­der um. Vikto­ria klam­merte sich an das Marmor­imitat des Tre­sens und ver­sicher­te, sie habe großes Glück ge­habt, von so netten Herren hier­her ge­fahren worden zu sein. Ro­berto, so hieß der Mann an der Rezep­tion, be­merkte jetzt ihren Zu­stand. Ob sie sich nicht wohl­fühle? Viel­leicht hielt man sie jetzt für drogen­süch­tig. Gesten­reich zer­streu­te Gus­tavo diesen Ver­dacht und Vikto­ria war ihm mehr als dank­bar dafür. Ro­berto klapp­te das Gäste­buch zu, die For­mali­täten könn­ten bis morgen warten. Er nahm einen Zimmer­schlüs­sel vom Brett und be­glei­tete sie zum Auf­zug. »Ein sehr schö­nes Zimmer«, ver­sicher­te er noch ein­mal. Vikto­ria gab ihm ihren Pass. »Sie sind Ärztin, Anwäl­tin?«, fragte er. »Ärztin«, ihre knappe Ant­wort. »Oh, Dot­to­res­sa! Ganz sicher werden Sie sich hier aus­gezeich­net er­holen.« Ro­berto bot zu­dem an, sich nach der Schul­freun­din zu er­kundi­gen. Auch hier­über hatten die Herren schon ge­spro­chen. Sage noch einer, Männer hätten keine kommuni­kative Kompe­tenz. Die medi­terrane Sonne schien, sie gerade­zu ge­schwät­zig zu machen …

Dann zogen sich die Männer mit jener Diskre­tion zurück, die zwei­fels­ohne zeigte, dass wahre Gen­tlemen nur an der Adria zu finden seien.

– 6 –

Kraft­los warf sich Vikto­ria auf das Bett. Koffer und Ruck­sack stan­den irgend­wo im Zimmer. Die Ge­räu­sche der Stadt dran­gen durch die Fens­ter und ließen sie nicht ein­schla­fen. Schließ­lich wirkte die Medi­zin. Zurück­blieb nur dieses selt­same schwe­re­lose Achter­bahn­gefühl. Vikto­ria stand am Fens­ter, starr­te in das Kunst­licht der Stadt und ängs­tigte sich. Sie frös­telte. ›Hier bin ich also‹, sagte sie sich immer wieder, kramte nach Kind­heits­erinne­rungen, die sie früher immer be­ruhigt hatten, zog sich aus und legte sich er­neut ins Bett. ›Alles ab­bre­chen, alles ab­schal­ten‹ – viel­leicht war das ihr Ende? Ein Fern­seher, über­lautes Ge­läch­ter, wahr­schein­lich eine Quiz­sen­dung, dann ein paar Fetzen Oper und dann Ge­läch­ter. Das Schlimms­te waren diese schwer­höri­gen Zapper, diese Kaker­laken der Ge­hör­gänge. Ihr Handy wäre jetzt viel­leicht doch eine Lösung ge­wesen. Sie sah es förm­lich auf dem Küchen­tisch in ihrer Woh­nung liegen. Früher war das Handy immer eine Brücke zur Nor­mali­tät. Auf Reisen, bei Krank­heit, vor Prü­fungen, danach und wieder davor – doch wen sollte sie an­rufen? Was mit ihr ge­schah, war ganz allein ihre Sache. Sie würde nicht zu feige sein, das durch­zu­ziehen. Vikto­ria konnte nicht schla­fen. Sie gähnte, wälzte sich, ver­suchte ver­geb­lich, sich selbst zu be­frie­digen, und schlief nicht ein. ›Grü­beln hilft nicht‹, sagte sie sich ent­schlos­sen, ›denke an nichts. Zähle rote Blut­körper­chen!‹ Andere zähl­ten viel­leicht Schafe oder Wolken oder Lieb­haber – Vikto­ria sah eine über­dimen­sionale Ader und zählte die roten Bälle, die auf sie zu­ström­ten. Sie hätte auch die weißen, die Ab­wehr­zellen oder Blut­plätt­chen zählen können, aber heute wollte sie es warm haben und leuch­tend rot: also rote Blut­körper­chen. Sie ström­ten immer schnel­ler, schos­sen schließ­lich auf sie zu. Ihr wurde schwind­lig, end­lich schloss sie die Augen und ent­kam dem Be­wusst­sein.

Dieser Ro­berto ge­fiel ihr. Seine Augen fielen ihr als wach und an­zie­hend auf. Vikto­ria war der letzte Gast, der den Früh­stücks­raum be­trat. Sie war erst gegen Morgen ein­geschla­fen und zu spät auf­ge­wacht. Ein Ser­vier­mäd­chen im schwar­zen Kleid mit weißer Schür­ze deckte be­reits für den Abend ein. Vikto­ria wollte keine Um­stände machen, streb­te schon dem Aus­gang zu, um irgend­wo in einem der ges­tern von Gus­tavo ge­lobten Wiener Kaffee­häuser zu früh­stü­cken, da stand Ro­berto freund­lich lä­chelnd vor ihr. »Signo­rina, per fa­vo­re …« Ein Tisch am Fens­ter war noch ein­ge­deckt. Kaffee stand bereit, ein klei­nes ge­füll­tes Brot­körb­chen, ge­fal­tete Servi­etten. Ro­berto sprach leise mit ihr. Das war fast ein Flüs­tern, als wollte er ver­meiden, dass andere das Ge­spräch be­lausch­ten. Dabei war er nur freund­lich um sie be­müht. Schließ­lich reich­te er ihr einen Zettel: ›Sabine Grün‹, stand oben mittig, dar­unter die Adres­se des Meeres­bio­logi­schen Insti­tuts, dar­unter eine pri­vate Adres­se mit Tele­fon­nummer und ganz unten ein Treff­punkt: ›Strand vor Mira­mare/Nähe Prome­nade, 15:00 Uhr!‹ »Ich wollte be­hilf­lich sein, Signo­rina, habe Ihre Freun­din an­geru­fen. Hof­fent­lich ist es Ihnen recht.«

»Non far nien­te. Grazie.« Sie fühlte sich ein wenig über­rum­pelt, war ande­rer­seits aber auch dank­bar. Ro­berto blick­te immer noch ein wenig fra­gend. »Wirk­lich, ich freue mich.« Sicher­lich er­wies sich Ro­berto als eine Art Part­ner, auf den sie zählen konnte. Den­noch, das Hotel war zu teuer für meh­rere Wochen. Was sie brauch­te: Ruhe und Sicher­heit, um ihren Lebens­kurs neu aus­zu­rich­ten.

Vikto­ria ließ sich stadt­ein­wärts trei­ben, die von Bäumen ge­säumte Via­le XX Set­tem­bre ent­lang. Ihr Blick himmel­wärts zu den wunder­schö­nen alten Fassa­den und den schlank- und hoch­gewach­senen Bäumen, die in dieser Fuß­gänger­zone rechts und links mit ihren Kronen zu­sammen­wuch­sen und ein Dach bilde­ten. Zahl­lose Cafés und Eis­dielen, Mode und Kunst. Weiter die leicht an­stei­gende Straße bis zum Gi­ar­di­no Pu­blico, wo sie im Park Kin­dern und Enten zu­schau­te. Be­vor sie weh­mütig wurde, stieß sie in der Via Césa­re Bat­tis­ti auf das Kaffee­haus San Marco aus dem Jahr 1914, ganz im Jugend­stil er­rich­tet. Haus und Inte­rieur ein Schmuck­stück, das Wien selbst alle Ehre ge­macht hätte. Fili­grane Kaffee­haus­stühle, Leder­bänke in den Ecken, ge­füllte Bücher­regale, die zum Ver­weilen ein­luden und eine Batte­rie Likör­fla­schen vor einem riesi­gen Spie­gel, die jeden Gast schließ­lich er­inner­ten, dass er sich immer noch in Ita­lien be­fand. Kaffee­haus­musik von einem Kla­vier­spie­ler mit stei­fer Fliege, draußen eine fla­ckernde Licht­re­klame. Leise Klänge einer unter­gegan­genen Monar­chie zu den Nach­rich­ten­blät­tern, die an­ge­sichts der Börsen­kurse und Staats­finan­zen, Skan­dale und Klatsch den italie­nischen Herbst be­sangen.

Ein Li­te­ra­tur­café sei das ›San Marco‹, ver­riet ihr der Kell­ner. Dort hinten be­liebe der Tries­ter Schrift­stel­ler Pro­fessor Clau­dio Mag­ris, jeden Mit­tag seinen Kaffee ein­zu­nehmen und zu schrei­ben. Vikto­ria griff nach den Bü­chern im Regal, be­gann zu blät­tern. Sie be­herrsch­te die italie­nische Spra­che zu wenig, um wirk­lich etwas zu lesen. Wieder kam der freund­liche Kell­ner mit einer Empfeh­lung zur Hilfe. Er zog einen klei­nen Roman aus dem Regal ›Wasser­grün‹, von Mag­ris’ ver­stor­bener Frau Ma­ri­sa Ma­di­ri. Vikto­ria wollte es als Er­inne­rung an diesen Ort sofort be­sitzen. ›Wer sich er­innern möchte, glaubt an seine Zu­kunft‹, war ihr spon­taner Ge­danke. Der Kell­ner machte ihr Kompli­mente und setzte das Buch auf die Rech­nung. ›Wasser­grün‹, eine Farbe, selt­sam, wie ihre Empfin­dungen.

Draußen knatter­ten zwei Pär­chen auf ihren Vespas vorbei und wink­ten fröh­lich durch die Schei­ben. Vikto­ria winkte zurück. Sie kannte die jungen Pär­chen nicht und schau­te sich jetzt schüch­tern um, ob viel­leicht jemand hinter ihr ge­meint wäre. Die älte­ren Herren bei ihrer Zei­tungs­lek­türe regten sich jedoch nur ver­halten brum­mend über die Ver­kehrs­rowdys auf. Viel­leicht war das Winken eine Auf­forde­rung, es ihnen gleich­zu­tun. Viel­leicht kam es ihnen nur ko­misch vor, eine Frau, noch nicht so alt, hier mit einem Buch vor einer Tasse Kaffee ver­harren zu sehen, wo doch draußen das Leben toste.

Vikto­ria sah sich ganz in der Nähe in der Via San Fran­cesco die mäch­tige Syn­agoge von Triest an, die mitten zwi­schen den Wohn­häu­sern der Geschich­te zu trot­zen schien. Via San Fran­cesco – sie las immer ›Fran­zi­sco‹. Ihr Triest in Kali­fornien – die Straße schien end­los gerade­wegs in den Himmel zu führen. Wahr­schein­lich waren es nur die Sonnen­strah­len, die sie blin­zeln ließen oder der Schwin­del, der dem Zit­tern meist voraus­ging. Sie schluck­te ihre Tablet­ten. Was sollte sie mit dem Rest ihres Lebens an­fangen? Sie war noch nicht ein­mal Vier­zig und schon fertig mit dem Leben. Doch dann diese Reise, sie stand in dem ihr frem­den Triest in einem Früh­ling, der zu Hause noch einem Winter glich. Sollte sie wirk­lich gleich ihre Schul­freun­din tref­fen? Wie konnte das ein­fach so weiter­gehen?

– 7 –

Vikto­ria schlen­derte die Prome­nade ent­lang. Knapp vor dem Sand des Strand­ab­schnitts von Mira­mare blieb sie stehen. Einen Augen­blick ver­harrte sie, spürte die Sonne auf der linken Wange bren­nen, den Wind, der ihr durch die Haare fuhr. Sie reckte sich und hielt Aus­schau. Es war noch keine Saison, aber die roten und blauen Liege­stühle stan­den schon in Reihe und Glied und hatten erste Ab­nehmer ge­funden.

Vikto­ria zog ihre Schuhe aus. Der Sand fühlte sich feucht und warm zu­gleich an. Sie ging bis zum Meeres­rand, kehrte um und suchte er­neut nach ihrer Schul­freun­din. Dann ging sie zurück zur Prome­nade und kaufte sich ein Eis. Sie be­schloss, dass es keine Be­deu­tung mehr für sie hätte, ob Bibi noch käme, stand wieder am Meer und schau­te Schif­fen und Möwen hinter­her. Vor ihr lag der ganze Sommer, lang wie die italie­nischen Strän­de, mit Sand in den Haaren und einem an­stän­digen Sonnen­brand.

»Ist ziem­lich nett hier, rich­tig hübsch. Mein Pausen­areal. Leider habe ich nicht deine Figur, denn das Eis ist köst­lich, Ra­gaz­za…«. Da stand sie vor ihr, Bibi Grün, der glei­che Schalk in den blauen Augen, die langen, leicht ge­lock­ten blon­den Haare und doch eine völlig andere. Ihre Stimme tiefer, als sie Vikto­ria in Er­inne­rung hatte, ihre Be­wegun­gen träger, ihr Körper frau­lich. Eine blonde Voll­schöne, eine, die mit Speck Mäuse­riche fing. Die Ita­liener muss­ten ihr reihen­weise zu Füßen liegen.

»Aber gnä­dige Frau«, Vikto­ria ver­drehte ihre Stimme ein wenig ins Schril­le, »wahre Schön­heit kennt keine Normen. Ich sage immer, trauen Sie nicht dem Schein der dürren Zicken, alle von der billigs­ten Sorte – auf jeder Plakat­wand zu be­sich­tigen und an jeder Stra­ßen­ecke zu haben.«

»Komm her, du kno­chiges Etwas!«, kreisch­te Bibi vor Ver­gnügen. Dann fielen sie sich la­chend in die Arme.

›Sabine Grün, Sabine, meine Freun­din‹, häm­merte sich Vikto­ria ein, und dann war sie wieder da, die Ver­traut­heit nach all den Jahren. Sie spürte ein großes Glück, sodass sie am ganzen Leib zit­terte und grund­los mit ihr um die Wette lachte. Sie fühlte sich an­gekom­men. Es wäre über­wälti­gend ge­wesen, wenn nicht … Sie wollte diese Ge­danken nicht zu Ende denken. Sie hakten einan­der unter, ver­schränk­ten ihre Arme und hiel­ten sich bei den Händen, wäh­rend sie den Strand­ab­schnitt am Mira­mare rauf- und runter­schlen­derten und rede­ten, über alte Zeiten und ein klein wenig und vor­sich­tig über die Gegen­wart.

»Nein, keine Haie, keine Del­fine, die Ku­schel­tiere des Meeres«, Bibi lachte, »Algen. Algen sind unser Pro­blem. Ein­ge­schleppte Algen aus dem Süd­see­raum, hier ohne natür­liche Feinde. Sie brei­ten sich un­kontrol­lier­bar aus und er­sti­cken jede Vegeta­tion, nehmen Kleinst­lebe­wesen und Fi­schen in Küsten­nähe ihren Lebens­raum, zer­stören das öko­logi­sche Gleich­ge­wicht. Und natür­lich draußen die Schlepp­netze und Dyna­mit­fi­scher, Koral­len­händ­ler – viele Feinde für den For­scher, der der Natur ver­pflich­tet ist.« Sie machte eine Be­wegung weit nach draußen, als habe sie ihren Schreib­tisch irgend­wo dort am Hori­zont auf dem Meer.

»Habt ihr ein For­schungs­schiff? Tauchst du noch?«

»Ja, ja, sicher doch.« Dann er­klärte sie, wie die Strö­mung, die Meeres­erwär­mung die Küsten­vegeta­tion be­ein­flusse, sprach von Sedi­menten, Ultra- und Mikro-Plank­ton, bis sie schließ­lich ab­rupt unter­brach, ver­legen lächel­te: »Mein Gott, was rede ich da. Ich bin halt hier hängen ge­blie­ben, hier am Meer. Dabei weiß ich gar nichts von dir … Bist du Chir­urgin ge­worden?«

Vikto­ria nickte: »Hand­chir­urgin«, sprach von ihren Patien­ten, von dem Klinik­all­tag, so als sei das alles noch ge­sicher­te Gegen­wart und Zu­kunft, bis Bibi sie freund­schaft­lich um­armte: »Ich wusste immer, dass du es schaf­fen wür­dest. Wenn nicht du, dann keine!«

»Ach komm, lass uns über etwas ande­res reden …«, Vikto­ria wandte ihr Ge­sicht ver­legen ab.

»Was ist? Wie heißt der Kerl? Ich dreh ihm den Hals um! Darin bin ich ver­dammt gut!« Bibi machte eine furcht­erre­gende Geste, und ein ent­gegen­kom­mender Jogger wich ihnen ver­schreckt aus.

»Und du? Bist du mit jeman­dem zu­sammen?«, Vikto­ria wollte nicht über Mr. Par­kinson reden.

»Hin und wieder«, Bibi grins­te. »Ich habe eine Toch­ter. Kia­ra, 14 Jahre alt. Du musst sie un­be­dingt kennen­lernen.«

»Eine Toch­ter, 14 Jahre?«, Vikto­ria ver­suchte noch ein klei­nes über­rasch­tes Lä­cheln, be­vor ihr die Beine weg­sack­ten. Die Nach­richt er­wisch­te sie wie ein Tempe­ratur­sturz in sommer­licher Glut­hitze. Es waren nur Sekun­den­bruch­teile, aber sie sah Bibi und sich in der Schule. Ja, sie wollte immer die Bes­sere sein, die­jenige mit dem ersten Kuss, dem großen Geheim­nis um die erste Liebe, die­jenige, die ihr Stu­dium durch­zog gegen alle Zwei­fel, es bis zur Kar­riere schaff­te. Wie eis­kalter Regen klatsch­te die Eises­kälte ihrer Ge­fühle auf sie nieder und schwemm­te alles weg, alle Er­folge, die große Bühne ihres Lebens. Was blieb, war die große Leere und die Angst. Bibi hatte das Kind, ihren Traum­beruf in Ita­lien, das große Geheim­nis einer ver­flos­senen Liebe. Vikto­rias Kol­laps war nicht ge­spielt. Es rausch­te ihr mäch­tig in den Ohren, ihr wurde schlecht, sie würgte, er­brach sich aber nicht, schnapp­te nach Luft und kam nicht mehr hoch.

»Vic! Was ist mit dir? Bist du krank, soll ich Hilfe holen, einen Arzt? Vic!«, Bibi war auf­rich­tig be­sorgt. Vikto­ria ver­suchte, sie zu be­ruhi­gen, von wegen über­arbei­tet, aus­ge­brannt, er­ho­lungs­bedürf­tig. Wäh­rend ihr Mund nicht wusste, wie er Atem holen und gleich­zeitig Worte formen sollte, blick­te sie zer­knirscht an Bibis linker Schul­ter vorbei in den Himmel eines späten Früh­lings­nach­mit­tags in Triest.

»Du kommst erst mal mit zu mir. Ich lass dich nicht eher gehen, be­vor ich mir sicher bin, dass du okay bist. Lernst dann auch gleich Kia­ra kennen.« Bibis Blick zur Uhr: »So spät? Ich sollte sie ab­holen! Geht es wieder? Viel­leicht auch etwas schnel­ler?« Ja, eine un­pünkt­liche, un­geschick­te Chao­tin, das war Bibi Grün auch schon immer ge­wesen. Vikto­ria trank Wasser, biss die Zähne zu­sammen und be­mühte sich um die zivilisa­torische Er­rungen­schaft des auf­rech­ten Ganges. Doch sie stol­perte eher ihrer Freun­din hinter­her.

Vikto­ria be­trach­tete ihre Schul­freun­din, wie sie ganz selbst­ver­gessen und vor sich hin plap­pernd die all­täg­lichen Dinge ver­rich­tete, sich um ihr Kind küm­merte und gleich­zeitig den Ge­sprächs­faden zu ihr nie ab­reißen ließ. Vikto­ria wurde be­wusst, wie gänz­lich anders ihr bis­heri­ges Leben aus­gese­hen hatte. Eine Hand­chir­urgin: Sie war zu einer hoch ent­wickel­ten Spezia­listin ge­worden. Was wusste sie noch von dem Rest der Medi­zin, wo sie in kleins­ten Dingen immer per­fekter wurde? Was wusste sie noch vom Leben? So sehr sie die Be­wunde­rung ge­noss, so sehr war auch die Welt als Ganzes ihr ab­handen­gekom­men. Im selben Maß, wie sich ihre Auf­merk­sam­keit auf die Nerven, Gefäße, Ana­tomie der Hand redu­zierte, ver­armte ihr Leben zu Bruch­stü­cken.

»Spielst du noch?«

Vikto­ria schreck­te auf, hatte den Rede­fluss vor der Frage nicht mit­bekom­men: »Was meinst du?«

»Du hast doch Gi­tarre ge­spielt. Klas­sik­unter­richt, Gua­rec­ci und dann dein heim­liches großes Vor­bild: Djan­go Rein­hard! Mein Gott, was habe ich dich be­wun­dert!«, Bibi spiel­te Luft­gi­tarre und ver­zerrte ihr Ge­sicht. Ihre Toch­ter lachte, schau­te aber jetzt auch interes­siert zu Vikto­ria her­über, so, als ob sie sagen wollte, ›Hätte ich nicht ge­dacht …‹

»Das hatte ich glatt ver­gessen«, ge­stand Vikto­ria, er­in­nerte sich daran, dass ihre Gi­tarre noch zu Haus bei den Eltern auf dem Spei­cher lag. Völlig un­erwar­tet stie­gen ihr Tränen in die Augen. Sie wandte ihr Ge­sicht ab, wisch­te die ersten Trop­fen ver­stoh­len mit Zeige­finger und Hand­rücken aus den Augen­win­keln und von der Wange. Gegen das Ver­sagen ihrer Stimme an­kämp­fend, sagte sie: »Das ist lange her. Dass du dich daran er­in­nerst.«

Bibi ging auf sie zu, fasste sie von hinten an ihre Schul­tern, so sanft, als fürch­tete sie, ihre Freun­din zu er­schre­cken. Dann schick­te Bibi ihre Toch­ter aus dem Zimmer: »Lass uns mal allein«, legte in dem Moment des Schwei­gens ihren Kopf vor­sich­tig an Vikto­rias rechte Wange, ehe sie sagte: »Du hast dich un­glück­lich ver­liebt. Du bist nicht ohne Grund hier. Es geht dir schlecht, und ich texte dich zu!« Vikto­ria schnief­te, jetzt flos­sen die Tränen in einem nicht auf­zu­hal­tenden Strom. »Es ist schon gut.«

»Wie lange wirst du blei­ben? Du bleibst doch. Lauf nicht weg, be­komme einen klaren Kopf.«

Für einen Moment stand Vikto­ria in Ver­su­chung, ihrer Freun­din alles zu erzäh­len. Doch dann ent­schied sie, ohne zu wissen warum, es bei Halb­wahr­heiten und Miss­ver­ständ­nissen zu be­lassen.

»Klar doch! Wir sind keine Zwan­zig mehr. Ich sage dir, wie das bei mir ist.« Bibi reckte ihren Busen nach vorn, schlug sich mit der Hand auf die Run­dungen ihres Hin­terns. »Ent­weder mache ich mir Sorgen oder etwas zu essen«, sie lachte herz­lich. »Den Spruch habe ich vor kurzem in einem Roman von Il­dikó von Kürt­hy ge­lesen – und gleich zu meinem Motto ge­macht. Glaube mir, auch wenn das Er­geb­nis nicht immer auf den ersten Blick zu über­zeugen scheint, der Appe­tit auf alles Un­ge­sunde ist hier in Ita­lien gerade­zu eine Reli­gion. Wein, Likör, kleb­rige Kuchen, Eis, Pasta­soßen, Tira­misu, Männer – Lebens­eli­xiere. Meine Kurven sind ein Be­leg für meine Lebens­tüch­tig­keit und meine klei­nen und großen Siege über die Sorgen. Aber wenn ich dich so an­schaue, Vic … Es wird höchs­te Zeit für ein drei Gänge Menü!«

– 8 –

Als Vikto­ria am nächs­ten Morgen pünkt­lich auf dem Weg zum Früh­stücks­raum das Foyer durch­querte, nahm sie Ro­berto lä­chelnd zur Seite und be­deu­tete ihr, dass draußen vor dem Hotel jemand auf sie war­tete. Für einen Moment dachte sie an Bibi. Viel­leicht hatte sie sich frei­genom­men. Doch draußen stan­den rau­chend zwei ältere Herren, die ihre Ge­sich­ter gut ge­launt in die röt­liche Morgen­sonne hiel­ten. Vikto­ria er­schrak ein wenig, denn ein Wieder­sehen war in ihren Pla­nungen nicht vor­gese­hen ge­wesen. Etwas hilf­los schau­te sie sich nach Ro­berto um, aber der lachte nur und machte Arm­bewe­gungen, als scheu­che er Hühner aus dem Stall ins Freie. Vikto­ria stand noch immer in der Tür, als sich Gus­tavo und Giu­seppe zu ihr um­dreh­ten und wie aus einem Mund: »Bu­on­gi­or­no!« und »Bel­lis­si­ma!« riefen.

Be­vor es noch rich­tig pein­lich wurde, ging Vikto­ria ra­schen Schrit­tes auf die beiden zu. Sie zö­gerte noch bei dem Ge­danken daran, wie eine ordent­liche italie­nische Be­grü­ßung aus­fallen sollte, da nahmen sie beide be­reits in den Arm und drück­ten ihr rechts und links Küsse auf die Wange. Küsse, die nach Rauch und Zu­ver­sicht schmeck­ten.

»Ro­berto hat uns schon ver­raten, dass du eine Langschlä­ferin bist«, grins­te Gus­tavo.

»Du hast etwa noch nicht ge­früh­stückt?«, spiel­te Giu­seppe den Empör­ten. »Wie kann man nur seine Jugend so müßig ver­schwen­den! Schla­fen und dann noch allein!« Beide lach­ten er­neut. »Wir hatten Lust, dich wieder­zu­sehen. Geht es dir besser?«, Gusta­vos Inter­esse klang echt und be­rührte sie. Ein Aus­flug in die Berge. Sie spra­chen von einem Aus­flug und früh­stück­ten zu dritt im Hotel. Ro­berto hatte ihnen einen Tisch im hinte­ren Teil des Raumes zu­gewie­senen, ob­wohl Vikto­ria lieber am Fens­ter ge­sessen hätte. Dort sei es nicht so laut, die Gäste würden sich immer an den Fens­ter­plät­zen drän­gen. Vikto­ria dachte dar­über nach, was er wohl damit meinte. Gus­tavo und Giu­seppes Mit­teil­sam­keit kannte keine Aus­zeiten. Sie rissen Witze und unter­hiel­ten mit ihrer aus­gelas­senen Art zu­min­dest den halben Saal. Medita­tive Stille war etwas ande­res. Mit stil­ler Ver­zweif­lung dachte Vikto­ria daran, dass sie in dem Alter ihrer Tisch­ge­nossen höchst­wahr­schein­lich ein sabbern­der, hilf­loser Pflege­fall sein würde.

Ro­berto kam von der Rezep­tion her­über, trug Jeans und Sport­funk­tions­klei­dung, seine Schicht war offen­bar be­endet. Mit einem kurzen Blick be­merkte er Vikto­rias de­pres­sive Grund­stim­mung. Die Männer wech­selten ein paar Worte auf Italie­nisch. Fast ge­läu­tert wand­ten sich ihr Gus­tavo und Giu­seppe an­schlie­ßend wieder zu und ver­spra­chen einen schö­nen Tag bei einem Aus­flug ins Ro­sand­ra­tal. Vikto­ria trank ihren Cappuc­cino, biss in ihr Cor­net­to und löf­felte ein Schäl­chen Obst­salat. Vor­sich­tig er­kun­digte sie sich nach Klet­ter­felsen und dachte an den jungen Deut­schen vom Zug. »Klar doch! Der Karst hinter Triest ist das ideale Klet­ter­gebiet. Ein Traum, mit vielen wunder­baren Routen. Klet­tern Sie Dot­to­res­sa?«, Ro­berto be­geis­terte sich sofort.

»Nein, Gott be­wahre! Das kann ich über­haupt nicht. Aber es interes­siert mich«, antwor­tete Vikto­ria.

»Also, auf ins Ro­sand­ra­tal! Da gibt es sogar Klet­ter­schu­len und wunder­schöne Aus­sichts­punkte«, ent­schied Gus­tavo.

Ro­berto holte sich einen Stuhl, einen Kaffee, setzte sich da­zu und er­kun­digte sich nach ihrer Freun­din, Sabine Grün. Er be­obach­tete Vikto­ria dabei, wie sie nach­denk­lich das an­gebis­sene Cor­net­to auf die Tasse legte, ein paar Krumen zu­sammen­strich und, als ob es für die Ant­wort Kraft bräuch­te, kurz Luft holte: »Bibi hat eine Toch­ter, Kia­ra. Es scheint ihr gut zu gehen. Sie ist eine Frau, und ich hatte sie noch fast als Mäd­chen in Er­inne­rung. Sie ist mehr als eine halbe Italie­nerin ge­worden«, Vikto­ria lächel­te, »aber ich bin sehr glück­lich, sie wieder­gese­hen zu haben.«

»Sie wollen sich nicht mehr tref­fen?«, Ro­berto blick­te be­sorgt.