Der Gewählte - Sam Bourne - E-Book + Hörbuch
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Der Gewählte E-Book und Hörbuch

Sam Bourne

4,0

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Beschreibung

Der US-Präsident: Mörder, Macher oder Marionette?    Er war der Außenseiter. Mit seiner Wahl hat niemand gerechnet. Oder etwa doch? Der neue US-Präsident Stephen Baker ist kaum im Amt, da droht ihm ein Blogger mit explosiven Enthüllungen – und wird kurz danach tot aufgefunden. Baker gerät unter Verdacht: hat er den Mord befohlen? Gejagt von Presse, FBI und einem Killer sucht Bakers Beraterin Maggie Costello nach der Wahrheit – und gerät auf die Spur einer perfiden Verschwörung …  Rasant, realistisch und erschreckend plausibel – Sam Bourne ist der Meister der Spannung.

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Zeit:13 Std. 22 min

Sprecher:Frank Stieren

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Der Gewählte

Der Gewählte

© Jonathan Freedland, 2010

© Deutsch: Jentas ehf 2022

Originaltitel: The Chosen One

Übersetzung : Jentas ehf

ISBN: 978-9979-64-468-2

Prolog

New Orleans, 21. März, 23 Uhr 35

Er wählte sie nicht, sondern sie ihn. Zumindest sah es so aus. Aber vielleicht war das auch Teil ihrer Schauspielkunst.

Er hatte sie nicht angestarrt, sie nicht fixiert mit diesem festen Blick, von dem er wusste, dass er die Frauen kirre machte. Er wollte niemandem Unbehagen bereiten. Also tat er wie einer dieser Typen von außerhalb, cool und ungeniert. Auf Geschäftsreise und in einem Striptease-Club nur, damit sie sagen konnten, sie hätten eine Kostprobe von New Orleans genossen, wie es wirklich sei. Sich ein bisschen amüsiert, an verbotenen Früchten genascht. Die Stadt hatte nichts gegen diese Typen. Verflixt, New Orleans lebte von ihnen: Schmuddeltourismus, hübsch verpackt.

Also tat er sein Bestes und gab sich uninteressiert; er schaute sogar auf seinen BlackBerry hinunter und warf nur gelegentlich einen verstohlenen Blick auf die Bühne. Das war allerdings nicht das richtige Wort. Es klang zu groß. Der »Auftrittsbereich« war kaum mehr als eine kleine Mole, die zwischen den matt beleuchteten Tischen herausragte, ein paar Quadratfuß, gerade genug Platz für ein Mädchen, um das Bikini-Top herunterzuschälen, mit dem Silikon in ihren Brüsten zu wackeln und sich zu bücken, um ihren mit dem G-String verzierten Arsch zu zeigen, bevor sie den Männern, die einen Zwanziger unter ihren Strapsgürtel geschoben hatten, ein paar Kusshände zuwarf.

Der Reiz dieser Lokale hätte für ihn schon vor langer Zeit verflogen sein müssen, aber aus irgendeinem Grund kam er immer wieder zurück: Dieser Laden war eine feste Gewohnheit an jedem Mittwochabend, seit Jahren schon. Es ging eigentlich nicht um den Sex. Was ihm gefiel, war die Dunkelheit, die Anonymität. Vereinzelt zeigten ihm ein Gruß und ein Lächeln hinter der Bar, dass man ihn wiedererkannte, aber das war es auch schon. Die Männer hier vermieden es, einander anzusehen, und wenn sich Blicke trafen, war es im beiderseitigen Interesse, wegzuschauen.

Trotzdem ging er keine Risiken ein. Er wollte nicht, dass Fremde ihn erkannten, nicht nach allem, was passiert war. Er wollte nicht plaudern. Er musste nachdenken.

Bleib ruhig, sagte er sich. Die Sache läuft. Er hatte den Köder ausgelegt, und sie hatten ihn geschluckt. Noch hatte er nichts gehört – na und? Es brauchte seine Zeit.

Der bernsteinfarbene Bourbonspiegel auf dem Grund seines Glases sah einladend aus. Er starrte hinein, hob das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. Es brannte.

Er warf wieder einen Blick zur Bühne. Ein neues Mädchen, das er noch nicht gesehen hatte. Ihr Haar war länger, ihre Haut irgendwie nicht ganz so enthaart und glatt wie die der anderen. Und ihre Brüste sahen echt aus.

Er bremste sich, um ihr nicht den berühmten Blick zukommen zu lassen, aber es war schon zu spät. Sie schaute ihn an, und es war nicht der ausdruckslose, zugedröhnte Blick von Mädchen, die sich »Savannah« oder »Mystery« nannten. Sie sah ihn, sah geradewegs durch ihn hindurch. Hatte sie ihn erkannt, vielleicht aus dem Fernsehen?

Er fummelte wieder mit seinem BlackBerry herum, und das Gerät war glitschig von der Feuchtigkeit seiner Handfläche. Er kämpfte den Drang zum Aufschauen nieder, aber ein paar Sekunden später gab er ihm doch nach, und sie sah ihn immer noch unverwandt an. Ohne die gespielte Geilheit, zur Vollendung gebracht von den Mädchen, die wussten, wie man einem kahlköpfigen, betrunkenen Kerl weismachte, er sei ein Traumtyp. Das hier war echt, beinahe freundlich.

Ihr Auftritt war vorbei, und sie verschwand mit dem obligaten Schwenken ihres Hinterns. Selbst damit schien sie in seine Richtung zu zielen.

Zu seiner Erleichterung vibrierte der BlackBerry in seiner Hand und zwang ihn, sich damit zu beschäftigen. Eine neue Nachricht. Er las die erste Zeile. Wieder eine Presseanfrage. Nicht das, worauf er wartete. Er scrollte durch die restlichen E-Mails des Tages und tat, als lese er sie. »Sie wissen doch, Arbeit allein – «

»Macht stumpfsinnige Knaben.«

Er unterbrach sie, ehe er ihr Gesicht gesehen hatte. Sie hatte sich einen Stuhl an den kleinen dunklen Holztisch gezogen, den er in Besitz genommen hatte. Obwohl er sie noch nie hatte sprechen hören, wusste er schon bei der ersten Silbe, dass sie es war. »Sie sehen aber nicht aus wie ein stumpfsinniger Knabe.«

»Und Sie sehen nicht aus wie eine Stripperin.«

»Ach nein? Sie finden, meine Ausstattung reicht nicht für – «

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt – « Sie legte eine Hand auf seine und brachte ihn zum Schweigen. Die Wärme, die er in ihrem Blick auf der Bühne gesehen hatte, war noch da. Ihr Haar fiel offen auf die Schultern. Sie konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein – knapp halb so alt wie er, und doch strahlte sie eine seltsame... was war es, was sie ausstrahlte? Reife. Oder so etwas Ähnliches, etwas, das man an einem Ort wie diesem nur selten sah. Neben ihm, der mit feuchten Händen auf seine E-Mail eintippte, wirkte sie wie die Ruhe selbst. Er winkte der Kellnerin, damit sie ihnen etwas zu trinken brachte.

Ihrem Akzent nach kam sie nicht aus den Südstaaten. Vielleicht aus dem Mittleren Westen, vielleicht aus Kalifornien. »In welcher Branche arbeiten Sie?«

Die Frage löste eine warme Woge der Erleichterung aus. Sie hatte ihn nicht erkannt. Er spürte, wie die Muskeln in seinem Rücken sich entspannten. »Ich bin so was wie ein Berater. Ich berate – «

»Wissen Sie was?« Ihre Hand lag immer noch auf seiner, und ihr Blick wanderte suchend zur Tür. »Es ist mir zu stickig hier drin. Gehen wir ein Stück.«

Er sagte nichts, als sie ihn auf die Claiborne Avenue hinausführte. Trotz der späten Stunde herrschte immer noch starker Verkehr. Er fragte sich, ob sie durch die Berührung seiner Hand fühlen konnte, wie sein Puls raste.

Sie bogen in eine unbeleuchtete Seitenstraße ein. Nach ein paar Schritten schwenkte sie nach links in den Durchgang zwischen zwei Häusern, der zur Rückseite einer Bar führte, einer der wenigen in dieser Gegend, die Hurrikan Katrina überlebt hatten. Er hörte, dass drinnen eine Party im Gange war; gedämpft klang ein Trinkspruch aus einem Lautsprecher.

Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm um und reckte sich auf den Zehenspitzen hoch, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Ich hab’s gern hier draußen.«

Schon bevor er ihre Worte aufgenommen und verstanden hatte, rauschte das Blut in seine Lenden. Bei dem Gefühl ihrer Stimme, ihres Atems an seinem Ohr, durchströmte ihn das Verlangen.

Er drängte sie hart gegen die Wand und griff sofort nach ihrem Rocksaum. Sie drückte ihren Mund an seinen und küsste ihn eindringlich. Ihre Zähne gruben sich in seine Unterlippe.

Als er ihren Rock hochgezogen hatte, begann er an seinem Gürtel zu fummeln. Sie löste ihre Lippen von seinen und bot ihm ihren Hals. Sofort strich er mit der Zunge darüber und atmete zum ersten Mal ihren Duft. Er war vertraut – und berauschend.

Ihre Hände ignorierten seinen offenen Gürtel und wanderten zu seinem Gesicht herauf. Sie berührte ihn mit sanften Fingern, die zu seinem Hals hinunterstrichen und plötzlich fest zudrückten.

»Du hast es gern grob«, murmelte er.

»O ja«, sagte sie. Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand lagen fest an seiner Luftröhre.

Er wollte ihr die Unterwäsche herunterreißen, aber sie war plötzlich zu weit weg. Ihr Unterleib drängte sich nicht mehr an seinen. Er hörte sich röcheln.

Er wollte ihre Finger von seiner Kehle wegbiegen, aber es ging nicht. Sie war bemerkenswert stark.

»Hey, ich kriege keine Luft – «, krächzte er. Einen Moment lang sah er ihre Augen, zwei funkelnde Glasperlen in der Nacht. Da war keine Wärme mehr.

»Ich weiß«, sagte sie, und ihre linke Hand schloss sich mit der rechten vollständig um seinen Hals.

Ohne lautes Husten oder Keuchen welkte er in ihren Händen langsam dahin, als sie ihm das Leben aus dem Leib presste. Unhörbar fiel er zu Boden; alle Geräusche wurden übertönt von dem betrunkenen Chor in der Bar, der Happy Birthday grölte.

Sie zog ihren Rock glatt, bückte sich und zog den BlackBerry aus der Jackentasche des Mannes, und dann verschwand sie in der Nacht. Ihr Duft schwebte noch eine Weile in der Nachtluft von Louisiana.

1

Einen Tag vorher

Washington, D. C, Montag, 20. März, 07 Uhr 21

»Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße. Mist und Scheiße.«

Erst hatte sie es nur gedacht, aber jetzt sagte sie es laut, und der scharfe Wind riss ihr die Worte von den Lippen.

Maggie Costello drehte das Handgelenk, um noch einmal auf die Uhr zu sehen, zum fünften Mal in drei Minuten. Es war nicht zu ändern: sieben Uhr einundzwanzig. Sie würde zu spät kommen. Aber das war okay. Es ging ja nur um ein Vier-Augen-Gespräch mit dem verdammten Stabschef des Weißen Hauses.

Sie trat wie wild in die Pedale, und sie spürte die Anspannung in den Waden und den schweren Druck auf der Lunge. Niemand hatte ihr gesagt, dass Radfahren so anstrengend war. Sie gab den Zigaretten die Schuld; als sie noch geraucht hatte, war sie fitter gewesen.

So viel zum Neuanfang. Ein neuer Job, eine neue Lebensweise, hatte sie sich gesagt. Gesunde Ernährung, mehr Bewegung, Schluss mit der Raucherei und den langen Nächten. Wenn es einen Vorteil hatte, unversehens Single zu sein, dann war es sicher der, dass sie jeden Morgen schon früh und frisch auf den Beinen sein konnte. Und früh war nicht das, was normale Menschen als früh empfanden – sieben Uhr einundzwanzig fiel nach Maggies Maßstäben auf jeden Fall in diese Kategorie. Nein, sie wollte ihre Tage in Washington noch früher anfangen, so dass ein Meeting morgens um sieben Uhr dreißig ihr nicht mehr vorkäme, als stieße sie mitten in der Nacht mit jemandem zusammen. Für die neue Maggie sollte sieben Uhr dreißig ein ganz normaler Augenblick in der Mitte des Arbeitstages sein.

Das war jedenfalls der Plan gewesen. Vielleicht lag es daran, dass sie in Dublin geboren und aufgewachsen und erst als Erwachsene nach Amerika gekommen war, aber sie passte nicht hierher. Was immer die Erklärung sein mochte, Maggie kam allmählich zu dem Schluss, dass sie mit diesen munteren, strahlenden Washingtonern mit ihren blanken Schuhen und ihrer makellosen Selbstdisziplin von Natur aus nicht harmonieren konnte. Sosehr sie sich auch bemühte, den hier üblichen Lebensstil anzunehmen, das Aufstehen im Morgengrauen erschien ihr immer noch wie eine grausame und abseitige Strafe.

Und so sauste sie jetzt, schon wieder verspätet, in mörderischem Tempo die Connecticut Avenue hinunter und versuchte, mit der Kraft ihres Willens zu bewirken, dass der Dupont Circle in Sicht kam, aber sie wusste, selbst wenn er es endlich täte, wäre sie immer noch mindestens drei bis fünf Minuten vom Weißen Haus entfernt, und dann müsste sie ihr Fahrrad anketten, durch die Sicherheitskontrolle gehen und Handtasche und BlackBerry auf das Transportband legen, das die Sachen durch das riesige Durchleuchtungsgerät beförderte, auf die Damentoilette flitzen, sich T-Shirt und Fahrradklammern herunterreißen, die Achseln trockentupfen, mit dem Föhn ihre Frisur in Ordnung bringen, ihren verschwitzten Körper in die immer noch verhasste Washingtoner Standard-Uniform zwängen, eine unwesendich weiblichere Variante eines Herrenanzugs mit Oberhemd – und ihr Äußeres so zu verwandeln, dass aus der unausgeschlafenen Vogelscheuche ein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates und die geschätzte außenpolitische Beraterin des Präsidenten der Vereinigten Staaten wurde.

Es war sieben Uhr siebenunddreißig, als sie atemlos und immer noch rot im Gesicht vor Patricia stand, Magnus Longleys Sekretärin. Es hieß, Patricia sei seit mehr als vierzig Jahren bei Longley; Gerüchten zufolge hatte er sie an seinem ersten Arbeitstag in der Anwaltskanzlei seines Vaters aus dem Schreibbüro geangelt. Das Paar existierte schon seit einer Ewigkeit; er war ein Monument im ewigen Washington, sie sein steinerner Sockel.

Patricia hatte Maggie zu diesem Meeting bestellt; um sechs Uhr neunundzwanzig hatte ihr Anruf Maggie mit verquollenen Augen aus dem Schlaf hochfahren lassen, und danach war sie noch einmal für fünfundzwanzig Minuten in einen fatalen Dämmerzustand verfallen.

»Er wartet auf Sie.« Patricia spähte über ihre Brille hinweg, die mit einer Schnur an ihrem Hals befestigt war, und ihr Blick dauerte gerade lange genug, um scharfe Missbilligung zum Ausdruck zu bringen – natürlich wegen der Verspätung, aber auch aus noch wichtigeren Gründen. Mit einem kurzen, kalten Eidechsenblick erfasste sie Maggies Äußeres von Kopf bis Fuß und fand es jämmerlich unzureichend. Maggie schaute nach unten und erkannte ziemlich entsetzt, dass die Hose, die sie am Abend zuvor noch so sorgfältig gebügelt, aber heute Morgen dann hastig angezogen hatte, schrecklich zerknittert und außerdem in Knöchelhöhe mit Fahrradschmiere bestrichen war. Und natürlich war da ihr herbstlich rotes Haar, das sie in einer Geste der persönlichen Rebellion lang und zerzaust trug – in einer Stadt, in der Frauen geschäftsmäßige Kurzhaarfrisuren bevorzugten. Patricias Gesichtsausdruck übermittelte deutlicher als jedes Wort, dass zu ihrer Zeit sicher keine junge Lady mit Selbstachtung in dieser Kleidung zur Arbeit gegangen wäre. Noch dazu im Weißen Haus!

Maggie fuhr sich in einem vergeblichen Versuch, ein wenig Ordnung herzustellen, noch einmal durch das Haar und ging hinein.

Magnus Longley war ein erfahrener Troubleshooter, der seit der Carter-Ära im Kongress, im Senat oder im Weißen Haus Dienst tat. Er war der erforderliche Graubart, der die Jugend und die mangelnde Washington-Erfahrung des Präsidenten ausgleichen und alle diesbezüglichen Befürchtungen zerstreuen sollte. »Er weiß, in welchen Kellern die alten Leichen begraben sind«, sagten alle über ihn. »Und er weiß, wie man neue verbuddelt.«

Er hatte den hageren alten Schädel gesenkt, als sie hereinkam, und brütete mit einem Stift in der Hand über einem säuberlich ausgerichteten Stapel Papier. Er kritzelte eine Bemerkung auf den Rand, bevor er aufblickte und ihr sein Gesicht zuwandte, dessen Züge jederzeit ruhig und leidenschaftslos wirkten. Sein immer noch volles, inzwischen weißes Haar war makellos gescheitelt.

»Mr. Longley.« Maggie streckte die Hand aus. »Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung. Ich war – «

»Sie halten den Verteidigungsminister also für ein Arschloch. Ist das richtig, Miss Costello?«

Maggie war schon nach der halsbrecherischen Radfahrt ausgedörrt, aber jetzt wurde ihre Kehle vollends trocken. Ihre ausgestreckte Hand sank herab, als sie ignoriert wurde, und griff zitternd nach der Lehne des Stuhls vor Longleys Schreibtisch.

»Soll ich meine Frage wiederholen?« Seine Stimme war tief und überraschend kraftvoll bei einem Mann seines Alters, und sie knirschte von altem Geld und Park Avenue. Longley war ein New Yorker Aristokrat; sein Vater war mit Franklin D. Roosevelt befreundet gewesen. Er sprach wie die Amerikaner in Filmen aus den vierziger Jahren: mit einem Akzent, der halb über den Atlantik in Richtung England reichte.

»Ich habe die Frage gehört. Aber ich verstehe sie nicht. Ich habe nie gesagt, der – «

»Wir haben keine Zeit für Spielchen, Miss Costello. Nicht in diesem Büro, nirgendwo in diesem Gebäude. Und keine Zeit für ein infantiles Benehmen wie das hier.« Ein lautes Schnippen seines Fingers auf einem einzelnen Blatt Papier unterstrich das Wort.

Maggie versuchte zu lesen, was da vor ihr auf dem Kopfstand. Sie hatte plötzlich Angst. »Was ist das?«

»Es ist eine E-Mail, die Sie an einen Kollegen im Außenministerium geschrieben haben.«

Langsam dämmerte eine Erinnerung herauf. Vor zwei Tagen hatte sie abends noch lange gearbeitet, und sie hatte an Rob geschrieben, der im Außenministerium in der Südasien-Abteilung arbeitete. Er war eins der wenigen vertrauten Gesichter hier, wie sie ein Veteran aus der Zeit ihrer Mitarbeit bei Interessengruppen, Hilfsorganisationen und schließlich UN-Friedensmissionen in furchtbaren, vergessenen Winkeln der Welt.

»Soll ich den entscheidenden Absatz vorlesen, damit klar ist, worüber wir reden?«

Maggie nickte, und die Erinnerung wurde immer klarer.

Longley räusperte sich dramatisch. ›»Die Erkenntnisse über AfPak legten eine enge Zusammenarbeit mit Islamabad nahe‹ etc. etc. ›aber das alles scheint nicht bis zu den Arschlöchern im Pentagon durchzudringen – «

O nein! Sie hatte das scheußliche Gefühl, zu wissen, was jetzt kam...

»- besonders nicht zu dem Oberarschloch, Dr. Anthony Arschloch persönliche« Er legte das Blatt auf den Tisch und sah sie mit eisigem Blick an.

Jetzt wusste sie wieder alles, und das Herz rutschte ihr mit übelkeiterregendem Schwung in die Hose.

»Wie Sie sich vorstellen können, ist der Verteidigungsminister nicht allzu glücklich darüber, von einer Mitarbeiterin des Weißen Hauses mit solchen Begriffen belegt zu werden.«

»Aber wie um alles in der Welt hat er – «

»Weil – « Magnus Longley beugte sich vor, so dass Maggie die ersten Anzeichen von bräunlichen Altersflecken auf seinen Wangen sehen konnte. »Weil, Miss Costello, Ihr Freund im Außenministerium nicht ganz so brillant ist, wie Sie anscheinend glauben. Er hat Ihren Vorschlag hinsichtlich einer nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit mit Pakistan an die Kollegen im Pentagon weitergeleitet. Aber er hat vergessen, die wichtigste Taste an diesen gottverdammten Maschinen zu benutzen.« Er deutete unbestimmt auf seinen Desktop-Computer; Maggie sah, dass der Bildschirm dunkel und anscheinend staubig war. »Die Löschtaste.«

»Nein.« Maggies entsetzte Antwort war nur noch ein Flüstern.

»O doch. Die vollständige Korrespondenz.« Er reichte ihr den Ausdruck.

Mit einem Blick sah sie die Liste der leitenden Pentagon-Beamten, die als Adressaten einer Kopie aufgeführt waren, darunter auch die handverlesenen, ultraloyalen Berater des Verteidigungsministers, und sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Sie starrte auf das Blatt und versuchte es mit der Kraft ihres Willens aus der Welt zu schaffen. Aber da stand es, schwarz auf weiß: Arschloch. Wie um alles in der Welt hatte Rob einen so elementaren Fehler begehen können? Und sie selbst?

»Möchten Sie irgendetwas zu Ihrer Verteidigung sagen?«

»Sind Sie sicher, dass er es weiß?«, fragte sie lahm.

Er verzog nur andeutungsweise die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln.

»Vielleicht haben seine Referenten es nicht weitergegeben. Vielleicht hat es ihn nicht erreicht.« Sie hörte die Verzweiflung in ihrem eigenen Ton.

Longley zog die Brauen hoch, als wollte er sie fragen, ob sie wirklich vorhabe, diese Argumentation fortzusetzen. »Er war es, der mich darauf angesprochen hat. Persönlich, heute Morgen. Er will, dass Sie augenblicklich verschwinden.«

»Es war doch nur ein Wort in einer E-Mail. Herrgott nochmal – «

»Kommen Sie mir nicht in diesem Ton, junge Dame.«

»Es ist Bürogeschwätz. Eine einzige Bemerkung – «

»Lesen Sie eigentlich Zeitungen, Miss Costello? Oder bevorzugen Sie vielleicht Blogs?« Er sprach das Wort aus, als habe er soeben an einem schmutzigen Spüllappen geschnuppert. »Oder Twitter?«

Dies, dachte Maggie, gehörte zu Longleys Masche. Er spielte den alten Knacker. Er konnte in Wirklichkeit nicht so weltfremd sein, wie er gern tat, nicht wenn er sich in Washington so lange an der Spitze gehalten hatte. Sie erinnerte sich an das Interview, das sie im Lifestyle-Teil der Post gelesen und in dem Longley behauptet hatte, als er das letzte Mal im Kino gewesen sei, habe er Deborah Kerr und Burt Lancaster in Verdammt in alle Ewigkeit gesehen. »Habe ich seitdem viel verpasst?«, hatte er gelangweilt gefragt.

Jetzt lehnte er sich entspannt in seinem Sessel zurück. »Sie könnten durch die Medien nämlich mitbekommen haben, dass unser Verteidigungsminister nicht zu den – wie sollen wir es ausdrücken? –, nicht zu den ganz besonders loyalen Anhängern des Präsidenten gehört.«

»Das weiß ich selbstverständlich. Adams hat bei der Nominierung gegen ihn kandidiert.«

»Sie sind tatsächlich informiert. Ja. Vielleicht kandidiert er sogar noch einmal gegen ihn.«

»In den nächsten Vorwahlen?«

»Nicht undenkbar. Der Präsident hat etwas geschaffen, das man bewundernd als ›Team von Rivalen‹ bezeichnet. Dabei handelt es sich, wie Lincoln wusste, vielleicht um ein Team, aber eben auch um Rivalen.«

»Also wird er – «

»Also wird er es nicht einfach so hinnehmen. Dr. Adams möchte seine Muskeln spielen lassen und zeigen, dass sein Einfluss über das Pentagon hinausreicht.«

»Und deshalb will er meine Entlassung.«

Der Stabschef stand auf. Maggie war nicht sicher, ob das Knirschen, das sie gehört hatte, vom Sessel oder von Longleys Knien kam.

»So sieht es aus. Die letzte Entscheidung liegt natürlich nicht bei Dr. Adams, sondern hier in diesem Gebäude.«

Was zum Teufel sollte denn das bedeuten? In diesem Gebäude.

Wollte Longley damit sagen, er werde darüber entscheiden? Oder würde die Frage, ob Maggie ihren Job behielt oder nicht, vom Präsidenten persönlich entschieden werden?

Longley hatte die Schultern zurückgedrückt, um seine letzte Bemerkung loszuwerden. »Miss Costello, ich fürchte, Sie haben Longleys Erste Regel der Politik vergessen. Schreiben Sie in dieser Stadt nicht mal eine Notiz an den Milchmann, wenn Sie nicht wollen, dass sie auch auf der Titelseite der Washington Post erscheint. Und zwar über dem Knick.«

»Sie glauben, Adams würde es nach außen dringen lassen?«

»Sie nicht? Die Geschichte über den Baker-Adams-Zwist neu beleben und sich damit implizit auf eine Stufe mit dem Präsidenten stellen? Nein danke. Wir haben ihn ins Zelt gelassen, damit er hinauspissen kann statt auf den Teppich im Oval Office.«

»Weiß der Präsident davon?«

»Anscheinend haben Sie vergessen, dass Stephen Baker der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Er ist kein Personalmanager.« Es sah aus, als schrecke sein Mund vor diesem Wort zurück, als könne ein so neumodischer, absurder Ausdruck seine Lippen besudeln. »Ich möchte nicht unfreundlich sein, Miss Costello. Aber hier gibt es Hunderte von Leuten, die für den Präsidenten arbeiten. Ihr Rang ist nicht so hoch, dass Ihre Beschäftigung ihn interessieren könnte. Es sei denn, Sie hätten einen Grund, das anders zu sehen; in dem Fall wären Sie vielleicht so gut, ihn mir zu offenbaren.«

Mit anderen Worten, die letzte Entscheidung lag bei Longley. Sie war erledigt. Maggie ballte die Fäuste, während in ihrem Innern zwei instinktive Impulse miteinander kämpften: zu kämpfen und zu fliehen. Gern hätte sie diesem scheinheiligen Scheißkerl eine geklebt, denn er schien diese Situation viel zu sehr zu genießen. Gleichzeitig wollte sie nach Hause abhauen und unter die Bettdecke kriechen. Sie tat ihr Bestes, um sich zu beherrschen, und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge spürte.

Longley schaute beiläufig auf seine Uhr, eine antike Patek Philippe, elegant, unaufgeregt und ungeniert analog. »Jemand wartet auf mich, Miss Costello. Wir werden uns zweifellos bald noch einmal sprechen.« Das war’s: Sie war entlassen.

Als Maggie auf dem Weg hinaus an Patricia vorbeikam, bemerkte sie, dass die Sekretärin nicht einmal aufschaute, von einem Blickkontakt ganz zu schweigen. Das war zweifellos eine Geste der Diskretion, die sie in vielen langen Jahren im Dienste Magnus Longleys gelernt hatte. Im Laufe der Zeit hatte er wahrscheinlich genug Leute gefeuert, um mit ihnen das Robert-Kennedy-Stadion zu füllen.

Sie wartete, bis sie in ihrem eigenen Büro stand, einem Kaninchenbau von einem Achtel der Größe, die der Stabschef zur Verfügung hatte. Erst dann atmete sie richtig aus.

Als sie sicher war, dass sie die Tür geschlossen hatte, fegte sie mit dem Unterarm alles – zwei schwankende Türme von Geheimunterlagen, Zeitschriften, Tüten aus dem Deli, zerkaute Bleistifte und diversen anderen Müll – von ihrem Schreibtisch auf den Boden. Nach dieser Geste ging es ihr ungefähr eine Dreifünftelsekunde lang gut. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

Würde das die Geschichte dieses Jahres werden: eine magische Chance, zum Greifen nah und dann grandios vergeigt? Ach was, dieses Jahres – würde es die Geschichte ihres verdammten Lebens werden? Alles wegen eines einzigen, beispiellos dämlichen Augenblicks unbedachter Ehrlichkeit. Nicht, dass Adams kein Arschloch wäre – er war eins, sogar ein Arschloch erster Klasse. Aber es war wirklich absurd naiv, so etwas in eine Mail zu schreiben. Wie alt war sie denn? Fast vierzig, Herrgott. Wann würde sie es lernen? Für eine Frau, die sich einen Namen als geschickte Diplomatin gemacht hatte, als Vermittlerin bei Friedensverhandlungen, Himmel nochmal – bei aller Sensibilität, Diskretion und Sicherheit, die dazugehörte, war sie wirklich eine Idiotin. Idschoot – fast hörte sie, wie ihre Schwester Liz sie in nachgemachtem Sumpf-Irisch verspottete.

Es war ja nicht so, als hätte sie keine Chance gehabt. Nach ihrer Rückkehr aus Jerusalem – bejubelt als die Frau, die endlich einen Durchbruch im Nahost-Friedensprozess zustande gebracht hatte – standen ihr alle Türen offen; das sagte jeder. Sie war mit Jobangeboten überschüttet worden, und jeder Think Tank, jede Universität hatte ihren Namen auf ihren Briefkopf setzen wollen. Sie hätte in Harvard als Dozentin für Internationale Beziehungen arbeiten oder außenpolitische Leitartikel schreiben können. Von ABC News kam sogar das Gerücht, mit dem richtigen Training – und einer geeigneten Garderobe – habe sie vielleicht das Zeug zu einem Bildschirm-Talent. Ein leitender Mitarbeiter des Senders hatte ihr handschriftlich mitgeteilt: »Ich bin aufrichtig davon überzeugt, dass Sie eine Frau sind, die internationale Politik sexy präsentieren kann.«

Aber nichts von alldem hatte ihre Rückkehr in die Staaten vor fast drei Jahren so aufregend gemacht. Stattdessen – und sehr zu ihrem Erstaunen – gab es wieder einen Mann in ihrem Leben - Uri Guttmann, einen engagierten israelischen Dokumentarfilmer, der in New York lebte. Sie hatte sich gefragt, ob diese Beziehung sich nicht vielleicht nur als glorifizierte Urlaubsromanze erweisen würde; schließlich hatten sie einander in einer überaus seltsamen und erregenden Woche in Jerusalem kennengelernt, und Uri war vor Trauer halb von Sinnen gewesen, nachdem seine Eltern innerhalb weniger Tage nacheinander zu Tode gekommen waren, und hatte deshalb kaum klar denken können. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, Beziehungen zu misstrauen, die unterwegs zustande kamen, vor allem, wenn die dauernde Atmosphäre von Gefahr und Todesnähe ihnen zusätzlich Glanz und Bedeutung verlieh. Liebe im Bombenhagel fühlte sich betörend an, erwies sich aber nur selten als von Dauer.

Dennoch, als Uri sie eingeladen hatte, sein Apartment in New York mit ihm zu teilen, hatte sie nicht nein gesagt. Gut, sie hatte es dann doch nicht über sich gebracht, auf der gepunkteten Linie über den Worten »Eingetragene Mitbewohnerin« zu unterschreiben: Sie hatte ihr Apartment in Washington behalten und vorgehabt, abwechselnd an beiden Orten zu wohnen. Aber es zeigte sich schnell, dass sie und Uri beide großen Wert darauf legten, die meisten Nächte zusammen in derselben Stadt – und im selben Bett – zu verbringen.

Eigentlich hätte es immer so weitergehen können. Aber ein Jahr später, vor wenigen Wochen jetzt, hatte sie unversehens auf den Stufen des Lincoln Memorial gesessen und auf das glänzende Washington hinausgeschaut, das herausgeputzt und bereit für die Amtseinführung des neuen Präsidenten war, und Uri hatte neben ihr mit brüchiger Stimme erklärt, der Weg sei zu Ende. Er liebe sie immer noch, aber es funktioniere nicht mehr. Sie habe ihre Wahl getroffen, sagte er. Sie habe mit den Füßen abgestimmt und entschieden, dass ihre Arbeit wichtiger sei als alles andere. »Das Fazit ist, Maggie, dass Stephen Baker dir mehr bedeutet als ich. Oder wir.«

Und obwohl ihr die Tränen über die Wangen gelaufen waren, hatte sie nicht widersprechen können. Was hätte sie auch sagen sollen? Er hatte recht; das vergangene Jahr hatte sie nicht darauf verwandt, ein gemeinsames Leben mit ihm aufzubauen, sondern Stephen Baker zu helfen, der mächtigste Mann der Welt zu werden. Dass er – gegen alle Erwartungen – die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte, erschien fast wie ein Wunder. Die Euphorie über diesen Triumph hatte sie so sehr mit sich gerissen, dass sie vergessen hatte, noch an ihr eigenes Leben zu denken. Irgendwo im Hinterkopf hatte sie angenommen, alles werde sich wieder normalisieren, sie werde sich darauf konzentrieren, die Beziehung zu Uri zu festigen; und alles wieder in Ordnung bringen. Aber plötzlich war es zu spät: Er hatte seinen Entschluss gefasst, und für sie gab es nichts mehr zu sagen.

Und so hatte sie wieder einmal eine Beziehung offiziell vermasselt und stand kurz davor, den Job zu verlieren, der dafür verantwortlich war. So war es in ihrem Leben immer gewesen. Gib Maggie Costello ein bisschen Glück oder Erfolg, und sie wird beides vermurksen. Am liebsten hätte sie geheult wie eine Moorhexe, um ihren Frust und ihr Elend in die Welt hinauszuschleudern, aber aller Verzweiflung zum Trotz wusste sie, dass sie das nicht tun würde. Washington war eine zugeknöpfte Stadt. Gefühlsäußerungen waren hier nicht erwünscht. Das war einer der Gründe, weshalb sie allmählich anfing, die Stadt aus dem Grunde ihrer irischen Seele zu hassen. Sie ließ den Kopf in die Hände sinken und murmelte immer wieder: Idiot. Idiot. Idiot.

Ein Vibrieren an ihrem Oberschenkel unterbrach diesen Anfall von Selbsthass. Sie wühlte ihr Handy aus der Tasche. Anstelle der Anrufernummer stand auf dem Display: Anonym.

Eine Stimme, die sie nicht kannte, fragte, ohne hallo zu sagen: »Ist da Maggie Costello?«

»Ja.«

»Bitte kommen Sie unverzüglich in die Residenz. Er will Sie sprechen.«

Maggie war verwirrt. »Wer will mich sprechen?«

»Der Präsident.«

2

Washington, D. C, Montag, 20. März, 08 Uhr 07

Zum Frischmachen blieb keine Zeit: »Unverzüglich« hatte es geheißen. Aber es kam überhaupt nicht in Frage, dass sie in diesem Zustand die Residenz betrat! Maggie stieß die Tür zur Damentoilette auf und hoffte inständig, dass sie keiner Kollegin begegnete, mit der sie sprechen müsste.

Mist.

Tara MacDonald, die Chefin der Kommunikationsabteilung, afroamerikanische Mutter von vier Kindern und unumstrittene Matriarchin, Nummer eins in Bakers Wahlkampf und jetzt in Bakers Weißem Haus, onduliert und selbstbewusst in den besten Jahren der Lebensmitte – Tara MacDonald kam aus einer Kabine und überprüfte ihr Makeup.

»Hi, Maggie, wie geht’s denn, Schätzchen?«

Maggie erstarrte. Sie zögerte, ihren Platz vor dem Spiegel über den Waschbecken einzunehmen. Zaghaft senkte sie den Kopf und fing an, sich die Hände zu waschen.

»Ganz okay.«

»Sie scheinen mir ein bisschen – ich weiß nicht – aufgeregt zu sein.«

Maggie sah MacDonald an und lächelte gehetzt. »Ich bin soeben gerufen worden. In die Residenz. Ich dachte, ich sollte mich lieber...«, sie deutete mit dem Kopf zum Spiegel, »... ein bisschen präsentabel machen, wissen Sie.«

Sofort veränderte sich Taras Gesichtsausdruck, als wären ihre Lachmuskeln mit einem Skalpell durchtrennt worden, und Maggie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Die ältere Frau spitzte die Lippen. »Ist das wahr? In die Residenz. Das ist eine ziemliche Ehre.«

»Ist bestimmt nichts Wichtiges. Wahrscheinlich will er ein bisschen Input vor seiner Rede bei den Vereinten Nationen.«

»Schätzchen, dafür hat er seinen Nationalen Sicherheitsberater.« Tara MacDonald schaute in den Spiegel, aber Maggie sah, dass sie noch nicht fertig war. »Soso, eine richtige Insiderin. Und ich dachte, Sie wären eine einfache Mitarbeiterin beim Nationalen Sicherheitsrat.«

Maggie ignorierte die Bemerkung. Sie starrte in den Spiegel, und ihr war klar, dass sie jetzt schon eine Minute hier war – also eine Minute länger, als sie hätte hier sein sollen. Außerdem hatte sie Spitzen dieser Art schon öfter gehört.

Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war blass und angespannt – eigentlich kein Wunder, wenn man an die scheußliche kleine Szene dachte, die sich soeben im Büro des Stabschefs abgespielt hatte. In ihrer panischen Hast am frühen Morgen hatte sie sogar ihr gewohntes, rasch hingetupftes Makeup vergessen. Sie hatte einfach keine Zeit gehabt, die dunklen Schatten unter den Augen mit Abdeckpuder zu kaschieren oder den getönten Moisturizer aufzutragen, der die zarten Krähenfüße, die inzwischen an ihren Augenwinkeln saßen, und die Zigarettenfalten an ihrem Mund glättete. Nur ein bisschen Wimperntusche und ein paar Striche mit einem einfachen Lippenstift, mehr hatte sie nicht geschafft, und das sah man. Im Moment erkannte man wenig von dem, was die Klatschkolumne des City Paper kürzlich noch als »die entzückende Miss Costello« bezeichnet hatte.

Nach einem weiteren Versuch, ihr Haar in Ordnung zu bringen, marschierte sie, so schnell es ging, ohne einen Sicherheitsalarm auszulösen, durch den Pressekonferenzraum und draußen durch die Kolonnade zum Wohnbereich des Weißen Hauses, wo seit etwas mehr als zwei Monaten Stephen Baker mit seiner Frau Kimberley, ihrer dreizehnjährigen Tochter Katie und dem achtjährigen Sohn Josh zu Hause war.

Die Secret-Service-Agenten ließen sie herein, ohne eine Frage zu stellen; offensichtlich wurde sie erwartet. Eine Tür, noch eine Tür, und was sie dann sah, war ein x-beliebiger amerikanischer Haushalt morgens früh um zehn nach acht. Cornflakes-Schachteln standen auf dem Tisch, Schultaschen und Sportsachen lagen auf dem Boden verstreut, und der Raum war erfüllt von Kindergeplapper. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten wie den bewaffneten Agenten vor der Tür und den hochmodernen, abhörsicheren Kommunikationsanlagen in allen Räumen sah es hier aus wie im Haus einer normalen Familie.

Stephen Baker saß nicht am Tisch und spähte über die halbmondförmigen Gläser seiner Lesebrille hinweg in die New York Times, wie sie es erwartet hatte. Stattdessen stand er in Hemdsärmeln mitten in der Küche und hielt einen Apfel in der Hand. Ihm gegenüber, drei Schritte weit entfernt, stand sein Sohn Josh mit einem Baseballschläger und starrte ihn konzentriert an.

»Okay«, flüsterte der Präsident. »Fertig?«

Der kleine Junge nickte.

»Pass auf. Eins, zwei, drei.« Er warf den Apfel langsam und genau in der richtigen Höhe für den Schläger des kleinen Jungen.

Der Junge traf die Frucht genau, und sie flog an der Hand des Präsidenten vorbei und zerspritzte hinter ihm an der Wand.

Aus dem Nachbarzimmer kam eine sehr laute Stimme. »Josh! Was habe ich über Ballspiele im Zimmer gesagt?«

Der Präsident sah seinen Sohn gespielt sorgenvoll an und legte verschwörerisch den Finger an die Lippen. Dann rief er: »Alles unter Kontrolle, mein Schatz.« Er hob den Apfel vom Boden auf und wischte den Fruchtbrei von der Wand. Als er den Blick des Secret-Service-Agenten sah, der die ganze Episode mit angesehen hatte, formte er mit dem Mund die lautlosen Worte: »Sie auch. Kein Wort.«

Selbst hier, ohne die prachtvolle Staffage seines Amtes, war er ein beeindruckender Mann. Eins achtundachtzig groß und mit dichtem braunem Haar, war er immer der Erste, den man in einem Raum bemerkte. Er war schlank und hatte feine, scharf geschnittene Gesichtszüge. Aber was einen fesselte, waren seine Augen. Sie waren von einem tiefen, durchdringenden Grün, und selbst wenn er sich lebhaft und agil benahm, schienen sie einem langsameren Tempo zu folgen. Ihr Blick war fest und stetig und huschte niemals hin und her. Bei den Fernsehdebatten schien die Kamera immer wieder zu ihnen zurückzukehren, als sei sie von ihnen genauso gebannt wie das Publikum. Wenn Kommentatoren schrieben, Präsidentschaftskandidat Baker strahle Ruhe und Festigkeit aus, dachten sie dabei nicht an seine Antworten oder politischen Ideen; dessen war Maggie sicher. Sie dachten an seine Augen.

Und jetzt schauten diese Augen zu ihr herüber. »Hey, Josh, sieh mal, wer da ist. Deine irische Lieblingstante.«

»Hi, Maggie.«

»Hi, Joshie. Wie ist die neue Schule?«

»Ganz okay. Ich spiele Baseball, und das ist cool.«

»Das ist wirklich cool.« Maggie strahlte. Josh Baker hatte gute Chancen, den Titel des süßesten Jungen Amerikas zu gewinnen, und da sie ihn schon seit fast zwei Jahren kannte, hatte sie das Gefühl, sie habe ihn aufwachsen gesehen.

Die erste Begegnung hatte in Iowa stattgefunden, an einem Samstag im Sommer, auf der State Fair, dem großen Jahrmarkt’ in Des Moines. Stephen Baker war mit seiner Familie da gewesen, und Josh, damals sechs, hatte dauernd mit dem Autoscooter fahren wollen, während der Kandidat versuchte, sich bei den kritischen – und entscheidend wichtigen – Bewohnern von Iowa beliebt zu machen. Baker war damals ein krasser Außenseiter bei den Demokraten gewesen, der kaum bekannte Gouverneur des Staates Washington. Seinen Namen kannte niemand, er besaß keine Erfahrung in der Bundespolitik und hatte auch keinen regionalen Vorteil: In der Vergangenheit hatten die Demokraten immer Gouverneure aus dem Süden geschätzt, weil sie für einen Haufen Stimmen garantieren konnten, die ansonsten schwer zu gewinnen waren. Washington State? Bei den Vorwahlen zum Präsidentschaftswahlkampf zählte das als Behinderung.

Aber Rob – Maggies alter Freund aus Afrika-Zeiten, der im Außenministerium gelandet war und ihrer aufkeimenden Karriere soeben den Todesstoß versetzt hatte – war unbeirrbar geblieben. »Du musst ihn einfach kennenlernen«, hatte er gesagt. »Dann weißt du sofort Bescheid.«

Maggie hatte gemauert, sich gesträubt und sich geweigert, unter dem dann folgenden Trommelfeuer von Anrufen, E-Mails und Textnachrichten einzuknicken. Maggie Costello sollte für einen Politiker arbeiten? Ein lächerlicher Gedanke. Sie hatte Ideale, Himmel nochmal, und Ideale hatten keinen Platz in der Natterngrube der modernen Politik. Die junge Maggie Costello hatte für Politiker nichts als Verachtung übriggehabt. Sie hatte gesehen, was sie und andere, die ebenso machtgierig waren, in Afrika, auf dem Balkan und im Nahen Osten angerichtet hatten. Sie hatte es als Nothelferin gesehen und später als Diplomatin hinter den Kulissen. Es klang kitschig, aber für sie gab es nur eine Mission, die wichtig war: den Versuch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, besonders für diejenigen, die unmittelbar von Krieg, Krankheit und Armut betroffen waren. Soweit sie es erkennen konnte, waren Politiker dabei im besten Fall im Weg, und im schlimmsten Fall profitierten sie von der Benachteiligung anderer.

Außerdem, hatte sie Rob entgegengehalten, sei es bis zur Wahl noch mehr als ein Jahr. Bakers Kandidatur war gerade erst ein paar Monate alt, und die Washingtoner Insider-Weisheit hatte ihn bereits unter »ferner liefen« abgebucht. Man vermutete, er kandidiere als zukünftiger Vizepräsident, der hier nur versuche, sich erste Aufmerksamkeit zu verschaffen. In der einzigen Umfrage, die sie gesehen hatte, war er in der Kategorie »andere« gelandet: praktisch nicht messbar. Und überhaupt, was verstand sie denn von amerikanischer Präsidentschaftspolitik?

»Das macht nichts.« Rob war beharrlich geblieben. »Du verstehst etwas von Außenpolitik. Er ist Gouverneur von Nimmerland; an Außenpolitik kommt er nie näher heran als beim Lunch im Internationalen Pfannkuchenhaus. Geh einfach hin, lerne ihn kennen, und du wirst sehen, was ich meine. Er ist anders. Er ist etwas Besonderes.«

Innerlich seufzend war sie zur Iowa State Fair gefahren und hatte zugesehen, wie Baker sich unter die Schweinefarmer mischte und irgendwann ein gewaltiges Schwein zum Sieger im heiß umkämpften Eber-Wettbewerb krönte. »Er ist größer als ich, er sieht besser aus – warum kandidiert er nicht für das Amt des Präsidenten?«, hatte Baker gefragt, und die Zuschauer hatten begeistert gejubelt. Sie hatte noch gewartet, bevor sie sich vorstellte. Sie hatte ihn in Aktion sehen wollen.

Man brauchte nicht lange, um zu sehen, dass er ein Naturtalent war. Er benahm sich entspannt, sein Interesse an Leuten wirkte echt und war frei von der synthetischen Aufrichtigkeit von Politikern mit Föhnfrisur und gebleichten Zähnen, die gemeinhin als Präsidentenmaterial galten. Anders als die meisten Kandidaten kannte er den Unterschied zwischen Zuhören und dem Schweigen beim Warten darauf, dass man weiterreden kann. Er hörte tatsächlich zu. Und was es auch sein mochte, womit er ihren zynischen Freund Rob für sich gewonnen hatte, es schien auch bei den sonst sehr wachsamen Leuten von Des Moines zu wirken – Leuten, die skeptisch zusahen, wie alle vier Jahre eine Prozession von Brautwerbern in ihren Staat einfiel, die ihre unaufrichtig lächelnden Gesichter auf die Fernsehkameras richteten und Versprechungen machten, die sie nie einhielten. Baker hingegen schlug die Menge in seinen Bann: Die Leute beobachteten ihn eifrig, ahmten seinen Gesichtsausdruck nach, lachten, wenn er lachte, und reflektierten die Wärme, die sie von ihm empfingen. Und anders als andere Kandidaten, die bei solchen Veranstaltungen den Eindruck machten, als seien sie mit dem Fallschirm von einem anderen Planeten abgesprungen, schien er wirklich gern da zu sein, und er stellte einen echten menschlichen Kontakt mit den Leuten um ihn herum her, statt sie als Staffage für einen Fototermin zu benutzen.

Schließlich ging sie auf ihn zu und sagte hallo.

»Sie sind also die Frau, die dem Heiligen Land Frieden gebracht hat«, hatte er gesagt und sich dabei die fettige Hand an der Schürze abgewischt. Er war dabei, auf dem Freiluftgrill vor dem Zelt der Schweineproduzenten von Iowa Koteletts zu wenden. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Fast«, hatte sie geantwortet. »Fast den Frieden gebracht.«

»Na, ›fast‹ ist verdammt viel mehr, als irgendjemand je geschafft hat.«

Sie unterhielten sich stückchenweise. Er schüttelte immer wieder Hände, lächelte für die Kameras oder flachste mit einem Lokalreporter. Er unterbrach das Gespräch – um eine lebensgroße, ganz aus Butter geformte Kuh zu bewundern oder um mit Josh auf dem Autoscooter zu fahren –, und dann nahm er den Faden genau da wieder auf, wo er ihn hatte fallen lassen.

Schließlich lud er sie ein, in den Wagen zu springen, der sie zur nächsten Veranstaltung bringen würde, nach Cedar Rapids, wo er am Abend eine Rede halten sollte. Kimberley und die Kids würden hinten sitzen, und sie könne den Beifahrersitz haben. Als sie ihn verwirrt anschaute und wissen wollte, wo denn dann noch Platz sei, lächelte er. »Ich habe den wichtigsten Job in der Kampagne ›Baker for President‹. Ich bin der Fahrer.«

Sie redeten während der ganzen zweistündigen Fahrt miteinander. Die drei Bakers auf dem Rücksitz schliefen fest, und die Köpfe der Kinder lagen auf den Schultern ihrer Mutter. Er hörte genauso viel zu, wie er redete. Er wollte wissen, wie sie angefangen hatte, und erkundigte sich eingehender nach ihrer Arbeit als freiwillige Helferin in Afrika unmittelbar nach ihrem Examen und dann auch nach der hochkarätigen Shuttle-Diplomatie, mit der sie sich in Jerusalem einen Namen gemacht hatte.

»Darüber wollen Sie gar nichts wissen«, sagte sie schließlich und winkte verlegen ab.

»Doch, das will ich. Ich sage ihnen, warum. Wissen Sie, wer ich in diesem Wahlkampf sein werde? Ich werde der Hinterwäldler sein. ›Der Holzfällersohn aus Aberdeen, Washingtons«

»Aber das ist doch eine Ihrer großen Stärken. Sie sind der American Dream.«

»Ja, ja. Die einfachen Leute mögen das. Aber ich kandidiere gegen Doktor Anthony Adams aus New York. Ich bin der Holzfällertyp. Ich muss Georgetown und die New York Times und den Rat für Auswärtige Beziehungen – die ganze Bande – davon überzeugen, dass ich nicht zu provinziell bin, um Präsident zu werden.«

»Ich dachte, Sie wollten der Außenseiter sein. ›Mr. Smith geht nach Washington‹ und so weiter.«

»Nein, Maggie. Ich will gewinnen.«

Wenig später erzählte er ihr, wie er mit einem Stipendium nach Harvard gekommen war und Leute kennengelernt hatte, die ihre Ferien in London oder Paris verbrachten oder zum Wochenende in die Karibik jetteten. Er hatte unterdessen nach Aberdeen zurückkehren und dort Schichtarbeit im Sägewerk oder in der Tiefkühlfischfabrik machen müssen; sein Vater litt an einem Emphysem, und irgendwie mussten die Rechnungen bezahlt werden.

»Irgendwann konnte ich dann weg. Meine erste Auslandsreise. Und ich bin nach Afrika gefahren. Genau wie Sie.«

Er wandte den Blick gerade lange genug von der Straße, dass sie einander anlächeln konnten.

»Ich war im Kongo. Mein Gott, ich habe ein paar schreckliche Dinge gesehen. Einfach schrecklich. Und es ist immer noch im Gange, wenn nicht dort, dann anderswo. Als ob sie sich abwechselten: Ruanda, Sierra Leone, dann Darfur. Brennende Dörfer, Vergewaltigungen und die Kinder elternlos. Oder Schlimmeres.« Wieder sah er sie an. »Ich weiß, Sie haben selbst auch so manches Grauen gesehen, Maggie.«

Sie nickte.

»Na, das ist jetzt lange her.« Er schwieg eine ganze Weile, bis sie sich fragte, ob sie vielleicht etwas sagen sollte. Aber dann sprach er weiter. »Ich glaube, ich kann diese Sache gewinnen, Maggie. Und wenn ich es schaffe, will ich etwas tun, was nur ein amerikanischer Präsident tun kann. Ich will einen Teil der enormen Ressourcen dieses Landes darauf verwenden, all diesem Töten ein Ende zu machen.«

Sie runzelte die Stirn.

»Ich rede nicht davon, unsere Armee irgendwo einmarschieren zu lassen. Das haben wir schon versucht. Es hat nicht so gut geklappt.« Jetzt war sie es, die lächelte. »Wir müssen uns andere Möglichkeiten einfallen lassen. Und deshalb brauche ich Sie.« Er ließ den Satz in der Luft hängen, und sie starrte ihn ungläubig an.

»Etwas sagt mir, dass Sie nie vergessen haben, was Sie mit einundzwanzig gesehen haben, Maggie. Sie haben es nie vergessen. Deshalb arbeiten Sie so hart, selbst jetzt noch, nach all den Jahren. Hab ich recht?«

Maggie schaute aus dem Fenster und sah die Positionspapiere, Konferenzen und endlosen Meetings, aus denen ihr Leben heute bestand. Sie hatte das Gefühl, sich jeden Tag weiter von dieser einundzwanzigjährigen Frau zu entfernen, die sie einmal gewesen war. Aber er hatte recht. Was sie antrieb, war immer noch die Wut, die sie damals angesichts der Gewalt und Ungerechtigkeit in der Welt empfunden hatte, und die Entschlossenheit, etwas dagegen zu tun. Heutzutage waren ihre Ideale so weit in den Hintergrund getreten, dass es fast schien, als habe sie sie vergessen. Aber Stephen Baker hatte sie soeben daran erinnert, dass sie noch da waren. Sie sah ihn und nickte.

»Und so geht es mir auch. Ich vergesse nie, was ich dort gesehen habe. Und in ungefähr achtzehn Monaten werde ich die Chance haben, etwas dagegen zu tun. Etwas Großes.« Er schaltete herunter. »Werden Sie dabei sein, Maggie Costello?«

Jetzt, fast zwei Jahre später, griff der Präsident mit der einen Hand nach einer Lunchbox aus rotem Plastik und öffnete mit der anderen den Kühlschrank. »Was soll’s sein, Junior? Apfel oder Birne?«

»Kann ich keine Bonbons haben?«

»Nein, junger Mann, kannst du nicht. Apfel oder Birne?«

»Apfel.«

Stephen Baker drehte sich mit todernstem Gesicht um. »Aber nicht zum Baseballspielen, oder?«

Der Junge lächelte. »Nein, Sir.«

»Josh.«

»Versprochen.«

Der Präsident legte den Apfel in die Lunchbox, klappte den Deckel zu und gab sie dem Jungen. Dann beugte er sich hinunter und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. Maggie sah, dass er dabei die Augen schloss wie zu einem kurzen Dankgebet. Oder um den Duft von Joshs Haar zu genießen.

»Okay, junger Mann, zisch ab.«

In diesem Moment kam Kimberley Baker mit einer prallvollen Sporttasche herein. Blond und hübsch auf dem College, beschrieb man sie heute als »pummelig« oder, weniger freundlich, als »dick«. Die Illustrierten waren von ihrem Gewicht besessen gewesen, als ihr Mann an die Öffentlichkeit trat, und die Boulevardfotografen hatten auf Cellulite-Partien gezoomt und Nahaufnahmen ihres Hinterns in einem unvorteilhaften Hosenanzug gemacht. Sie war im Daytime-TV aufgetreten und hatte erzählt, wie sie nach Katies Geburt zugenommen und daraufhin die verschiedensten Diäten ausprobiert hatte – »einschließlich all der verrückten!« –, um die Pfunde wieder loszuwerden, aber vergebens. Inzwischen, sagte sie, fühle sie sich wohl als die, die sie sei, und sie habe beschlossen, ihre Energie auf Dinge zu richten, die wichtiger seien als ihr Taillenumfang. Die Frauen im Publikum waren aufgestanden und hatten jubelnd applaudiert, die Talkshow-Moderatorin hatte sie umarmt, und nach ein, zwei Tagen war sie erklärtermaßen eine Identifikationsfigur der Frauenpower gewesen.

Nicht weniger wichtig war, dass die politischen Experten zu dem Schluss gekommen waren, Kimberley Baker sei ein gewaltiger Aktivposten für ihren Mann. Speziell die weiblichen Wähler betrachteten die Barbies und Botox-Frauen, die man als Gattinnen der Politiker kannte, seit langem mit Skepsis, und es gefiel ihnen, was die Tatsache, dass seine Frau eine handfeste und keine künstlich makellose Frau war, über Stephen Baker aussagte. Dass sie aus Georgia stammte und ihn dadurch mit dem stimmenmächtigen Süden verband, war ein zusätzlicher Bonus.

Die Bakers konnten nicht behaupten, sie hätten sich daran gewöhnt, im Weißen Haus zu wohnen, auch wenn Tara Mac-Donald der Zeitschrift People inzwischen mitgeteilt hatte, dass es ihnen dort gefiel. Kimberley bemühte sich jedenfalls, hauptsächlich der Kinder wegen. Es hatte ihr von Anfang an Sorgen bereitet, dass ein achtjähriger Junge und ein dreizehnjähriges Mädchen vor den Augen der ganzen Welt in die verwundbarste Phase ihres Lebens eintreten sollten. Ihre eigene Pubertät war ihr als endlose Zeit des verlegenen Errötens in Erinnerung geblieben, und die Vorstellung, das Gleiche vor einer immer anwesenden Batterie von Kameras durchzumachen, die Kleidung und Haare genauestens in Augenschein nahmen und die Bilder um den ganzen Globus schickten, erschien ihr wirklich unerträglich. Während des Wahlkampfs erzielte Stephen Baker immer einen Lacher, wenn er scherzhaft erzählte, die beiden einzigen Menschen, die sich ehrlich wünschten, er möge die Wahl verlieren, seien sein Gegenkandidat und seine Frau.

Jetzt trieb Kimberley alle beide, Josh und ihre schüchterne, linkische, hübsche Teenager-Tochter, zur Tür hinaus und in die Obhut einer salopp gekleideten Frau in den Zwanzigern, die aussah wie ein Au-pair-Mädchen. Tatsächlich war sie Zoe Galfano und gehörte einer Secret-Service-Einheit an, deren einzige Aufgabe es war, die Baker-Kinder zu beschützen.

»Maggie, etwas zu trinken? Kaffee, heißen Tee, Saft?«

»Nein danke, Mr. President. Nichts weiter.« Die Anrede hakte immer noch in der Kehle, wenn sie sie benutzte, aber es führte kein Weg darum herum. Alle redeten ihn so an, selbst seine vertrautesten Berater und ältesten Freunde – zumindest in den Mauern des Weißen Hauses. Wenn er nur ein paar Leute aufforderte, ihn mit Vornamen anzureden, würden alle andern gekränkt reagieren; das war ihm schon zu Beginn seiner Amtszeit klargeworden. Am Ende müsste er zu jedem sagen: »Nennen Sie mich Stephen«, und das war zu lässig und konnte zu Geringschätzigkeit führen. Es war besser, konsequent zu bleiben.

Er sah auf die Uhr. »Ich möchte über Afrika sprechen. Ich habe Ihr Paper gesehen. Das Morden im Sudan ist immer noch im Gange, noch immer sind Hunderttausende in Darfur in Gefahr. Ich möchte, dass Sie eine Option entwickeln.«

Maggies Verstand lief auf Hochtouren. Magnus Longley würde ihr den Job wegnehmen, das stand so gut wie fest, und jetzt bot ihr der Präsident hier eine Gelegenheit, von der sie immer geträumt hatte. Das Timing war pervers – und schmerzhaft. Aber zugleich durchströmte sie der gleiche Optimismus, der sie immer wieder in Schwierigkeiten gebracht – und dafür gesorgt hatte, dass sie Dinge erledigte. Sie atmete tief durch. Vielleicht würde dieses ganze Debakel mit Arschloch Adams sich einfach in Wohlgefallen auflösen.

»Eine Option zum Handeln?«, fragte sie.

Baker wollte eben antworten, als ein Kopf im Türrahmen erschien. Stu Goldstein, Chefberater des Präsidenten: der Architekt seines Wahlkampfs, der Mann, der die begehrteste Immobilie im Weißen Haus bewohnte, nämlich das Zimmer neben dem Oval Office. Der Mann, der eine Million plus eine Information über die Politik der Vereinigten Staaten in dem phänomenalen Gehirn über dem keuchenden, krankhaft fetten Körper gespeichert hatte.

»Mr. President, wir müssen hinüber in den Roosevelt Room. Sie werden in zwei Minuten das GgF unterzeichnen.« Eine leichte Drehung des Kopfes. »Hi, Maggie.«

Baker nahm sein Jackett von der Lehne eines Küchenstuhls und schob die Arme hinein. »Begleiten Sie mich.«

Kaum hatte er sich in Bewegung gesetzt, sah sie, dass die Secret-Service-Agenten ihre Haltung veränderten, und einer flüsterte in das Revers seiner Jacke: »Firefly ist unterwegs.« Firefly, das Glühwürmchen – das war der Codename, den der Secret Service für Baker erfunden hatte. Die Blogger waren eine Woche lang damit beschäftigt gewesen, die verborgene Bedeutung dieses Namens zu dekonstruieren.

»An welche Art von Option haben Sie gedacht, Mr. President?«

»Ich will etwas, das Wirkung zeigt. Eine Region von der Größe Frankreichs ist zu einem Schlachthaus geworden. Am Boden kann da niemand für Ordnung sorgen.« Während sie weitergingen, folgten ihnen zwei Agenten im Abstand von drei Schritten.

»Sie denken also an einen Einsatz aus der Luft?«

Er sah Maggie an, und das kühle, tiefe Grün seiner Augen fixierte sie. Jetzt hatte sie begriffen.

»Wollen Sie vorschlagen, dass wir die Afrikanische Union mit amerikanischen Hubschraubern ausrüsten, Mr. President? Genug, um die ganze Region Darfur aus der Luft zu überwachen?«

»Es ist so, wie Sie immer gesagt haben, Maggie. Die Verbrecher kommen davon, weil sie immer denken, niemand schaut hin. Und es schaut tatsächlich niemand hin.«

Sie sprach langsam und nachdenklich. »Aber wenn die AU über hochentwickelte, mit umfassender Überwachungstechnik ausgerüstete Apache-Helikopter verfügte – mit Nacht- und Infrarotsichtgeräten und hochauflösenden Kameras –, dann könnten wir genau sehen, wer was wann und wo tut. Niemand könnte sich verstecken. Wir könnten sehen, wer Dörfer niederbrennt und Zivilisten ermordet.«

»Nicht wir, Maggie. Die Afrikanische Union.«

»Und wenn die Leute wissen, dass sie beobachtet werden – «

»Benehmen sie sich.«

Maggie hatte plötzlich rasendes Herzklopfen. Genau darum hatte jeder, der die Massaker in Darfur gesehen hatte, jahrelang gebetet: um ein »Auge am Himmel«, das dem Töten ein Ende machen könnte. Aber dazu hatten der Afrikanischen Union immer die Mittel gefehlt; sie hatte nicht die nötigen Hubschrauber, um das Gelände aus der Luft zu überwachen, und deshalb hatten die Täter straflos morden können. Und jetzt war der amerikanische Präsident bereit, ihnen die Mittel in die Hand zu geben, nach denen die Toten und Sterbenden geschrien hatten. Der Funke der Begeisterung verwandelte sich in eine Flamme – bis ihr einfiel, dass sie kurz davor war, ihren Job zu verlieren.

»Wir haben nur hauchdünne Mehrheiten in Kongress und Senat, Sir. Glauben Sie – «

Er lächelte das breite, strahlende Lächeln der Zuversicht. »Das ist mein Job, Maggie. Sie entwickeln mir ein paar Optionen.«

Inzwischen waren sie im Westflügel angekommen und standen im Korridor vor dem Roosevelt Room. Ein Referent reichte ihm ein Manuskript, ein zweiter trat heran und informierte ihn darüber, wer in der ersten Reihe saß und begrüßt werden musste. Ein dritter beugte sich vor und betupfte sein Gesicht wegen der Fernsehkameras viermal präzise mit einer Puderquaste. Jemand fragte, ob er bereit sei, und der Präsident nickte.

Die Flügeltür öffnete sich, und ein unsichtbarer Tenor rief die Worte, die ebenso erregend wie airvertraut klangen.

»Ladys und Gentlemen, der Präsident der Vereinigten Staaten!«

3

Washington, D. C, Montag, 20. März, 08 Uhr 55

Sie sah, wie die dichtgedrängten Leute im Roosevelt Room sich erhoben. Erwachsene standen wie Schulkinder stramm vor dem Mann, der hier das Kommando hatte. Das taten sie alle, immer und überall. Maggie hatte sich schon fast daran gewöhnt.

Jetzt applaudierten sie ihm, ein Raum voll mit einigen der hochrangigsten Politiker des Landes. Die meisten lächelten breit und zufrieden. Verstreut sah sie ein paar Gesichter, die sie nicht kannte – Frauen, die allerdings nicht die maßgeschneiderten Kostüme in den kräftigen Farben trugen, die ihre Washingtoner Schwestern bevorzugten. Maggie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wer sie waren. Natürlich. Die Opfer. Diese Veranstaltung war nicht vollständig ohne Opfer.

Sie wollte sich im Schatten des Gefolges diskret mit hineinschleichen, aber dann sah sie Tara MacDonalds Blick, die überrascht und gereizt feststellte, dass Maggie mit dem Präsidenten gekommen war.

Mit lauter Stimme – der Applaus hatte noch nicht aufgehört – wies der Präsident die Leute in der ersten Reihe an, sich hinter ihm zu versammeln. Sie kannten die Übung und bildeten einen Halbkreis, als er sich an den Schreibtisch setzte. Maggie erkannte die Hauptpersonen: die Vorsitzenden der Mehrheits- und Minderheitsfraktionen des Senats, parlamentarische Geschäftsführer und Ausschussvorsitzende aus dem Repräsentantenhaus sowie die Vertreter der Antragsteller aus beiden Häusern. Ihm am nächsten stand Bradford Williams, gutaussehend und ernst: der ehemalige Kongressabgeordnete, dessen Ernennung zum ersten afroamerikanischen Vizepräsidenten ebenfalls zu den historischen Durchbrüchen Stephen Bakers gerechnet wurde.

»Meine amerikanischen Landsleute«, begann der Präsident und setzte damit das laute Geratter von zweihundert Kameras in Gang, ein Pandämonium von Motoren und Blitzen. »Wir sind heute zusammengekommen, damit das neue Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen in Kraft treten kann. Ich bin stolz, es unterzeichnen zu dürfen. Ich bin stolz, hier mit den Männern und Frauen zusammen zu sein, die dafür gestimmt haben. Und vor allem bin ich stolz, an der Seite derjenigen Frauen zu sein, die mutig ihre Stimme erhoben haben, damit es dazu kommen konnte. Ohne ihre Aufrichtigkeit, ohne ihre Tapferkeit, hätte Amerika nicht gehandelt. Heute aber handeln wir.«

Wieder gab es Beifall. Maggie lächelte, als sie sah, dass nicht einmal ein Notizzettel auf dem Tisch lag, geschweige denn ein vollständiges Redemanuskript. Der Präsident sprach völlig frei.

»Wir handeln für Frauen wie Donna Moreno, deren Ehemann sie so furchtbar verprügelte, dass sie zwei Monate im Krankenhaus lag. Wir handeln für Frauen wie Christine Swenson, die sieben Jahre lang gegen polizeiliche Gleichgültigkeit kämpfen musste, bevor der Mann, der sie vergewaltigt hatte, verurteilt und eingesperrt wurde. Beide sind heute hier im Weißen Haus, und wir heißen sie herzlich willkommen. Aber wir handeln auch für die, die nicht hier sind.«

Maggie warf einen Blick auf die Leute um sie herum, die in einer Reihe an der Wand bei der Tür standen – im traditionellen Aufenthaltsbereich der leitenden Referenten. Es war ein kurioses Stückchen Choreographie. Einerseits signalisierte es ihren Status als bloße Mitarbeiter, die dem Präsidenten nach seinem Belieben zur Verfügung zu stehen hatten. Wie Butler verharrten sie ein paar Schritte weit abseits der Tafel und warteten auf Anweisungen. Alle andern durften sitzen, sogar die Presse.

Andererseits war die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe der höchste denkbare Status, den man in Washington erreichen konnte. Sie besagte, dass man zur Umgebung des Präsidenten gehörte, ja, sogar zu den Unentbehrlichen, die »im Raum« anwesend sein mussten. Während die geladenen Gäste kerzengerade und in gebügelten Anzügen dasaßen, das Haar eigens für ihren großen Tag im Weißen Haus frisch frisiert, lehnten die Stabsmitarbeiter entspannt und mit lockeren Krawatten an der Wand, als sei dies ein ganz normaler Bürotag für sie. Maggie sah den Pressesprecher an, Doug Sanchez, jung und so gutaussehend, dass er das Interesse der Promi-Illustrierten geweckt hatte. Mit gesenktem Kopf stand er da und achtete kaum auf das, was um ihn herum vorging; stattdessen scrollte er durch eine E-Mail-Nachricht auf seinem iPhone. Als er merkte, dass sie ihn beobachtete, blickte er auf und lächelte Maggie zu, und dann deutete er mit dem Kopf auf den Präsidenten und zurück zu ihr und zog dabei anzüglich die Brauen hoch. Übersetzung: Ich habe euch beide zusammen kommen sehen...

»Für die Frauen, die misshandelt wurden und denen niemand geglaubt hat, nicht einmal die Polizisten, die sie hätten beschützen müssen«, sagte der Präsident eben. »Für die Ehefrauen, die als Gefangene in ihrem eigenen Heim leben mussten. Für die Töchter, die ihre eigenen Väter fürchten mussten. Jede von ihnen ist eine Heldin, und – von heute an – haben sie das Gesetz auf ihrer Seite.«

Wieder kam Beifall auf, als Präsident Stephen Baker nach dem ersten in einer Reihe von Federhaltern griff, die aufgefächert vor ihm lag. Er schrieb seinen Namen unter das Dokument und griff dann nach einem zweiten Füller, um es zu datieren. Mit mehreren weiteren paraphierte er jede Seite.

»So«, sagte er. »Das war’s.«

Die Gäste hatten sich wieder erhoben, und die Kameras knatterten lautstark. Der Präsident kam um seinen Schreibtisch herum nach vorn, um denen, die gekommen waren, um Zeugen dieses Augenblicks zu werden, die Hand zu schütteln. Er wechselte einen doppelten Händedruck mit den führenden Kongressabgeordneten und legte ihnen dabei eine Hand auf den Unterarm, um besondere Warmherzigkeit zum Ausdruck zu bringen. Er umarmte die Vorsitzenden der maßgeblichen amerikanischen Frauenverbände und streckte dann leise zurückhaltend und behutsam dem ersten der vom Büro für Bürgerbeteiligung sorgfältig ausgesuchten »Opfer« die Hand entgegen.

Plötzlich schwirrten die Kameras noch nachdrücklicher los, und hundert Blitze flackerten durch den Raum. Mehrere Journalisten waren aufgesprungen und reckten die Hälse, um über die Köpfe der Fotografen hinwegzuschauen. Maggie konnte nur einen kurzen Blick auf den Gegenstand ihres Interesses werfen. Christine Swenson hatte dem Präsidenten die Arme um den Hals gelegt und schmiegte ihre Wange an seine Brust. Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Danke«, sagte sie immer wieder. »Danke, dass Sie mir geglaubt haben.«

»Wenn CNN heute Abend nicht damit aufmacht, bin ich der Papst.« Tara MacDonald blickte kaum von ihrem BlackBerry auf.

Maggie konnte den Blick kaum von Christina Swenson wenden, die immer noch dankbar schluchzte. Erst nach einer Weile fiel ihr ein, auch den Präsidenten anzuschauen. Er hatte einen Arm um die Frau gelegt, und umarmte sie väterlich – obwohl er mindestens zehn Jahre jünger war als sie.

Endlich löste sich die Umarmung, und der Präsident gab Swenson ein Taschentuch, damit sie sich die Tränen abtrocknen konnte.

Jetzt überreichte er Donna, Christine und den hohen Tieren aus dem Kongress jeweils einen Füllfederhalter. Das war eine Tradition im Weißen Haus, eine von Dutzenden, die den Status eines quasireligiösen Ritus erlangt hatten: Der Präsident unterzeichnete ein Gesetz mit mehreren Füllern, so dass er nachher mindestens ein Dutzend als Souvenirs verschenken konnte. Und über jeden einzelnen konnte man dann sagen: »Diesen Füller hat Präsident Baker bei der Unterzeichnung...«

Jetzt wollten die Referenten den Präsidenten zum Pult bugsieren, wo er die Fragen der Presse entgegennehmen sollte. Er hob abwehrend die Hand und gab ihnen zu verstehen, dass er noch nicht so weit sei. Er sprach weiter mit den Frauen, die sich um ihn drängten. Eine oder zwei hielten ein Handy hoch, um ein Foto aus nächster Nähe zu machen. Er stand zwischen ihnen und hörte aufmerksam zu.

Maggie bekam mit, was die Frau sagte, der er seine Aufmerksamkeit schenkte.

»... nahm seinen Gürtel ab und fing an, meinen Jungen auszupeitschen, als wäre er ein Pferd. Was bringt einen Mann dazu, so etwas zu tun, Mr. President? Mit seinem eigenen Sohn?«

Der Präsident schüttelte müde und ungläubig den Kopf. Phil, sein persönlicher Assistent, legte ihm wieder eine Hand auf die Schulter: Wir müssen wirklich Schluss machen. Aber der Chef ignorierte ihn. Stattdessen nutzte er seine Körpergröße, um über den Kreis der Frauen um ihn herum hinwegzulangen und nach der Hand einer von denen zu greifen, die sich zurückhielten. Maggie hatte sie bereits bemerkt: Anders als die anderen war sie zu schüchtern gewesen, um sich ihm vorzustellen. Normalerweise hatten solche Leute Pech; sie bekamen niemals einen Augenblick mit dem Präsidenten. Aber Stephen Baker hatte sie bemerkt, wie er es immer tat.

Um ein wenig Disziplin herzustellen, musste Tara MacDonald eingreifen. Sie ging auf das Gedränge zu, wandte sich aber nicht an den Präsidenten, sondern an die Frauen. »Ladys, wenn Sie jetzt bitte alle wieder Platz nehmen würden«, sagte sie in dem Kommandoton, der auch in einer Kirche für Ordnung sorgte. »Der Präsident muss jetzt ein paar Fragen entgegennehmen.«