Der Geschmack von Blut - Jeanette Lagall - E-Book

Der Geschmack von Blut E-Book

Jeanette Lagall

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Beschreibung

Was, wenn die einzige Lösung genauso grausam ist wie das Problem selbst? Er existiert doch. Der Weg, den Wunschstein zu zerstören, Mathildas Seele daraus zu befreien und Daniel die Fähigkeit zu lieben zurückzugeben. Doch das anfängliche Wunder entpuppt sich schnell als Albtraum, denn der Preis ist nicht nur blutig, sondern um vieles höher und grausamer, als sich irgendjemand hätte vorstellen können. Müssen sich Aurica und ihre Freunde nun in ihr Schicksal fügen? Wenigstens hat Raouls Menschlichkeit in Mathilda einen sicheren Anker gefunden. Doch dann zerreißt ein Zerwürfnis zwischen den beiden auch diese Kette – und entfesselt die dunkle Seite des Vampirs, die nicht nur jeden im Schloss der Schatten, sondern die gesamte Stadt bedroht. Zwingt diese neue Gefahr Aurica und ihre Freunde nun doch dazu, ein Opfer zu bringen, zu dem sie unter anderen Umständen niemals bereit wären? Dies ist der vierte Band der Serie. Zum besseren Verständnis der Handlung und um sich nicht selbst zu spoilern, empfehle ich, mit dem ersten Band "Schloss der Schatten - Blut ist dicker als Wasser" zu beginnen und die Bücher in der richtigen Reihenfolge zu lesen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jeanette Lagall

Schloss der Schatten

Der Geschmack von Blut

Table of Contents

Start

Impressum

Titel

Widmung

Verantwortung

Wie alles begann

Schutzamulette und ein böses Buch

Quadrille meublée

Mord nach Maß

Die Energie eines Todeskampfes

Ein Hauch schwarzer Magie

Forderung

Dämonenlogik

Krumme Geschäfte

Fünfzig Riesen

Stunde der Wahrheit

Letzte Hoffnung

Unerwartete Auswirkung

Am Abgrund

Illegale Lieferung

Der Geschmack von Blut

Eierkiste

Fies drauf

Lotte und Frieda

Innige Verbundenheit

Eine ungewöhnliche Bitte

Fast wie ein natürlicher Tod

Ich wurde … festgehalten

Dämonenkuss

Mathildas Plan

Geschäft mit einem Dämon

Schlachtplan mit Lücken

Aussprache

Win-Win

Ungebundenheit

Zusammen, was zusammengehört

Verblüffende Erkenntnis

Überraschungsgast

Namensvetter

Traghotherak

Prickelnde Zukunftsaussichten

Die neue Direktorin

Leseprobe aus »Schloss der Schatten – Gesang des Blutes«

Hast du Lust auf ein Wiedersehen mit Raoul?

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Weitere Bücher der Autorin

Weitere Lesetipps

Über die Schicksalsweber

Schloss der Schatten

Vorgeschichte – Blutiger Schwur

Band 1 – Blut ist dicker als Wasser

Band 2 – Hexenblut

Band 3 – Blutmagie

Band 4 – Der Geschmack von Blut

Novelle – Gesang des Blutes

Jeanette Lagall

Mildred-Scheel Str. 1

50996 Köln

[email protected]

Text: © Jeanette Lagall 2025

Lektorat: Martina Suhr

Korrektorat: Jana Oltersdorff

Covergestaltung: Carolin Liepins

Innengrafiken: shutterstock, openclipart (GDJ), pixabay

1. Auflage Oktober 2025

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, wozu auch die Verbreitung über »Tauschbörsen« zählt.

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Jeanette Lagall

Schloss

der

Schatten

Der Geschmack von Blut

~ Band 4 ~

~~~

Für Jürgen

Bei unserer Hochzeit sagte eine Freundin, du wärst ein mutiger Mann.

Daran habe ich niemals gezweifelt. Doch nach all den Jahren (und dem Schloss der Schatten) kann ich sagen: Es stimmt.

Danke, dass es dich gibt.

~~~

„Glück ist Liebe, nichts anderes.

Wer lieben kann, ist glücklich.“

(Hermann Hesse)

Verantwortung

Aurica saß wie vom Donner gerührt und starrte den Hörer des Telefons an, den sie noch immer in der Hand hielt, aus dem aber seit geraumer Zeit nur noch ein Tuten erklang.

Erst als Sharai ungeduldig vor ihrem Gesicht herumwedelte, löste sie sich aus ihrer Erstarrung und stellte das tutende Etwas zurück auf die Station.

»… passiert?«, hörte sie gerade noch.

»Was ist passiert?«, schreckte Aurica alarmiert hoch.

Sharai schnaubte und pustete sich eine blaue Strähne aus den Augen. »Gar nichts. Ich habe dich gefragt, ob etwas passiert ist, weil du den Hörer regelrecht hypnotisiert hast und null ansprechbar warst.«

Gott sei Dank. Ein weiteres Problem hätte ich jetzt nicht überlebt.

»Wie man’s nimmt. Das war die Generaldirektion Kulturelles Erbe des Landes Rheinland-Pfalz. Die sind für das Museum hier zuständig. Eigentlich wollten sie mit Madame Lafour sprechen, die seit einer Woche verschwunden ist.«

»Joah. Das wird schwierig. Aber hey, sie hätte halt nicht versuchen sollen, uns das Avido Optatum zu klauen. Oder gleich sterben müssen, nur weil Raoul ihr deswegen das Herz aus der Brust gerissen hat. Manche Leute sind aber auch empfindlich«, ergänzte Sharai achselzuckend. Trotzdem war sie eine Schattierung blasser um die Nase geworden.

»Genau. Aber das konnte ich ihnen ja schlecht sagen. Wenn ich es richtig verstanden habe, wollte Madame Lafour sich noch am selben Tag mit ihnen treffen, ist aber zu dem Termin nicht erschienen. Wie auch. Nun ja, seither versucht die Generaldirektion, sie zu erreichen. Doch inzwischen wissen sie von der Vermisstenmeldung.«

»Erinnere mich nicht daran.« Die kleine Gestaltwandlerin verzog das Gesicht. »Ich weiß bis heute nicht, wie ich es geschafft habe, der Polizei überzeugend vorzuspielen, dass ich sie schon länger nicht gesehen habe.«

»Geht mir genauso.« Aurica seufzte, und bei der Erinnerung lief ihr ein Schauer den Rücken hinab. »Wahrscheinlich hat das auch nur geklappt, weil sie von uns eh keine brauchbaren Infos erwartet haben. Und dass unsere Chefin öfter für längere Zeit kommentarlos verschwunden ist, entsprach ja immerhin der Wahrheit.«

»Zum Glück. Daran hab ich mich auch ganz fest geklammert, sonst wäre es mir im Leben nicht gelungen, die Polizei zu belügen.«

»Nicht nur dir.«

»Denken wir lieber nicht mehr dran.« Sharai wedelte mit einer Hand durch die Luft, als könne sie auf die Art die Erinnerung vertreiben. »Aber weshalb hast du vorhin den Telefonhörer angestarrt, als würde jeden Moment eine Schlange herauskriechen?«

»Richtig. Das Telefon.« Aurica musste sich kurz sammeln. »Die Leute von der Generaldirektion Kulturelles Erbe sind jedenfalls ziemlich nervös, wegen der Museumseröffnung in vier Tagen …«

»Womit sie nicht allein sind«, unterbrach Sharai. »Keinen Plan, ob die nun stattfindet oder nicht.«

»Aber ich. Seit eben«, ächzte Aurica. »Die Ministerpräsidentin will zur Eröffnung kommen – beziehungsweise diese durchführen, wie auch immer. Deshalb bestehen sie auf die Einhaltung des Ablaufplans. Und da Madame Lafour nicht greifbar ist, haben sie mir kurzerhand ihre Aufgaben übertragen und mich als kommissarische Vertreterin bestellt.«

Sharais Kinnlade klappte nach unten.

»Oh, Shit«, ergänzte sie, als sie sich wieder gefangen hatte.

»Das trifft es gut.« Aurica warf dem Telefon einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Aber die können dir doch nicht einfach so die Verantwortung aufhalsen!«

»Ist ja nur vorübergehend. Zumindest ihrer Aussage nach. Und natürlich hafte ich für nichts, da ich ja nicht offiziell die Direktorin bin. Aber …« Sie hob hilflos die Hände.

»… irgendwie bist du trotzdem am Arsch, wenn die Eröffnung in die Binsen geht«, vollendete Sharai ihren Satz.

»Wahrscheinlich schon.«

»Aber warum ausgerechnet du?«

»Keine Ahnung. Angeblich gibt es sonst niemanden.«

»Was ist mit Barbara aus der Verwaltung?«

»Die macht nur die Buchhaltung und die Gehälter und war nicht in die Planung eingebunden.«

»Und Attila? Der weiß doch über die Abläufe Bescheid.«

»Ja. Doch als Sicherheitschef gehört er einem anderen Bereich an.«

»Daniel?«

»Ist offiziell Hausmeister.«

»Aber Raoul! HA! Unser ach so toller Marketingberater war von Beginn an in das Projekt involviert. Eigentlich macht er nichts anderes, im Gegensatz zu dir.« Sharai, die ohnehin kein Fan von Raoul war, redete sich in Rage. »Du bist für die Sammlungen verantwortlich. Aber er wurde eigens für die Entwicklung und Organisation der Eröffnung engagiert!«

»Lediglich für die Entwicklung. Und wie du selbst sagst: Raoul ist engagiert, ein Externer.« Aurica seufzte. »Die Organisation hatte Madame Lafour mir aufs Auge gedrückt. Dafür habe ich noch etliches zu tun. Eigentlich wäre das kein Problem, ich habe mir einen genauen Plan gemacht und wäre zeitlich perfekt hingekommen. Aber logischerweise umfasst mein Plan nicht Madame Lafours Aufgaben. Zumal ich nicht die Spur einer Ahnung habe, welche das überhaupt sein sollen. Aber laut Generaldirektion habe ich jetzt plötzlich die Verantwortung dafür und soll unsere Chefin offiziell vertreten!«

»Oh, Shit.«

»Das trifft es. Und ich weiß nicht, wie ich aus der Nummer rauskommen soll. Außer zu kündigen, und das wollte ich eigentlich nicht.«

»Das wäre ja auch ziemlich dämlich!«, brauste Sharai auf. »Genaugenommen ist das eine Riesenchance für dich! Hör zu, gemeinsam rocken wir die Kiste. Wir arbeiten ja schon eine ganze Weile auf die Eröffnung hin und wissen, was zu tun ist. Ich habe demnächst etwas Luft und kann dir Aufgaben abnehmen. Attila hilft auch gern, und Daniel drücken wir ebenfalls ein bisschen was aufs Auge. Dann hast du genug Zeit herauszufinden, was Madame Lafour noch gemacht hätte. Viel kann es nicht gewesen sein, sie war ja eh nie da! Bei der Eröffnung hätte sie dann ein wenig rumrepräsentiert, eine Rede gehalten, ein paar Hände geschüttelt und in die Kamera gegrinst.«

»Sie hätte die Verantwortung getragen«, wagte Aurica vorsichtig einzuwenden, doch Sharai war viel zu sehr in ihrem Element.

»Ja und? Von der hat man dich offiziell entbunden. Okay, zugegeben wäre es doof, wenn du das versemmelst, aber wir sorgen schon dafür, dass alles läuft! Am Ende kannst du massig Lob und Ehre einheimsen. Du musst doch nur Shakehands mit der Ministerpräsidentin und irgendwelchen Generälen und Erben von dieser Kulturdirektion machen …«

»Generaldirektion Kulturelles Erbe«, korrigierte Aurica. »Es kommen weder Generäle noch Erben und …«

»Egal. Irgendjemand mit Händen zum Schütteln wird schon da sein. Und in die Kameras zu grinsen, kriegst du auch locker hin. Die Rede soll dann eben Raoul halten, dafür wird er schließlich bezahlt. Von mir aus kann das auch so ein Kulturgeneral, Kulturerbe oder irgendeiner von der Stadt übernehmen. Die machen doch eh den ganzen Tag nichts anderes.«

Aurica ließ stöhnend ihren Kopf in die Hände sinken. »Du stellst dir das alles so einfach vor.«

»He, es ist einfach.« Sharai wuselte um den Tisch herum und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ganz im Ernst. Was soll denn passieren? Wir beschäftigen uns seit Wochen mit der Eröffnung. Wahrscheinlich kennen wir die Abläufe besser als Madame Lafour. Wenn’s schief gegangen wäre, hätten die Offiziellen zwar ganz offiziell ihr den Kopf abgerissen, aber sie dir danach deinen. Und uns unsere gleich mit. Keine Sorge, wir, und damit meine ich alle, ja, sogar Raoul, lassen dich nicht hängen. Wir rocken die Party gemeinsam. Und wenn doch was schiefläuft, sollen die Faune eben irgendwelche Glückspollen über die Blumen in der Luft verteilen. Spätestens dann werden sämtliche Anwesenden das Event für die gelungenste Eröffnung aller Zeiten halten!«

Aurica musste wider Willen lachen. »An die Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht. Aber wahrscheinlich hast du recht, und ich mache mir einen zu großen Kopf um die Sache. Ich bin nur in Panik geraten, als die mich so überfallmäßig zur Stellvertreterin berufen haben. Wie du schon sagst: Wir wissen, was zu tun ist. Und was Madame Lafours Part betrifft, werde ich einfach bei der Generaldirektion anrufen und fragen, was man nun genau von mir erwartet. Da ich äußerst überraschend und unvorbereitet in diese Aufgabe hineingerutscht bin, sollte damit eigentlich niemand ein Problem haben. Außerdem habe ich ja noch euch.« Sie lächelte Sharai dankbar an. »Es gibt zwar noch eine Menge zu tun, aber das wäre mit Madame Lafour ja auch nicht anders.«

»Vielleicht kommen wir ohne sie sogar schneller voran.«

»Sharai!«

Die kleine Wandlerin hob entschuldigend die Hände und guckte betont unschuldig. »Ich meine ja nur.«

Aurica unterdrückte ein Schmunzeln, wurde aber direkt wieder ernst. »Ach, verdammt.« Ein unangenehmer Gedanke dämpfte ihre sich gerade bessernde Laune.

»Was ist?«

»Da ist ja noch dieser Azon... Azotok... Ato... ach, dieser Dämon, wie auch immer er heißt.«

»Welcher … Oh. Der versehentlich frei Haus geliefert wurde, als ihr den Zauber gewirkt habt, um diesen Hexer ins Schloss der Schatten zu locken? Den hatte ich ja ganz verdrängt. Aber der ist doch gar nicht mehr da. Immerhin hat Raoul ihn mit dem Avido Optatum auf unbestimmte Zeit weggewünscht.«

»Mag sein, aber wie du schon sagst: auf unbestimmte Zeit. Das heißt, er könnte jederzeit wieder auftauchen. Nenn mich pessimistisch, doch für gewöhnlich passiert sowas immer dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann.«

»Das gäbe aber ein ziemlich cooles Pressefoto. Du schüttelst unserer Ministerpräsidentin die Hand und hinter euch ein 2,30 Meter großer, blauhaariger Dämon mit Hörnern und wutverzerrtem Gesicht. Unser Museum wäre schlagartig berühmt, und wir könnten uns vor Besuchern nicht mehr retten!«

»Ja, an sowas in der Art habe ich gedacht. Allerdings weniger an den Werbeeffekt, sondern mehr an das Massaker, das dieser Kerl unmittelbar nach seinem pressewirksamen Auftritt anrichten würde.«

»Das hätte auch einen Werbeeffekt.«

Aurica ließ den Kopf stöhnend in ihre Hände sinken.

»Hey, jetzt geh doch nicht gleich vom Schlimmsten aus«, versuchte Sharai sie zu beruhigen. »Wieso sollte er ausgerechnet an dem Tag auftauchen? Immerhin ist er seit gut einer Woche nicht mehr erschienen, vielleicht war das Avido Optatum ja noch mächtig genug, ihn wenigstens bis nach der Eröffnung wegzuwünschen. Oder für immer.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, aber du vergisst, dass dafür die letzten Reserven des Wunschsteins aufgebraucht worden sind, wodurch seine Macht gebrochen wurde. Also für immer werden wir den Dämon wohl kaum los sein. Irgendwas sagt mir, dass er uns nicht bis nach der Eröffnung Zeit lassen wird.«

Für einen Moment sah es aus, als wollte Sharai protestieren, doch dann nickte sie bloß. »Ja, vielleicht sollten wir wirklich besser jederzeit mit ihm rechnen. Apropos Magie: Wie sieht’s mit deinen eigenen Kräften aus? Bist du fit genug, es mit einem mächtigen Dämon aufzunehmen, wenn er hier überraschend auftaucht?« Die kleine Wandlerin ging in Kampfpose, ballte die Fäuste und fuchtelte damit in der Luft herum, während sie auf Zehenspitzen vor und zurück federte wie eine wildgewordene Tätowiernadel.

Der Anblick brachte Aurica zum Lachen. »Schön wär’s! Dank des Avido Optatums habe ich meine Kräfte zwar zurück und beherrsche sie auch einigermaßen, aber es gibt noch so viel zu lernen! Zum Beispiel, welche Zutaten man für welche Zauber braucht, wie was wirkt und wie sie zusammenwirken. Das ist so kompliziert, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Ich war fast jeden Abend bei Benita, und sie macht das wirklich toll. Aber ich habe das Gefühl, je mehr ich lerne, desto weniger weiß ich.«

»Ich weiß, dass ich nichts weiß«, erklärte Sharai philosophisch. »Hat doch mal so ein schlauer Mensch gesagt. Einstein oder Freud, keine Ahnung. Im Zweifel Goethe.«

»Fast. Sokrates.«

»Genau. Und der war ziemlich schlau. Du bist im Moment also auf dem gleichen Level wie Sokrates. Dementsprechend stehen die Chancen gut, in die Hall of Fame der größten Berühmtheiten aufgenommen zu werden.«

»Na, wenn geballtes Nichtwissen auch zählt, bin ich bereits Ehrenmitglied.«

»Ach komm, das wird schon. Der Hexenkram ist sicher pervers kompliziert, und es gibt unendlich viel zu lernen, aber du wirst da schon noch durchsteigen.«

Aurica ließ mit einem resignierten Schnaufen die Hände auf die Tischplatte fallen. Irgendwie würde es machbar sein, andere schafften das schließlich auch. Aber im Moment hatte sie einfach das Gefühl, vor einem ebenso riesigen wie unüberwindbaren Berg zu stehen, der obendrein komplett mit einem undurchdringlichen Urwald bewachsen war.

»Konnte Benita inzwischen eigentlich herausfinden, was dieses Compendium de rektum poetry ist, das in dem einen Grimoire erwähnt wurde?«, unterbrach Sharai Auricas Gedanken.

»Was für ein Ding?« Aurica starrte sie irritiert an.

»Na, dieses Buch oder was auch immer, in dem womöglich steht, wie man das Stück von Mathildas Seele, Daniels Lebensglück und den Teil von Raouls Menschlichkeit wieder aus dem Avido Optatum herausbekommt. Na, die drei Opfer halt, die zur Erschaffung des Wunschsteins nötig waren und noch immer darin stecken, falls du dich erinnerst.«

»Wie könnte ich das vergessen«, schnaubte Aurica und fügte belustigt hinzu: »Wie hast du das gerade genannt?«

»Compendium de rektum poetry – und ich höre schon an deinem Tonfall, dass das nicht ganz richtig war.«

»Wie man’s nimmt. Benita hat aus dem Gekritzel in dem Grimoire Compendium de rerum potiri – interitus potentiarum quoque entziffert, aber niemand weiß, ob das richtig ist. Vielleicht stimmt deine Version ja doch. Mir gefällt sie jedenfalls viel besser.«

»Mir auch.« Sharai rieb sich vergnügt die Hände. »Kann man sich auf jeden Fall leichter merken. Die Übersetzung für Nicht-Lateiner wäre somit Handbuch der Arsch-Poesie. Ja, ja, nichts zu danken, in Sprachen war ich schon immer ein Ass.« Sie grinste Aurica frech an. »Aber wir sind vom Thema abgekommen. Was hatte ich jetzt eigentlich wissen wollen?«

»Ob Benita irgendwas über das Handbuch der Arsch-Poesie herausgefunden hat.«

»HA! Genau. Und? Hat sie?«

»Noch viel besser: Sie bekommt es heute höchstwahrscheinlich! Gut möglich, dass sie es sogar schon hat. Ich fahre nach der Arbeit wieder zu ihr. Eigentlich wollten wir uns weiter mit der Erschaffung von Schutzamuletten befassen, aber in dem Fall könnte ich mir vorstellen, dass wir das Programm spontan ändern.«

»Sie kriegt es sogar?« Sharai riss verblüfft die Augen auf und ließ die pinkfarbene Strähne los, die sie zwischen den Fingern gezwirbelt hatte. »Wie genial ist das denn? Vielleicht sind dann schon morgen Glück, Seele und Menschlichkeit aus dem Stein befreit und Mathilda, Daniel und Raoul wieder normal. Wobei, Mathilda hat eh keinen Unterschied gemerkt, und bei Raoul merke ich keinen. Er ist der gleiche Arsch wie immer. Von wegen, er kämpft angeblich sooo sehr gegen den Verlust seiner Menschlichkeit an.« Sharai schnaubte verächtlich. »Nur Daniel ist echt eine arme Sau. Es muss schrecklich sein, so völlig ohne die Fähigkeit, Glück zu empfinden und alles, was auch nur entfernt damit zu tun hat.« Beschämt schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Tut mir leid, ich wollte die Sprache nicht auf den, der nicht genannt werden darf, bringen.«

Doch Aurica winkte nur ab. »Kein Problem. Dem, der nicht genannt werden darf, begegne ich ohnehin jeden Tag bei der Arbeit. Und ich komme gut damit klar.«

Das stimmte zwar nur bedingt, denn es tat noch immer weh, Daniel zu sehen. Sogar mehr, als sie es sich selbst eingestehen wollte. Aber sowohl die Vorbereitungen für die Eröffnung des Museums, als auch die Entwicklung ihrer neuen Hexenkräfte forderten derzeit ihre ganze Aufmerksamkeit. Da blieb wenig Zeit für Liebeskummer. Außerdem hatte er sie ziemlich übel abserviert. Natürlich hatte er behauptet, dass er das nur zu ihrem Besten getan hätte, da er sie mangels der Fähigkeit, Glück empfinden zu können, ohnehin nicht mehr lieben konnte. Das mochte ja alles sein. Und vielleicht hatte Daniel langfristig sogar recht damit. Aber ein wenig länger hätte er schon um ihre Liebe kämpfen können. Und vor allem hätte er Aurica nicht auf diese Art demütigen müssen.

Erst als sie Sharais Arm um ihre Schultern spürte, merkte Aurica, dass ihr ungewollt nun doch wieder Tränen in den Augen standen.

»Tut mir leid«, erklärte die kleine Wandlerin zerknirscht. »Ich wollte dich nicht traurig machen. Aber ich glaube fest daran, dass ihr wieder zusammenkommt, wenn dieses ganze Theater vorbei ist.«

Aurica setzte die Brille ab, wischte sich entschlossen über die Augen und putzte sich die Nase. »Ach, schon gut, du kannst ja nichts dafür. Nur lass mich zwei Dinge klarstellen. Erstens: Ich will ihn nicht mehr zurück. Nie mehr. Die Art und Weise, wie er Schluss gemacht hat, war dermaßen unter aller Sau, das verzeihe ich ihm nie.« Energisch setzte sie ihre Brille wieder auf. »Und zweitens: Ich fürchte, dass sich das ganze Theater nicht eben mal so einfach lösen lässt. Es heißt nicht ohne Grund, dass die drei Opfer nach der Erschaffung eines Avido Optatums unwiederbringlich mit ihm verschmelzen. Und das ändert sich auch nicht, wenn es seine Macht verliert, denn sie sind der Preis für die Erfüllung der vorangegangenen Wünsche. Magie macht nichts umsonst. Man sollte da vorsichtig sein.«

»Aber was ist dann mit diesem Compendium?«, wollte Sharai wissen.

»Es bietet eventuell, vielleicht, unter Umständen eine Spur. Mit Betonung auf eventuell, vielleicht und unter Umständen. Allerdings ist es alles andere als eine sichere Sache. Und selbst wenn es wider Erwarten doch eine Lösung bieten sollte, heißt das noch lange nicht, dass man auch den Preis dafür bezahlen kann. Oder will.«

»Hm.« Sharai kaute auf ihrer Unterlippe. »Also könnte es letztendlich sein, dass das tolle Handbuch der Arsch-Poesie doch nur für’n Arsch ist.«

»So sieht’s aus. Versteh mich bitte nicht falsch, ich wäre die Letzte, die sich dagegen sträuben würde, die drei Opfer aus dem Wunschstein zu lösen. Ich würde es Raoul von Herzen gönnen, dass Mathilda sich wieder an ihn erinnert, sobald ihre Seele vollständig ist. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass es gesund ist, wenn ein Teil der Seele fehlt. Auch wenn Mathilda selbst nichts davon zu spüren scheint. Außerdem wäre es fatal, wenn Raoul den Kampf gegen seinen Dämon verliert, weil seine verbliebene Menschlichkeit nicht ausreicht. Und nein, nicht einmal Daniel wünsche ich seinen jetzigen Zustand. Nie wieder Glück oder Freude empfinden zu können – ich will mir gar nicht vorstellen, wie man sich damit fühlt. Egal, was er getan hat – und ich finde es durchaus gerecht, dass er dafür eine Weile leidet – aber keine ganze Ewigkeit. So etwas verdient niemand.«

»Du bist einfach zu gut für diese Welt. Vermutlich wäre ich an deiner Stelle rachsüchtiger. Auch wenn ich mir trotzdem wünsche, dass ihr wieder zusammenkommt. Außerdem glaube ich fest dran, dass sich eine Lösung findet. Und du kannst dich sträuben, wie du willst: Ich bin davon überzeugt, dass du Daniel zurücknimmst, wenn er wieder der Alte ist.«

»Vergiss es.«

Ein breites, schelmisches Grinsen erschien auf Sharais Gesicht. »Nö.«

Wie alles begann

Ein wenig abgehetzt klingelte Aurica am frühen Abend an der Tür von Benitas gemütlichem Häuschen. Sie war ziemlich müde nach dem ereignisreichen Tag. Dank ihrer Magie hatten Sharai und sie zwar viele der anfallenden Aufgaben für die Museumseröffnung deutlich schneller als normal erledigen können, aber es stand trotzdem noch eine Menge an. Abgesehen davon zehrte die dauernde Zauberei ordentlich an Auricas Kräften. Sie brauchte dringend eine Pause – und Benita brauchte sicher auch mal eine Pause von ihr. In letzter Zeit hatten sie oft zusammengesessen. Dabei hatte sie wahnsinnig viel Neues gelernt. Allerdings fühlte sie sich deswegen inzwischen langsam, aber sicher nicht mehr aufnahmefähig. Leider war die Sache mit dem Compendium zu wichtig. Sollte es wirklich eine brauchbare Spur enthalten, mussten sie dieser unbedingt nachgehen.

»Wie schön, da bist du ja!«, strahlte die alte Gestaltwandlerin Aurica an, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte. »Komm rein.«

»Es tut mir leid, ich bin ein bisschen spät«, entschuldigte sich Aurica, während sie Benita in das behagliche Innere des Häuschens folgte. »Außerdem habe ich langsam ein schlechtes Gewissen, dass ich dich wegen meines Gezaubers dauernd mit Beschlag belege.«

»Ach was. Ich genieße es, mich endlich wieder mit der Magie beschäftigen zu können! Erst durch dich ist mir bewusst geworden, wie sehr sie mir all die Jahre gefehlt hat. Offenbar wollte ich mir das vorher nicht eingestehen. Setz dich.« Sie deutete Richtung Esstisch und verschwand in der Küche.

Aurica leistete der Aufforderung Folge und ließ den Blick schweifen. Sie mochte den behaglichen Landhausstil mit den hellen Möbeln.

»Ich mache dir ein bisschen von der Lasagne warm. Du bist bestimmt hungrig.« Benitas wollig anmutender weißer Schopf erschien kurz in der Tür und verschwand gleich darauf wieder.

»Ja, sehr gern, vielen Dank.« Aurica hatte es aufgegeben, sich gegen Benitas Bemutterungsattacken zu sträuben. Es war ohnehin sinnlos. Davon einmal abgesehen wusste sie es viel zu sehr zu schätzen. Die alte Wandlerin kochte nicht nur gern, sondern auch göttlich gut, und da Aurica meist direkt nach der Arbeit zu ihr ging, schaffte sie es nicht, vorher noch etwas zu essen. Trotz allem plagte sie deswegen das schlechte Gewissen, doch sie würde sich bei Gelegenheit revanchieren.

Sie hörte das Klappern von Geschirr und musste schmunzeln, als sie kurz darauf das Aufwallen von Magie spürte. Eine Hexe brauchte keine Mikrowelle.

»Kann ich dir helfen?«, fragte Aurica wider besseres Wissen, aber durch ihre Erziehung sah sie sich dazu genötigt.

»Hätte ich dir dann gesagt, dass du dich setzen sollst?«, entgegnete Benita und balancierte ein Tablett mit zwei dampfenden Tellern, zwei Gläsern und einem Krug, gefüllt mit einer ihrer legendären Limonadenkreationen, aus der Küche.

»Mmmh, wie das duftet!« Aurica lief das Wasser im Mund zusammen. »Was für eine Limo hast du denn diesmal kreiert?«

»Himbeer-Lavendel-Limette«, antwortete Benita, während sie Teller, Gläser und Besteck verteilte.

»Oh, lecker!« Aurica griff nach dem Krug und füllte die Gläser.

Sie stießen an. Wie zu erwarten schmeckten sowohl die Limonade als auch die Lasagne fantastisch, und Aurica spürte, wie die Erschöpfung von ihr abfiel.

»Sag mal, wie lange ist es eigentlich her, dass du deine Kräfte an diesen Dämon abgegeben hast?«, erkundigte sie sich zwischen zwei Bissen.

»Ziemlich genau siebenundzwanzig Jahre. Er heißt übrigens Azothanok, falls du dir den Namen nicht merken konntest.«

»Erwischt.« Aurica grinste ertappt.

»Mach dir nichts draus, Dämonennamen sind gern mal schwierig. Wobei der sogar noch geht.«

»Hast du eine Ahnung, wann Azothanok wieder auftauchen wird?«

»Nein, nicht die geringste. Allerdings wird er Ersatz für meine Kräfte fordern. Schließlich gehören sie rechtmäßig ihm.«

»Wieso Ersatz?«, wunderte sich Aurica.

»Magische Kräfte kann man nur einmal vom ursprünglichen Besitzer trennen. Ein weiteres Mal geht es nicht. Trotzdem habe ich sicherheitshalber mein Haus mit sämtlichen Schutzzaubern gegen Dämonen belegt. Leider funktioniert das wegen der Größe beim Schloss der Schatten nicht.«

»Was ist damals eigentlich passiert? Warum hast du ihm deine Kräfte überlassen?« Aurica hielt peinlich berührt inne. »Ähm, ich hoffe, ich bin nicht zu indiskret. Wenn du nicht antworten willst, dann …«

»Nein, das ist in Ordnung. Die Sache liegt ja schon sehr lange zurück.« Benita legte ihr Besteck beiseite und sammelte sich kurz. »Meine Tochter hatte einen schweren Autounfall und lag bereits seit einer ganzen Weile im Koma. Die Ärzte hatten nur wenig Hoffnung, dass sie jemals wieder daraus erwachen würde. Auch ich hatte alles Erdenkliche versucht, doch meine Magie war in diesem Fall machtlos. Irgendwann stand die Frage im Raum, ob die Geräte abgeschaltet werden sollten.« Die alte Wandlerin atmete tief durch. »Eine furchtbare Entscheidung. Sowohl sie abzuschalten als auch sie weiterlaufen zu lassen, ohne jegliche Gewissheit, dass meine Tochter zu mir zurückkehren würde. Natürlich wollte ich sie nicht verlieren, aber genauso wenig wollte ich sie dazu verdammen, für den Rest ihres Lebens an dieses Bett und diese unsäglichen Geräte gefesselt zu sein, wenn es in Wahrheit keine Hoffnung mehr gab. Was richtig und was falsch war, wusste ich nicht, dementsprechend verzweifelt war ich.«

Aurica hatte in der Zwischenzeit mit dem Essen aufgehört und hörte Benita sprachlos zu. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass eine solch dramatische Geschichte dahinterstecken würde!

»Zu jenem Zeitpunkt war ich mir sicher, sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, als sich eines Tages ein neuer Weg offenbarte«, fuhr Benita fort. »Ich erfuhr von einer Dämonenart, die Kontakt zu Seelen aufnehmen kann. An sich war mir dieses Wissen nicht neu. Ich hatte schon von Menschen und Wesen gehört, die mit Toten sprechen können, sofern diese noch nicht allzu lange verstorben waren. Das Besondere an dieser Dämonenart war jedoch, dass sie auch mit Menschen kommunizieren konnte, die sich in einer Art Zwischenstadium befanden. Dass es nun doch jemanden gab, der in Kontakt mit der Seele meiner im Koma liegenden Tochter treten konnte, erschien mir wie ein Lichtstreif am Horizont, weshalb ich den Handel mit Azothanok eingegangen bin.« Benita trank abwesend einen Schluck und verfiel in Schweigen.

Aurica hatte eine Menge Fragen, spürte aber, dass die alte Wandlerin gerade ihren eigenen Gedanken nachhing und einen Moment brauchte. Hätte sie gewusst, welch dramatische Geschichte sie mit ihrer Neugier hervorzerren würde, hätte sie geschwiegen und keine alten Wunden aufgerissen.

Schließlich fuhr Benita von sich aus fort. »Allerdings macht ein Dämon nichts ohne Gegenleistung, doch für meine Tochter hätte ich alles getan. Ich bat ihn, mit Cecilias Seele zu sprechen und sie zu überzeugen, zu mir zurückzukehren. Dafür hat er meine Zauberkräfte verlangt. Ein geringer Preis für das, was ich gewinnen konnte – der Ansicht bin ich übrigens heute noch – daher willigte ich, ohne zu zögern, ein.«

»Hat es funktioniert?«, erkundigte Aurica sich vorsichtig.

»Ja, hat es. Und ich würde jederzeit wieder so entscheiden. Auch wenn es letztendlich nichts genutzt hat, denn das Schicksal lässt sich nicht überlisten.«

Auricas Hals schnürte sich zu. »Hat Azothanok denn nicht Wort gehalten?«

»Doch. Dämonen tricksen zwar gern und sind mit Vorsicht zu genießen. Aber ein Handel mit ihnen ist bindend. An Azothanok lag es nicht. Seinen Teil hat er erfüllt. Er hat Cecilia tatsächlich überzeugt, in dieses Leben zurückzukommen. Allerdings verriet er mir auch, dass sie ihm gesagt habe, dass ihre Zeit in dieser Welt eigentlich abgelaufen sei. Aufgrund meiner Bitte hat sie sich jedoch entschieden, ins Leben zurückzukehren.« Benitas Augen wurden feucht, und Aurica legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern.

»Was ist passiert?«, fragte sie mitfühlend.

»Ich sagte ja: Das Schicksal lässt sich nicht überlisten. Cecilia starb drei Monate später bei einem Autounfall. An genau der gleichen Stelle, an der sie auch ihren ersten hatte.«

Aurica lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter, und sie drückte Benita fester. »O Gott, wie schrecklich! Es tut mir so leid!«

Die alte Wandlerin nickte und schwieg für einen Moment. Dann sammelte sie sich wieder. »Wie ich bereits sagte: Wenn das Schicksal es nicht will, lässt es sich kein Schnippchen schlagen. Es gibt Dinge, die sind mächtiger als wir. Das müssen wir akzeptieren. Und für uns andere geht das Leben weiter. Auch das müssen wir akzeptieren und lernen, es als ein Geschenk anzunehmen, auch wenn es uns zeitweise wie ein Fluch erscheint.«

»Weise Worte«, sagte Aurica leise.

Benita wandte sich ihr zu und lächelte. »In meinem langen Leben habe ich zumindest ein paar wenige Dinge gelernt. Und jetzt iss auf. Immerhin haben wir heute noch einiges zu tun.«

Eigentlich war Aurica der Appetit nach dieser Geschichte vergangen, doch sie wollte nicht unhöflich sein. Außerdem hatte niemand etwas davon, wenn sie ihr Essen stehen ließ. Benita widmete sich ebenfalls ihrem Teller. Ein paar Bissen später wendete sich ihr Gespräch auch wieder leichteren Themen zu.

Schließlich waren sie fertig, und Aurica half der alten Wandlerin, deren Protest sie geflissentlich ignorierte, den Tisch abzuräumen.

»So, wo waren wir letztes Mal stehen geblieben?«, überlegte Benita laut, nachdem alles erledigt war.

»Sollten wir nicht zuerst in dieses Compendium schauen? Womöglich finden wir eine Lösung, wie wir die Opfer aus dem Avido Optatum herausbekommen«, erkundigte Aurica sich vorsichtig.

»Nein. Selbst dann nicht, wenn ich nicht schon hineingeschaut hätte.«

»Du hast schon … Und es steht nichts darin?« Aurica konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber wir sollten erst einmal das Wichtigste erledigen – das heute obendrein fertig werden muss.«

»Die Schutzamulette«, seufzte Aurica ergeben.

Inzwischen kannte sie Benita gut genug, um zu wissen, dass sie nicht von ihrem Plan abweichen würde. Prinzipiell hatte sie nichts gegen die Schutzamulette, im Gegenteil. Eigentlich fieberte sie schon seit ein paar Tagen deren Fertigstellung entgegen. Aber sie war so gespannt auf dieses Handbuch der Arsch-Poesie – jetzt nannte sie es selbst schon so – und hoffte so sehr, dass es eine Lösung barg! Trotzdem musste sie Benita insgeheim recht geben. Die Schutzamulette, die sie gegen den Einfluss des Renfield-Faktors schützen würden, waren wichtig. Allerdings jetzt auch wieder nicht sooo wichtig, dass es auf einen Tag mehr oder weniger ankam. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Vampire sie oder jemand anderen innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu seinem willenlosen Sklaven machen sollte?! Eigentlich nicht mal innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden. Oder auch zweiundsiebzig. Andererseits, bei Daniel, vor allem aber bei Raoul, wusste man nie. So gesehen hatte Benita schon recht. Abgesehen davon wäre es auch zu schön, um wahr zu sein, wenn sich das Problem mit dem Avido Optatum direkt heute Abend lösen ließe. Dafür müsste das Compendium jedoch die perfekte, maßgeschneiderte Superschnelllösung beinhalten. Was sie bezweifelte. Außer ihrer Neugierde gab es also keinen Grund, nicht zuerst die Amulette fertigzustellen.

Aurica unterdrückte ein Seufzen und folgte Benita in ihre Hexenküche, wie sie das kleine Zimmer nannte. Gezaubert hatten sie darin zwar noch nie, aber es enthielt alle Zutaten und Utensilien, die man fürs Zaubern brauchte. Wenn man Benitas Aussage glauben durfte, war die Ausstattung noch längst nicht vollständig, doch auf Aurica wirkte das trotz seiner Größe helle und gut sortierte Räumchen schon sehr hexenmäßig, da sich die alte Wandlerin auch ohne ihre Kräfte bereits ausgiebig mit der Heilkraft von Pflanzen beschäftigt hatte.

Aurica liebte den Duft der Kräuter, die zum Trocknen von der Decke hingen. Jeder verfügbare Zentimeter an der Wand war mit Regalbrettern bestückt, auf denen feinsäuberlich beschriftete Dosen, Gläser und Kästchen aufgereiht waren. In die Ecke hinter der Tür schmiegte sich ein kleiner Schrank, der diverse Töpfe, Geschirr und inzwischen auch wieder ein paar Zauberutensilien enthielt. Direkt vor dem großen Fenster stand ein Tisch aus Buchenholz, auf dem man Dinge zerkleinern und sonstige Vorbereitungen treffen konnte. Doch damit war der Raum auch voll. Zu zweit passte man kaum noch hinein.

Wenn sie das freundliche, helle Zimmerchen betrat, musste Aurica jedes Mal schmunzeln, da es das genaue Gegenteil von dem auf düster getrimmten Kabuff war, das Daniel im Auftrag von Madame Lafour für die Hexenecke im Museum gebaut hatte. Die malerische Schauerlichkeit entsprach dem absoluten Klischee einer Hexenküche: schiefe Bretter, auf alt gemachte Tiegel und Gläser mit fleckigen Etiketten, auf dem Tisch verteilte Tierknöchelchen, künstliche Spinnweben und ein über einem flackernden Feuer baumelnder Kessel. Nicht einmal den strubbeligen Reisigbesen in der Ecke, den Raben auf dem Fenstersims und die Katze vor dem Buch mit Zaubersprüchen hatte er ausgelassen. Aber die Hexenhütte sah wirklich gut aus und würde den Besuchern bestimmt gefallen, das musste Aurica zugeben.

»Also gut, erinnerst du dich noch, was wir brauchen, um die Amulette fertigzustellen?«, riss Benita sie aus ihren Überlegungen.

Aurica musste sich kurz sammeln. Es war etwas gewesen, das in ihren Ohren sehr absurd geklungen hatte. Ohnehin war die Erstellung der Amulette völlig anders abgelaufen, als sie es sich vorgestellt hatte. Wenn man einmal außer Acht ließ, dass sie sich per se noch nie darüber Gedanken gemacht hatte, wie man ein Schutzamulett herstellte. Aber gesetzt den Fall, sie hätte, dann hätte sie irgendwas mit Runen, magischen Kreisen, vielleicht noch einem dampfenden Kessel mit brodelnder Flüssigkeit und auf jeden Fall einer Menge Zauberstabgefuchtel vermutet. So viel zu Hexenklischees.

Tatsächlich war überhaupt nichts davon vorgekommen. Halt, doch. Die Runen. Immerhin.

Ganz von ungefähr kommen Klischees eben doch nicht, rechtfertigte Aurica sich innerlich.

Zunächst hatten sie für jeden aus dem Schloss der Schatten, der ein solches Amulett bekommen sollte, die passende Geburtsrune zum jeweiligen Sternzeichen samt Geburtsstunde ermittelt. Dann war diese jeweils zu exakt dieser Uhrzeit auf einem Anhänger eingebrannt worden, der aus einer speziellen Eisen-Silber-Legierung bestand. Diesen Teil hatte größtenteils Benita übernommen, da Babys für gewöhnlich dazu neigten, zu Uhrzeiten auf die Welt zu kommen, die nicht arbeitnehmerfreundlich waren. Doch zumindest zweimal hatte Aurica ihr assistieren können. Noch besser wäre es zwar gewesen, wenn die Rune nicht nur zu der gleichen Uhrzeit aufgebracht worden wäre, sondern auch am tatsächlichen Geburtstag, doch diesen abzuwarten, dazu fehlte ihnen schlichtweg die Zeit. Bei Gelegenheit würden sie das nachholen, aber im Moment musste es so gehen.

Das Aufbringen der Rune war interessant gewesen, denn eigentlich war die Legierung durch den Eisenanteil zu hart, als dass man einfach etwas einbrennen konnte. Obendrein hatte Benita, wenig zauberhaft, einen schlichten Lötkolben verwendet, mit dem unspektakulären Ergebnis, dass man gar nichts von der Rune gesehen hatte. Natürlich hatte Aurica sie darauf angesprochen, woraufhin die alte Wandlerin nur geheimnisvoll gelächelt und gesagt hatte, dass etwas nicht sichtbar sein müsse, um zu existieren. Insgesamt herrschte jedoch Pragmatismus vor, denn die Anhänger waren, ebenfalls wenig zauberhaft, im Internet bestellt worden. Auf diese Weise hatte Aurica gelernt, dass moderne Hexen heutzutage eigene Online-Shops führten, obendrein mit einer verblüffend großen Auswahl an schönen Anhängern. Zwar wirkte sich die Form nicht auf die Funktion des Schutzamuletts aus, doch sie half auseinanderzuhalten, für wen welches Amulett gedacht war.

Benitas erwartungsvoller Blick riss Aurica abrupt aus ihren Gedanken. Ach ja, sie wollte wissen, was sie noch brauchten. »Salz«, antwortete sie daher rasch. Da es Bestandteil fast jeden Zaubers war, lag man damit meist richtig.

Benita nickte zwar, aber ihr Grinsen ließ vermuten, dass sie Aurica durchschaut hatte.

Doch inzwischen hatte sie ihre Gedanken wieder geordnet. »Außerdem brauchen wir getrocknetes Eisenkraut, um die Schutzwirkung anzustoßen, Sandelholz zur Abwehr negativer Energien jedweder Art, Nachtkerzenblüten, die, weil sie nachts durchblühen, eine besondere Verbindung zur Nacht haben und deshalb den Zauber auf nachtaktive Kreaturen wie Vampire spezialisieren. Auch wenn sie sich, wie unsere, nicht daran halten. Und … Moment, ich komme gleich drauf. Weihrauch … nein. Ah! Ich hab’s: Myrrhe.«

»Genau. Und warum Myrrhe?«

In Auricas Kopf schwirrte es. Sie hatte in letzter Zeit so viel über die Wirkung der verschiedensten Kräuter und Substanzen gelernt, dass sie mitunter das Gefühl hatte, sich niemals alles merken zu können. »Es ist ein Harz, und wir wollten etwas mit Feuer machen?«

»Fast«, lachte Benita und lehnte sich mit der Hüfte an den Tisch. »Wenn du nicht weiter weißt, überleg bei den pflanzlichen Substanzen einfach mal, wofür sie von der Pflanze eingesetzt werden. Das hilft manchmal.«

»Ach ja!«, fiel es Aurica schlagartig wieder ein. »Der Myrrhestrauch nutzt das Harz, um das Eindringen von Schädlingen, beziehungsweise schädlichen Organismen zu verhindern.«

»Exakt. Also im übertragenen Sinn auch das Eindringen fremder, schädlicher Gedanken, die uns beeinflussen wollen.«

Schade, dass es nicht auch das Eindringen des Vampirs verhindert, dachte Aurica halb belustigt, halb grimmig, schob den Gedanken jedoch rasch wieder beiseite. Schließlich musste sie sich konzentrieren. Und wenn sie etwas inzwischen garantiert nicht bereute, dann, dass sie mit Raoul geschlafen hatte. Ja, gut, vielleicht das erste Mal. Da hatte sie tatsächlich unter dem Einfluss des Renfield-Faktors gestanden. Andererseits hätte sie ohne das niemals erfahren, was für einen miesen Charakter Daniel in Wirklichkeit hatte. Der zweite Sex mit Raoul war ihre bewusste Entscheidung gewesen. Das hatte sich Daniel selbst zuzuschreiben. Und deshalb bereute sie es auch absolut nicht. Kein bisschen.

Wirklich nicht.

»Hallo? Bist du noch da?« Benitas amüsierter Ton riss sie erneut aus ihren Gedanken.

»Was? Äh, ja.« Aurica schreckte hoch und errötete ertappt.

»Gut. Du suchst die Zutaten zusammen, ich nehme die Amulette. Den Rest machen wir auf dem Esstisch, da ist mehr Platz als hier. Zusätzlich zu dem Harz und den Blüten kannst du auch noch Myrrhe- und Nachtkerzenöl mitnehmen. Das verstärkt die Wirkung noch ein bisschen.« Sie nahm sich das Becken, in dem die Amulette nun seit einer Woche zusammen mit ein paar Silberstücken und schwarzen Turmalinen im Wasser lagen, und ging nach draußen.

Da Aurica sich inzwischen gut in dem Räumchen auskannte, fand sie das Gesuchte schnell und konnte Benita bald folgen.

Schutzamulette und ein böses Buch

Nun würden die Amulette also endlich fertig werden. Aurica hätte nicht gedacht, dass es sich bei der Erstellung um eine derart zeitaufwändige Angelegenheit handelte. Sie war davon ausgegangen, dass die Amulettproduktion an einem Abend erledigt sein würde. Aber sie war auch davon ausgegangen, dass es dazu brodelnder Kessel und Zauberstabgefuchtel bedurfte. Stattdessen waren immer nur ein oder zwei vergleichsweise unspektakuläre Kleinigkeiten zu tun gewesen, diese aber über eine ganze Woche verteilt. Denn auch die Zeit spielte eine wichtige Rolle. In diesem Fall hatten es exakt sieben Tage sein müssen.

Diesbezüglich hatte es der Zauberer, der ihnen das Avido Optatum gestohlen hatte, leichter gehabt. Er hatte sich die Schutzamulette, die er wollte, einfach mit Hilfe des Artefakts herbeigewünscht.

»Die Kräfte des Wassers haben nun lange genug auf die Amulette gewirkt und dabei auch die Kräfte der Turmaline und des Silbers weitergeleitet«, erklärte Benita, die mit einer Flasche Öl und einer verkohlten Steinplatte aus der Küche kam und beides zu dem Becken auf den Tisch stellte. »Heute werden die Kräfte des Feuers den Kreis schließen.« Sie fischte erst die Amulette, dann das Silber und die Turmaline aus dem Wasser und ordnete alles auf der Steinplatte an – die Amulette in der Mitte, Steine und Silber im Wechsel zu einem Kreis drumherum. »Jetzt müssen wir die ganzen Zutaten nur noch gemeinsam verbrennen und dabei unseren Zauber wirken.« Benita nahm Aurica das getrocknete Eisenkraut, die Sandelholzspäne, die trockenen Nachtkerzenblüten und die Bröckchen des Myrrhe-Harzes ab und schichtete alles darüber. »Nimm das Öl und füll einen knappen halben Zentimeter davon in die Tasse da drüben und misch ein paar Tropfen des Nachtkerzen- und des Myrrhe-Öls hinein.«

»Distelöl«, las Aurica nach einem Blick auf das Etikett. »Ist das von Bedeutung?«

»Nein. Es ist in dem Fall neutral. Du hättest genauso gut Rapsöl nehmen können. Bloß kein Sonnenblumenöl, denn das hebt die Wirkung der Nachtkerze auf.«

»Klar«, ächzte Aurica. Neben wirkungsvollen und neutralen Zutaten gab es ja auch noch solche, die Wirkungen wieder aufhoben. Wie sollte sie sich das bloß alles jemals merken!

»Das kommt mit der Zeit«, tröstete Benita sie, die offenbar genau wusste, was in der jungen Hexe vorging. »Du bist doch erst seit einer Woche dabei, jetzt sei nicht so streng mit dir. Außerdem sind viele Dinge tatsächlich logisch und ergeben sich von selbst, du wirst schon sehen.«

Das war Aurica ebenfalls aufgefallen. Bei näherer Betrachtung lag es durchaus auf der Hand, dass Sonnenblume Nachtkerze aufhob. Nur musste man bei der Vorbereitung eines Zaubers auch daran denken. Wie gewünscht mischte sie die Öle. Wenigstens kam es in den meisten Fällen nicht so genau auf die Dosierung an. Ein Punkt, den Aurica unglaublich beruhigend fand. Denn wenn sie auch noch darauf hätte achten müssen, dass Zauber A vier Tropfen Myrrhenöl benötigte, Zauber B hingegen nur dreieinhalb, dann hätte sie die Hexerei vermutlich sofort wieder an den Nagel gehängt.

»Das Ölgemisch träufelst du dann einfach über alles drüber. Sobald du bereit bist, deine Magie zu aktivieren, zündest du es an und lässt dabei den Zauber hineinfließen.«

»Kein besonderer Spruch?«, erkundigte sich Aurica überrascht.

»Nein. Sag mir nur, wie du den Zauber gestalten würdest.«

Das war einer der Punkte, der Aurica am meisten erleichtert – und ebenfalls ziemlich erstaunt hatte: Ein Zauber musste nicht zwangsweise von einem komplizierten Spruch begleitet werden. Zu Beginn war ihre größte Befürchtung gewesen, dass es zu jeder Anwendung eine ellenlange lateinische Formel gab, die man fehlerfrei aufsagen musste, wenn man keine haarsträubenden Konsequenzen heraufbeschwören wollte.

Es gab zwar auch solche Zauber, doch bei den meisten brauchte man sich nur ganz genau vorzustellen, was man haben wollte, und die Magie fließen zu lassen. Die diversen Zutaten dienten dabei lediglich als Ausgangspunkt, von dem aus die Magie ihre Wirkung entfalten konnte, und als Katalysator. Wobei lediglich vielleicht ein wenig untertrieben war. Sie waren essenziell und boten daher mehr als genug Fehlerpotential. Trotzdem bestand die Kunst hauptsächlich darin, die Konzentration auf die Magie und das gewünschte Ziel unter keinen Umständen auch nur für den Bruchteil einer Sekunde zu verlieren. Eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit, denn Zaubern war erstaunlich anstrengend, und Ablenkung lauerte überall. Bisher hatte Aurica geglaubt, sich recht gut konzentrieren zu können, doch das war offenbar ein Irrtum gewesen. Die Magie verlangte tatsächlich absolute Hingabe an eine Sache. Wie es Aurica dennoch irgendwann einmal gelingen sollte, bei voller Konzentration ihre Aufmerksamkeit zu teilen – beispielsweise bei einer Dämonenbeschwörung den Zauber aufrecht zu erhalten und gleichzeitig mit dem Dämon zu reden – war ihr ein komplettes Rätsel.

Aber darüber brauchte sie sich jetzt keine Gedanken zu machen. Im Moment war nur wichtig, wie sie diesen Zauber gestalten würde. »Ich würde mir eine Situation vorstellen, in der ein Vampir den Renfield-Faktor bei mir anzuwenden versucht und die Wirkung an mir abprallt«, beantwortete Aurica Benitas Frage.

Die alte Wandlerin nickte zufrieden. »Sehr gut. Dass du die Situation schon mal erlebt hast, ist von Vorteil.«

Allerdings. Zwar dachte die junge Hexe nur ungern daran zurück, doch Benita hatte recht.

Zum Glück fiel es Aurica inzwischen leicht, ihre Magie zu lenken. Anfangs hatte sie bezweifelt, dass das überhaupt jemals möglich wäre. Doch Raoul hatte mit einem Wunsch an das Avido Optatum bewirkt, dass sie ihre Kräfte beherrschen konnte, wofür sie ihm auf ewig dankbar sein würde.

»Aber du wirst mich doch mit deiner Kraft unterstützen, oder?«, versicherte sich Aurica besorgt. »Ich meine, falls ich zwischendrin die Konzentration verliere oder so.«

»Natürlich. Obwohl ich sicher bin, dass du es auch ohne mich schaffst.«

»Mh«, brummte Aurica. Sie hatte deutlich weniger Vertrauen in sich. Dennoch träufelte sie gehorsam die Ölmischung über die Kräuter.

»Hast du eine passende Situation?«, erkundigte sich Benita.

Oh ja, die hatte sie allerdings. Und die musste sie sich nicht einmal ausdenken, denn die hatte es wirklich gegeben. Die Magie verlangte zwar keinen realen Bezug, doch es machte die Sache deutlich einfacher. Obendrein hatte besagte Begebenheit den Vorteil, dass sie Auricas Wut ganz von selbst entfesselte – eine Emotion, die sie zur Aktivierung ihrer Kräfte brauchte.

Sie konzentrierte sich, und die Erinnerung tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, als würde ein Kinovorhang beiseitegezogen. Raoul und sie im Wohnzimmer der Vampire, in jener schrecklichen Nacht, in der sie aus der Gefangenschaft der Werwölfe geflohen waren. Der Vampir hatte sich um Aurica gekümmert. Hatte vorgegeben, ein Freund zu sein. All das sehr überzeugend, bis zu jenem Moment:

Raouls Blick intensivierte sich. »Aurica, vertraust du mir eigentlich?«

»J-ja. Äh, ich denke schon.«

Er seufzte und schlug die Augen nieder. »Das ist ein Fehler.«

Dann erhob er sich und kam auf sie zu.

Aurica versank in dem Chartreusegrün seiner Pantheraugen und stand auf wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Die Distanz zwischen ihnen war viel zu groß. Sie wollte – nein –, sie musste zu ihm. Musste ihn berühren, ihm nahe sein.

Irgendetwas an der ganzen Situation kam ihr befremdlich vor.

Es war, wie den Kopf voller rosa Zuckerwatte zu haben; wie auf flauschigen Wolkentrampolinen schwerelos ins Paradies zu schweben; der Erlösung entgegen; zum Ziel ihrer Wünsche; der Erfüllung all ihres Sehnens; begleitet von den elysischen Gesängen fluffig-weißgeflügelter Engelschöre …

Raoul zog sie an wie ein Magnet, und als sie ihn endlich erreicht hatte, schloss Aurica mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer die Arme um seine schmale Taille. Gott, fühlte sich dieser Körper gut an! Sie wollte mehr – brauchte mehr!

Für einen Moment taumelte ein Bild von Daniel an ihrem inneren Auge vorbei, und ihr Gewissen zeterte hektisch wie ein aufgeschreckter Vogel. Aber der Moment war schnell vorbei.

Bedeutungslos.

Alles war bedeutungslos.

Alles bis auf dieses machtvolle Wesen in Gestalt eines unwiderstehlichen Mannes. Sie wollte ihm alles geben, was er verlangte. Ihren Körper, ihr Blut, ihr Leben. Alles! Solange er sie nur in seiner Nähe sein ließ. Solange nur die Aussicht bestand, ihn berühren zu können. Solange sie nur die Hoffnung hegen durfte, dass er sich nahm, was sie ihm so sehr geben wollte.

Aurica hob den Kopf, um Raoul anschauen zu können. Noch hatte er ihre Umarmung nicht erwidert. Wollte er sie etwa nicht?

Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, senkten sich seine Lider mit den seidigen schwarzen Wimpern darüber und verbargen, was auch immer in ihm vorging.

Als er sie wieder öffnete, lag in Raouls Augen nur noch pures Verlangen. Er umfasste Auricas Gesicht und küsste sie.

O Gott, endlich!

Ganz schwach flackerte am Rande ihres Bewusstseins eine Erinnerung an das Athame in ihrer Tasche auf. Nun, die lag unten auf dem Sofa, und niemand würde das Messer dort vermuten. Dann fiel die Erinnerung samt Tasche und Athame über den Rand ihres Bewusstseins hinaus und stürzte in die unendliche Schwärze des Vergessens. Aurica war nur noch Fühlen und Begierde.

Sie spürte kühle Seide in ihrem Rücken, als Raoul sie auf sein Bett legte …

In Aurica brodelte es. So etwas würde ihr nie wieder passieren! In ihr brannte die Magie wie ein grünes Feuer, und sie wandelte die Begebenheit vor ihrem geistigen Auge ab:

Raouls Blick intensivierte sich. »Aurica, vertraust du mir eigentlich?«

»J-ja. Äh, ich denke schon.«

Er seufzte und schlug die Augen nieder. »Das ist ein Fehler.«

Dann erhob er sich und kam auf sie zu.

Aurica versank in dem Chartreusegrün seiner Pantheraugen und stand auf wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Die Distanz zwischen ihnen war viel zu groß. Sie wollte – nein –, sie musste zu ihm. Musste ihn berühren, ihm nahe sein.

Irgendetwas an der ganzen Situation kam ihr befremdlich vor.

Befremdlich? Dieses Gefühl, ein Hirn aus klebriger rosa Zuckerwatte zu haben und in irgendeinem elysischen Kitschszenario mit plärrenden Engeln herumzuschweben, kannte sie doch nur zu gut!

Jaja, schon klar, der Typ sah irrsinnig gut aus, war höllisch heiß und so weiter – blabla. Aber auch ein manipulativer Coverboy war letzten Endes nichts anderes als ein manipulativer Dreckskerl. Dekorativ, aber kein Grund, sich selbst zu verlieren.

Aurica zerrte die rosa Zuckerwatte aus ihrem Kopf und stopfte sie dem plärrenden Engel in den Rachen. Sie trat einen Schritt zurück, sah Raoul fest in die Augen und verzog die Lippen zu einem abschätzigen Grinsen. Dann holte sie Schwung und donnerte ihren Fuß mit voller Wucht in einem formvollendeten und verdammt coolen Roundhouse-Kick gegen seinen Kopf.

»Mehr hast du nicht drauf?«, höhnte sie, während der Vampir stöhnend vor ihr auf die Knie sackte.

Okay, zugegeben, das war nicht gerade der genialste Spruch aller Zeiten, aber Schlagfertigkeit lag Aurica nun einmal nicht. Ebenso wenig wie formvollendete Roundhouse-Kicks, doch zum Glück war so etwas der Magie reichlich egal. Am Rande ihres Bewusstseins registrierte sie, dass sie die Kräuter anzündete. Ihre Hände hoben sich wie von selbst, und ihre Magie jagte das Gedankenbild mit aller Kraft in den brennenden Haufen. Entgegen ihrer anfänglichen Befürchtungen fiel es ihr auch kein bisschen schwer, den Zauber aufrechtzuerhalten, bis die Kräuter bis zum letzten Krümel verbrannt waren.

Der Zauber war fertig. Sie spürte es. Erschöpft ließ Aurica die Hände sinken.

»Bravo!« Benita stützte sich auf den Tisch und betrachtete das glimmende Häufchen. »Das war ja wie aus dem Lehrbuch. Ich musste nichts machen.«

»Wie jetzt? Wieso überlässt du die entscheidende Phase einer Anfängerin wie mir? Was, wenn etwas schief gegangen wäre?!« Aurica starrte sie entsetzt an, doch Benita lachte nur.

»Keine Sorge, ich hätte im Notfall schon eingegriffen, war mir aber ziemlich sicher, dass du es allein schaffen würdest. Und du hättest es gar nicht besser machen können. Du kannst dir beim Zaubern ruhig mehr zutrauen!«

»Na ja, wenn du meinst. Es ist halt noch sehr ungewohnt für mich, Kräfte zu haben.« Trotzdem war sie ein bisschen stolz auf das Vertrauen, das Benita in sie setzte. Vielleicht würde ihr das auch bald gelingen.

Die alte Wandlerin pustete die Asche weg. Sowohl das Silber als auch die Turmaline waren komplett verschwunden. Neugierig beugte sich Aurica über die Amulette und registrierte überrascht, dass dafür die Runen sichtbar waren. »Wo sind denn die Steine hin?«, wunderte sie sich. »Und müsste das Silber nicht zumindest eine Pfütze hinterlassen haben?«

»Keinesfalls. Das war ein magisches Feuer, das wirkt anders als ein normales. Die Essenz steckt in den Anhängern, der Rest ist nur noch Asche.«

Aurica tippte die Amulette vorsichtig mit dem Finger an. Wider Erwarten glühten sie nicht, sondern verströmten lediglich eine leichte Wärme. Behutsam nahm sie den Anhänger in Katzenform hoch, der für Sharai gedacht war, und betrachtete ihn von allen Seiten. Er strahlte eine schwache Magie aus. So sollte es sein, denn nur so konnte die Magie von der Energie des Amulettträgers überdeckt werden.

»Und jetzt sind sie fertig?«, fragte Aurica, auch wenn sie die Antwort bereits kannte.

»Ja. Ich habe noch ein paar Lederbänder, die wir anbringen können. Wobei es für die Wirkung egal ist, ob man es an einem Band, einer Kette oder einfach nur in der Hosentasche mit sich herumtragen will. Am besten verteilst du die Amulette direkt morgen. Pass nur auf, dass die Vampire nichts davon mitbekommen.« Sie reichte Aurica die Lederbänder, nahm sich selbst ihren Anhänger in Form eines Schafs und fädelte ihn auf. »In eurem speziellen Fall würde ich tatsächlich Silberketten empfehlen. Zwar kann der Vampir sie euch dann immer noch vom Hals reißen, aber es tut ihm wenigstens weh – und ihr riecht es.«

Ein guter Punkt, doch fürs Erste würden die Lederschnüre reichen müssen. Aurica versah nacheinander Sharais Katze, den Wolfszahn für Attila, das Herz für Mathilda und den Drudenfuß für Barbara aus der Verwaltung mit den Bändern. Für sich selbst hatte sie eine Fledermaus gewählt. Selbstredend nur, weil diese besonders schön war und ihr keines der Hexensymbole zugesagt hatte. Die Faune benötigten keine Amulette, da sie von Natur aus immun gegen den Renfield-Faktor waren.

Barbara wusste nichts vom übernatürlichen Wesen ihrer Kollegen. Daher konnte Aurica ihr leider keinen reinen Wein bezüglich des Amuletts einschenken. Zum Glück hatte die junge Frau kaum Berührungspunkte mit den beiden Vampiren. Doch Aurica wollte lieber auf Nummer sicher gehen und hatte deswegen auch ein Schutzamulett für sie gemacht. Praktischerweise hatte Barbara demnächst Geburtstag, sodass man es als Geschenk tarnen konnte. Hoffentlich gefiel es ihr, und sie würde es tragen.

Zufrieden hängte sich Aurica ihr eigenes Amulett um, was ihr das Gefühl gab, einen kleinen Erfolg erzielt zu haben. Aber sie waren ja noch nicht fertig für heute.

»Was hast du denn im Handbuch der Arsch-Poesie bezüglich des Avido Optatums herausgefunden?«

»Wie bitte?«

Benitas irritierter Gesichtsausdruck brachte Aurica zum Lachen. »Ach so, entschuldige. Ich meinte das Compendium de rerum potiri. Sharai hatte ein paar Probleme, sich den Titel zu merken. Also hat sie es kurzerhand umgetauft.« Rasch erzählte sie Benita von dem Gespräch.

»Eingängiger Titel.« Die alte Wandlerin musste nun auch schmunzeln. »Und irgendwie passend.« Sie deutete auf den Tisch. »Würdest du bitte die Sachen in die Küche räumen? Das Ding braucht Platz.«

Aurica kam ihrer Bitte nach, während Benita zu einer ihrer Kommoden ging. Aus dieser holte sie einen riesigen, ledergebundenen und ziemlich zerfledderten Folianten. Er war unübersehbar alt und offenbar sehr oft gebraucht worden. Jetzt, wo er vor ihr lag, fühlte Aurica deutlich die Magie, die davon ausging. Da er nicht der einzige magische Gegenstand in Benitas Haus war, hatte sich die seine zuvor jedoch in das allgemeine magische Rauschen eingefügt. So aus der Nähe betrachtet, bereitete ihr das Werk allerdings Unbehagen, denn es schien etwas Unheilvolles auszustrahlen – und das hatte nichts mit der Magie zu tun, die sie daran spürte. Konnte ein Buch eine schlechte Aura besitzen?

Aurica musterte den Wälzer kritisch. »Sollte so etwas nicht besser in einem Museum liegen? Er sieht alt aus. Ich will ihn nicht beschädigen.«

»Er ist auch alt. Aber er ist durch einen Zauber vor Beschädigungen geschützt.« Sie lächelte verschmitzt. »Es hat eine Menge Vorteile, eine Hexe zu sein.«

»Ah, verstehe. Das ist dann wohl die Magie, die ich an dem Buch spüre.«

»Genau.«

Aurica fuhr mit dem Finger über den brüchigen Ledereinband. Der Museumswissenschaftlerin in ihr widerstrebte es zwar, ein derart altes Buch ohne Handschuhe anzufassen, doch sie vertraute Benita. Das Leder fühlte sich alt und mürbe an. Daran änderte die Magie nichts. Doch es blieb tatsächlich nichts von dem Material an ihren Fingern hängen.

Obwohl die Magie, die sie spürte, nichts mit dem Folianten selbst zu tun hatte, hatte das Buch etwas an sich, das Aurica eine Gänsehaut verursachte. Schaudernd zog sie ihre Hand zurück. »Irgendwie ist das Teil unheimlich.«

Benita zuckte die Schultern. »Das kommt daher, dass es häufig und fast nur von bösen Menschen verwendet wurde. Das Compendium enthält ausschließlich Zauber der schwarzen Magie.«

Aurica wich unwillkürlich ein Stück zurück, auch wenn das Buch sie wohl kaum anfallen würde. Andererseits, man wusste ja nie.

Zumindest entlockte ihre Reaktion Benita ein belustigtes Grinsen. »Der Schmöker beißt nicht. Du kannst ihn ruhig anfassen. Es gibt auch in dem Sinne keine schwarze oder weiße Magie. Die Magie selbst ist neutral. Es ist die Art und der Zweck des Zaubers, der schwarz oder weiß ist. Du kannst den Folianten gern aufschlagen.«

Theoretisch wusste Aurica das mit der Magie auch, kam Benitas Aufforderung jedoch nur mit leichtem Widerwillen nach. Entgegen ihren Befürchtungen geschah nichts Ungewöhnliches, als sie den riesigen Buchdeckel vorsichtig mit zwei Händen öffnete. Weder widersetzte sich das Buch ihrem Ansinnen, noch kreischte es ohrenbetäubend oder versetzte Aurica einen magischen Schlag. Das Leder knirschte lediglich ein wenig, und das einzige, das ihr entgegensprang, war ein alter, aber sehr buchiger Geruch, der sie in der Nase kitzelte. Aufgeschlagen benötigte das Werk fast den gesamten Tisch und wirkte äußerst beeindruckend.

»Woher weißt du, dass es das richtige ist?«, erkundigte sie sich, denn auf dem Buchdeckel stand kein Titel, weshalb Aurica gehofft hatte, dass sie innen fündig wurde. Doch die erste Seite war herausgerissen worden, wie sich unschwer erkennen ließ. Mit einem missbilligenden Stirnrunzeln strich sie über die Beschädigung.

»Ich habe in letzter Zeit ein paar alte Kontakte reaktiviert. Es gibt eine Bibliothek für Hexen. Dort ist es seit langem archiviert. Wenn du so weit bist, werde ich dich den entsprechenden Personen vorstellen, aber noch ist es zu früh. Du musst erst mehr Erfahrung sammeln.«

Aurica nickte und blätterte sich durch die Seiten, die in unterschiedlichen Handschriften und Sprachen beschrieben waren.

»Wie du siehst, ist das Buch viel herumgekommen.«

»Das Wissen wurde offenbar erst nach und nach darin gesammelt. Wahrscheinlich sogar über viele Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte.«

»Ja. Gewissermaßen ist es auch ein Grimoire, nur dass es nicht innerhalb der Familie weitergegeben wurde, sondern innerhalb der Kreise, die sich den schwarzen Künsten widmeten.«

Aufgrund der verschiedenen Sprachen verstand Aurica nur einen Bruchteil des Geschriebenen, doch ein paar Dinge hatte sie inzwischen entziffern können. Sie rümpfte die Nase. »Das sind alles recht blutige Zauber«, stellte sie angewidert fest. »Überall wird irgendetwas geopfert, oder die Zutaten sind widerlich oder … Uargh!« Sie beugte sich unwillkürlich näher über den Text, weil sie dachte, sie hätte sich verlesen. Hatte sie allerdings nicht. »Die Leber eines seit drei Tagen toten Säuglings? Das ist ja pervers! Warum nicht gleich die eines lebenden?« Wütend sah sie auf, doch ein Blick in Benitas Gesicht ließ sie stocken. »Nein. Jetzt sag bitte nicht, dass man auch Kinder …« Ihr wurde schlecht.

»Man hat. Kinder, Tiere, menschliche Organe, Seelen, Eigenschaften … Die Palette ist grenzenlos.« Vage fuhr Benita mit der Hand über die Seite. »Wie ich bereits sagte, es ist die Art oder der Zweck des Zaubers. Die Erschaffung eines Avido Optatums fällt übrigens auch in den Bereich der schwarzen Magie.«

»Kein Wunder, dass das Buch so eine unangenehme Ausstrahlung hat! Mit solchen Zaubern will ich auf keinen Fall etwas zu tun haben! … Oha.« Sie hielt inne. »Du hast vorhin nicht explizit verneint, dass du fündig geworden bist.«

»So ist es. Ich hatte euch ja bereits vor der Erschaffung des Avido Optatum gesagt, dass man es, wenn überhaupt, nur zu dem Preis von mindestens einem Menschenleben wieder zerstören und die Opfer daraus befreien kann. Sprich, für anständig denkende Menschen ist es unzerstörbar.«

Aurica nickte. »Ich erinnere mich dunkel. Daher hatten wir die Erschaffung unbedingt vermeiden wollen. Was nicht geklappt hat. Aber wir können ja schlecht jemanden umbringen, um alles wieder rückgängig zu machen!«

»Eben. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach anderen Lösungen gemacht. Wunschsteine sind nicht gerade mein Spezialgebiet, aber bekanntlich lernt man ja nie aus. Allerdings ist die Lösung, die ich gefunden habe, auch nicht viel besser. Sieh selbst.« Benita murmelte etwas und machte eine Handbewegung, als würde sie blättern, worauf die Seiten in Bewegung gerieten und sich das Buch an einer bestimmten Stelle aufschlug.

Aurica beugte sich neugierig vor, richtete sich jedoch direkt wieder enttäuscht auf. »Latein. Natürlich.«

»Und schlechtes noch dazu. Aber es ist trotzdem klar, was er will.«

»Welche Organe brauchen wir?«, fragte Aurica sarkastisch.

»Keine. Aber der Zauber muss an einem Ort durchgeführt werden, an dem vor nicht länger als einem Monat ein Doppelmord stattgefunden hat.«

»Na super. Wenn’s weiter nichts ist!« Aurica warf die Hände in die Luft, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. »Nein, warte. Ich glaube, ich kenne tatsächlich einen solchen Ort. Dort hat es sogar einen Dreifachmord gegeben.«

Benita zog fragend die Augenbrauen zusammen.

»Erinnerst du dich noch, als ich mit Daniel und Raoul in deinem Garten saß und wir versucht haben, das Avido Optatum leerzuwünschen?«, erklärte Aurica. »Da fiel so ganz nebenbei die Bemerkung, dass Raoul drei Menschen getötet hatte, nachdem er mit Mathilda auf der Kirmes gewesen war. Er hatte seine Frau gerade küssen wollen, als so ein paar Typen, die auf Streit aus waren, ihn dabei unterbrochen haben.«

»Aaah, ja, da war etwas«, murmelte Benita, beugte sich dann jedoch über den Folianten und fuhr die Zeilen entlang, als suchte sie etwas. »Hier ist es.« Sie tippte auf eine bestimmte Stelle und richtete sich wieder auf.

Auricas Blick wanderte automatisch dorthin, was jedoch wenig brachte, da sie die Sprache ohnehin nicht verstand.

»Die Übersetzung mit dem Doppelmord war von mir etwas frei gewählt«, erläuterte Benita. »Hier steht, dass ein Altar vonnöten ist, auf dem zwei Menschenopfer dargebracht wurden. Zumindest grob. Wie ich bereits sagte, das Latein ist nicht das Beste.«

»Warum schreibt jemand auf Latein, wenn er es nicht kann?«, fragte Aurica leicht entnervt.

»Weil es schick war und man als gebildet gelten wollte.« Benita zuckte die Schultern. »Selbst von denen, die es gelernt haben, beherrschten die wenigsten es fehlerfrei. Fehler sind also gar nicht aufgefallen. Wer Latein sprach oder schrieb, egal wie gut, galt als klug. Keine Ahnung, wieso alle Welt immer davon ausgeht, dass es in historischen Büchern oder Schriften grundsätzlich korrekt zugeht.«

»Auch wieder wahr«, seufzte Aurica und warf dem Buch einen ärgerlichen Blick zu. »Und eigentlich ist das ja nun wirklich nicht unser Problem. Aber ein Altar mit Menschenopfern wird für uns wohl kaum aufzutreiben sein.«